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ELEKTROPHYSIOLOGIE
VON
W. BIEDERMANN.
ELEKTROPHYSIOLOGIE
VON
W. BIEDERMANN,
PROFESSOR Dp]R PHYSIOLOGIE IN JENA.
MIT 385 ABBILD UNOEN.
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JENA,
VERLAG VON GUSTAV FISCHER.
1895.
Inhaltsverzeicliniss.
Seite
Vorrede VIII
Einleitung 1
A. Bau und Structur der Muskeln 2
a) Die Muskeln der Protisten (Zelleiumiskelu) 2
b) Die Muskeln der Metazoen (Muskelzellen) 7
Literaturübersiclit 44
B. Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit ... 46
1. Abhängigkeit des Contractiousverlaufs von der Natur des Muskels 49
II. Abhängigkeit der Muskelcontraction von der Stärke der Reizung 59
III. Einfluss der Belastung (Spannung) auf Grösse, Dauer und Form
der Muskelcontraction 65
IV. Einfluss der Ermüdung auf den Verlauf der Muskelcontraction 71
V. Einfluss der Temperatur auf die Muskelcontraction 82
VI. Einfluss chemischer Substanzen auf die Muskelcontraction . . 89
Literaturübersicht 94
VII. Reizsummation und Tetanus 97
Literaturübersicht 122
VIII. Das Leituugs vermögen der Muskeln 123
Literaturübersicht 147
C. Die elektrische Reizung der Muskeln 149
a) Die elektrische Reizung des nicht fibrillär differenzirten Plasmas 255
b) Uebersicht der Ergebnisse 266
Literaturübersicht 271
D. Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln .... 273
I. Der „Ruhestrom" der Muskeln 274
IL Die Actionsströme der Muskeln 307
III. Die positive Schwankung des Muskelstromes 368
IV. Die secundär-elektromotorischen Erscheinungen an Muskeln . 376
E. Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und
Drüsenzellen 392
Literaturübersicht 438
F. Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen . 441
Literaturübersicht 467
G. Die Nerven und ihre physiologische Function.
I. Bau und Structur der Nervenfasern 468
II. Erregungsleitung und Erregbarkeit der Nerven 494
Literaturübersicht 537
H. Die elektrische Erregung der Nerven 540
Literaturübersicht 634
i l5^\li,
VI Inhaltsverzeichniss.
Seite
J. Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven
I. Der ßuhestrom 637
II. Die Actionsströme 650
III. Die galvanischen Erscheinungen im Elektrotonus 670
Secundär-elektromotorische Erscheinungen an Nerven .... 707
Theoretisches '^13
Die Einwirkung des Nerven auf den Muskel '^32
Literaturübersicht 745
K. Die elektrischen Tische 748
I. Bau und Structur der elektrischen Organe ...,...• 748
II, Die allgemeinen Wirkungen des Zitterfischschlages 790
III. Der Schlag bei künstlicher Reizung der elektrischen Nerven und
der Centralorgane 803
VI. Die zeitlichen Verhältnisse des Zitterfischschlages 810
V. Die Frage der Immunität der Zitterfische gegen den eigenen Schlag 818
VI. Der angebliche „Ruhestrom" der elektrischen Organe .... 820
VII. Die secundär-elektromotorischen Erscheinungen an elektrischen
Organen 823
VIII. Zur Theorie des Zitterfischschlages 835
Literaturübersicht 840
L. Elektrische Vorgänge im Auge 843
Literaturübersicht 851
Sacliregister 852
/ ,
ELEKTROPHYSIOLOGIE
VON
W. BIEDERMANN,
PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE IN JENA.
ERSTE ABTHEILUNG.
MIT 136 ABBILDUNGEN.
>I^
JENA,
VERLAG VON GUSTAV FISCHER.
1895.
leeKO
Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. iu Altenburg.
SEINEM HOCHVEREHRTEN LEHRER
PROF. DR EWALD HERING
IN DANKBARKEIT ZUGEEIGNET.
Inhaltsverzeichniss.
Seite
Vorrede VIII
Einleitung- 1
A. Bau und Structur der Muskeln. 2
a) Die Muskeln der Protisten (Zellenmuskeln) 2
b) Die Muskeln der Metazoen (Muskelzellen) 7
Literaturübersicht 44
B. Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit 46
I. Abhängigkeit des Contractionsverlaufes von der Natur des
Muskels 49
II. Abhängigkeit der Muskelcontraction von der Stärke der Reizung 59
III. Einfluss der Belastung (Spannung) auf Grösse, Dauer und Form
der Muskelcontraction 65
IV. Einfluss der Ermüdung auf den Verlauf der Muskelcontraction 71
V. Einfluss der Temperatur auf die Muskelcontraction 82
VI. Einfluss chemischer Substanzen auf die Muskelcontraction . . 89
Literaturübersicht 94
VII. Reizsummation und Tetanus 97
Literaturübersicht 122
VIII. Das Leitungsvermögen der Muskeln 123
Literaturübersicht 147
C. Die elektrische Reizung der Muskeln 149
a) Die elektrische Reizung des nicht fibrillär diff"erenzirten Plasmas 255
b) Uebersicht der Ergebnisse 266
Literaturübersicht 271
D. Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln 273
I. Der „Ruhestrom" der Muskeln 274
II. Die Actionsströme der Muskeln 307
III. Die positive Schwankung des Muskelstromes 368
IV. Die secundär-elektromotorischen Erscheinungen an Muskeln . 376
E. Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und
Drüsenzellen 392
Literaturübersicht 438
HS cd •■- '^
Vor r e de.
Seit den frühesten Zeiten der Entwicklung der Experimental-
physiologie waren es die wunderbaren Wirkungen des elektrischen
Stromes auf die reizbaren thierischen Theile, sowie die elektrischen
Kräfte, welche unter Umständen von diesen selbst ausgehen, welche
immer wieder aufs Neue die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zogen
und zu einer Fülle von Untersuchungen Anlass gaben, die zu ver-
mehren auch heute noch zahlreiche Forscher unablässig bemüht sind.
Es erklärt sich dies leicht aus der grossen Bedeutung, welche man
Anfangs dem Wirken elektrischer Kräfte im lebendigen Organismus
zuzuschreiben geneigt war. Später, als diese Erwartungen sich nicht
in dem erhofften Maasse erfüllt hatten, und das erstrebte Ziel einer
„physikalischen" Erklärung der Muskelcontraction , der Nervenleitung
u. s. w, weiter denn je hinausgerückt schien, da war es die Fülle der
inzwischen bekannt gewordenen Thatsachen, sowie die Exactheit der
Untersuchungsmethoden und die Ueberzeugung , dass es schliesslich
bei consequentem Verfolgen des einmal betretenen Weges doch wohl
gelingen müsste, auch von dieser Seite her der Lösung einiger der
zahllosen Räthsel der lebendigen Substanzen sich zu nähern, wodurch
der Forschungseifer immer aufs Neue angespornt wurde. Dazu kam
ferner das Bestreben , die inzwischen viel und mit Erfolg geübte An-
wendung der Elektricität in der praktischen Heilkunde auf eine sichere,
feste Basis zu stellen und eine exacte, wissenschaftliche Elektrotherapie
zu begründen. So ist es gekommen, dass die Litteratur der Elektro-
physiologie im weiteren Sinne zu einem Umfang angeschwollen ist,
der es dem Einzelnen, nicht gerade specieller mit dem Gebiete Ver-
trauten schwer, ja kaum möglich macht, zu einer Uebersicht und Be-
urtheilung des bisher Geleisteten zu gelangen.
Seit der letzten, zusammenfassenden Darstellung von Hermann
in dem von ihm herausgegebenen Handbuche der Physiologie sind
15 Jahre vergangen, ein Zeitraum, lange genug, um bei den raschen
Fortschritten, gerade auf dem in Betracht kommenden Gebiete, eine
Neubearbeitung erwünscht zu machen. Die einzelnen Arbeiten sind
so zerstreut und zum Theil so wenig zugänglich, dass eine Uebersicht
nur sehr schwer zu gewinnen ist.
Seit lange und mit Vorliebe auf diesem speciellen Arbeitsgebiete
thätig, hatte ich ausserdem oft Veranlassung, zum Zwecke von Vor-
Vm Vorrede.
lesungen mich näher, als es vielleicht sonst der Fall gewesen wäre,
mit der einschlägigen Literatur zu beschäftigen, so dass ich schliesslich
glauben durfte, hinlänglich vorbereitet zu sein, um den Versuch zu
wagen, die Elektrophysiologie in einer zusammenfassenden Darstellung
zu behandeln, eine Aufgabe, von der ich mir wohl bewusst bin, sie nur
in unvollkommener Weise gelöst zu haben. Nichtsdestoweniger gebe
ich mich aber doch der Hoffnung hin, nicht nur manchem Fach-
genossen, sondern vielleicht auch einem Theile des ärztlichen Publieums
einen Dienst geleistet zu haben, indem ich mich vor Allem bestrebte,
die grundlegenden T h a t s a c h e n übersichtlich und im Zusammenhang
darzustellen, wobei Einzelheiten der Versuchsmethodik und rein theo-
retische Speculationen nur insoweit berücksichtigt wurden, als es zum
Verständniss unbedingt erforderlich schien. Besonders nachsichtiger
Beurtheilung von Fachgenossen sei insbesondere das Capitel über die
elektrischen Fische empfohlen, indem ich hier nur compilatorisch ver-
fahren konnte, da mir eigene Erfahrungen nicht zu Gebote stehen.
Wer indessen die weitzerstreute Literatur hierüber kennt, wird unter
Berücksichtigung des gänzlichen Mangels einer zusammenfassenden
Darstellung dieses so interessanten und wichtigen Gebietes über die
Mängel des vorliegenden Versuches hinwegsehen. Für die vielleicht
zu grosse Breite der Darstellung möge der Umstand als Entschuldigung
dienen, dass das Buch aus Vorlesungen hervorgegangen ist, und dass
ich nur so eine gewisse lehrbuchmässige Trockenheit zu vermeiden
hoffen durfte. Zur Rechtfertigung der histologischen und allgemein
physiologischen Abschnitte sei dagegen einerseits auf die innigen
Wechselbeziehungen zwischen Bau und Function der Muskeln, Nerven
und elektrischen Organe, sowie andererseits auf die Nothwendigkeit
hingewiesen, die allgemeinen Bedingungen und die Erscheinungsformen
der Thätigkeitsäusserungen irritabler Gebilde der Erörterung specieller
Fragen vorauszuschicken. Es schien mir daher nicht nur erwünscht,
sondern dringend geboten, die betreffenden Verhältnisse mit grösserer
Ausführlichkeit, als es sonst wohl in physiologischen Schriften üblich
ist, zu behandeln. Dadurch ist es freilich gekommen, dass das Buch
über seinen naturgemäss enger gezogenen Rahmen vielleicht allzusehr
herausgewachsen ist. Man wird es ferner wohl auch als einen Fehler
bezeichnen wollen, dass die ganze Darstellung von einem bestimmten
Standpunkte aus gegeben ist, wodurch einzelne Capitel eine vielleicht
zu einseitige Behandlung erfahren. Es kam mir aber gerade weniger
darauf an, eine subjective Färbung durch Aufgeben jedes bestimmten
Parteistandpunktes ängstlich zu vermeiden, als vielmehr zu zeigen,
wie die Erscheinungen unter jenen Gesichtspunkten sich darstellen,
unter denen ich sie seiner Zeit durch meinen hochverehrten Lehrer
Hering habe beurtheilen lernen. Indem ich ihm dieses Buch als
geringes Zeichen meiner Dankbarkeit und Verehrung widme, bin ich
mir wohl bewusst, nur das wiederzugeben, was ich seiner Zeit von
ihm empfangen habe.
Jena, im November 1894.
Einleitung.
In dem Umfange, in welchem die Elektrophysiologie hier ab-
gehandelt werden soll, umtasst dieselbe einerseits die Lehre von der
elektrischen Erregung der reizbaren Theile und anderseits die elektro-
motorischen Wirkungen der letzteren. Da zum Verständniss dieser
eine möglichst genaue Kenntniss der Erregungserscheinungen und ins-
besondere der Wirkungsweise des Stromes auf die lebendige Substanz
die nothwendige Vorbedingung bildet, so soll dieses Gebiet hier auch
zunächst behandelt werden.
Während es in der Morphologie als selbstverständlich gilt, dass
die Betrachtung vom Einfachen zum Complicirteren fortschreiten müsse,
lehrt sowohl die Erfahrung wie einfache Ueberlegung, dass in der
Physiologie vielfach der umgekehrte Weg erfolgreicher ist und rascher
zum Ziele führt, was theils auf der Eigenart der anzuwendenden
Untersuchungs-Methoden beruht, anderntheils aber in der physiolo-
gischen DifFerenzirung der einzelnen Elementarbestandtheile be-
gründet liegt. Nicht immer ist das morphologisch Einfachere auch
physiologisch am durchsichtigsten, ja man könnte in gewissem Sinne
eher das Gegentheil behaupten. Wenn es richtig ist, dass im nicht
weiter differenzirten Plasma etwa einer Amoebe alle Functionen höher
entwickelter, vielzelliger Organismen so zu sagen potentia schlummern,
so verbirgt sich unter der scheinbaren Einfachheit eine Mannigfaltigkeit
der physiologischen Leistungen, die nicht zu vergleichen ist mit dem
Falle, wo eine Zellenart nur einer ganz bestimmten Function angepasst
erscheint, wie etwa eine Muskelzelle der Contraction, eine Drüsenzelle
der Secretion u. s. w. Offenbar ist aber mehr Aussicht vorhanden,
in einem solchen Falle etwas Genaueres über das eigentliche Wesen
der betreffenden physiologischen Function zu erfahren, als wenn man
sich an Elementarorganismen wendet, deren Plasma noch in gleicher
Weise den verschiedensten Leistungen dient. So verspricht sicher das
Studium der Drüsenzellen und Drüsen besseren Aufschluss über den
Absonderungsvorgang, als etwa die Untersuchung derartiger Processe
an einzelligen Organismen, und die Muskelphysiologie hat unsere
Kenntnisse über den Contractionsvorgang und die sich dabei abspielen-
den Vorgänge unendlich mehr gefördert, als es jemals die mikrosko-
pische Untersuchung niederer Organismen allein würde haben erreichen
können. Dies mag zur Rechtfertigung dienen , wenn auch in dem
vorliegenden Versuch einer zusammenfassenden Darstellung der Elektro-
physiologie die höchstdifferenzirte Form contractilen Gewebes, die
Muskeln, den Ausgangspunkt bilden.
s d e r m a n n , Elektrophysiologie.
A. Bau und Structur der Muskeln.
Schon auf einer niederen Stufe der Differenzirung contractilen
Plasmas begegnet man vielfach und in weiter Verbreitung fibrillärer
Structur, und das Beispiel der FHmmerzellen und besonders der Sper-
matozoon beweist unzweifelhaft die grosse Bedeutung derartiger Structur-
verhältnisse für den Contractionsvorgang und die Bewegungserschei-
nungen plasmatischer Gebilde. Ohne nun der neuerdings besonders
von Ballowitz (1) vertretenen Anschauung beizupflichten, „dass alle
regelmässigen, in bestimmten Bahnen verlaufenden Contractionen con-
tractiler Substanzen an das Vorhandensein regelmässiger, parallel oder
annähernd parallel nebeneinanderliegender Fibrillen gebunden ist,"
gegen welche viele Thatsachen sprechen, bleibt es doch bemerkens-
werth, dass fast in allen Fällen von energischer und be-
sonders von rasch verlaufender Contraction auch ein
fibrillärer Bau des Plasmas mehr oder weniger deutlich
nachweisbar ist. Dies zeigt sich besonders klar an den am höch-
sten differenzirten Formen contractilen thierischen Plasmas, welche
man als Muskeif ib rillen, Muskelzellen und Muskelfasern
bezeichnet.
Hier erscheint es vor Allem wesentlich und für die morphologische
wie physiologische Auffassung des „Muskels" bedeutungsvoll, dass Ge-
bilde, welche man ihrem Bau und ihrer Function entsprechend als
Muskeln bezeichnen muss, stets zuerst in Form von einzeln verlaufen-
den oder in Bündeln geordneten Fibrillen auftreten. Dies gilt
ebensowohl für die ontogenetische wie für die phylogenetische Ent-
wicklung. Werfen wir zunächst einen Blick auf die letztere, so treten
uns zweifellose Muskeln zuerst bei gewissen ciliaten Infusorien ent-
gegen; denn ob man das Recht hat, die blitzschnell zusammenzuckenden
feinen Protoplasmastrahlen gewisser SüssAvasserheliozoen (Acanthocys-
tiden), welche Engelmann (2) als „Myopodien" beschrieb, sowie die
von Haeckel als Myophrysken bezeichneten ähnlichen Gebilde
mancher Radiolarien als Avirkliche Muskelfibrillen anzusprechen, er-
scheint wenigstens zweifelhaft. Jedenfalls darf man aber mit Engel -
mann in diesen Gebilden so zu sagen Uebergangsstufen zMnschen
Pseudopodien und echten Muskelfibrillen erblicken.
Untersucht man grössere möglichst durchsichtige Vorticellen
mit starken Vergrösserungen , so bemerkt man leicht dicht unter der
Bau und Structur der Muskeln.
Oberfläche hinziehende, zarte Fibrillen, welche der Längsaxe des Körpers
parallel verlaufend, oft fein varicös erscheinen. Ob man dieselben nun
mit Büts chli (3) lediglich als Längsreihen von Waben innerhalb des
übrigen, gleichmässig alveolären Plasmas auffasst oder als besondere
Einlagerungen betrachtet, unter allen Umständen handelt es sich um
Producte einer Differenzirung des Ectoplasmas. (Fig. 1.)
Nach der Ansatzstelle des Stieles hin convergiren sämmtliche Fi-
brillen (Myoneme) und vereinigen sich endlich bei vielen zu einem
cylindrischen Strang, der im optischen
Querschnitt durchaus fibrillär zu sein
scheint. Durch viel stärker entwickelte
Muskelfibrillen zeichnen sich gCAvisse He-
terotricha(Stentor, Spirostomum)
und Holotricha (Holophrya, Pro-
rodon, Opalin iden) aus. Bei Sten-
tor, wo es Engelmann gelang, die
Fibrillen zu isoliren, beträgt die Dicke
derselben etwa 1 fx. Hier lässt sich auch
selbst die Andeutung einer feineren Struc-
tur erkennen, nämlich einer Art von Q.uer-
streifung (3. p. 1300).
Schon Lieberkühn erklärte die
Fibrillen von S t e n t o r für contractile Ele-
mente, und zwar auf Grund der Beobach-
tung, dass sie bei contrahirten Stentoren
durchaus gerade sind, jedoch einen wellig
geschlängelten Verlauf annehmen , sobald
das Infusor sich wieder zu strecken beginnt,
indem sie sich, anscheinend erschlaffend,
verlängern. Je weiter das Thier sich ausdehnt, desto flacher werden die
Wellen. Endlich sind die Fibrillen wieder ganz gerade und werden nun
bei fortschreitender Ausdehnung des Thieres immer dünner. Im Fuss,
der sich am meisten verlängert, sind sie bald nicht mehr einzeln zu
erkennen, im übrigen Körper erscheinen sie als äusserst feine Linien.
„Ziehen die Thiere sich nicht zuckend, sondern, wie auch häufig ge-
schieht, langsam, im Laufe einiger Sekunden zusammen, dann sind
auch im maximal verkürzten Zustande die Fibrillen nicht gerade,
kurz und dick, sondern stark wellig gebogen und nicht merklich
dicker als sonst im massig ausgedehnten Zustande des Thieres. Die
Wellen sind oft so steil, kurz und hoch, dass die Fasern einander
seitlich berühren: im ersten Augenblicke scheint dann die corticale
Schichte wie aus einem Labyrinth von gekräuselten Fäserchen zu be-
sj^hen. Wenn die Thiere in Folge langsamer Zusammenziehung
schon beinahe kugelig geworden sind, können sie noch etwas weiter
zusammenzucken. Dabei nun sieht man auf einmal alle
Fibrillen gerade, kurz und dick werden: an Stelle des
Labyrinthes von kleinen Wellen zeigen sich plötzlich wieder dicke,
gerade und parallel verlaufende, stark glänzende Längsstreifen."
Das Zusammenzucken der Stentoren kann, wie es scheint, ganz
spontan, ohne nachweisbaren äusseren Reiz erfolgen. Engelmann
(2. p. 447) sah bei Zutritt verdünnter Essigsäure (0,1 o/o) HCl (0,1 <>/o),
H2SO4 (4 ^/o) u. a. anfangs häufig einzelne Fibrillen zucken, mitunter
selbst noch, wenn sie sich mit dem schrumpfenden Endoplasma von
1*
Fig. 1. Carchesium poly-
pinum. (Nach Büts chli.)
4 Bau und Structur der Muskeln.
der Pellicula losgelöst hatten. Auch Aether und Chloroform be-
wirken zunächst immer eine plötzliche Contraction der Myoide,
ebenso äussert sich ferner die Wirkung des elektrischen Stromes.
Dabei ist der Werth der unteren Reizschwelle für die verschiedenen
Formen verschieden. So z. B. reagirt Stentor schon auf viel schwä-
chere Ströme als Carchesium. Während der Dauer des Stromes
bleiben die Protisten in der Regel im Zustande der Contraction, nur
wenn der Strom schAvach ist, findet meist während der Dauer desselben
nach einiger Zeit wieder eine vollständige Streckung statt (so bei
Stentor nach Verworn 4. p. 114).
Es ist nach alledem kein Zweifel, dass man es bei den Myoiden
(Myonemen) der genannten Infusorien mit reizbaren, echter Zuckungen
fähigen Fibrillen zu thun hat und ebensowenig Zweifel, dass diese
Fibrillen es sind, auf deren rascher Verkürzung die Zuckungen des
Leibes von Stentor und anderen Infusorien beruhen. Neben diesen
kommen aber, wie schon erwähnt, auch langsamere Contractionen
vor, welche daraufhinweisen, dass auch dem übrigen, nicht weiter
differenzirten Ectoplasma Contractilität, und zwar in
einer bestimmten Richtung, zukommt. Bei diesen Contrac-
tionen krümmen sich die Muskel-Fibrillen passiv wellenförmig zusammen,
bleiben also erschlafft. Das Endoplasma kann dabei keine active Rolle
spielen, da es, obschon contractu, doch stets in einer nach den ver-
schiedensten Richtungen hin strömenden Bewegung begriffen ist, die
auch während der langsamen Contractionen des Thieres anhält. Die
Thatsache, dass es zahlreiche sehr contractile Ciliaten (Hypotricha)
giebt, die demungeachtet nichts von Fibrillen erkennen lassen, beweist
klar, dass die Di f f e r e n z i r u n g d e r 1 e t z t e r e n mit einem ganz
bestimmtenBewegungsmodus in ursächlichem Zusam-
menhang steht, indem nur rasche energische Zuckungen
durch Muskel-Fibrillen vermittelt werden. Das bekann-
teste Beispiel hierfür liefert der sogenannte Stielmuskel der Vor-
ticellen.
Es wurde schon oben erwähnt, dass die Fibrillen im hinteren Theil
des Vorticellenkörpers sämmtlich der Ansatzstelle am Stiel zustreben.
Bei den Contractilia mit schnellenden Stielen endigen nun die Fibrillen
nicht an der Ansatzstelle, sondern vereinigen sich zu einem faden-
förmigen Organe, das in das Stielinnere eintritt und es gewöhnlich der
ganzen Länge nach durchzieht. Fast ausnahmslos verläuft dieser
Stielfaden oder -muskel innerhalb der Stielscheide in einer sehr
steilen Schraubenlinie. Die Scheide ist ein cylindrisches Rohr von
massigem Durchmesser, welches an dem vom Thier abgewendeten
Ende fremden Körpern angewachsen ist. Sie besitzt eine dünne ela-
stische Wand von chitinartiger Beschaffenheit. Das Innere des scheinbar
hohlen Stieles wird ausgefüllt von einer homogenen, glasartig durch-
sichtigen Masse von wahrscheinlich gallertartiger Consistenz. Bei
Vorticella und Carchesium durchzieht der Faden die Stielröhre
in sehr hohen Schraubenwindungen, deren Zahl mit der Länge des
Stieles zunimmt. Nach Czermak (5) schwankt die Zahl der Umgänge
zwischen 0 und 12. Bei sehr kurz gestielten Vorticellen findet man
oft nur V2 — 1 Umgang. Bei Zoothamnium zieht der Muskelfaden
nicht peripher an der Stielscheide hin wie bei Vor tic eil a und Car-
chesium, sondern ohne deutliche Schraubenwindungen nahezu in der
Axe, allseitig von der homogenen Marksubstanz umgeben.
Bau und Structur der Muskeln. 5
Da der Muskelfaden durch Zusammentritt der Körpermyoneme ent-
steht, so lässt sich a priori vermuthen, dass er eine fibrilläre Struc-
tur besitzen wird. Bei den meisten Formen hat es den Anschein, als
wenn sich die Fibrillen im Faden selbst nicht mehr erhielten, sondern
zu einer homogenen Masse zusammenfliessen. Doch dürfte dies nur
scheinbar sein, da der dicke Muskelfaden gewisser Zoothamnien
sehr deutlich fibrillär erscheint. Voraussichtlich wird sich dies durch
Methoden, denen ähnlich, welche Ballowitz zur Entdeckung der
hbrillären Structur der Spermatosomengeissel führten, als allgemein
herausstellen.
In Bezug auf die C o n t r a c t i o n s e r s c h e i n u n g e n am V o r t i -
c eilen stiel ist zu bemerken, dass dieselben unter normalen
Verhältnissen immer sehr rasch und plötzlich („zuckend")
erfolgen. Gewöhnlich ergreift die Contraction den gesammten Stiel,
der sich dabei zu einer niedrigen und eng gewundenen Schraube (Heli-
coide) zusammenzieht, deren Windungen sich meist dicht berühren.
Der Thierkörper contrahirt sich gewöhnlich synchronisch mit dem Stiel.
Es ist bemerkenswerth , dass sich der Stiel bisweilen nur theilweise
contrahirt, und zwar scheint sowohl der obere wie der untere Stieltheil
local und ohne Betheiligung des übrigen sich contrahiren zu können
(Czermak, Kühne). Viel langsamer rollt sich der zusammen-
geschnellte Stiel wieder auf; auch dieser Vorgang kann verschieden
verlaufen, d. h. bald oben, bald unten beginnen und gelegentlich un-
vollendet eine Zeit lang persistiren.
Dass in Uebereinstimmung mit der Funktion der Fibrillen des
Körperplasmas nur der Stielfaden Sitz der Contractilität ist, wurde
zuerst durch Czermaks Untersuchungen (1. c.) sicher festgestellt,
während früher vielfach die Stielscheide als das eigentlich Contractile
angesehen wurde. Den klarsten Beweis für die Richtigkeit der ersteren
Ansicht liefern V o r t i c e 1 1 e n mit ganz oder theilweise zerstörtem Faden,
da eine gänzliche Vernichtung desselben das Contractionsvermögen stets
völlig aufhebt, eine theilweise aber nur soweit als die Zerstörung geht.
Von Interesse ist in dieser Beziehung auch das Verhalten abge-
storbener Stiele. Dieselben sind zunächst stets contrahirt (Todten-
starre), und ebenso bewirken alle Reagenzien, welche den Faden unter
Gerinnung tödten (auch Hitze), eine Aufrollung, die so lange an-
dauert, als noch der Faden vorhanden ist. Wird er
durch Fäulni SS oder Reagenzien zerstört, so streckt sich
der Stiel wieder. Diese Erfahrungen beweisen also, dass die
K5t reckung auf der Elasticität der Stielsc beide beruht.
Engel mann (1. c. p. 438 f.) konnte übrigens bei Zoothamnium
A r b u s c u 1 a direct beobachten, dass die hier gut sichtbaren Fibrillen
des Stielmuskels im Momente der Contraction kürzer,
dicker und gerade werden; beginnt dann di e Erschlaffung , so
strecken sie sich sehr rasch wieder und nehmen dabei, wenn die Stiel-
scheide, durch zufällige äussere Widerstände aufgehalten, sich nur
langsam wieder streckt, anfangs einen stark geschlängelten Verlauf an.
Unzweifelhaft besteht demnach der Stiel faden der Vorti-
cellen aus contractilen Fibrillen. Durch diese letzteren Beob-
achtungen scheint mir auch, ganz abgesehen von anderen später zu er-
örternden Gründen , die von K ü h n e (6) ausgesprochene Vermuthung
widerlegt, dass nicht der Faden selbst, sondern die Fadenscheide,
welche er dem von ihm „Glia" e-enannten Bestandtheil der Muskel-
ß Bau und Structur der Muskeln.
Zellen höherer Thiere vergleicht, das Contractile, der Faden (d. i. die
Fibrillen) dagegen ein elastisches Gebilde sei, das mit der Stielscheide
zusammen die Streckung bewirke.
Auf Grund der Auffassung des Stiel fad ens als contractiles Ele-
ment lässt sich auch die Thatsache der schraubigen Aufrollung und
Wiederstreckung des Stieles leicht erklären, wie dies zuerst von Seite
Czermaks versucht wurde. Der Stiel der Contractilia ist ein
Cylinder mit dünner elastischer Wand, auf deren Innenfläche ein in
steilen Schraubenwindungen herabziehender contractiler Faden befestigt
ist. Wenn sich aber ein Cylinder längs einer an seiner Oberfläche
hinziehenden Schraubenlinie contrahirt, so geht er in die Gestalt einer
Schraube über.
Die Erfahrungen über künstliche Reizung des Stielmus-
kels der Vorticellen sind bisher äusserst spärlich. K ü h n e (7) sah
Vorticellen-Bäumchen bei tetanisirender Reizung mit Inductionsströmen
plötzlich zusammenzucken; sämmtliche Stiele blieben dann während
der Dauer der Reizung contrahirt, und nur wenn die Ströme längere
Zeit durch das Präparat gingen, rollten sich die Fäden auch während
des Tetanisirens wieder auseinander, und die Thiere zuckten nur von
Zeit zu Zeit ein wenig zusammen, konnten aber wieder ganz an ihren
Anheftungspunkt mit der Glocke herangezogen werden, wenn die
Reizung etwas verstärkt wurde. In ähnlicher Weise reagirten
auch isolirte kopflose Stiele. Auch durch chemische Reiz-
mittel (HCl 1 °/o, NHs) lassen sich Vorticellen- Stiele zur Contraction
bringen (Kühne 1. c. p. 828). In einem wässrigen Aufguss von
Veratrin ziehen sich die Stiele langsam zusammen und werden
exquisit starr, wobei der innere Muskelfaden stärker lichtbrechend
und in Folge dessen viel deutlicher wird. Wässrige (höchst ver-
dünnte) S try chnin-Lösungen tödten die Vorticellen ebenfalls, aber
unter ganz anderen Erscheinungen. Die Thiere verlieren ihre Erreg-
barkeit und liegen gerade gestreckt, aber mit fortdauernder Wimper-
bewegung ruhig da. In diesem Zustande bewirken auch die stärksten
Inductionsschläge keine Bewegung mehr. Curare zeigt sich auch in
stärksten Lösungen gänzlich wirkungslos (Kühne 1. c).
Einer genaueren Untersuchung bedarf auch noch die Leitung
der Erregung im Stiel muskel. Dass unter normalen Verhält-
nissen die spontane Erregung sowohl wie die auf äussere Reize er-
folgende Contraction vom Körper der Vorticellen ausgeht, kann wohl
nicht bezweifelt werden. Direct lässt sich allerdings in Folge der grossen
Schnelligkeit der Verkürzung des Muskelfadens nicht sehen, wo der
Process seinen Anfang nimmt, der gleichmässig in allen Punkten zu-
gleich einzutreten scheint. Dies ist selbst dann der Fall, wenn bei
den verzweigten Colonien von Zoothamnium oder Carchesium
durch mechanischen Reiz eines Individuums die ganze Colonie zurück-
schnellt. Bei Zoothamnium kann es sich um eine directe Reiz-
leitung handeln, da alle Individuen unter einander durch die Stiel-
myoide in reizleitender Verbindung stehen; bei Carchesium jedoch,
wo dies nicht der Fall ist, wirkt offenbar nur die Erschütterung, die
sich von jedem zuckenden Individuum auf die benachbarten überträgt
als Reiz (Verworn 4). Um die Erscheinungen des Zusammenzuckens
nicht nur der Vorticellen, sondern aller mit Myoiden ausgestatteten
Ciliaten zu erklären, muss man nothwendig annehmen, dass von
jeder Stelle des Körperplasmas aus die Erregung auf
Bau und Structur der Muskeln. 7
sämmtliche demselben eingelagerte oder mit ihm in
directemZusammenhangstehendeMuskelfibrillen über-
tragen werden kann; und zwar niuss die Leitungs-
geschwindigkeit d er Erregung eine sehr beträchtliche
sein, unter allen Umständen viel schneller als bei den
Rhizopoden. Denn reizt man z. B. ein Spiro stom um, einen Sten-
tor, die sieh ihrer langestreckten Form wegen nächst den Vorti-
c e 1 1 e n am besten zu solchen Versuchen eignen , nur local an einem
Ende, so tritt sofort ohne merkliches Latenzstadium Contraction des
ganzen Körpers ein, ohne dass man die zweifellos vorhandene zeitliche
Differenz in der Contraction des vorderen und hinteren Endes be-
merken könnte (Verworn).
Die Muskeln der Metazoen.
Nicht nur bei einzelligen Thieren, sondern auch bei Metazoen
sehen wir typische „Muskeln" immer zunächst in Form von Fibrillen
oder Fibrillenbündeln im Protoplasma gewisser Zellen auftreten, wobei
in Bezug auf das Massenverhältniss und die relative Lage und An-
ordnung der contractilen Fibrillen und des Bildungsplasmas („Sarko-
plasma"), dessen Differenzirungsproducte jene darstellen, eine ausser-
ordentliche Mannigfaltigkeit in der Thierreihe herrscht. Da es zum
Verständniss des Baues und der Functionen der hochdifferenzirten
Muskeln ebenso wichtig erscheint, ihre phylogenetische Entwicklung,
wie ihre ontogenetische Ausbildung zu berücksichtigen, so sollen im
Folgenden in Bezug auf den ersteren Punkt einige besonders instruc-
tive Beispiele näher erörtert werden.
In einfachster Form treten uns M u s k e 1 z e 1 1 e n (M y o p 1 a s t e n) *)
entgegen in den Epithelmuskeln („Neuro -Muskelzellen") niederer
Coelenteraten.
So besteht bei Hydra das Ektoderm zum grossen Theil aus
grossen stumpf- kegelförmigen Epithelzellen , deren nach innen ge-
richtete Spitze sich in einen oder mehrere Fortsätze auszieht, die sich
dichotomisch verzweigen, und rechtwinklig umbiegend, Fibrillen dar-
stellen, welche parallel der Körperaxe verlaufend, in ihrer Gesammt-
heit eine subepitheliale contractile Schicht („Muskellamelle") bilden.
Auf dem Querschnitt erscheint daher zwischen dem Ektoderm und
Entoderm eine schmale Zone, in welcher die querdurchschnittenen
Fibrillen als eine Reihe stark lichtbrechender Punkte hervortreten.
Die Zellkörper nehmen also in diesem Falle an der Begrenzung
der Körperoberfläche Theil und vermitteln in ähnlicher Weise wie
das Plasma des Ciliatenkörpers die Beziehungen zur Aussenwelt,
indem sie zur Aufnahme äusserer Eindrücke befähigt, d. h. reizbar
sind. Die Erregung wird in beiden Fällen durch das Zellplasma
(Sarkoplasma) auf die contractilen Fibrillen übertragen und dürfte
sich wohl durch Leitung von Zelle zu Zelle über grössere Gebiete
des Körpers verbreiten können (falls Nerven wirklich fehlen sollten).
*) Bei den oben erwähnten, als freilebende Einzelzellen zu betrachtenden
ciliaten Infusorien kann man unter gleichen Verhältnissen ganz wohl von ,,Z eilen -
muskeln" sprechen.
ig Bau und Structur der Muskeln.
Auch in den grossen vacuoHsirten , mit je einer Geissei versehenen
Entodermzellen von Hydra finden sich basal gelegene Muskelfibrillen.
Aehnliche, aber schon mannigfaltigere Verhältnisse finden wir bei den
A c t i n i e n.
Durchwegs handelt es sich auch hier um Muskeln epithelialen
Ursprungs, um „Epithelmuskelzellen", welche an der äusseren
oder inneren Begrenzung des Körpers theilnehmen oder, in die Tiefe
gerückt, dort unverkennbar noch ihre Abstammung aus dem Epithel
verrathen. Im einfachsten Falle zeigt
ein durch das Entoderm geführter Quer-
, schnitt , ähnlich wie bei Hydra, unter
;J' ' einer einfachen Lage cylindrischer Epi-
thelzellen, der Grenzlinie zwischen diesen
" und dem Mesenchym entsprechend, eine
einfache Reihe von glänzenden Körn-
chen (Fig. 2 a). Wie Isolationspräpa-
rate lehren, handelt es sich wieder um
Querschnitte von Muskelfibrillen (Fibril-
lenbündeln ?) , welche als das Differen-
ß^ zirungsproduct der Epithelzellen anzu-
^ Ä' sehen sind. Je nach dem Contractions-
/•\^ zustand der Leibeswand erhält man bald
"""^^^^^^-^^^ kubische, bald cylindrische, bald faden-
Fig. 2. a Querschnitt durch die förmige Zellkörper, die an ihren freien
Muskulatur eines Septums von Sa- Enden entweder Flimmerhaare oder eine
» V-,V^ J'^'"^'''t*\^^ ,®^'^]i}'f^.^* einzige Geissei tragen, während an ihrer
am die Lanffsaxe der basalen ribril- , ^ -, •. ,-!->• TXTiii«i-ii
len. b Epithelmuskelzelle (isolirt) ©twas verbreiterten Basis Muskelfibrillen
voneinerActinie.(NachHertwig.) ausgeschieden Sind (Fig. 2 h). Aus dieser
ursprünglichsten Form lassen sich leicht
die von Hertwig (9) als „intraepitheliale" Muskeln bezeichneten
Formen ableiten, bei welchen die spindelförmigen Zellkörper sich nur
noch theilweise zwischen die eigentlichen Epithelzellen einschieben, an
der Oberflächenbegrenzung selbst aber keinen Antheil mehr nehmen.
An diese Formen schliessen sich unmittelbar die „subepi theli alen"
Muskeln an, welche lange, schmale Bänder (Fibrillenbündel) darstellen,
die auf ihrer, dem Epithel zugewendeten Seite nur mehr eine dünne
Lage von Bildungsplasma besitzen.
Es kann nicht fraglich sein, dass hier die kernführende Plasma-
masse dem Körper einer echten Epithelmuskelzelle entspricht.
Lediglich durch die Anordnung von den zuletzt erwähnten
Muskeln verschieden sind die gänzlich vom Mesenchym umschlossenen
Bündel von Muskelfibrillen, welche einer der Zahl der letzteren ent-
sprechenden Vielheit von Myoplasten ihre Entstehung verdanken. Die
einzelnen Elemente sind auch hier Fasern (Fibrillen) mit Plasma
und Kern; sie liegen aber nicht einzeln neben einander, sondern
sind zu Gruppen vereinigt, deren Peripherie von den contractilen
Fibrillen, deren Axe von den zugehörigen Kernen und Plasma erfüllt
wird (9).
Zwischen dieser und der ursprünglichen, flächenhaften Anordnung
der Muskelfibrillen giebt es alle nur denkbaren Uebergänge, die durch
Faltung der Muskellamelle vermittelt werden, deren Bedeutung
offenbar in einer Vermehrung der Muskelmasse bei gleichbleibender
Bau und Structur der Muskeln. 9
Körperoberfläclie zu suchen ist. So lange die Faltenbildung der
Muskellamelle nicht eine übermässige ist, werden die nach der freien
Oberfläche zu entstehenden Berge und Thäler durch die verschiedene
Länge der Epithelzellen ausgeglichen. Ebenso dringt von innen her
das stützende Mesenchym in alle Falten ein. Wie schon erwähnt,
kann die Einfaltung sehr verschiedene Grade erreichen. Oft kommt
es zur Bildung von „Muskelblättern", die senkrecht zur Körper-
oberfläche gestellt, wie die Blätter eines Buches neben
einander gelagert sind (Fig. 3). Jedes Blatt enthält
eine dünne Stützlamelle vom Mesenchym, die beider-
seits mit Muskelzellen besetzt ist. Es ist leicht ersicht-
lich, wie durch einen solchen noch einen Schritt weiter
gehenden Einfaltungs- und Abschnür ungsprocess jene
gänzlich vom Mesenchym umhüllten cylindrischen
Muskel bündel entstehen, welche bereits oben erwähnt
wurden.
Ganz analogen Verhältnissen, wie bei den Ac-
tinien, begegnen wir auch bei den Medusen, deren
oft quergestreifte Muskelfibrillen überall basal gelegene
DifFerenzirungen ektodermaler Epithelzellen darstellen,
welche letztere in v^ielen Fällen noch an der Ober-
flächenbegrenzung des Körpers theinehmen.
Bau und Entwicklungsverhältnisse der Muskeln,
welche mit den bei Cnidariern geschilderten viel- Fig. 3. Quer-
fach Aehnlichkeit besitzen, flnden sich dann vor Allem schnitt durch die
bei vielen Würmern (Annulaten), wo in den ein- MuskuLatur der
fachsten Fällen der epitheliale oder wenigstens epithe- c e r i a nUi iis°"
loide Charakter der Muskeln noch unmittelbar hervor- membrana-
tritt. Oft bestehen hier die Längsmuskelfasern aus ceus. (Nach
einkernigen, langgestreckten Zellen, die nach Art Hertwig.)
eines einschichtigen Epithels angeordnet sind. Jede
Muskelzelle lässt isolirt oder im Querschnitt zwei deutlich von einander
gesonderte Substanzen erkennen, einen nach innen gekehrten plasma-
tischen Theil und die nach aussen liegende contractile Substanz,
welche sich wieder als aus zahlreichen, glatten Fibrillen zusammen-
gesetzt erweist, die parallel der Längsaxe der Zelle verlaufen und,
wie Querschnitte zeigen, in Form von nebeneinander liegenden Platten
angeordnet sind, wodurch die contractile Schicht zart radiär gestreift
erscheint. Jeder einzelne Streifen entspricht einer Reihe hinter ein-
ander liegender Fibrillen von punktförmigem Querschnitt (Fig. 4 B).
Sehr wechselnd gestaltet sich bei verschiedenen Wurmmuskeln
die gegenseitige Anordnung der contractilen Schicht und des Bildungs-
plasmas (Sarkoplasma). Im einfachsten Falle bildet jene eine ebene
Platte, welcher das kern führende Plasma wie eine Kappe aufsitzt
(Fig. 4: B). Es entspricht dieses Verhalten, wobei die Fibrillen der
Längsmuskeln in ihrer Gesammtheit einen unter der Hypodermis
gelegenen Cylindermantel bilden, offenbar der einfachen, ebenen, nicht
gefalteten Muskellamelle vieler Cnidarier. Hier wie dort macht
sich dann bei weiterer Massenzunahme der contractilen Substanz eine
Faltenbildung und zwar bei den Nematodenmuskeln an jeder einzelnen
Zelle bemerkbar, indem sich die ursprünglich ebene flache Fibrillen-
schichte zu einer Rinne einkrümmt, deren nach dem Coelom geöftnete
Höhlung von dem Bildungsplasma erfüllt wird. So lassen sich nach
10
Bau und Structur der Muskeln.
Rhode (8) besonders schön in der Längsmuskelschichte von B r a n c h i -
obdella parasitica alle Uebergangsformen zwischen dem schon
Fig. 4. A Branchiobdella parasidica; Quei-schnitt durch die Muskulatur der
Körperwand, a coelomyare, b holomyare Muskelzellen. £ Querschnitt einer platy-
myaren Muskelzelle von Ascaris lumbricoides. (Nach Rhode.)
^/?^
J^^
J
Fig. 5. A Querschnitt eines Theiles
der Muskelschichte von Ascaris
lumbricoides; « blasig sich vor-
wölbendes Sarkoplasma, ß contrac-
tile Substanz, y Zellkern. (Nach R.
Leukart.) — B Isolirte Muskel-
zelle einer Ascaride des. Aales.
(Nach Hertwig.)
Fig. 5 J.
geschilderten „platymyaren" Zustand der Muskelzellen,
wobei die contractile Fibrillenschichte eine ebene Platte
bildet und dem „coelomy ar en" mit rinnenförmiger Fi-
brillenschichte finden. (Fig. 4 Ä a.)
Von diesen letzteren bis zu völlig geschlossenen, röhren-
förmigen Muskelzellen, bei welchen das Bildungsplasma
einen axialen, von den contractilen Fibrillen allseitig um-
hüllten Strang bildet, ist wieder nur ein kleiner Schritt.
Unter den coelomyaren Muskelzellen beanspruchen
die Längsfasern des Hautmuskelschlauches der A s c a r i d e n
besonderes Interesse. Hier ist der Process der Umwallung
des Sarkoplasmas von Seite der contractilen Substanz an
den Enden vieler Muskelzellen bereits vollzogen, während
in der Mitte das (von einem Sarkolemm umhiülte) Bildungs-
plasma mit dem Kern bruchsackförmig sich vorwölbt und
im Vergleich zur Fibrillenschichte oft riesige Dimensionen
erreicht ( Fig. 5 A, B). Legt man durch die Mitte einer solchen
Zelle einen Querschnitt, so bildet die contractile Substanz
eine hufeisenförmige Figur, aus deren Innerem das Sarko-
plasma hervorquillt; Querschnitte unweit der Enden der
Fiff. 5 £.
Bau und Structur der Muskeln. W
Faser zeigen dagegen nur einen Ring aus contractiler Substanz, der
einen spaltförmigen , mit Plasma erfüllten Raum umschliesst. In
manchen Fällen ist die Aehnlichkeit in der Anordnung der Fibrillen
auf dem Querschnitt der Längsmuskelschichte der Würmer und der
gefalteten Muskellamelle gewisser Cnidarier ausserordentlich auffallend.
Die Muskelzellen der meisten übrigen Würmer stimmen in Bezug
auf ihren feineren Bau mit den eben geschilderten Formen überein
und zeigen entweder platymyaren , coelomyaren oder am häufigsten
röhrenförmigen Typus. Unterschiede machen sich nur hinsichtlich
der Grösse und Anordnung der einzelnen Muskelelemente, sowie in
Bezug auf die relative Massenentwicklung des Sarkoplasmas und der
contractilen Substanz geltend. Der iibrilläre Bau der Letzteren ist nicht
in allen Fällen leicht zu erkennen, scheint aber, wie insbesondere die
Untersuchungen von Rhode (1. c.) über die Muskulatur der Chaeto-
poden gezeigt haben, ganz allgemein verbreitet zu sein. Die einzelnen
Primitivfibrillen werden von dem Bildungsplasma der Muskelzelle nur
selten in einfacher Schichte, sondern meist in grosser Zahl ausgeschieden
und liegen dann zu Platten angeordnet, welche, wie schon erwähnt
wurde, die contractile Schichte auf dem Querschnitt radiär gestreift
erscheinen lassen.
Während auf einer höheren Stufe der Entwicklung der feinere
Bau der einzelnen Muskelzelle bei den Annulaten keine wesentliche
Veränderung erleidet, herrscht andererseits eine grosse Mannigfaltig-
keit in Bezug auf die Anordnung der Muskelelemente zu Bündeln und
Strängen. Durchwegs finden wir auch hier wieder das Princip der
Oberflächenvergrösserung durch Faltenbildung vertreten, und wie bei
der einzelnen Muskelzelle durch Einkrümmung der ursprünglich ebenen
Fibrillenplatte zu grösserer Massenentwicklung der contractilen Sub-
stanz Raum geschaffen wird, so sehen wir den gleichen Process sich
wiederholen bei der Gruppirung einer Vielheit von Muskelzellen in
der Längsmuskelschichte zahlreicher Annulaten. So zerfällt dieselbe
bei Lumbricus agricola durch secundäre Einfaltung in Bündel,
welche so zu sagen im Groben den Bau der coelomyaren Muskel-
zellen wiederholen. Wie hier die Gesammtheit der Fibrillen, so
umschliesst bei den Längsmuskel bündeln von Lumbricus die
Gesammtheit der Muskelzellen einen centralen Hohlraum, so dass,
da die einzelnen Falten durch bindegewebige Scheidewände von
einander getrennt sind, gesonderte jMuskel s t r ä n g e („Muskel-
kästchen") entstehen. Bei anderen Lumbriciden ist die Anordnung
der Muskelzellen innerhalb eines „Kästchens" eine noch viel regel-
mässigere, indem dieselben in einfacher Schichte den centralen Spalt-
raum umgeben, wodurch der Querschnitt federförraig erscheint. Die
dem Federschaft entsprechende Axe ist beiderseits besetzt von den
schief gestellten Querschnitten der Myoplasten, welche die einander
zugekehrten Flächen je zweier Kästchen bedecken (Fig. 6). Im
Gegensatze hierzu bilden die Längsmuskelfasern bei Lumbricus
olidus und vielen Oligochneten eine regellos geschichtete oder durch
bindegewebige Septen in kleinere Gruppen getheilte Masse, wie dies
auch bei den Hirudineen der Fall ist. Der ursprüngliche, epitheliale
Charakter der Längsmuskeln erscheint daher in diesen und anderen
Fällen nicht mehr deutlich in der Anordnung der einzelnen Elemente
ausgeprägt; im Uebrigen stimmt der Bau der einzelnen Zelle in allen
Fällen überein. Stets lässt sich eine contractile, fibrillär gebaute
12 ßa^i und Structur der Muskeln.
Rindenschichte und eine ganz oder theilweise von jener umschlossene
Marksubstanz (Sarkoplasma) unterscheiden. Der meist in Einzahl vor-
handene Kern liegt entweder seitlich an der Kante oder Fläche der
einzelnen Faser oder (wie besonders bei den Hirudineen) im Innern
des centralen Plasmaraumes.
Wie bei den Cnidariern die Faltenbildung der Muskellamelle eine
oft ganz ungemeine Entwicklung erreicht und sehr complicirte Quer-
schnittsbilder bedingt, so ist dasselbe auch bei vielen Annulaten der
Fall, und es zeigen insbesondere manche Polychaeten bei geringer
Grösse der einzelnen platt bandförmigen Mus-
,- ' :---<^-* |v' kelzellen eine ausserordentlich verwickelte An-
; ' Ordnung derselben, so dass der Querschnitt der
V Längsmuskelschicht nicht selten geradezu ein
dendritisches Aussehen gewinnt (Fig. 7).
^J
Fig. 6. Querschnitt durch die
Körpermuskulatur von Liim-
bricus maximus. (Nach Fig. 7. Querschnitt der Körpermuskulatur von
Rhode.) Protula protensa. (Nach Ehode.)
Als ein in mehrfacher Hinsicht besonders bemerkenswerthes Bei-
spiel von Muskelzellen wirbelloser Thiere sollen hier noch die Muskel-
fasern der Cephalopoden genannt werden, deren eigenthümlicher
Bau in neuester Zeit von Bai lowitz eingehend untersucht wurde (10).
Isolirt stellen die Elemente der Cephalopodenmuskeln 1 — 2 mm
lange schmale, etwas platte Spindelfasern dar, in deren Mitte ein läng-
lich ovaler Kern liegt. Stets Lässt sich bei stärkerer Vergrösserung
leicht wieder die rings geschlossene Rindensubstanz und ein axialer
Sarkoplasmastrang nachweisen. Die erstere zeigt eine sehr zierliche
Structur, indem bei hoher wie bei tiefer Einstellung je ein System
paralleler und in entgegengesetzter Richtung schräg verlaufender
Linien erscheint, welche, wie eine mittlere Einstellung zeigt, direct
in einander übergehen (Fig. 8). Dass es sich hier um den optischen
Bau und Structur der Muskeln. 13
Ausdruck von Fasern handelt, welche „in continuirlichen Spiraltouren
in der Rinde um die Marksubstanz herumlaufen", ergiebt sich besonders
aus der Untersuchung* theilweise zerrissener Muskelzellen. Je nach
dem Contractionszustande ist die Steilheit der Windungen eine sehr
wechselnde. Bei sehr flachen Muskelzellen scheinen beide Streifen-
systeme fast in derselben Ebene zu liegen, und es entsteht so das
Bild der „doppelschräggestreiften" Muskelfasern, wie sie
zuerst von Schwalbe (11) bei mehreren Evertebraten beschrieben
wurden.
Schwalbe deutete diese Bilder in der Weise, dass er eine Zu-
sammensetzung der Fasern aus rhombischen „Fleischtheilchen" an-
nahm, während später Engel mann (12) die fibrilläre Structur
V/%''.'ffh ^"^^'tll^Jk
■-■ ^-^- ^^--■''- •^•' '^^'#'^
€
Fig. 8. Segment einer isolirten Muskelzelle Fig. 9. Querschnitte durch Muskel-
von Sepiola Kondeletii bei hoher (a), zellen aus dem Mantel von Ele-
mittlerer (ä) imd tiefer (c) Einstellung. (Nach done moschata. (Nach Ballo-
Ballowitz.) witz.)
nachwies und annahm, dass „jede doppelschräggestreifte Faser aus
zwei Systemen von Fibrillen besteht, welche in zur Faseroberfläche
parallelen, concentrischen Lagen entgegengesetzt gewundene Schrauben-
linien um die Faseraxe beschreiben." Weitere Aufschlüsse über den
feineren Bau dieser Muskelzellen geben Querschnitte , die zunächst
erkennen lassen, dass das Verhältniss zwischen Rinden- und Mark-
substanz bei verschiedenen Elementen eines und desselben Schnittes
ein ausserordentlich wechselndes ist. „Die Rinde kann schmal sein
und dann einen grösseren axialen Hohlraum umschliessen ; andere oft
unmittelbar daneben liegende Querschnitte zeigen einen breiten Ring
mit engem centralen Lumen" (verschiedene Contractionszustande). Fast
bei allen Muskelzellen macht sich, besonders an gefärbten Querschnitten,
eine radiäre Streifung der Rindensubstanz ganz ähnlicher Art bemerk-
bar, wie sie bereits oben an den Muskelzellen der Nematoden und
Annulaten geschildert und als Ausdruck fibrillärer Structur gedeutet
14 Bau und Structur der Muskeln.
wurde (Fig. 9). Dunkle und helle Querlinien wechseln in regel-
mässigster Weise ab , und es lässt sich nun leicht zeigen , dass die
ersteren den Querschnitten durch die Spiralfasern entsprechen, welche
demzufolge eine platt bandförmige Gestalt haben müssen, während die
ungefärbten Hadien eine Zwischensubstanz darstellen. Es ergiebt sich
dies unter Anderem aus dem Umstände, dass sich bei Einstellung auf
einen dickeren Querschnitt einer Muskelfaser „die dunklen Linien alle
gleichzeitig in derselben Richtung gleich den Speichen eines Rades
verschieben", wenn man den Tubus des Mikroskopes allmählich senkt.
Es bilden demnach die Spiralfasern der Rinde platte Bänder, welche
in einfacher Lage die ganze Dicke der Rinde durchsetzen. Wie
man ohne Weiteres sieht, entsprechen diese Spirallamellen den radiären
„Fibrillenplatten" der oben beschriebenen Muskelformen und zeigen
demgemäss auch noch eine weitere Zusammensetzung aus ganz homo-
genen, feinen Fibrillen, den eigentlichen Elementarbestandtheilen der
Rinde. Von grossem Interesse, besonders mit Rücksicht auf später
noch zu erwähnende Thatsachen, ist das Verhalten der in Rede
stehenden Muskelfasern gegen Goldchlorid. Es färbt sich dabei unter
gewissen Umständen nur das axiale Sarkoplasma, sowie die durch
andere Farbstoffe nicht tingirbare, die Windungen der Spirallamelle
von einander trennende Zwischensubstanz. Jene selbst bleibt völlig
ungefärbt. Wie aus den noch folgenden Mittheilungen hervorgehen
wird, handelt es sich dabei um eine ganz allgemein bei allen Muskeln
nachweisbare Reaction der plasmatischen Grundsubstanz (des Sarko-
plasmas) einerseits, der contractilen Fibrillen andererseits, welche ein
werthvolles Mittel für das Studium der Vertheilung beider innerhalb
einer Faser an die Hand giebt. Man wird auf Grund dieser Reaction
nicht fehlgehen, wenn man die natürlich ebenfalls in Form einer
Spirallamelle angeordnete interfibrilläre Zwischensubstanz als identisch
mit dem axialen Sarkoplasma bezeichnet, so dass die Rindensubstanz
wohl auch in anderen Fällen nebst den contractilen Fibrillen noch
Bildungsplasma enthalten dürfte, worauf ja die radiäre Streifung am
Querschnitt unmittelbar hinweist. Leider fehlt es aber noch sehr an
ausgedehnteren, vergleichenden und mit den neueren Hülfsmitteln an-
gestellten Untersuchungen über den feineren Bau der Evertebraten-
muskeln.
In seiner Abhandlung über protoplasmaarme und protoplasma-
reiche Muskelfasern theilt KnoU (13) zahlreiche Beobachtungen mit,
welche sich allerdings weniger auf den feineren Bau der Rinden-
substanz als auf das Verhältniss zwischen Sarkoplasma und contractiler
Substanz sowohl der Muskeln von Wirbellosen wie auch von Wirbel-
thieren beziehen. Es lässt sich aus denselben unschwer erkennen,
dass ein ähnlicher Bau , wie er eben von den Cephalopodenmuskeln
geschildert wurde , auch den Muskelzellen der L a m e 1 1 i b r a n c h i e r
und Gas trop öden in sehr vielen Fällen zukommt, wie dies ja auch
aus Angaben früherer Forscher (H. Fol. 14) gefolgert werden durfte.
Von besonderem Interesse erscheint das Vorkommen doppelschräg-
gestreifter (in manchen Fällen auch quergestreifter) Muskelzellen im
Schliessmuskel der Lamellibranchier. Hier hatte bereits
vor BalloAvitz Fol eine ganz analoge Auffassung der betreffenden
Structui'verhältnisse geltend gemacht, indem er die contractile Hülle
der Spindelzellen als aus Fibrillen bestehend beschrieb, welche um die
plasmatische Axe spiralig verlaufen. Das Bild der quadratischen oder
Bau und Structur der Muskeln.
15
rhombischen Feldchen ^ welches Schwalbe zuerst beschrieb, führt
Fol wie Ballowitz einfach auf die Kreuzung der beiden Hälften
der Spiraltouren und zwar der oberhalb und unterhalb der Axe ge-
legenen zurück. Auch Rhode (1. c.) vertritt die gleiche Anschauung
hinsichtlich der doppelschräggestreiften Muskelzellen mancher Würmer
(Arenicola, Nephthys). In sehr vielen Fällen lässt der Schliess-
muskel der Muscheln auf dem Durchschnitt schon makroskopisch zwei
deutlich durch ihre Färbung und ihr sonstiges Aussehen von einander
gesonderte Theile erkennen , deren einer meist weisslich, sehnenartig,
der andere glasig durchscheinend, grau oder gelblich erscheint. Die
spindelförmigen Muskelzellen
des ersteren zeigen meist eine , - _ ,-
sehr ausgeprägte Längsstrei-
fung als Ausdruck librillärer
Structur, während die gestreck-
teren platten Fasern des grauen
Antheiles sehr häufig doppel-
schräggestreift sind (O s t r e a ,
Anodonta etc.) und in man-
chen Fällen sogar eine sehr
deutliche Querstreifung erken-
nen lassen (Lima, Pecten).
Wie später gezeigt werden soll,
hängen diese Unterschiede der
Structur mit Verschiedenheiten
der Function eng zusammen,
und es darf wenigstens für
Pecten und Lima als sicher-
gestellt betrachtet werden, dass
die raschen klappenden Bewe-
gungen, welche diese Thiere
auszuführen im Stande sind,
durch den quergestreiften An-
theil des Schliessmuskels be-
werkstelligt werden, während
die glatten Fasern die dauernde,
anhaltende Schliessung vermit-
teln. Die Beziehung der Quer-
streifung der Muskeltibrillen
zur Raschheit der auszuführen-
den Bewegung zeigt sich auch
schon bei den Epithelmuskeln
die verhältnissmässig raschen
m
Fig. 10. Querschnitte durch Muskelzelleii von
Mollusken. (Nach Knoll.) a Herz von Aply-
sia punctata; b Herz von A p 1 y s i a 1 i m a -
cina; c Buccalmasse von Carinaria; d
Längsansicht von Muskelzellen aus der Buccal-
masse von Aplysia punctata.
der C n i d a r i e r , wo , Avie erwähnt,
Schwimmbewegungen der Medusen
durch quergestreifte Fibrillen vermittelt werden. Von dem gleichen
Gesichtspunkte aus erklärt sich dann auch die fast ausnahmslos
vorhandene Querstreifung der Muskelzellen des Herzens und des
Kauapparates der Mollusken, die sich im Uebrigen hinsichtlich des
feineren Baues der einzelnen Elemente den bereits geschilderten
Muskelzellformen unmittelbar anschliessen. Immer handelt es sich um
spindelförmige, oft verzweigte, geflechtbildende Faserzellen, welche,
wie besonders Querschnitte zeigen, meist sehr reich an axial gelegenem
Sarkoplasma sind, das von der schmalen fibrillären Rindenschichte in
der Regel vollkommen, bisweilen aber auch nur theilweise umschlossen
IQ Bau und Struetur der Muskeln.
wird ; diese letztere zeigt am Querschnitt wieder sehr häufig eine deut-
liche radiäre Streifung als Ausdruck einer regelmässigen Abwechslung
von Schichten iibrillärer Substanz und Sarkoplasma. Bisweilen um-
geben die Fibrillen-(bündel ?) nur wie ein einfacher Kranz von Punkten
den Plasmakörper der Zelle (Fig. 10, «); in anderen Fällen wieder
scheint die Rindenschichte einer zusammenhängenden Lage contractiler
Substanz zu entsprechen (Fig. 10, c).
Wie eine auch nur oberflächliche Vergleichung von Querschnitten
durch die Herz- oder Kaumuskulatur einerseits, den Schliess- beziehungs-
weise Fussmuskel der Lamellibranchier und Gastropoden andererseits
zeigt, gestaltet sich das Massenverhältniss zwischen dem Sarkoplasma
und den von diesem ausgeschiedenen contractilen Fibrillen in beiden
Fällen sehr verschieden. Während bei den Zellen des Schliess- und
Fussmuskels das Bildungsplasma gegenüber der contractilen Substanz
vergleichsweise sehr in den Hintergrund tritt, überwiegt dasselbe um-
gekehrt bei den Herz- und Kaumuskeln sehr beträchtlich. Man kann
mit Knoll, der diese Unterschiede zuerst systematisch untersuchte,
die ersteren als plasmaarme (helle) den plasmareichen Herz-
und Kaumuskelzellen gegenüberstellen, welche deshalb auch viel weniger
durchsichtig, „trüb" erscheinen. Fragen wir, ob auch diesem Structur-
verhältniss, wie der Querstreifung eine functionelle Bedeutung zu-
kommt, so kann die Antwort nach den vergleichenden Untersuchungen
von Knoll nicht zweifelhaft sein , besonders wenn man später noch
zu erwähnende Beobachtungen an den Muskeln höherer Thiere mit
berücksichtigt. Es ist von vornherein klar, dass die Herz- und Buccal-
muskulatur eine viel grössere und vor Allem eine viel anhaltendere
Arbeitsleistung zu vollbringen hat, als der nur zeitweise thätige
Schliessmuskel der Muscheln oder die Fussmuskulatur der Schnecken,
und da nun, wie noch gezeigt werden soll, das Bildungsplasma zur
Ernährung der contractilen Substanz in nächster Beziehung steht, so
erscheint das erwähnte Verhalten leicht begreiflich. Eine wesentliche
Unterstützung erhält diese Anschauung durch die Thatsache, dass die
Muskeln des zur Flosse umgestalteten und in fortdauernder Bewegung
begriffenen Fusstheiles von Carinaria sowohl hinsichtlich der Quer-
streifung der Fibrillen wie bezüglich des grossen Sarkoplasmareich-
thumes dem Typus der trüben, plasmareichen Muskelzellen entsprechen,
welcher für die Buccal- und Herzmuskeln der Mollusken charakte-
ristisch ist. Hand in Hand mit dem grösseren Sarkoplasmareichthum
geht oft eine mehr oder weniger ausgeprägte Färbung der be-
treffenden Muskelelemente. So erscheint der Herzmuskel wie auch
die Kaumuskeln vieler Mollusken gelblich, röthlich oder selbst tiefroth
gefärbt.
Ein besonders interessantes Beispiel plasmareicher Muskelzellen
bieten unter den Wirbellosen nach den Untersuchungen von Knoll die
dünnen Muskelbänder des Mantels der Salpen (S. maxima, afri-
cana, Pelesii). Die quergestreiften, cylindrischen Fasern sind sehr
lang und an den Enden kegelförmig zugespitzt. Sie lassen sich der
Länge nach sehr leicht in feinere Bündel und Fibrillen spalten, was
durch das ausserordentlich reichlich vorhandene, die Fibrillenkomplexe
trennende Sarkoplasma bedingt wird, welches, wie Querschnitte zeigen,
nicht nur in der Axe jeder Faser eine mächtige Ansammlung bildet,
sondern sich auch in breiten, radiären Zügen nach der Peripherie er-
streckt und so die contractile, deutlich fibrilläre Rindenschichte in
Bau und Structur der Muskeln. 17
einzelne Blätter sondert (Fig. 11). Es Aviederholt sich hier gewisser-
maassen im Groben dasselbe Structurverhältniss wie bei der nur sehr
viel feiner radiär gestreiften Rindenzone der Muskelzellen vieler
Würmer und Mollusken. Ein sehr wesentlicher Unterschied zeigt sich
aber darin, dass hier die contractile Substanz nicht wie in allen bisher
besprochenen Fällen ausschliesslich an der Peripherie der Bildungs-
zelle zur Ausscheidung gelangt, sondern auch innerhalb des centralen
Sarkoplasma in Form von grösseren und kleineren Bündeln („Muskel-
säulchen"). Es bilden in Folge dessen, wie KnoU richtig hervor-
hebt, die Salpenrauskeln gewissermaassen einen Uebergang zu gewissen
Arthropoden und Wirbelthiermuskeln, bei welchen ähnliche Structur-
verhältnisse vorkommen. So zeigen beispielsweise Querschnitte durch
die H e r z m u s k u 1 a t u r von C r u s t a c e e n in Bezug auf die An-
ordnung des Sarkoplasmas und der contractilen Substanz oft eine un-
verkennbare Aehnlichkeit mit den eben beschriebenen Salpenmuskeln ;
nur ist das Sarkoplasma womöglich noch reichlicher entwickelt und
Fi^. 11. Querschnitte durch zwei Mus- Fig. 12. Querschnitt durch eine Muskel-
kelzellen von Salpa Pelesii. (Nach zelle aus dem Herzen vom Hummer.
Knoll.) (Nach Knoll.)
liegen alle „M u s k e 1 s ä u 1 c h e n" im Innern der Bildungszelle (Fig. 12).
Der ungewöhnliche Plasmareichthum erklärt sich in beiden Fällen
wieder durch die fortdauernde, angestrengte Arbeitsleistung, welcher
diese Muskeln genügen müssen.
Aus dem Vorstehenden ergiebt sich mit völliger Bestimmtheit,
dass zwischen den verschiedenen Muskelzellen bei Wirbellosen (von den
Muskelfasern der Arthropoden abgesehen) keine sehr durchgreifenden
Unterschiede in Bezug auf den Bau bestehen, ein Satz, der, wie die
folgenden Mittheilungen zeigen av erden, für die Muskeln der Wirbel-
tliiere nicht in gleicher Weise gilt, indem hier die Muskeln der vege-
tativen ( Irgane sich in der Regel sehr auffallend, sowohl in Bezug auf
die morphologischen wie physiologischen Eigenschaften von den Ele-
menten der animalen Muskeln unterscheiden. Hiermit deckt sich im All-
gemeinen die gewöhnliche Eintheilung der Wii'belthiermuskeln in zwei
Hauptgruppen, die der glatten und quergestreiften. Die letzteren
werden ihrer grösseren Länge wegen gewöhnlich als Muskelfasern im
engeren Wortsinne den einkernigen Muskel z eilen gegenübergestellt.
Den glatten und quergestreiften einkernigen Muskelzellen der
Evertebraten schliessen sich naturgemäss die glatten Muskeln und die
quergestreiften Zellen des Herzmuskels der Wirbelthiere an, mit jenen
darin übereinstimmend, dass es sich meist um kürzere, fast immer
einkernige Elemente von mehr oder weniger deutlich fibrillärer Structur
handelt, welche, von der Fläche gesehen, in der Mehrzahl der E^älle
gestreckt spindelförmig erscheinen. Was speciell die glatten Muskel-
Biedermann, Elektrophysiologie. 2
18
Bau und Structur der Muskeln.
Zellen anlangt, so sind dieselben nicht selten faserartig in die Länge
gezogen, ohne dass damit jedoch eine Kei-nvermehrung verbunden
wäre.
Im Querschnitt erscheinen die contractilen Faserzellen entweder
rundlich (wenn einzeln verlaufend) , oder durch gegenseitige Ab-
plattung der dicht gedrängten Elemente polygonal und nicht selten
bandförmig abgeflacht. Der länglich-ovale, oft „stäbchen-
' iT'fi förmige" Kern liegt stets in der Mitte der Zelle, um-
• ,.'|.l'|l geben von einer etwas reichlicheren Ansammlung von
Bildungsplasma. Sofern die bereits erwähnte fibrilläre
Structur gut zu erkennen ist, was nicht immer zutrifft,
erscheinen die Fibrillen als eine sehr grofse Zahl feiner,
der Längsaxe der Zellen parallel verlaufender glatter
cylindrischer Fasern, welche, wie besonders Querschnitte
zeigen, in eine homogen erscheinende Masse (Sarkoplasma)
eingebettet liegen (Fig. 13). Während aber in fast allen
bisher betrachteten Fällen (bei Wirbellosen) die Fibrillen
nur einen Theil des Querschnittes ausfüllen, das Sarko-
plama ringförmig oder segmental umfassend, erscheinen
die Fibrillen auf dem Querschnitt der glatten Muskel-
zellen der Vertebraten in der Regel gleichmässig über
die ganze Fläche vertheilt. Es muss als im höchsten
Grade wahrscheinlich bezeichnet werden, dass Fibrillen
auch in den Fällen vorhanden sind, wo sie bisher nicht
dargestellt werden konnten. Bisweilen sind sie aber aus-
serordentlich deutlich und erscheinen beispielsweise an
Fasern des Froschmagens nach Engelmann (12) auf dem
Querschnitt bei scharfer Einstellung als kleine kreisrunde
Punkte oder Felder, die beim Heben und Senken des
Focus nicht verschwinden. Die Zahl der Fibrillen am
Querschnitt nimmt nach dem Ende jeder Zelle hin ab,
was durch die ungleiche Länge derselben bedingt wird
(Engelmann). Da die Fibrillen sehr stark licht-
brechend sind , so lassen sich die Grenzen benachbarter
Zellen bisweilen kaum erkennen, so dass stellenweise eine
solche Muskelschichte eine einzige ungegliederte Fibrillen-
masse zu sein scheint.
In der Mehrzahl der Fälle kommen glatte Muskel-
fasern nicht vereinzelt, sondern in der mannigfaltigsten
Weise zu Strängen, Bündeln, Häuten oder auch umfang-
reichen Massen verbunden vor. Oft findet man dünnere
und lockere Muskel-Zellenbündel zu einem Muskel-
netze mit engeren oder weiteren Maschen vereinigt , indem benach-
barte Züge sich durch Aeste mit einander verbinden. Als Beispiel
eines solchen schönen und weitmaschigen Netzes kann die Blase der
Amphibien dienen. Bei W^irbellosen findet man ähnliche Geflechte
einkerniger Muskelzellen beispielsweise i m H e r z e n v o n M o 1 1 u s k e n ,
in den Saugfüsschen der Echinodermen u. a. a. O.
Als Beispiel des Baues einer aus glatten Muskelzellen bestehenden
Haut kann am besten der Darm d e r W i r b e 1 1 h i e r e dienen, avo die
Anordnung der Faserzellen in zwei sich rechtwinklig überkreuzende
Schichten, die für die meisten Hohlorgane, in deren Wand glatte
Muskelfasern eingelagert sind, charakteristisch ist, besonders deutlich
Bau und Structur der Muskeln. 19
hervortritt. Aehnliche Verhältnisse, cl. i, eine Längs- und Ringmuskel-
schichte, innerhalb deren die Faseraxen senkrecht zu einander stehen,
£ndet man z. B. auch am Ureter und unter den Wirbellosen im
Hautmuskelschlauch der Würmer.
Eine Frage, welche physiologisch von grösstem Interesse ist, be-
trifft die anatomischen Beziehungen benachbarter Muskel-
zelle n zu einander.
Eine Reihe physiologischer Thatsachen schien auf das Vor-
handensein einer directen Leitung von Zelle zu Zelle innerhalb ge-
wisser glattmuskeliger Theile hinzuweisen, lange bevor von Seite der
Histologen dieser Vermuthung eine begründete Unterlage gegeben
wurde. Der Gedanke eines directen, durch Plasmabrücken vermittelten
Zusammenhanges benachbarter zelliger Elemente, der ja keineswegs
neu ist, hat bekanntlich auf botanischem Gebiete in neuerer Zeit in
-ausgedehntester Weise Bestätigung gefunden, und auch in der thierischen
Histologie sind solche Zellbrücken an gewissen
Objecten seit langem bekannt (Stachel- oder
Riffzellen im Epithel). Ganz analoge Structur- ' '"
Verhältnisse wurden in neuerer Zeit auch an ^
glatten Muskelzellen beschrieben. Auf Quer- '^
schnitten durch dichtere Anhäufungen derselben ^^^^ »v .,,
scheinen die einzelneu Elemente durch eine ''^- ^,,_
homogene Kittsubstanz mit einander verbunden
zu sein, die sich ihren Reactionen zufolge pig-. 14 oiRi-^c-hnitt durch
ähnlich der Kittsubstanz der Endothelien ver- die Blasenmuskulatur der
hält. Unter Anwendung bestimmter, sehr Ratte (Zellbrücken). (Nach
schonender Härtungsmethoden lässt sich jedoch C. de Bruyne, Arch de Biol.
1 • , 1 -TT .. 1 1 r j- par van Beneden. Tom. XII.
bei starker Vergrosserung erkennen, dals die '■ 1892.)
einzelnen Zellen in der Querrichtung mittels
zarter protoplasmatischer Brücken zusammenhängen, zwischen denen
kleine Intercellularräume übrig bleiben (Fig. 14),
So häufig eine starke Pigmentirung einkerniger Evertebraten-
muskeln vorkommt, so selten findet sich eine ausgeprägtere Färbung
bei glatten Muskelzellen der Wirbelthiere. Zu erwähnen wären etwa die
lebhaft rothen Muskeln im Muskelmagen vieler Vögel, sowie
auf der anderen Seite die dicht mit schwarzbraunen Pigraentkörnchen
erfüllten contractilen Faserzellen in der Iris vieler Fische
und Amphibien, welchen diese nach Steinach ihre directe Reiz-
barkeit durch Licht verdankt (15).
Einer besonderen Erwähnung bedürfen gewisse sehr eigenthüm-
liche Bilder , welche man von glatten Muskelfasern erhält, die im Zu-
stande der Contraction fixirt wurden. Es zeigt sich dann oft eine sehr
regelmässige Querstreifung, welche offenbar durch Contractionswülste
bedingt wird, die in regelmässigen Abständen einander folgen.
Nachdem Heidenhain schon 1861 (16) auf derartige Bilder
aufmerksam gemacht hatte, wurde neuerdings auf diese leider nicht
genügend untersuchten Verhältnisse von Dräsche hingewiesen (17).
Er beobachtete an der contrahirten Muskelhülle der Giftdrüsen
des Salamanders eine sehr regelmässige Querstreifung der einzelnen
Faserzellen, welche dadurch bedingt war, dass durch die Contraction
an der unteren Fläche der Muskeln sehr zierliche Querleistchen, ja
grosse, quergestellte Flügel auftreten ! Ich selbst habe ähnliche, sehr
zierliche Bilder an den Muskelzelleu eines Katzendarmes, der in Al-
9*
20
Bau und Structur der Muskeln.
koliol gehärtet worden Avar, beobachtet. Mir machten die überaus
scharf begrenzten, stark lichtbrechenden Querwülste durchaus den
Eindruck von lokalen (fixirten) Contractionswellen, wie solche auch an
gewissen quergestreiften Muskeln unter Umständen hervortreten.
Wenn man von den Arthropoden absieht, welchen einkernige
Muskelzellen überhaupt gänzlich zu fehlen scheinen, so bildet, wie die
oben gegebene Uebersicht lehrt, der Befund echter Querstreifung, d. i,
eine Abgliederung jeder einzelnen Fibrille in Schichten von verschie-
denem optischen Verhalten bei Muskelzellen eine relativ seltene Aus-
nahme, auf deren physiologische Bedeutung schon oben hingewiesen
wurde.
Die viel häufigere Schrägstreifung steht nach dem bereits hierüber
Bemerkten mit der Querstreifung in keinerlei Beziehung, indem hier-
bei die einzelne Fibrille keine weitere Differenzirung erkennen lässt
und nur durch Richtung und Verlauf von dem gewöhnlichen Verhalten
abweicht. Den von
Knoll(18) neuerdings
vertretenen Anschau-
ungen , wonach zwi-
schen Schrägstreifung
und echter Querstrei-
fung keine scharfen
Grenzen bestehen wür-
den, so dass eine und
dieselbe Zelle in ver-
schiedenen Zuständen
bald schräg, bald quer-
gestreift erscheinen
kann , vermag ich
mich zunächst nicht
anzuschliessen, glaube
vielmehr, dass es sich
hierbei theils um ver-
schiedene Contrac-
tionszustände benach-
barter Fibrillen, theils
um Verschiebungen derselben in der Längsrichtung (Verwerfungen)
handelt.
Auch bei den Wirbelthieren kommen im entwickelten Zustande
quergestreifte, ein- oder zweikernige Muskelzellen nur ausnahmsweise
vor, so insbesondere im Herzmuskel und in einer sehr eigenthümlichen
Entwickelung im Endocard der Wiederkäuer, des Pferdes,
Schweines und anderer Säugethiere, sowie gewisser
Vögel. In Bezug auf die Form stimmen die Elemente des Herzmuskels
entweder im Allgemeinen mit den spindelförmigen, glatten Faserzellen
überein (Fische, Amphibien), obschon sie vielfach Unregelmässigkeiten
(Verzweigung und Ausläufer) zeigen, oder sie bilden ziemlich unregel-
mässige, cylindrische oder abgeplattete Zellkörper, welche an ihren
Enden durch kurze, breite, mit ebenen Flächen aneinanderstossende
Fortsätze mit benachbarten Zellelementen zu netzförmig anastomosiren-
den Balken verbunden sind (Säuger, Vögel, Reptilien) (Fig. 15). In
manchen Fällen lassen diese letzteren noch deutlich die sie zusammen-
setzenden Zellen erkennen (Fische, Amphibien), während dieselben an-
Fig. 15. Isolirte Herzmuskelzellen. A vom Menschen,
B von Kana temporaria. (Nach Schiefferdecker.)
Bau und Structur der Muskeln.
21
dere Male kaum mehr oder nur schwer zu erkennen sind. Die er-
wähnten Haupttypen der Herzmuskelzellen sind durch zahlreiche Ueber-
gangsformen mit einander verbunden. Wie in vielen Fällen die glatten
Muskelelemente, so bilden auch die Herzmuskelzellen unter einander
nicht nur im anatomischen, sondern auch im physiologischen Sinne
ein Continuum, indem sie ähnlich wie viele Epithelien und Endo-
thelien durch eine mit AgNOg sich schwärzende Kittsubstanz mit
einander verbunden sind, durch welche hindurch die Leitung des
Erregungsvorganges möglich scheint. Ob es sich auch hier um ein
ähnliches Anastomosiren benachbarter Zellkörper durch Plasma-
brücken handelt, wie bei manchen glatten Muskeln, ist nicht sicher
festgestellt.
Sehr bemerkenswerth ist die Gruppirung der quergestreiften
Fibrillen innerhalb des Bildungsplasmas (Sarkoplasraas), welches stets
sowohl bei Wirbellosen, wie bei Wirbelthieren in reichlicher Menge
vorhanden ist, so dass die übrigens membranlosen Herzmuskelzellen
zu den ausgeprägt „trüben" Muskeln zu rechnen sind, womit ihre
leichte Spaltbarkeit in Fibrillen und Fibrillenbündel im Einklang steht.
In Bezug auf das Querschnittbild schliessen sich die Herzmuskelzellen
der Fische und Amphibien denen der Cephalopoden und
Gastropoden unmittelbar an, indem jede Spindelzelle eine reich
entwickelte centrale, den Kern einschliessende Marksubstanz erkennen
lässt, welche von der aus quergestreiften, oft in radiären Blättern an-
geordneten Fibrillen bestehenden Rindensubstanz rings umschlossen
wird.
Aehnlich verhält es sich auch bei dem Herzen der Reptilien
und Vögel, und erscheint insbesondere die contractile Rinde bei den
letzteren oft sehr deutlich radiär
gestreift. Auch bei den Säuge -
thieren gehören die Elemente des
Herzmuskels, der, wie auch bei den
anderen Wirbelthieren, immer tief-
roth gefärbt ist, zu den protoplasma-
reichsten des Körpers. In Bezug
auf die Vertheilung von Sarkoplasma
und Fibrillen gleichen dieselben sehr
den oben beschriebenen Spindelzellen
der Salpen, indem die Fibrillenbündel
(„Muskelsä ulchen" Kölliker's)
nicht nur eine periphere Rindenzone
bilden, sondern auch innerhalb des centralen, kernführenden Axenplasmas
zur Entwickelung gelangen (Fig. 16). Das letztere bildet um den
etwa in der Mitte der einzelnen Zelle gelegenen Kern in der Regel
eine etwas grössere Anhäufung. Die Fibrillenbündel (Muskelsäulchen)
zeigen bei verschiedenen Säugethieren eine ziemlich wechselnde Form
und Anordnung. Sehr häufig sind auch hier wieder radiär gestellte
bandförmige, im Querschnitt streifenförmige Fibrillenbündel, wie solche
zwar häutig bei Evertebraten , sowie gewissen Muskeln niederer
Wirbelthiere vorkommen, bei Säugethieren aber nur im Herzen ge-
funden werden (Meerschweinchen, Hund). Oft findet man neben diesen
bandförmigen Muskelsäulchen, welche eine im Querschnitt radiär ge-
streifte blättrige Rindenzone bilden, auch noch prismatische von rund-
lichem oder polygonalem Querschnitt im Centrum der Muskelzelle
Fig. 16. Querschnitte einiger Muskel-
zellen des Herzens vom Menschen.
(Nach Kölliker.)
22 Bau und Structur der Muskeln.
(Pferd, Mensch) (Fig. 16). In manchen Fällen endlich (Schwein)
kommen überhaupt nur solche vor.
Im Allgemeinen wird man daher sagen müssen, dass mit Rück-
sicht auf ihre histologische Structur die Herzmuskelzellen eine grosse
Aehnlichkeit mit gewissen Muskeln niederer Thiere, bezüglich Ent-
wickelungsstadien quergestreifter, vielkerniger Muskelfasern zeigen
und daher in gewissem Sinne einen embryonalen Charakter behalten
haben. Dies gilt nicht nur hinsichtlich des so sehr in die Augen
fallenden Reich thums an Sarkoplasma, sondern auch in Bezug auf
Form und Anordnung der „Muskelsäulchen" und die centrale Lage
des Zellkernes.
Mit den quergestreiften einkernigen Muskelzellen der Evertebraten
bilden die Elemente des Herzmuskels der Wirbelthiere und besonders
der Säuger den Uebergang zu der in anatomischer und physiologischer
Beziehung höchststehenden Form der Muskeln, den
(Quergestreiften yielkernigen Muskelfasern,
welche unter den Wirbellosen nur den Arthropoden zukommen,,
bei den sämmtlichen Wirbelthieren dagegen die Hauptmasse der
Muskeln bilden.
Man nahm früher , hauptsächlich gestützt auf die Vielkernigkeit
der quergestreiften Muskelfasern, vielfach an, dass dieselben einer ver-
schmolzenen Reihe mehrerer Zellen (einem „Syncytium") entsprechen,,
doch ist es gegenwärtig als sichergestellt anzusehen , dass j e d e r
quergestreiften Muskelfaser der Werth einer einfachen
Zelle zukommt, indem sie sich aus einer solchen entwickelt. Ur-
sprünglich handelt es sich um einkernige, spindelförmige Zellen, die
sich ungemein verlängern, während der Kern sich durch wiederholte
Theilung rasch vermehrt. In der
Folge wachsen dann die langen
vielkernigen Spindeln nicht nur
noch weiter in die Länge, son-
dern sie Averden auch viel breiter,
während sich aus dem an Masse
zunehmenden Protoplasma (Sar-
koplasma) allmählich querge-
streifte Fibrillen differenziren,
Fig. 17. Embryonale Muskelfasern; a vom welche, wie sich Schon in der
Menschen, * vom Frosch. (Nach Kölliker.) Längsansicht, besser nOch auf
Querschnitten erkennen lässt, zu-
nächst nicht die ganze Dicke der Fasern durchsetzen , sondern stets
oberflächlich als eine röhrenförmige Scheide oder (wie bei manchen
niederen Wirbelthieren) in Gestalt eines seitlich gelegenen Segmentes
angeordnet sind, so dass das kernführende Bildungs(Sarko-)plasma wie
in einem Canal oder in einer Rinne eingeschlossen liegt (Fig. 17). E&
besteht somit ein ganz ähnliches Verhältniss zwischen
dem letzteren und den ausgeschiedenen Fibrillen vorüber-
gehend, wie es bei den zeitlebens einkernigen Myo plasten
der Mehrzahl der Evertebrate n dauernd gefunden wird.
Im Verlaufe der Entwickelung nimmt die Anfangs ausserordentlich
dünne periphere Schicht von Fibrillen auf Kosten des Sarkoplasmas
Bau und Structur der Muskeln. 23
mehr und mehr an Masse zu, so dass schliesslich in der Regel das
umgekehrte Verhältniss wie im Beginn besteht, indem die Fibrillen
die Hauptmasse der völlig entwickelten Muskelfaser bilden, während
Reste des Bildungsplasmas nebst zahlreichen Kernen in wechselnder
Menge und Anordnung die Fibrillenmasse durchsetzen. Jede Faser
stellt dann ein langes , cylindrisch-prismatisches Gebilde mit conisch
zulaufenden oder abgestumpften Enden dar. In der Regel ungetheilt,
kommen auch mehr oder weniger reich verzweigte vielkernige Muskel-
fasern, ja selbst Netze von solchen vor.
Die vielkernigen quergestreiften Muskelfasern gehören zu den
grössten Zellen, welche überhaupt vorkommen. Schon die noch ein-
kernigen spindelförmigen Myoplasten menschlicher Embryonen von
7 — 8 Wochen erreichen nach KöUiker eine Länge von 132 — 176 u
und wenig später von mehr als 300 {.i.
Nach Felix finden sich unter den voll entwickelten Muskel-
fasern solche, die sicher länger sind als 12 cm, wobei zu berück-
sichtigen ist, dass die Faser dabei nicht einmal in ihrer ganzen
Länge erhalten war. Die Dicke ist im Verhältniss hierzu sehr gering,
am grössten in einem früheren Entwickelungsstadium. So erreichen
nach Felix beim Menschen schon im dritten Monat die Muskelfasern
den erheblichen Durchmesser von 13 — 19 ^w, was bei älteren Embryonen
nur selten und erst wieder bei Neugeborenen beobachtet wird.
Die Länge der einzelnen Primitivfasern steht in keinem regel-
mässigen Verhältniss zu der Länge der aus ihnen bestehenden Muskeln.
Während man früher der Meinung war, dass die Muskelfasern in
ihrer Länge im Allgemeinen den gröberen Muskelbündeln, bezw. dem
ganzen Muskel entsprechen, ist es gegenwärtig als sichergestellt zu
betrachten, dass besonders in länger en Muskeln zahlreiche
Fasern frei enden, also kürzer sind, als der Gesammt-
ni u s k e 1. Dabei sind entweder beide freien Enden zugespitzt , die
ganze Faser daher spindelförmig, oder es ist nur ein Ende frei,
während das andere abgestumpfte mit der Sehne in Verbindung steht.
In kleinen Muskeln besitzen dagegen nach Kölliker alle Muskel-
fasern die Länge des Gesammtmuskels und enden meist beiderseits
abgerundet.
Fast alle quergestreiften vielkernigen Muskelfasern (eine Aus-
nahme bilden nur gewisse Arthropodenmuskeln) besitzen eine deutlich
nachweisbare Hülle , das Sarkolemma, welches eine dünne durch-
sichtige, völlig structurlose Membran darstellt, die den Inhalt des
Primitivbündels (Sarkoplasma mit den Kernen und Fibrillen) un-
mittelbar und dicht umschliesst; es ist daher auch nur an Stellen gut
sichtbar, wo entweder in Folge von Verletzungen der Faser oder
sonstigen Einwirkungen der Inhalt des Muskelschlauches sich von
der Wand zurückgezogen oder umgekehrt die letztere sich blasig ab-
gehoben hat (durch eingedrungenes Wasser).
Das Sarkolemma, welchem nach K ö 1 1 i k e r bei den Wirbelthieren
die Bedeutung einer echten Zellmembran zukommt, ist schon in
frühen Entwickelungstadien der Muskelfasern als ein äusserst zartes
Häutchen nachweisbar, welches von Anderen als ein Product des die
Muskelzelle umgebenden Bindegewebes angesehen wird.
Der gewöhnlich üblichen Bezeichnung entsprechend, erscheinen
die vielkernigen Muskelfasern in der Regel mehr oder weniger deutlich
quer, d. i. senkrecht zur Faseraxe gestreift, eine Eigenthümlichkeit,
24 ßäii und Structiir der Muskeln.
welche sie mit manchen einkernigen Muskelzellen der Evertebraten und
Wirbelthiere teilen, und die auch in beiden Fällen, wie gezeigt werden
wird, auf dieselben Ursachen zurückzuführen ist.
Fast in allen Fällen bemerkt man nebst der Querstreifung
auch noch eine auf den fibrillären Bau zurückzuführende Längs-
streifung, welche bald sehr fein ist, bald wieder den Faserinhalt
in relativ grobe Bündel theilt. Auch ist das Verhältnis« der Deutlich-
keit, mit welcher die Quer- und Längsstreifen gleichzeitig ausgeprägt
erscheinen , bei verschiedenen Muskelfasern ein ausserordentlich
wechselndes. Während in manchen Fällen die Querstreifung kaum
merklich, dagegen die Längsstreifung sehr ausgeprägt hervortritt, be-
obachtet man in anderen Fällen ein gerade gegentheiliges Verhalten.
Selbst verschiedene Stellen einer und derselben Faser können in dieser
Beziehung ein sehr wechselndes Aussehen darbieten.
Es hängt dies im Wesentlichen ab von dem Verhältniss
zwischen den contractilen Fibrillen und dem zwisclien
ihnen befindlichen Sarkoplasma, welches, wie insbesondere
neuere Untersuchungen gezeigt haben, sich sowohl bei den Muskeln
verschiedener Thiere, wie auch bei verschiedenen Muskeln einer
Thierspecies ausserordentlich wechselnd gestalten kann. Wie schon
erwähnt, giebt hierüber die Untersuchung des Querschnittes den besten
und sichersten Aufsehluss. Was an einem solchen unter allen Um-
ständen auffällt, ist die auch in der völlig entwickelten Faser un-
gleichmässige Vertheilung der Fibrillen über den Querschnitt. Es
sind dieselben zu kleinei-en oder grösseren Bündeln (Muskel-
säulchen) zusammengeordnet, welche durch mehr oder Aveniger
dicke Scheiden (in der Längsansicht Streifen) von Sarkoplasma
(Zwischensubstanz, interfibrilläre Substanz, Sarkoglia)
von einander getrennt sind, wie dies auch bekanntlich bei vielen
glatten und quergestreiften einkernigen Muskelzellen der Fall ist. Je
reichlicher das Sarkoplasma vorhanden ist, um so leichter zerfällt bei
dem Versuche der Zerfaserung ein Primitivbündel in „Muskelsäulchen''
d. i. Fibrillen b und el, die durch geeignete Mittel noch weiter in
die eigentlichen elementaren Fibrillen gespalten werden können.
Wie bei den einkernigen Muskel zellen , so lassen sich auch bei den
vielkernigen Muskel f a s e r n im Allgemeinen zwei verschiedene Formen
oder Typen von „Muskelsäulchen" unterscheiden. Entweder bilden
dieselben, wie bei vielen Evertebratenmuskeln, plattbandförmige Bündel,
welche nur aus einer oder wenigen Reihen von Fibrillen zusammen-
gesetzt sind oder (und es ist dies der häufigere Fall) die Bündel er-
scheinen cylindrisch oder prismatisch, auf dem Querschnitt also kreis-
rund oder polygonal.
Wenn, wie in der Mehrzahl der Fälle, prismatische Muskel-
säulchen durch eine verhältnissmässig geringe Menge von „Zwischen-
substanz" von einander getrennt sind, entsteht auf dem Querschnitt
das Bild einer Mosaik polygonaler Feldchen, welches zuerst von
Cohnheim beschrieben wurde; man bezeichnet daher wohl auch
diese Querschnitte der Muskelsäulchen als „ C o h n h e i m s c h e
Felder" (Fig. 18 a, h). Ob das die Muskelsäulchen rings einscheidende
Sarkoplasma auch zwischen die einzelnen Fibrillen selbst eindringt,
ist fraglich; Rollett bestreitet dies, während Kölliker ein in
äusserst geringer Menge vorhandenes, mit dem Sarkoplasma identi-
sches Querbindemittel annimmt, das jedoch nur bei ganz starken
Bau und Structur der Muskeln. 25
Vergrösserungen erkannt wird und jede Fibrille ihrer ganzen Länge
nach umhüllt und bekleidet.
Von diesem letzteren Gesichtspunkte aus lässt sich daher jede
Muskelfjiser auffassen als ein Bündel von Fibrillen, die durch eine
stellenweise reichlicher angehäufte Zwischensubstanz zusammen-
gehalten werden, „Je nachdem diese Ansammlungen zahlreicher oder
minder häufig sind, sind auch die Muskelsäulchen grösser oder kleiner,
schärfer oder schwächer ausgeprägt." (Kölliker.)
Das Mengenverhältniss zwischen den beiden Hauptbestandtheilen des
Inhalts einer Muskelfaser, den Fibrillen (der „Rhabdia" Kühne's)
und dem Sarkoplasma, ist, wie schon erwähnt wurde, bei ver-
schiedenen Thieren und bei verschiedenen Muskeln desselben Thieres
ein äusserst verschiedenes, und das Gleiche gilt auch hinsichtlich der
Lage der Kerne. Man kann in dieser Beziehung wieder zwei Gruppen
von quergestreiften Fasern der Wirbelthiere unterscheiden, solche
mit reichlich vorhandenem und solche mit spärlichem
^;^
Fig. 18. a Querschnitt durch eine Muskelfaser vom Kaninchen (Fibrillenbündel
dunkel, Sarkoplasma hell). (Nach Kölliker.) — b Querschnitt durch eine
Muskelfaser vom Frosch; links sind die Querschnitte der Fibrillen eingezeichnet.
(Nach Schiefferdecker.)
Sarkoplasma. Die ersteren erscheinen in Folge der gewöhnlich
reichlich im Sarkoplasma eingebetteten „insterstiti eilen Körnchen" bei
mikroskopischer Betrachtung in der Regel ziemlich trübe, mit un-
deutlicher Quer-, dagegen sehr ausgeprägter Längsstreifung.
Demgegenüber erscheinen die plasmaarmen Fasern heller durch-
scheinend und gewöhnlich sehr scharf quergestreift. In ganz dem-
selben Sinne haben wir bereits oben bei Ei'örterung des Baues der
einkernigen Muskelzellen der Evertebraten und Wirbelthiere helle
und trübe, plasmaarme und plasmareiche Elemente zu unterscheiden
Veranlassung gehabt und insbesondere die Herzmuskelzellen als durch-
weg „trübe" und plasmareich kennen gelernt. Ein besonders typi-
sches Beispiel plasmareicher, vielkerniger Muskelfasern von Wirbel-
thieren bieten die Flossenmuskeln des Seepferdchens (Hippo-
campus). Auf dem Querschnitt sieht man ähnlich wie bei den oben
beschriebenen Muskeln der Salpen oder der Muskulatur des Herzens
von Crustaceen bandförmige und platte Fibrillenbündel (Muskel-
säulchen) in ziemlich unregelmässig verschlungenen Gruppen und
Säulen in das überaus reichlich entwickelte Sarkoplasma eingebettet,
das auch eine dicke Rindenschicht bildet, innerhalb deren die Kerne
26
Bau und Structur der Muskeln.
gelegen sind (Fig. 19). Aehnliche bandförmige Muskelsäulchen linden
sich in den Muskeln der Seitenlinie des Karpfens, die sich
ebenso auch durch eine mächtige Ansammlung von kernführendem
Sarkoplasma dicht unter dem Sarkolemma auszeichnen (Fig. 20).
Fig. 19. Querschnitte durch zwei Flossen-
muskelfasern von H i p p o c a ra p u s ; Ms
Fibrillenbündel (Muskelsäulchen), Sp Sarko-
plasma. (Nach Eollett.)
Fig. 20. Querschnitte von Muskel-
fasern der Seitenlinie des Karpfens.
(Nach Kölliker.)
-ife
M^'
g^^<,ieä«=>'
Fig. 21. a aus einem Querschnitt durch
den grossen Brustmuskel vom Falken;
b aus einem 'Querschnitt durch den
grossen Brustmuskel der Gans; c aus
einem Querschnitt durch den grossen
Brustmuskel des Haushuhns. (Nach
Knoll.)
Bei demselben Fisch finden sich ferner auch Muskelfasern (Seiten-
rumpfmuskeln), welche wie manche Herzrauskelzellen (Mensch, Pferd)
eine periphere Schicht von platten , bandförmigen Fibrillenbündeln
aufweisen, Avährend das Innere von polygonalen erfüllt ist; auch hier
liegen die Kerne in der die ganze Faser umhüllenden Sarkoplasma-
Bau und Structur der Muskeln. 27
schichte. Einen analogen Bau zeigen auch die entsprechenden Muskehi
vieler anderer Fische.
Bei höheren Wirbelthieren zeigt der Querschnitt der Stanimes-
muskeln in der Regel polygonale Felder, welche nur durch geringe
Mengen von Sarkoplasma getrennt sind (Cohnheimsche Felder, Fig.
18 a). Doch giebt es auch hier noch Unterschiede, entsprechend den
trüben und hellen Muskeln, der reichlicheren oder spärlichen Ent-
wickelung des Sarkoplasmas. Bei den Amphibien herrschen im All-
gemeinen die hellen Fasern vor; eine Ausnahme bildet jedoch die
Kehlmuskulatur der Batrachier; einen erheblichen Reichthum an Sar-
koplasma fand K n 0 1 1 auch in den Fasern der Kiefermuskeln der
Reptilien, sowie in den Extremitätenmuskeln von Lacerta und
Cistudo. Umgekehrt überwiegen bei den Vögeln bei weitem trübe,
protoplasmareiche Fasern, die insbesondere die beim Fluge betheiligten
Muskeln (Brustmuskeln)
zusammensetzen. Bei dem j Sfjs-j: i-- s s s s a- s
Haushuhn enthalten je- öfffll; Bfil lf|j
doch gerade die Brust- »-4'<K?*r>-\ " °^:'^'; llr z //ll|
und Rückenmuskeln aus- « /5*^'"^^'^^S» '"-IIHI//|
schliesslich helle Fasern, jMvSSl^'rOX ^
die bei der Gans und
Taube an gleicher Stelle ^ «»»••' ^- '»'-»»— .--w«
nur spärlich vorkommen »»V^<*Vm*«w5'ä»*^*
und beim Falken, dem V^*k« *^%*k"vi1o^
und beim Falken, dem V''V^"^':\
Sperling, der Dohle ganz- *%t^^?S^fF^
lieh fehlen (Fig. 21). Von >-^- > "^*
den Vögeln aufwärts herr-
schen im Allgemeinen
die trüben Fasern vor. y-^^ 22. Quer- und Längsschnitt durch eine Muskel-
Besonders ausgezeichnet faser der Fledermaus. Sarkoplasma hell, Fibrillen-
durch ihren Reichthum bündel (Muskelsäulchen) dunkel. (Nach Rollett.)
an Sarkoplasma fand
Rollett die Elemente der Stammesmuskulatur der Fledermäuse.
Hier bildet das Sarkoplasma auf dem Querschnitt zahlreiche grobe,
unregelmässig gestaltete, nach der einen oder anderen Richtung
ausgezogene Knoten , welche durch dünne , zarte Plasmabalken mit
einander verbunden sind; in den Zwischenräumen liegen die
Muskelsäulchen (Fig. 22 a). Von der Fläche gesehen, erscheinen die
Fasern dementsprechend grob, längsgestreift, bedingt durch den
Wechsel der Sarkoplasmaschichten und der Muskelsäulchen (Fig. 22 b).
Bei den meisten anderen Säugethieren finden sich trübe, relativ
plasmareiche Fasern vielfach mit hellen untermischt als Bestand-
theile der Stammesmuskulatur. Durch ihren Reichthum an „trüben"
Fasern ausgezeichnet fand K n o 1 1 besonders die Augen-, Kau- und
Athmungsmuskeln (besonders das Zwerchfell). Fast in allen Fällen
erscheinen bei Wirbelthieren die trüben Fasern schmaler als die
hellen. Dies macht sich besonders auf Querschnitten von Muskeln
bemerkbar, welche beide Faserarten gemischt enthalten (Brustmuskel
der Taube, die meisten Amphibien- und Säugethiermuskeln) (Fig. 21).
Ausserdem zeichnen sich in sehrvielenFällen die „trüben"
Muskelfasern zugleich auch durch eine intensiv rothe
Färbung aus, av ä h r e n d die „hellen" mehr weiss er-
scheinen. So ist bei vielen Fischen die „trübe" Muskulatur an
28 i^au und Stnictur der Muskeln.
den Seitenlinien, sowie auch die Flossenmuskulatur (und das Herz)
zugleich intensiv roth gefärbt, ebenso sind bei Rana escul. und temp.
die Muskeln der Kehlhaut (und das Herz) trüb und roth.
Die quergestreifte Muskulatur der Säugethiere ist bekanntlich
zumeist roth und enthält, abgesehen von den durchweg trüben Herz-
muskelzellen und den Muskeln der Fledei
und helle Fasern unter einander vermengt.
Sehr auffallend ist der Farbenunterschied verschiedener Muskeln
besonders bei domesticirten Thieren, So ist die weisse Farbe der aus-
schliesslich aus hellen Fasern bestehenden Brust- und Rückenmuskeln
des Huhnes allbekannt (Fig. 21 c), während die Extremitätenmuskeln
roth und trübe erscheinen; auch beim zahmen Kaninchen und Meer-
schweinchen finden sich neben rein rothen (Herz , Zwerchfell u. a.)
auch weisse, blasse Muskeln; erstere enthalten wieder vorAviegend
trübe, letztere vorwaltend helle Fasern, doch steht die Intensität der
Färbung und der Trübung nicht durchweg im Verhältniss zu ein-
ander. So sind bei der Taube die rothen Flugmuskeln vorwiegend
aus trüben, die ebenfalls rothen Beinmuskeln dagegen aus hellen
Fasern zusammengesetzt, und auch beim Kaninchen unterscheidet sich
in Bezug auf den Plasmareichthum der intensiv rothe Soleus nur
wenig von dem weissen Adductor magnus. Auch bei Triton und
Salamandra ist die Muskulatur der Extremitäten röthlich; jedoch
nur in einzelnen Fasern ausgeprägt trüb; die übrigen Muskeln sind
dagegen wieder weiss und hell. Auch in Bezug auf Zahl und Ver-
theilung der Kerne würden sich nach Ran vi er Unterschiede zwischen
rothen und blassen Muskelfasern ergeben, doch scheint es sich hier
nach Knoll nicht um eine durchgreifende Regel zu handeln. Er
fand in allen untersuchten Säugethiermuskeln „ganz vorwaltend"
randständige, in einzelnen Fasern aber stets auch innenständige Kerne,
und zwar nicht nur in rothen Muskeln, wie Ran vi er angiebt, sondern
auch in ausgeprägt weissen Fasern (wie z. B. dem Adductor magnus
des Kaninchens). Im Allgemeinen entspricht die centrale Lage der
Kerne einem niedrigeren Entwickelungsgrad der Muskelfasern und man
findet sie demgemäss auch als Regel nur bei Fischen und Amphibien,
bei welch letzteren sich zahlreiche Kerne oft zu Längsreihen ver-
bunden finden, Avährend bei den Muskelfasern der Vögel und Säuger
die Kerne meist nur peripher dicht unter dem Sarkolemma liegen;
doch kommen, wie erwähnt, auch hier Ausnahmen vor.
Innerhalb des Sarkoplasmas, welches, wie aus seiner Entwickelung
sich ergiebt, als Rest des ursprünglichen Bildungsplasmas zu denken
ist, liegen die von K ö 1 1 i k e r als „interstitielle Körner" be-
zeichneten Gebilde, durch deren starkes Lichtbrechungsvermögen,
hauptsächlich , wenn sie in grösserer Menge zwischen den Fibrillen-
bündeln angehäuft sind, die „trübe" undurchsichtige Beschaffenheit
gewisser Muskelfasern bedingt wird.
Die grösste Mannigfaltigkeit in Bezug auf die Massenentwickelung
und das gegenseitige Verhältniss zwischen Sarkoplasma und Fibrillen
bieten die anatomisch und functionell höchststehenden quergestreiften
Muskelfasern der Arthropode n dar. Mit Rücksicht auf gewisse
sehr grosse Unterschiede des Baues, denen zweifellos nicht minder
bedeutende funktionelle Verschiedenheiten entsprechen dürften, kann
man hier zwei Haupttypen quergestreifter Fasern unterscheiden, die
allerdings nur bei gewissen Arthropoden, dann aber stets räumlich
Bau und Structur der Muskeln.
29
gesondert, vorkommen. Es sind dies die von Kölliker als „typische"
und „atypische" bezeichneten Fasern, von denen die ersteren
wesentlich denselben Bau wie diejenigen der Wirbelthiere zeigen,
während die letzteren, welche einzig und allein die Thoraxmuskeln
der fliegenden Insecten bilden, eine sehr abweichende Structur
zeigen. Was zuächst die ersteren anlangt, so kann man wie bei den
Wirbelthieren , Fasern mit prismatischen, im Querschnitt
polygonalen Muskelsäulchen und andererseits solche
mit bandförmigen, platten Fibrillenbündeln unterscheiden.
Ein typisches Beispiel für den ersteren Fall bieten die Muskeln der
Crustaceen (Astacus), welche im Querschnitt ein ganz ähnliches
Bild einer Mosaik polygonaler Cohnheimscher Felder darbieten, wie
die meisten Wirbelthiermuskelfasern (Fig. 18 h). Immerhin ist jedoch das
Sarkoplasma reichlicher vorhanden ; es werden durch dasselbe nicht nur
jedes einzelne, sondern auch grössere Gruppen von Muskelsäulchen
Fig. 23. Theil eines Querschnittes
durch eine Muskelfaser von M a j a
squinado; S .Sarkoplasma, M
Muskelsäulchen. (Nach Scliief-
ferdecker.)
mM^^
f
''■^■-4^
'■^*»35^,«*^_
Fig. 24. Querschnitt durch eine Muskelfaser
von Hydrophilus; Sarkoplasma hell, Muskel-
säulchen dunkel. (Nach Rolle tt.)
eingescheidet, indem (ähnlich wie auch bei Muskelfasern von Amphi-
bien) dickere, meist kernführende Lamellen das Muskelinnere durch-
ziehen; ausserdem bildet das Sarkoplasma (wie bei gewissen Muskel-
fasern der Fische) auch direct unter dem Sarkolemma eine zusammen-
hängende, mehr oder weniger dicke Schicht. Sehr schön lässt sich dieser
Bau der Fasern an den Muskeln von M a j a Squinado erkennen
(Fig. 23). Bei Käfern kommen polygonal- prismatische Muskel-
säulchen sehr häufig vor; dabei kann die Vertheilung des Sarko-
plasmas entweder eine gleichmässige sein, oder man sieht auf dem
Querschnitt stellenweise stärkere knotige Anhäufungen derselben.
Bisweilen findet sich auch ein Strang von Sarkoplasma innerhalb
jedes einzelnen, in diesem Falle hohlen prismatischen Muskelsäulchens,
so z.B. bei Hydrophilus (Fig. 24). Die Kerne liegen bei Käfer-
muskeln mit polygonalen Cohnheimschen Feldern entweder peripher
dicht unter dem Sarkoplasma oder (seltener) im Innern eines oder
mehrerer, das Innere der Faser der Länge nach durchziehender Sarko-
plasmastränge.
30 Bji^i und Structur der Muskeln.
Bisweilen findet sich das Sarkoplasma nur in der Mitte der Faser
innerhalb eines rundlichen oder spaltförmigen Raumes in grösserer
Menge angehäuft, während die in diesem Falle sehr breiten, band-
förmigen Muskelsäulchen radiär, wie die Blätter eines Buches die
centrale kernfuhrende Plasmamasse umstellen und nur durch ganz
dünne Lamellen von Sarkoplasma von einander getrennt wei'den, ein
Verhalten , wie es auch in ähnlicher Weise von einkernigen Muskel-
zellen vieler Evertebraten bekannt ist. Directe Uebergänge zu diesem
für die Dy ticidenmuskeln charakteristischen Bau liefern nach
Rollett zahlreiche kleinere Carabiden, z. B. Brach inus und
Wespen, deren Muskelfasern im Querschnitt mehr oder weniger
langgestreckte und mit ihren langen Durchmessern radiär gestellte
Cohnheimsche Felder aufweisen. Retzius(19) gebührt das Verdienst,
das erwähnte äusserst zierliche Querschnittbild der Muskelfasern von
Dyticus marg. auf Grund von Goldpräparaten, auf die wir noch
zu sprechen kommen, zuerst be-
schrieben zu haben (Fig. 25).
Seine Deutung der Bilder, der
sich später Bremer, v. Ge-
buchten und R a m 0 n y C a j a 1
anschlössen, muss jedoch haupt-
sächlich auf Grund der classi-
schen Untersuchungen R o 1 1 e 1 1 ' s
entschieden als eine irrthümliche
bezeichnet -werden. Retzius
fasste die centralen Muskelkerne
mit dem sie umhüllenden Sarko-
Fig. 25. a Querschnitte durch zwei Mus
kelfasern (Extremitäten) von D y t i c u s m ;i
ginalis; * Theil des Quersehnittbildes im plasma als wirkliche Zellen (analog
Moment der Einwirkung verdünnter Säure. Schultze's „Muskelkörperchen")
Zwischen den primären Sarkoplasmaleisten ^^j^ feinsten Fortsätzen auf und
sieht man kieme secundare Leistcnen, welche ^ ^ , -\ i i • i tvt
die Querschnitte einzelner Fibrillen ah- ghiubte, dass SOlche m der Mus-
grenzen. (Nach v. Lim heck.) kelfascr horizontal ausgespannte
Fadennetze in regelmässigen Ab-
ständen über einander angeordnet wären, in deren Maschen die
Fibrillen zu liegen kommen. Dieser Auffassung zufolge würden
daher die Grenzen der Cohnheimschen Felder, wie dieselben auch
immer im Einzelnen gestaltet sein mögen, nicht als optischer
Ausdruck des an den Grenzen der Muskelsäulchen stärker an-
gehäuften Sarkoplasmas anzusehen sein, welches als ein Netz von
Scheidewänden die ganze Länge der Muskelfasern durchsetzt, sondern
als das Flächenbild der über einander gelagerten Fadennetze, welche
von den Zellfortsätzen der Muskelkörperchen gebildet werden und
in der Längsrichtung nur durch feine Fäserchen mit einander ver-
bunden sein sollten. Abgesehen davon, dass das Aussehen optischer
Querschnitte einer Muskelfaser dann in verschiedenen Tiefen ein
wechselndes sein müsste, je nachdem auf ein Querfadennetz oder
zwischen je zwei solche eingestellt wird, indem im ersten Falle
Cohnheimsche Felder, im anderen nur ein System von Punkten, den
Querschnitten der verbindenden Längsfasern entsprechend, hervor-
treten müsste, was keineswegs der Fall ist, spricht, wie mir scheint,
vor Allem auch eine vergleichende Betrachtung der Entwickelung
und des Baues der entwickelten Muskelfasern und -Zellen verschiedener
Bau und Structur der Muskeln. 31
Thiere ganz entschieden gegen die erwähnte Auffassung. Im Uebrigen
darf auf die ausführliche Kritik von Rollett verwiesen werden (20).
Sehr eigenthümliche Verhältnisse findet man bei den Mukeln der
Fliegen (Fig. 26). Wie der Querschnitt zeigt, sind auch hier die
Fibrillenbündel platt bandförmig, durchschnittlich nur aus einer Lage
von Fibrillen bestehend ; dabei liegen aber dieselben derartig in
Reihen zusammengeordnet, dass gewissermaassen zwei, mitunter auch
drei Röhren entstehen, die in einander stecken und durch Schichten von
Sarkoplasma aussen umgeben , von einander getrennt und innen er-
füllt werden. In dem innersten axialen Plasmacylinder liegen die
Kerne; dementsprechend gestaltet sich auch das Bild des Längen-
schnitts einer solchen Faser. Diese wenigen Beispiele dürften ge-
nügen, um von der Mannigfaltigkeit der Querschnittsbilder dieser
„typischen" Athropodenmus-
keln eine annähernde Vorstellung
zu geben. Ehe wir zur Be-
sprechung des Baues der „aty-
pische n" Flugmuskeln (Thorax-
hbrillen) der Insecten übergehen,
soll noch kurz die Frage der
Zusammensetzung der „Muskel-
säulchen" aus „Fibrillen" erörtert
werden.
Der directe Nachweis ist
hier, wie bei den Wirbel thier- ^ '^yZ2-
muskeln, vielfach schwerer zu
führen, als bei manchen Muskeln ^^S'- ^6 Querschuitte durch quergestreifte
1 TH i- 1 X t^< n i. j. Muskelfasern von Musca domestica.
der Evertebraten. Selbst unter ^^ schwach, B stark vergrössert, Ms band-
den günstigsten Bedingungen, wie förmige Muskelsäuich en (Fibrillenbündel),
z.B. nach Behandlung mit Gold- »Sp Sarkoplasma. (NachSchiefferdecker.)
chlorid, wodurch das Sarkoplasma
intensiv roth oder schwärzlieh gefärbt wird, während die Substanz der
Fibrillen ungefärbt bleibt, so dass die Cohnheimschen Felder sich auf das
Schärfste von einander abgrenzen, lässt sich innerhalb derselben auch bei
den stärksten Vergrösserungen in der Regel keine weitere Differenzirung
wahrnehmen; sie erscheinen vielmehr vollkommen homogen. Nichts-
destoweniger gelingt es bei Anwendung geeigneter Mittel (Alkohol,
Säuren), welche den Zerfall der Muskelfasern in Fibrillen begünstigen
oder eine Quellung derselben bewirken, diese letzteren auch auf dem
Querschnitt zu sehen. Es erscheinen dann die Cohnheimschen Felder
selbst wieder in dicht neben einander liegende rundliche Feldchen ge-
theilt (Fig. 25 b und 26 B). Auch auf dem Längsschnitt lässt sich
unter diesen Umständen die fibrilläre Structur der Muskelsäulchen
wenigstens stellenweise deutlich erkennen. Immerhin wird man aber
zugeben müssen, dass im Vergleich zu der Sicherheit, mit welcher der
Nachweis der Muskelsäulchen gelingt, die Natur derselben als Fi-
brillenbündel ausserordentlich viel schwerer zu erweisen ist.
Wenn der Reichthum an Sarkoplasma schon bei den „typischen"
Arthropodenmuskeln gegenüber den meisten Skelettmuskeln der
Wirbelthiere deutlich hervortritt, ist dies doch in einem noch unver-
hältnissmässig höheren Grade der Fall bei den „atypischen"
Thoraxmuskeln der Insecten, die man jenen gegenüber als „trübe"
Muskeln bezeichnen müsste, was um so gerechtfertigter erscheint, als
32 Bau und Structur der Muskeln.
sich dieselben gerade wie die plasraareichen Muskelzellen und -fasern
der Wirbelthiere und vieler Evertebraten , in der Eegel auch durch
eine dunklere (röthliche oder bräunlich-gelbe) Färbung vor den hellen
weisslichen Extremitätenmuskeln auszeichnen. Vor Allem aber sind
die von Siebold entdeckten und von Kölliker zuerst näher be-
schriebenen Flugmuskeln der Insecten (Thoraxiibrillen) dadurch aus-
gezeichnet, dass sie ausserordentlich leicht in sehr breite (1 — 4 /.i)
Fibrillen zerfallen, welche in Lücken des aussergewöhnlich reich ent-
wickelten Sarkoplasmas stecken. Dieses letztere ist in der Regel
reichlich durchsetzt von „interstitiellen Körnern" , die oft eine un-
gewöhnliche Grösse erreichen und in regelmässigen Längsreihen
zAvischen den Fibrillen angeordnet sind.
Vielfach fällt ferner bei der Untersuchung frischer Präparate der
Reichthum an Tracheen auf, welche die Fibrillenbündel nicht nur von
Aussen umspinnen, sondern, wie man sich besonders an Querschnitten
zu überzeugen Gelegenheit hat, auch ins Innere der einzelnen
Fasern eindringen und sich im Sarkoplasma aufs Reichste verzweigen.
Innerhalb der Maschen des Tracheennetzwerkes erkennt man am
Querschnitt leicht eine Mosaik von Kreisen, welche den einzelnen
Fibrillen entsprechen, deren Durchmesser im Vergleich zu den so
überaus feinen Elementarfibrillen der Extremitätenmuskeln ausser-
ordentlich gross ist.
In der Regel fehlt den als Muskelfasern anzusprechenden
grösseren Fibrillenbündeln der Flugmuskulatur der Insecten ein
Sarkolemma, und sie werden nur durch die umgebende lockere Binde-
substanz begrenzt und im Innern gestützt durch das System ver-
zweigter Tracheen. Die Tracheenäste bilden so gleichsam das Skelett
eines Fibrillenbündels , während das Sarkoplasma die Lücken aus-
füllt, welche noch zwischen den Fibrillen und den Tracheenästen frei
bleiben.
Ueberblickt man die Reihe der mitgetheilten Thatsachen betreffs
der Massenentwickelung des Sarkoplasmas im Verhältniss zur eigent-
lichen contractilen Substanz der Fibrillen, bei einkernigen sowohl wie
vielkernigen Muskelzellen, so scheint sich im Allgemeinen zu ergeben,
dass durch die sarkoplasma reichsten Elemente sich
stets jene Muskeln auszeichnen, welche am anhaltend-
sten oder am stärksten in Anspruch genommen sind.
(Herz- und Kaumuskeln der Evertebraten und Wirbelthiere, Flossen-
muskeln von Hippocampus und anderen Fischen, ein Theil der Seiten-
rumpfmuskeln der Fische besonders in der für die Ortsbewegung
wesentlicheren Schwanzgegend.)
Auf einen hierher gehörigen bemerkenswerthen Fall von Ver-
schiedenheit der Schwanzmuskulatur bei Torpedo und Raja hat
Knoll (13. pag. 47) aufmerksam gemacht; während bei ersterer
beiderseits je ein starker Streif rother, trüber Muskulatur sich findet,
fehlt dieselbe hei R a j a vollkommen ; dem entsprechen Verschieden-
heiten der Schwimmbewegungen beider Thiere, indem bei Torpedo
der geschmeidige Schwanz hierbei heftige, seitlich schnellende Be-
wegungen ausführt, während dies bei der Raja nicht der Fall ist. Bei-
spielsAveise sind hier noch zu erwähnen die Flugmuskeln der Insecten
und Vögel; die besten Flieger haben im grossen Brustmuskel aus-
schliesslich oder fast ausschliesslich plasmareiche, die schlecht-
fliegenden Hühnervögel ganz vorwaltend plasma arme Fasern •, in
Bau und Structur der Muskeln. 33
den der Ortsbewegung dienenden Muskeln der Amphibien, Reptilien
und Säuger finden sich plasmaarme und plasmareiche Fasern ver-
mengt; letztere sind bei den wild lebenden Arten der Säugethiere
hier zahlreicher, als bei den domesticirten , wo sie bei den
Nagern (Kaninchen) in gewissen Abschnitten der Extremitäten-
muskulatur gar nicht oder nur äusserst spärlich zu finden sind ; bei
den Fledermäusen andererseits sind die Fasern der gesammten
Muskeln durchaus plasmareich.
So gewinnt es den Anschein , dass eine ganz directe Be-
ziehung besteht zwischen der Ausdauer und Kraft der
contra etilen Fibrillen und der Menge des sie umgeben-
den Sarkoplasmas (Knoll).
Vermittelt dieses, wie schon Sachs vermuthete, wesentlich die
Ernährung und den Stoffwechsel der Muskelfibrillen (d. i. der con-
tractilen Substanz), so würde eine solche Beziehung leicht verständlich
sein. In der That kann nicht bezweifelt werden, dass im Sarkoplasma
lebhafte chemische Umsetzungen stattfinden, was sich unter Anderem
aus dem so häufigen Auftreten von Fetttröpfchen in demselben ergibt,
die zu den obenerwähnten interstitiellen Körnchen in naher genetischer
Beziehung zu stehen scheinen (Knoll); ferner wurde auch gezeigt,
dass gewisse Stoffe , welche in die Muskelfasern eindringen , sich im
Sarkoplasma weiter verbreiten; so fand Leo Gerlach (21) an
Muskelfasern von Fröschen, welche mehrere Tage mit Indigocarmin
behandelt worden wanm, eine blaue Sprenkelung, besonders nach
dem Sehnenende der Fasern zu, welche durch die Aufnahme von
Indigo bedingt wird und oft deutlich eine reihenweise Anordnung
zeigte. Die Reihen blauer Körnchen liegen, wie in anderen Fällen
die Fetttröpfchen, zwischen den Fibrillen im Sarkoplasma; es musste
sonach das Indigocarmin von diesem in gelöster Form aufgenommen
worden sein. Wenn somit dem interfibrillären Plasma wahrscheinlich
die Rolle zufällt, die Ernährung der contractilen Substanz zu ver-
mitteln, so erscheint der grössere Reichthum der am stärksten und
ausdauernd arbeitenden Muskeln an Sarkoplasma wohl verständlich.
In einem nahen Zusammenhang hiermit scheint dann auch die so
häufige Pigmentirung der „trüben" plasmareichen Muskelfasern zu
stehen, für welche im Vorstehenden genügend Beispiele genannt
wurden. Es sei hier nur erinnert an die im Gegensatz zur Leibes-
muskulatur tief purpurroth gefärbten Buccalmuskeln mancher Schnecken
(Chiton, Haliotis, Limnäus, Trochus, Paludina, Littorina, Patella),
die Herzmuskeln vieler Wirbellosen und aller Wirbelthiere, sowie die
haemoglobinhaltigen trüben rothen Muskeln.
Zu einer ganz anderen Eigenschaft der Muskelelemente, nämlich
der Schnelligkeit der Contraction, scheint dagegen die im
Folgenden noch näher zu erörternde feinere Structur der ein-
zelnen Elementarfib rillen in Beziehung zu stehen. Es Avurde
schon früher hervorgehoben, dass eine deutlich ausgeprägte Quer-
streifung der Fibrillen bei den einkernigen Muskelzellen der
Evertebraten nur ausnahmsweise vorkommt, und stets handelt es sich
dann (wie z. B. bei den Medusen, bei dem Schliessmuskel von
Pecten u. s. w.) um relativ rasch sich zusammenziehende Muskeln.
So bemerken auch O. und R. Hertwig (22), dass das Einzelthier des
Hydroidstöckchens glatte Muskelfibrillen hat, so lange es als träger
Hydroidpolyp am Stocke sitzen bleibt; „es erhält dagegen querge-
Biedormaun , Elektroijhysiologie. 3 ,
34 ^^^ ^^^ Structui- der Muskeln.
streifte Fibrillen, wenn es sich als behende Meduse zu einem frei be-
weglichen Dasein ablöst." Es sind ferner die Muskeln des Tentakel-
apparates der Ctenop hören für gewöhnlich glatt, und nur die
Seitenfäden von Euplocamis, die sich besonders kräftig und rasch
zusammenziehen können, enthalten quergestreifte Muskeln. Bei den
Wirbelthieren besteht dagegen die Hauptmasse der Muskulatur aus
quergestreiften Fasern, und nur die träge reagirenden Muskeln des
Darmtractus, des Urogenitalapparates, der Gefässe sind „glatt", d. i.
die Fibrillen lassen keine weitere Differenzirung erkennen. Bei den
im Allgemeinen durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen ausgezeich-
neten Arthropoden endlich sind sämmtliche Muskeln quergestreift,
und gerade bei ihnen findet man auch die am raschesten zuckenden
Fasern (Thoraxlibrillen der Insecten).
Wie leicht zu zeigen ist, beruht die Querstreifung einer Muskel-
zelle oder Faser auf der Querstreifung der einzelnen
Fibrillen. Jede derselben erscheint der Länge nach in der regel-
mässigsten Weise gegliedert oder richtiger aus einzelnen Schichten
aufgebaut, welche nicht nur in Bezug auf ihre optischen Eigenschaften,
sondern auch in ihrem Färbungsvermögen, sowie überhaupt in ihrem
chemischen und physikalischen Verhalten wesentliche Untei'schiede
zeigen. Am leichtesten lässt sich dieser Bau an den dicken Thorax-
fibrillen der Insecten erkennen, sowie an den als „Muskelsäulchen"
bezeichneten Fibrillenbündeln , welche in Folge der regelmässigen
Nebeneinanderlagerung der einzelnen, oft äusserst feinen Fibrillen
genau dieselbe quere Bänderung zeigen müssen, wie wir sie in diesem
Falle jeder Elementarfibrille zuschreiben. Optisch charakterisirt sich
die Querstreifung im Allgemeinen als eine regelmässige Aufeinander-
folge von hellen und dunklen Schichten, die wie die Münzen in einer
Geldrolle übereinanderliegen. Im Einzelnen kann diese Schichtenfolge
eine sehr complicirte werden, indem vielfach eine ganze Folge heller
und dunkler Lagen gewissermaassen zu einer Einheit höherer Ordnung
zusammengefasst erscheint; immer jedoch ist der regelmässige perio-
dische Wechsel der einzelnen Glieder charakteristisch. Da, wie später
gezeigt werden soll, die einzelnen Schichten sich im Zustande der
Ruhe und der Contraction ganz wesentlich verschieden verhalten, so
soll hier zunächst nur die Schichtung im Ruhezustande be-
sprochen werden.
An einer erschlafften quergestreiften Muskelfaser oder einem
Fibrillenbündel fallen sowohl bei Evertebraten , wie bei Wirbelthieren
bei einer gewissen Einstellung breite dunkle Querstreifen auf, welche
durch schmälere helle von einander getrennt werden, die, wie sich an ge-
eigneten Präparaten unmittelbar erkennen lässt, durch das regelmässige
Aufeinandertreffen gleichartiger Glieder der die Muskelfaser bezw, die
Muskelsäulchen zusammensetzenden Fibrillen zwischen zwei Querschnitt-
ebenen der Faser entstehen. Jedes dunkle Querband erscheint in den
einfachsten Fällen durch eine helle, verwaschene, jedes helle durch eine
dunkle Querlinie in zwei Hälften getheilt (Fig. 27, I, h u. Z), in vielen
Fällen, besonders deutlich, bei Arthropodenmuskeln ist die Gliederung
jedoch eine viel complicirtere (Fig. 27, II u. HI). Es empfiehlt sich, mit
Rollett eine Buchstabenbezeichnung für die einzelnen Glieder der Fi-
brillen bezw. für die durch sie erzeugten Querbänder oder Querscheiben
der ganzen Faser zu wählen. Die grossen, bei tiefer Einstellung dunklen
Abschnitte (Q) zerfallen durch das unter gleichen Umständen helle, in
Bau und Structur der Muskeln.
35
seiner Breite sehr Avechselnde und meist nicht sehr scharf begrenzte
Band (h) in je drei Abtheilungen, die beiden „Quer schichten"
und die schwächer lichtbrechende „Hensensche" Mittelscheibe
(h), die übrigens bisweilen überhaupt nicht wahrnehmbar ist. Als
„Mittelschicht" (M) bezeichnet S ch i e f f e r d e c k e r eine sehr schmale
vonHeusen zuerst genauer gesehene dunkle Linie, welche bisweilen
die vorhin erwähnte „Mittelscheibe" (h) durchsetzt, aber auch nicht
immer sichtbar ist. Die Glieder (Q) sind bei den Arthropodenmuskeln
in der Regel länger als bei den Wirbelthieren , so dass bei gleich-
zeitig sichtbarer fibrillärer Längsstreifung die Muskelfassern das Bild
gewähren, als beständen sie aus langen dunklen Stäbchen und Körner-
reihen (Fig.31). Mit (Z) „Zwischenschicht" (Zwischenscheibe
Engelmann) ist der dunkle Streifen bezeichnet, welcher die bei tiefer
Einstellung hellen Segmente halbirt und schon von Amici gesehen
III
Fig. 27. Schematische Darstellung der Querstreifung bei
Käfermuskeln. (Nach Rollett.)
wurde; Krause beschrieb diesen Streifen als „Querlinie" und
„Grundmembran" seiner noch zu erwähnenden „Muskelkästchen".
Zwischen (Z) und die beiden, im einfachsten Falle (Fig. 27, I) nur
durch diese Schicht getrennten hellen Segmente (J) schieben sich
nun bisweilen zwei dunkle Schichten ein, welche, in ihrem Vorkommen
sehr inconstant, von Rollett mit dem Buchstaben (N) bezeichnet
werden und Engel mann' s „Nebenscheiben" entsprechen (Schema II,
Fig. 27).
Endlich kann (Schema III) die dunkle Schicht (N) inmitten
der hellen Segmente (J) auftreten, so dass die Zwischenscheibe (Z)
beiderseits zunächst von einer hellen Linie (E) begrenzt wird, worauf
(N) und dann wieder eine helle Linie (J) folgt, so dass die ganze
Schichtenfolge (Periode) eines zwischen zwei (Z) eingeschlossenen
Fasersegmentes aus folgenden Lagen besteht: Z, E, N, J, Q, J, N,
E, Z; der nächst einfachere Fall wäre : Z, N, J, Q, J, iV, Z; der ein-
fachste endlich : Z, J, Q, J, Z. Es muss vor Allem bemerkt werden, dass
die eine oder andere der eben erwähnten verschiedenen Schichtenfolgen
keineswegs als eine charakteristische Eigenthümlichkeit aller Muskel-
fasern einer bestimmten Thierart betrachtet werden darf; vielmehr
36 Bau uud Structur der Muskeln.
können die in den beistehenden schematischen Figuren dargestellten
drei Zustände der Querstreifung an einer und derselben Faser
vorkommen und in einander übergehen, wie dies insbesondere an In-
sectenmuskeln von Engelmann constatirt wurde. Es handelt sich
dabei in erster Linie um verschiedene Contractionszustände der Fasern,
und zwar entspricht die complicirteste Art der Querstreifung stets
dem Zustand der grössten Erschlaffung der Faser. Damit soll jedoch
keineswegs gesagt sein , dass es specihsche Verschiedenheiten der
Querstreifung überhaupt nicht gäbe; vielmehr weisen alle Beobach-
tungen darauf hin, dass man, wenn es möglich wäre, Muskelfasern
verschiedener Thiere oder verschiedene Muskelfasern desselben Thieres
in vollkommen erschlafftem Zustande oder bei dem gleichen Grade der
Dehnung zu untersuchen, sehr verschiedene Bilder erhalten würde.
Von allergrösstem Interesse sowohl in morphologischer wie in
physiologischer Hinsicht ist das Verhalten der quergestreiften Muskel-
fasern , bezw. der einzelnen Fibrillenschichten und des Sarkoplasmas
gegen verschiedene Reagentien , und es zeigen sich hier nicht minder
grosse Unterschiede, wie in Bezug auf die optischen Eigenschaften
derselben. Dies prägt sich schon sehr deutlich in der verschiedenen
Färbbarkeit der einzelnen Glieder aus. Behandelt man Querschnitte
oder ganze Muskelfasern in geeigneter Weise mit Hämatoxylin, so
überzeugt man sich ersteren Falls leicht, dass nur die contractile
fibrilläre Substanz der Muskelsäulchen, nicht aber das zwischenliegende
Sarkoplasma gefärbt wird. Vergleicht man damit gelungene Häma-
toxylintinctionen von Muskelfasern in der Längsansicht, so erkennt
man leicht, dass nur die Glieder Q, N und Z den Farbstoff aufnehmen,
während die Zwischenräume zwischen denselben (d. i. das Sarkoplasma)
und die Streifen h, J und E nicht oder nur sehr wenig gefärbt er-
scheinen.
Es wurde schon früher erwähnt, dass durch Behandlung mit
Goldchlorid unter Umständen ein entgegengesetztes Resultat erzielt
wird, indem nur das Sarkoplasma sich färbt, während die darin ein-
gebetteten contractilen Fibrillen gänzlich ungefärbt bleiben. So
kommt es, dass auf dem Querschnitt, wie Thin, ich selbst,
Ger lach, Retzius u. A. gezeigt haben, die Cohnheimschen Felder
farblos innerhalb des bekanntlich sehr verschieden gestalteten rothen
Netzwerkes von Sarkoplasma erscheinen. Auf dem Längsschnitt ist
das Bild, welches vergoldete Muskelfasern gewähren, ein kaum minder
wechselndes. Ger lach, welcher blos Wirbelthiermuskeln untersuchte,
beschreibt dasselbe als „Sprenkelung" ; jede Faser erscheint in ihrer
ganzen Dicke durchsetzt von einer Unzahl dunkler, rother bis
schwarzer Punkte und Striche, die, Avie Gerlach richtig hervorhebt,
stellenweise ganz den Eindruck continuirlicher, oft varicöser Fasern
machen, so dass eine Verwechselung mit feinsten Nervenfibrillen nur
zu nahe liegt (Fig. 28). Viel regelmässiger gestaltet sich das Goldbild
im Allgemeinen bei Arthropodenmuskeln , wo man auch hinsichtlich
der Auffassung desselben leichter unzweideutigen Aufschluss gewinnt.
Vor Erörterung der betreffenden Thatsachen scheint es jedoch
erforderlich, die einfache Säure Wirkung an sich in Kürze zu be-
sprechen, da dieselbe mit der Goldbehandlung stets combinirt ist.
Die erste Wirkung einer Behandlung mit ganz schwachen Säuren
(Essigsäure, Ameisensäure, Salzsäure u. s. w.) lässt sich am besten an
Muskelfasern studiren, welche vorher einige Zeit (24 Stunden) in
Bau und Structur der Muskeln. 37
starkem (93*^ o) Alkohol verweilten ; man sieht dann stets die ersten und
auffallendsten Veränderungen innerhalb der Schichtenfolge (Q h Q)
hervortreten ; dieselbe quillt und erscheint in Folge dessen am Rande
der Faser (bezw. des Muskelsäulchens) hervorgewölbt; dies kann bei
Anwendung einer etwas stärkeren Säure so weit gehen, dass die
Schichten N Z wesentliche Veränderungen erleiden und zwischen den
stark verbreiterten und vollkommen homogen gewordenen Q in sehr
eigenthümlicher Weise gewissermaassen eingezwängt liegen (Fig. 29).
Es kann anderseits in Folge der raschen Quellung der Schichtenfolge
{Q ^^ Q) "^ einem weiter vorgeschrittenen Stadium der Säurewirkung auch
bisweilen zu einem geradezu explosionsartig eintretenden S chei ben-
zer fall der Muskelfasern kommen, indem innerhalb {Q) eine Conti-
M \\% , f
N
^^ Z
y if • .; ■ ■
Fig. 28. Flächenbild einer vergoldeten ^i^^fs^i«"»""""""""
Muskelfaser vom Frosch mit der Gerlach- pig. 29. In Scheiben zerfallende Muskel-
schen „Sprenkelung-. (Nach Bieder- faser von Aphodius rufipes (Alkohol)
mann.) nach schwacher Säurewirkung; Quellung
der Schichten Q. (Nach Rollett.)
nuitätstrennung erfolgt, wodurch eventuell die Schichten J N E,
Z, E N J auseinanderweichen und in Form von Scheiben isolirt
werden. Die Veränderungen, welche das Längsschnitt-Bild der Muskel-
faser unter dem Einfluss stärkerer Säureeinwirkung erleidet, sind dem
Gesagten zufolge theils auf die durch eine verschiedene Quellbarkeit
der einzelnen Fibrillenglieder bedingten Formänderungen der Muskel-
säulchen (bezw. Fibrillen) zurückzuführen, mit welchen Veränderungen
des Lichtbrechungsvermögens Hand in Hand gehen; anderentheils
nimmt über auch das Sarkoplasma an denselben Theil, indem es
seinerseits ebenfalls Veränderungen, sowohl in Bezug auf seine räum-
liche Vertheilung, wie auch hinsichtlich seines Lichtbrechungsver-
mögens, erleidet.
Da die einzelnen Schichten der Fibrillen bezw, Muskelsäulchen
in verschiedenem Grade quellen, so dass jedes Element abwechselnd
verdickt und wieder halsartig eingeschnürt erscheint (eine Form , die
Bau und Structur der Muskeln.
Fig. 30. Muskelfaser
von Opatrum sa-
bulosum in Schei-
ben zerfallen (Alko-
holbehandlung).
(Nach Rollett.)
übrigens Rollett oft auch noch an sich contrahirenden frischen
Muskelfasern beobachtete), so ist leicht ersichtlich, dass das die Muskel-
säulchen einscheidende Sarkoplasma aus den Zwischenräumen der
bauchig anschwellenden Abschnitte theilweise verdrängt werden muss,
Avährend es sich in den Zwischenräumen der verengten Abschnitte an-
sammelt. Nimmt man noch hinzu, dass am gesäuerten, gequollenen
Muskel die Substanz der Fibrillen (Muskelsäulchen) hell, das Sarko-
plasma aber (wie bei hoher Einstellung auf eine normale Faser) dunkel
erscheint, so erklärt sich das ganze Säurebild sehr einfach.
Den eben geschilderten einfachen Säurebildern entsprechen, wie
insbesondere wieder Rollett gezeigt hat, in allen wesentlichen Punkten
die Goldbilder, nur dass bei diesen letzteren die dunkleren Sarko-
plasma-Knoten, sowie die verbindenden Linien in Folge der Metall-
imprägnation zugleich mehr oder weniger intensiv gefärbt erscheinen,
während die Fibrillensubstanz
ungefärbt bleibt, wodurch das
Längsschnittbild der Faser natür-
lich noch wesentlich an Ueber-
sichtlichkeit und Schärfe gewinnt.
Eine von der geschilderten
wesentlich verschiedene Art des
Scheibenzerfalls quergestreifter
Muskelfasern wurde seinerzeit
von B o w m a n n beschrieben und
neuerdings von Rollett an
Insectenmuskeln genauer unter-
sucht. Es handelt sich dabei um
eine eigen thümliche Wirkung
starken Alkohols (93 ^lo), in wel-
chem die Muskeln längere Zeit
(24 Stunden bis 14 Tage) ver-
weilen müssen.
Die Bilder, welche man au
diese Weise gewinnt, sind sehr
charakteristisch (Fig. 30). Han-
delt es sich um Fasern , deren
Querstreifung dem einfachsten Schema {Z J Q li Q J Z) entspricht,
so findet man als Querscheiben die Schichten {Q h Q) entweder voll-
kommen isolirt oder noch innerhalb des Sarkoplasmas liegend, das mehr
oder weniger aufgebläht, durch zarte, den Schichten Z entsprechende
Scheidewände in einzelne, der Länge nach aneinander gereihte Käst-
chen oder Fächer getheilt wird, deren jedes eine Querscheibe enthält,
die in anderen Fällen der Schichtenfolge (N J Q h Q J N) entspricht.
Bemerkenswerth ist hierbei , dass die Schichten (Q h Q) keineswegs
wie bei Säurebehandlung gequollen, sondern nur durch Veränderungen
innerhalb der Schicht Z von einander getrennt sind. Wo sich die
Querwände ansetzen, erscheint das Sarkoplasma eingezogen, während
dazwischen die Wände des Kästchens ausgebaucht sind.
Bowmann erklärte diese Hervorwölbungen, die schon vor dem
endgültigen Scheibenzerfall sichtbar Averden, durch Abheben des Sarko-
plasmas von der Mantelfläche seiner „Discs", zwischen welchen das-
selbe fester adhärire.
Rollett macht dagegen mit Recht darauf aufmerksam, dass sich
«iid«"
Bau und Structur der Muskeln. 39
nicht allein das Sarkolemma, sondern mit diesem auch ein Theil des
Sarkoplasmas ablöst, welches in mehr oder weniger dicker Schicht die
Innenseite des ersteren überzieht, so dass man es vielmehr mit einer
localen Vacuolisirung der Muskelsubstanz zu thun hat.
Mit RoUett, dessen Darstellung des Alkoholscheibenzerfalls ich
nach eigenen Erfahrungen als eine durchaus zutreffende bezeichnen
muss, könnte man sich vorstellen, dass der endosmotische Druck der
Flüssigkeit in den anfänglich um den Muskel entstandenen, ring-
förmigen Canälen sehr stark zunehme, dabei aber die Schicht (Z)
eine besondere Festigkeit und Resistenz besitze, während die daran
stossende Schicht E (bezw. J) besonders weich und darum auch einer
Maceration durch die Flüssigkeit besonders zugänglich ist. Das Re-
sultat wird dann das Freiwerden der zwischenliegenden Schichten in
Form einer Scheibe innerhalb eines Faches sein, dessen Wände oben
und unten von einer Schicht Z, an den Seiten von der gewölbten
Wand des zuerst entstandenen Canales gebildet werden. Eine besondere
Resistenz der Schicht Z ergab sich übrigens schon aus den Unter-
suchungen von Engelmann.
Die Bilder, welche durch den eben geschilderten Scheibenzerfall
der Muskelfasern entstehen, könnten, wie man leicht sieht, zu Gunsten
der von W. Krause vertretenen Anschauung gedeutet werden, der
zufolge jedes Muskelsäulchen sich aus über einander geschichteten
„Muskelkästchen" aufbaut, durch deren Nebeneinanderlagerung
die „Muskelfächer" der ganzen Faser entstehen; jedes Muskelkästchen,
unten von Z, der „Grundmembran", begrenzt, enthält in seinem Innern
ausser Flüssigkeit, (J) entsprechend, ein „Muskelprisma", welches
wie die Bo wmann-„Discs" durch die Schichtenfolge (Q h Q) reprä-
sentirt wird; der librillären Structur der Muskelfaser trägt Krause
nur insofern Rechnung, als er eine Zusammensetzung des Muskel-
prismas aus „Muskelstäbchen" (Bowmann's „Sarcous elements")
annimmt, welche im Sinne der oben gegebenen Darstellung nur den
Fibrillenab schnitten (Q h Q) entsprechen. Die Unhaltbarkeit dieser
Theorie, nach welcher nicht die Fibrille, sondern die Muskelkästchen
Elementarbestandtheil der Muskelfaser sein würden, ergiebt sich aus
den bisher mitgetheilten Thatsachen ganz von selbst, und ist insbe-
sondere auch der durch Säuren bewirkte Scheibenzerfall innerhall)
der Schicht Q selbst sehr beweisend dagegen. Ebensowenig Be-
rechtigung haben auch die Muskelelemente Merkels, welche von
je zwei Z, die natürlich als theilbar angenommen werden mussten,
begrenzt wären.
Auf zahlreiche andere im Laufe der Zeit geäusserte Ansichten
über die viel umstrittene feinere und feinste Structur quergestreifter
Muskeln, insbesondere auch auf Bütschli's „Wabentheorie", hier
näher einzugehen, würde wohl kaum am Platze sein.
Von den optischen Eigenschaften der Muskellibrillen und
speciell der quergestreiften war schon mehrfach die Rede. Schon durch
die Untersuchung im gewöhnlichen Lichte stellt sich heraus, dass die
verschiedenen Schichten der quergestreiften Fibrillen sich durch ein
sehr verschiedenes Lichtbrechungsvermögen auszeichnen, und zwar
kann man mit Bezug auf die Rollett'sche Buchstabenbezeichnung
der einzelnen Glieder sagen, dass alle mit Consonanten bezeichneten
Schichten stärker lichtbrechend und zugleich doppelbrechend (aniso-
trop) sind, wenngleich in sehr verschiedenem Grade.
40 liau und Structur der Muskeln.
Wie schon früher bemerkt wurde, erscheinen bei einer gewissen
(tiefen) Einstellung die Streifen Z und iV viel dunkler als Q^ und es
verdankt insbesondere Z seinem sehr starken Lichtbrechungsver-
mögen die leichte Wahrnehmbarkeit selbst an sonst wenig günstigen
Präparaten. Die mit Vocalen J und ^ bezeichneten Schichten sowie
(/i) sind dagegen schwächer lichtbrechend und zugleich einfachbrechend
(isotrop); sie erscheinen unter denselben Bedingungen, wie die mit
Consonanten bezeichneten Streifen dunkel aussehen, hell und umge-
kehrt. Die doppelbrechende Eigenschaft der quergestreiften Muskel-
fasern wurde 1839 von Boeck entdeckt, aber erst von Brücke
1857 genauer untersucht.
Unter dem Polarisations- Mikroskop erscheinen bei gekreuzten
Nicols die im gewöhnlichen Lichte (bei tiefer Einstellung) dunklen
anisotropen Schichten Z N und Q hell glänzend, im dunklen Gesichts-
felde scharf sich abhebend, während die isotropen Schichten JE und
h unter gleichen Umständen dunkel bleiben. Besonders schöne Bilder
liefern Muskelfasern im polarisirten Lichte, wenn das Gesichtsfeld
durch eine Glimmer- oder Gypsplatte von entsprechender Dicke ge-
färbt ist. Je nach der Lage der Faser erscheinen dann die anisotropen
Schichten lebhaft complementär gefärbt. Licht, welches parallel der
Längsaxe der Fibrillen einfällt, wird einfach gebrochen. Ein genau
senkrecht zur Faseraxe geführter Querschnitt bleibt daher zwischen ge-
kreuzten Nicols in allen seinen Theilen und in allen Azimuten dunkel
und ändert ebensowenig auf Gypsgrund irgendwo die Farbe.
Die anisotropen T heile sind also einaxig. Dass sie
positiv sind, stellte Brücke mittels verschiebbarer Quarzkeile fest;
jede Muskelfaser wirkt wie die Verdickung eines Quarzkeiles, dessen
Axe sie parallel liegt, ist also positiv wie Quarz.
Neuerdings hat Rollett spectral zerlegtes, polarisirtes Licht zur
Untersuchung verwendet und konnte mittels des „Spectropolarisators"
zunächst die schon von E n g e 1 m a n n gemachte Beobachtung bestätigen,
dass Z und N schwächer doppelbrechend sind, als die schwächer
lichtbrechenden Schichten Q. Doch lassen die ausserordentlich klaren
und scharfen Bilder, welche dieses Verfahren liefert, keinen Zweifel
übrig, dass die Nebenscheiben N ganz ebenso durch doppelbrechende
Glieder der Fibrillen erzeugt werden, wie Q oder Z. Alle Sarkoplasma-
Durchgänge erscheinen dagegen im polarisirten Licht vollkommen
dunkel, so dass die doppelbrechenden Glieder der Muskelsäulchen in
der Längsansicht der Faser „wie vollständig isolirt auf schwarzem
Grunde in regelmässiger Anordnung nebeneinanderliegen".
Engel mann (2) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Doppel-
brechung eine sehr weit verbreitete Eigenthümlichkeit contractilen
Plasmas ist und schon bei den Protisten wahrgenommen werden kann.
So zeigt der Stielmuskel der Vorticellen starke Doppel-
brechung, und zwar verhalten sich die Fibrillen gerade wie die Fibrillen
quergestreifter Muskeln einaxig mit einer der Längsrichtung der
Fasern parallelen Axe. Bei Stentor erwies sich übrigens nebst den
Muskelfibrillen auch die corticale Plasmaschicht in ihrer ganzen Dicke
als doppelbrechend; sehr deutlich ist die Doppelbrechung auch an den
Strahlen von Actin o spha er i um, und auch hier wirkt wieder jeder
Plasmastrahl wie eine doppelbrechende Faser mit einer optischen
Axe, die der Längrichtung der Faser, also auch im Allgemeinen der
Verkürzungsrichtung ihres Plasmas parallel ist. Durch dieselben
Bau und Structur der Muskeln. 4|
Eigenschaften zeichnen sich ferner auch die Fibrillen der Epithel-
muskeln von Hydra aus. Sehr bemerkenswerlh ist das Verhalten
der doppelt schräg gestreiften Muskelzellen vieler Wirbellosen im pola-
risirten Lichte; nach Engel mann fällt nämlich „die optische Axe
der Fibrillen nicht, wie nach aller Analogie zu erwarten war, mit der
Längsrichtung der Fibrillen, sondern unter allen Umständen mit
der Längsaxe der Muskelfasern zusammen" ; stets erscheinen die letz-
teren, welchen Winkel auch immer die Fibrillen mit der Faseraxe bilden
mögen, maximal hell, wenn zwischen den gekreuzten Nicols die letztere
unter einem Winkel von 45 ^ gegen die Polarisationsebenen orientirt ist.
Es scheint hiernach, dass in allen Fällen, wo contractile Plasma-
theilchen dauernd in einer bestimmten Richtung orientirt
bleiben, Doppelbrechung als eine charakteristische Eigenschaft der-
selben hervortritt, und zwar scheint es sich durchwegs um einaxige
Theilchen zu handeln, deren optische Axe mit der Richtung der Ver-
kürzung zusammenfällt. Die quergestreiften Fibrillen würde man sich
nach Engelmann vorzustellen haben als im Wesentlichen aus einer
isotropen , in der Längsrichtung durchlaufenden Grundsubstanz be-
stehend, in welche in regelmässigen, den metabolen Gliedern ent-
sprechenden Schichten doppelbrechende, als Sitz der verkürzenden
Kräfte zu betrachtende Theilchen eingelagert sind.
Li Kürze soll hier noch der Veränderungen gedacht werden,
welche in Bezug auf die Querstreifung während der Contraction der
Muskelfaser hervortreten, da dieselben fast ebensosehr moi-phologisches
wie physiologisches Interesse haben. Wie die Beobachtung unmittel-
bar lehrt, besteht die Formänderung eines Muskels bezw. einer Faser
oder Fibrille in Verkürzung und Verdickung; dies gilt natürlich nicht
nur für die ganze Fibrille, sondern für jede einzelne Strecke derselben,
für jede einzelne Querschicht.
Richtet man die Aufmerksamkeit auf eine contrahirte Stelle einer
lebenden Muskelfaser, wie dies besonders bei Insectenmuskeln gelingt,
über welche nach dem Herauspräpariren oft noch lange kurze Con-
tractionswellen mit relativ sehr geringer Geschwindigkeit hinziehen, so
überzeugt man sich leicht, dass innerhalb einer solchen Welle sich
zweierlei Querstreifen darbieten, schmale, die immer sehr dunkel er-
scheinen, und helle, etwas breitere. Die contrahirte Faser zeigt daher
im Allgemeinen ein ähnliches Aussehen, wie die ruhende, d. i. eine
regelmässige Abwechslung dunkler und heller Querbänder, nur sind
die einzelnen Streifen einander viel näher gerückt und insbesondere
die dunklen viel schmaler, als an der erschlafften Faser.
Auch ist leicht zu erkennen, dass die dunklen, sehr scharf aus-
geprägten Streifen dort auftreten, wo im erschlafften Muskel sich die
Schichten J Z J, bezw. J N E Z E N J heünden, und dass die hellen
»Streifen im Wesentlichen verkürzten Streifen {Q h Q) entsprechen.
Muskelfasern von Insecten, welche in starkem Alkohol getödtet
wurden, zeigen sehr oft derartige locale Contractionen („fixirte Con-
tractionswellen"), an welchen sich dann unter Zuhülfenahme von
Färbungsmethoden und Reagentien die histologischen Veränderungen,
welche die quergestreiften Fibrillen beim Uebergang aus dem Ruhe-
zustand in die Contraction erleiden, sehr genau feststellen lassen.
Da diese, allerdings sehr subtilen Erscheinungen doch in theoretischer
Beziehung von grösstem Literesse sind, so muss hier noch etwas näher
darauf eingegangen werden.
42 Ba" und Structur der Muskeln.
Wir folgen dabei wiederum den ausgezeichneten Untersuchungen
Rolletts (22).
Betrachtet man z. B. eine gut fixirte Contractionswelle an einer
Faser von 0 tiorhynchus mastix nach Färbung mit Hämatoxylin
(Fig. 31), so tritt zunächst wieder ganz überzeugend hervor, dass der
dunkelblaue Streifen C des contrahirten Theiles der Faser, Nasse's
„Contractionsscheibe" entsprechend, aus der Umbildung der Schichten-
folge {J N E Z E N J) hervorgegangen ist, also demjenigen Abschnitt,
welchen Engelmann als „iso-
y^ trope", Rollett als „arimeta-
^^^^ ^^^ y^ bole" Schicht (a) bezeichnet hat.
jHHHMtMMMiM»^'' — ^ Ii^ ^^"^ erschlafften arimctabolcn
ss««i«iBt"-sEsi'. «r~~~" — / Schichten sind die Streifen Z und
ytllliiililllijill^^^ iVr stark gefärbt, die Streifen E und
!*.,,«.-......., . li^Q, J^ gar nicht oder nur sehr schwach ;
/ in den erschlafften „metabolen" Ab-
■lllir:;:'*'';:'*:"''^^^^ ^ schnitten {q h Q) (Engelmann's
'i«iMiiitt««>M«M«i ^-v,^^ E .,anisotrope" Schicht), welche Rol-
let mit(;tO bezeichnet, sind bekannt-
lich die Enden von ^ immer inten-
siver gefärbt als die Mitte [h) (der
''!!"*.'".'.'.°.".V.*.*,'.' Hensensche Streifen). Man sieht
"""*" ' nun bei zunehmender Verkürzung
f^ <C der Abschnitte a die sich ver-
?ffffl?lll!lirtmUI ' schmälernden Streifen N immer
i.'/FniilHinH:";; näher an .^heranrücken, bis end-
lich die beiden E zwischen N und
^ nicht mehr zu sehen sind, ähnlich
/iitiyi\i\\\\\i\VxV\\ wie das bei den weniger reich ge-
Q streiften Fasern von vornherein der
^ Fall ist. Eine sehr auffallende Ver-
j/< . ^. ..... , " ^, änderung tritt nun im folgenden
»#V;i*-iii;;ii;;;;;i;i '%, Stadium innerhalb der Schichten-
'•«••••»ii'"*"'"""""""" r ^°^S^ " ^^" ^" Stelle der bis
i^^-A.». — ..,_._ .?****' Q, dahin farblosen Schichten J" treten
. •!*!»:!!!!5!«!!!l!Ü!«r-^^ zwei stark gefärbte Streifen, wäh-
':i*?****!l*****f •!!*••• rend zwischen diesen an Stelle von
^. Ol T,, 1 ,,- ... , Z ein helles Band erscheint,
riff. öl. Muskeltaser mit einer anofeleff- r> 1 1 , , i • i ,1-
teil Contractionswelle von Otiorhyn- Ro 11 e tt bezeichnet die erstereu
chus mastix. (Nach Rollett.) mit J' und den letzteren mit Z',
da dieselben zweifellos aus J und
Z hervorgegangen sind, Avofür insbesondere auch das Verhalten
im polarisirten Lichte spricht, indem die dunklen J' gerade so
wie die hellen J einfach brechend, das helle Z' dagegen wie Z
doppeltbrechend sich erweisen. Wenn, wie es bisweilen der Fall
ist, vor Ausbildung des eben geschilderten Stadiums die Schichten
J' noch nicht ganz dunkel, die Schichten Z' dagegen noch nicht
ganz hell und daher einander ähnlich erscheinen, so zeigt die
Muskelfaser an den betreffenden Stellen der Contractionswelle die un-
deutlichste Querstreifung; es ist dann das sogenannte „homogene"
Stadium früherer Autoren vorhanden , welches den Uebergang zur
Schichtenfolge J' und Z' + J' vermittelt, welche ihrerseits wieder
das häufigste Uebergangsstadium zu der Streifenfolge des vollkommen
'ii
Bau und Structiu- der Muskeln. 43
Contrahirten Muskels bildet. Indem nämlich das helle Z' zwischen
den dunklen J' verschwindet, verschmelzen die letzteren zu dem
schon von Nasse beschriebenen „Contractionss treif en" C,
der stark lichtbrechend, immer sehr dunkel und bei Hämatoxylin-
färbung intensiv blau erscheint. Er entspricht, wie ohne Weiteres er-
sichtlich ist, der Schichtenfolge J -\- Z -\- J oder J" -j- iV -|- £" + Z
+ E -\- N -\- J der erschlafften, ruhenden Faser, aus deren Umwand-
lung er hervorgegangen ist.
Die Veränderungen innerhalb der (metabolen) Schichtenfolge (^Ä0
sind Anfangs weniger auffallend, und auch die Verkürzung ist eine ge-
ringere. Später tritt eine Aufhellung ein, der Unterschied zwischen
den dunkleren Q und h verwischt sich mehr und mehr und schliesslich
tritt an die Stelle des letzteren (wenigstens in vielen Fällen) ein
dunkler, schlecht begrenzter Streifen (m. Rolletts). Die ganze ver-
änderte Schichtenfolge (QhQ) der contrahirten Faser bezeichnet
Rollett mit (Q'). Oft erfolgt der Uebergang zwischen dem erschlafften
und contrahirten Theil einer Faser nicht so rasch wie in dem der
vorstehenden Schilderung zu Grunde gelegten Beispiel, sondern viel
langsamer, so dass die einzelnen Stadien sich über mehrere Segmente
der Faser erstrecken, ein Umstand, der die Deutlichkeit der Bilder
noch vielfach erhöht.
Die Polarisationserscheinungen während der Contraction lassen
sich an frischen Muskelfasern schwer verfolgen, doch konnte Rollett
(22) sich trotzdem mit Sicherheit von einem Sinken der Doppelbrechung
während der Contraction überzeugen, einer Thatsache, welche sich auch
an üxirten Contractionswellen feststellen lässt und die schon Engel -
mann (23) vermuthete (vergl. Ebner 24, p. 233).
Sie ergiebt sich unmittelbar aus dem Umstände, dass solche mit
iixirten Contractionswellen versehene Muskelfasern auf Gypsgrund in
der Additions- und Subtractionslage betrachtet, mit ihren contrahirten
Partieen keine auffallend andere Farbenänderung hervorrufen, als mit
ihren erschlafften Partien, obschon sonst eine Zunahme der Dicke der
Muskelschicht die Farbe sehr erheblich steigert (Avenn sich z. B. zwei
erschlaffte Fasern theilweise decken). Selbst sehr hohe Contractions-
wellen zeigen im Vergleich mit den erschlafften Theilen der Faser keine
oder nur geringe Abweichungen im Sinne steigender oder sinkender
Farben in der Additions- oder Subtractionslage. Diese Thatsache lässt
nur die Deutung zu, dass in contrahirten Muskelfasern die
Farbensteigerung, welche mit der Verdickung der
Faser einhergehen sollte, compensirt oder übercom-
pensirt wird durch ein mit der Contraction einher-
gehendes Sinken der Doppelbrechung.
Die Untersuchung im polarisirten Lichte giebt noch über ein
weiteres wichtiges Verhalten quergestreifter Muskelfasern bei der Con-
traction Aufschluss. Vergleicht man nämlich an geeigneten Präparaten
(Fig. 32) bei gekreuzten Nicols die Höhe der metabolen und arimeta-
bolen Schichten beim Uebergang von erschlafften Theilen der Faser
zu den contrahirten, so bemerkt man, dass mit zunehmender
Verkürzung die Höhe der isotropen (ari metabolen)
Schichten mehr als die der anisotropen (metabolen) ab-
nimmt, das Volumen der letzteren also — dadasGesammt-
volumen des betreffenden Faserabschnittes, wie das der
ganzen Faser constant bleibt— auf Kosten der ersteren
44
Bau und Structur der Muskeln.
wächst. Engelmann hat an geeigneten Objecten diese Thatsache
auch durch mikrometrische Messungen sichergestellt. Zur Erklärung
dieser Erscheinung nimmt Engel mann an, das bei der Con-
traction Flüssigkeit aus der isotropen in die anisotrope
Substanz übertritt; die anisotrope Substanz quillt, die
isotrope schrumpft. Dieser Wassertausch zwischen den metabolen
und arimetabolen Schichten muss natürlich zwischen den diesen
Schichten entsprechenden Gliedern der Muskelsäulchen, bez. der ein-
zelnen Fibrillen angenommen werden. Da bei
'^ '^ der Erschlaffung die umgekehrten Volumen-
änderungen wie bei der Verkürzung stattfinden,
so folgt, dass bei der Erschlaffung die
übergetretene Flüssigkeit sich wieder
in die isotrope (arimetabole) Schic hten-
folge zurückbegieb t. Diese Annahme wird
nicht nur durch die beschriebenen Volumen-
änderungenderbeidenHauptschichten-
folgen jeder Fibrille nahegelegt, sondern sie
erfährt auch eine wesentliche Stütze durch die
oben erwähnte Abnahme der Doppel-
brechung bei der Contraction, sowie dadurch,
dass dann auch im gewöhnlichen Lichte d i e
isotrope (arimetabole) Schichte dunk-
ler, u n d u r c h s c h e i n e n d e r , die aniso-
trope dagegen (mit Ausnahme der
M i 1 1 e 1 s c h e i b e) heller, durchsichtiger
wird. In dem Maasse, als die Schichten Q
(Querscheiben) Wasser aus der isotropen Schichten-
folge imbibiren, müssen sie nicht nur voluminöser,
sondern auch schwächer lichtbrechend, heller,
sowie auch schwächer doppeltbrechend, die iso-
tropen Schichten dagegen umgekehrt kleiner
und stärker lichtbrechend, scheinbar dunkler
werden, wie man es thatsächlich auch findet.
Endlich steht auch die veränderte Färbbarkeit der contrahirten
Faserabschnitte mit der Annahme einer Quellung der anisotropen
Schichten auf Kosten der isotropen in guter Uebereinstimmung. Es
ist bekannt, dass die Tingirbarkeit quellbarer Körper ausser von
ihrer chemischen Zusammensetzung auch noch in hohem Maasse von
dem jeweiligen Quellungsgrade abhängt. Für jede einzelne quellungs-
fähige, tingirbare Masse gilt die Regel, dass dieselbe sich um so
intensiver färbt, je geringer ihr Gehalt an Imbibitionswasser ist.
In der That beobachtet man nun bei der Contraction eine gesteigerte
Tingirbarkeit der arimetabolen (isotropen) Schichten, während die
metabolen (anisotropen) Schichten durch H ä m a t o x y 1 i n
sehr viel schwächer als im R u li e z u s t a n d e g e f ä r b t werden.
Fig. 32. Muskelfaser
(von T e 1 e p h o r u s)
während der Contrac-
tion a im gewöhn-
lichen, b im polari-
sirten Licht. (Nach
E n g e 1 m a n n aus
Foster's Lehrbuch der
Physiologie.)
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Leipzig 1882.
B. Die Formänderung des Muskels bei der Thätigl<eit.
Ein Theil der die Muskelthätigkeit begleitenden Erscheinungen,
wie insbesondere die in ihrem Gefolge auftretenden Veränderungen
der optischen Eigenschaften fanden bereits im Vorhergehenden Be-
sprechung. In Bezug auf die chemische Zusammensetzung der Muskel-
substanz und deren Aenderungen bei der Thätigkeit darf wohl auf
die neueren Lehrbücher der physiologischen Chemie verwiesen
werden. Es bleibt noch übrig, die bei Weitem auffallendste Er-
scheinung der Muskelthätigkeit, nämlich die Formänderung
(Contraction), näher ins Auge zu fassen. Das Wesentlichste hierbei,
die Verkürzung in der Längsrichtung unter gleichzeitiger
Verdickung (Zunahme des Querschnittes) tritt natürlich in allen
Fällen hervor, wo contractile Plasmatheilchen dauernd oder wenigstens
zeitweise in einer bestimmten Richtung orientirt sind. So wurde
schon oben auf die mehr oder weniger rasch, bisweilen blitzschnell
erfolgende Verkürzung und Verdickung gewisser Pseudopodienformen
(Myopodien, Myophrysken), sowie der schon als echte Muskeln zu be-
zeichnenden Myoide oder Myoneme gewisser Infusorien hingewiesen,
und in der That lassen sich hier sozusagen in elementarer Weise die-
selben Formänderungen an einzelnen Fibrillen (oder Fibrillenbündeln)
beobachten, welchen Avir auch wieder bei den aus zahlreichen Zellen
zusammengesetzten, hochcomplicirten Organen begegnen, die man ge-
wöhnlich als Muskeln der höher organisirten Thiere zu bezeichnen
pflegt. In allen Fällen beruht aber der mechanische Effect der Form-
änderung eines Muskels auf der Verkürzung desselben in der Längs-
richtung, niemals auf der Verdickung. Daher pflegt man in der
Regel auch nur von Verkürzung oder Contraction zu sprechen, wenn
von Muskelthätigkeit die Rede ist.
Es wurde bereits bei Erörterung der Thätigkeitsäusserungen der
Myoide hervorgehoben, dass ein einmaliger Reiz von sehr kurzer
Dauer, wie etwa eine einfache rasche DichtigkeitsschAvankung eines
elektrischen Stromes oder ein möglichst kurzer mechanischer Anstoss,
eine ebenfalls sehr rasch ablaufende Contraction mit darauffolgender
langsamerer Wiederverlängerung bewirkt-, man bezeichnet einen solchen
rasch verlaufenden Contractionsvorgang, wie er besonders für quer-
gestreifte Muskeln charakteristisch ist, als „Zuckung". Es ist aber
diese elementare Thätigkeitsform keineswegs den Muskeln allein
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 47
eigenthümlich, denn einerseits kann man die rythmischen oder auch
arrythmischen Bewegungen eines Flimmerelementes als aus einzelnen,
aufeinanderfolgenden Zuckungen bestehend auffassen, sowie auch
Geissein in vielen Fällen „zuckend" sich contrahiren, andererseits giebt
es zahlreiche Muskeln, vor Allem die einkernigen, glatten Muskelzellen,
welche sich so langsam verkürzen, dass man hier ebensowenig von
,,Zuckuugen" sprechen kann, wie etwa bei der noch viel trägeren
Verkürzung der Pseudopodien bei den meisten Rhizopoden.
Stets aber ist, wie es scheint, eine „zuckende" Contraction an
das Vorhandensein fibrillärer Structur (besonders mit Querstreifung)
geknüpft, obschon, wie das Beispiel der glatten Muskelzellen lehrt,
nicht umgekehrt die Differenzirung von Fibrillen auch immer eine
sehr rasch verlaufende Contraction bedingt.
In den ausgeprägtesten Fällen „zuckender" Contraction beginnt
die Verkürzung für die unmittelbare Wahrnehmung scheinbar gleich-
zeitig mit der erregenden Ursache, erreicht in kürzester Zeit ihren
grössten Werth, um dann sofort wieder langsamerer Erschlaffung
zu weichen.
Der oft sehr grosse Unterschied, der sich in Bezug auf die Dauer
der Verkürzung einerseits, der Wiederverlängerung anderseits bei
contractilen, zuckenden Theilen niederster Thierformen geltend macht
(Vorticellenstiel, Spirostomum, Mjopodien etc.), ist zum grossen Theil
durch die eigenthümlichen mechanischen Verhältnisse bedingt, unter
welchen sich hier die Contraction und Erschlaffung vollzieht. Mehr
oder weniger verhalten sich die zuckenden Fibrillen hier so wie etwa
ein völlig unbelasteter, auf Quecksilber schwimmmender Muskel, der
seine normale Länge auch nur wieder zu erreichen vermag, wenn eine
dehnende Kraft einwirkt.
Der Verlauf einer einfachen Zuckung ist meist so rasch, dass es
unmöglich ist, durch unmittelbare Beobachtung etwas Näheres über
die zeitlichen Verhältnisse der Contraction und das Verhalten der
contractilen Fasern in den einzelnen Stadien der Verkürzung zu er-
fahren. Vielmehr bedarf es feinerer Hülfsmittel der Zeitmessung, um
das Verhältniss der verschiedenen Phasen innerhalb des kurzen Actes
einer Zuckung festzustellen*).
Die erste genauere Untersuchung hierüber verdanken wir H e 1 m -
holtz (1850). Ein Mittel zur Messung so kleiner Zeiten, wie sie hier
in Betracht kommen, ist vor Allem die graphische Aufzeichnung des
zu messenden Vorganges auf einer schnell bewegten Fläche. Denken
wir uns eine solche (etwa eine berusste Glas- oder Papierfläche) mit ge-
nügender Geschwindigkeit an der Spitze eines Schreibhebels vorbei-
bewegt, der, mit dem zuckenden Muskel verbunden, der Contraction
desselben folgt, so erhalten wir eine krumme Linie (Curve), deren
Abscissenwerthe den Zeiten, deren Ordinaten dagegen der Grösse der
Verkürzung (Verdickung) des Muskels entsprechen. Auf diesem
P r i n c i p beruht das Myographien von H e 1 m h o 1 1 z , an dessen
Stelle in der Folgezeit zahlreiche andere ähnliche Apparate getreten
sind, deren Beschreibung in jedem grösseren Lehrbuche nachgesehen
werden kann.
*) Vergl. V. Bezold, Untersuchungen über die elektrische Erregung der Nerven
und Muskeln, 1861, S. 31 (Geschichtlicher Ueberblick über die Bestrebungen, die bei
der Nerven- und Muskelaction ins Spiel kommenden kleinen Zeittheilchen zu messen).
48 Diö Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Bei jeder so gewonnenen „Zuckungscurve" lassen sich die
Zeitwerthe der Abscissenlinie leicht bestimmen, wenn entweder die
Geschwindigkeit der Schreibfläche bekannt ist, oder wenn gleichzeitig
mit dem „Myogramm" Stimmgabelschwingungen verzeichnet werden.
Die Anwendung der graphischen Methode setzt uns nun in den
Stand, sofort und gleichzeitig die charakteristischen Eigenthümlichkeiten
des zu untersuchenden Bewegungsvorganges in Bezug auf seine
Grösse, Dauer und Form zu erkennen. Wenn der Moment der
Reizung auf der Curventafel in geeigneter Weise markirt ist, so fällt
in der Regel sofort auf, dass die Erhebung des Zeichen Stiftes
von derAbscisse nicht mit dem Momente des Reizes zu-
sammenfällt, sondern merklich später beginnt, so dass
demnach der Beginn der Muskelverkürzung nicht im Momente der
Einwirkung des Inductionsschlages erfolgt, sondern eine gewisse Zeit
vergeht, ehe die durch die Reizung bewirkte Veränderung im Muskel
zu einer Verkürzung desselben führt, die sich durch eine Bewegung
des Schreibhebels äussert (Fig. 33).
Fig. 33. Muskelzuckungscui-ve uacli Helmholtz. a Moment der Reizung.
Die Länge dieser Zeit, welche durch das zwischen ft und dem Anfang
der Curve gelegene Stück derAbscisse gemessen wird, bestimmte Helm-
holtz für den durch einen Inductionsschlag direct gereizten, belasteten
Froschmuskel zu etwa 0,01 Sekunde. Man nennt diese Zeit das Stadium
der latenten Reizung (Latenzstadium), denn die Reizung bewirkt
während derselben keinen merklichen mechanischen Effect. Hierauf
beginnt die Verkürzung des Muskels, nachdem der auslösende Reiz
bereits verschwunden ist, was durch die Erhebung des Zeichenstiftes
bis zum Gipfel der Curve angezeigt wird. Von da ab verlängert sich
der Muskel wieder, bis er endlich seine ursprüngliche Länge
wieder erreicht. Die Zeit, Avelche vom Beginn der Verkürzung bis
zum Maximum derselben verstreicht, heisst das Stadium der stei-
genden Energie, die Zeit von dem Maximum bis zur völligen
Wiederausdehnung des Muskels das Stadium der sinkenden
Energie; die Zeit endlich vom Beginn der Verkürzung bis zur
vollständigen Wiederausdehnung entspricht der Z u c k u n g s d a u e r.
Bezüglich der Grösse oder Höhe der Muskelzuckung darf man
nicht ausser Acht lassen, dass es sich bei der graphischen Darstellung
in der Regel um eine mehr oder minder beträchtliche Vergrösse-
rung handelt, und man muss daher stets die Länge des zeichnenden
Hebels berücksichtigen, wenn man die wahre Grösse der Verkürzung
erfahren will. Die beiden Stadien der steigenden und sinkenden
Energie lassen sich leicht bestimmen, indem man vom Gipfel der
Curve eine senkrechte Ordinate auf die Abscisse zieht. In der Regel
ist das erstere erheblich kürzer als letzteres, doch kann auch das Um-
gekehrte der Fall sein (z. B. bei Abkühlung). Hinsichtlich der Form der
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 49
Zuckungscurve ist zu bemerken, dass dieselbe oft nicht als der voll-
kommene Ausdruck des Bewegungsvorganges angesehen werden kann,
indem in vielen Fällen der zeichnende Hebel (ganz abgesehen von
möglichen Eigenschwingungen) so angeordnet ist, dass seine Spitze bei
der Bewegung einen Kreisbogen beschreibt. Einen wesentlichen Ein-
fluss auf die Form der Zuckungscurven hat natürlich auch die Ge-
schwindigkeit der bewegten Schreibfläche, so dass eine und dieselbe
Bewegung, durch denselben Hebel verzeichnet, sehr verschieden aus-
sehende Curven Hefern kann, je nachdem sich die Schreibfläche lang-
samer oder schneller bewegt.
I. Al)häiigigkeit des Contra ctionsverlaiifes von der Natur
des Muskels.
Die ausserordentlichen Verschiedenheiten, welche in Bezug auf
die Schnelligkeit der Bewegungserscheinungen bei verschiedenen
Plasmaarten bekannt sind, lassen von vorneherein erwarten, dass ähn-
liche Unterschiede auch bei Muskeln verschiedener Thiere, sowie bei
verschiedenen Muskeln einer und derselben Thierspecies hervortreten
werden, worauf ja übrigens auch die sehr weitgehenden Structur-
differenzen ohne Weiteres schliessen lassen. In der That lehrt schon
ein flüchtiger Ueberblick, dass, abgesehen von den noch zu besprechen-
den äusseren Einflüssen, Form und Verlauf der Contraction ganz
wesentlich von der Natur des Muskels abhängen. Hier macht sich
vor Allem der ganz enorme Unterschied zwischen glatten und
quergestreiften Muskeln geltend. Ausnahmslos verkürzen sich
die ersteren unvergleichlich viel langsamer als diese, so dass man
kaum jemals von einer „Zuckung" zu sprechen Gelegenheit hat,
wenn ein Einzelreiz auf glatte Muskelelemente wirkt. Der ganze
Co ntractions verlauf ist sozusagen makroskopisch, indem sowohl das
Latenzstadium, wie alle Phasen der Verkürzung und Wiederverlänge-
rung bequem mit dem Auge ohne alle weiteren Hülfsmittel verfolgt
werden können.
Mitten inne zwischen diesen träge sich contrahirenden, glatten
und den „zuckenden" quergestreiften Muskeln der Wirbellosen und
Wirbelthiere steht der aus einkernigen, quergestreiften Elementen ge-
bildete Herzmuskel, dessen Contractionsverlauf weder so träge ist
wie der der glatten, noch so rasch wie jener der meisten quer-
gestreiften Stammesmuskeln. Man war daher vielfach im Zweifel, ob
es gerechtfertigt sei, jede einzelne durch einen Momentreiz ausgelöste
Contraction des Herzens (die sich übrigens hinsichtlich ihres Verlaufes
in keiner Weise von einem natürlichen „Herzschlag" unterscheidet)
der elementaren Einzelzuckung eines Stammesmuskels gleichzusetzen.
Gleichwohl kann an der Berechtigung hierzu nicht im Mindesten ge-
zweifelt werden. Denn es ist klar, dass die längere Dauer an sich in
keiner Weise als Beweis dafür angesehen werden kann, dass die ein-
malige Contraction des Herzmuskels einer einfachen Zuckung nicht
entsprechend sei. Es kommen eben , wie gezeigt werden wird , auch
unter den quergestreiften Skeletmuskeln verschiedener Thiere
und selbst unter den Muskeln eines Individuums sehr beträchtliche
Verschiedenheiten in Bezug auf die Geschwindigkeit des Zuckungs-
verlaufes vor, und es lässt sich diese letztere leicht künstlich durch
Biedermann, Elektrophysiologie. 4
50 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
verschiedene Eingriffe in noch viel höherem Maasse verzögern, als es
bei der normalen Contraction des Herzens je der Fall ist.
Wir fassen demnach jede natürliche oder durch
einen kurzdauernden künstlichen Reiz ausgelöste
Einzelcontraction des Herzmuskels (der Wirbellosen
und Wirbelthiere) als eine elementare, aber in allen
Phasen verzögerte, gedehnte Zuckung auf.
Untersucht man unter möglichst vergleichbaren Bedingungen etwa
am Frosch den zeitlichen Verlauf der Zuckung eines Skeletmuskels
und des Herzens bei Reizung mit einem einzelnen Inductionsschlag
mittelst der graphischen Methode, etwa durch einen aufgelegten leichten
Hebel, so findet man, wie schon Marey (1) hervorhebt, dass die Herz-
curve und die Muskelzuckungscurve bezüglich ihrer Form dieselben
charakteristischen Eigenthümlichkeiten des rascheren Ansteigens und
langsameren Absinkens darbieten. Doch findet man das Stadium der
latenten Reizung ausnahmslos beim Herzen wesentlich länger als unter
sonst gleichen Umständen beim Skeletmuskel , eine Thatsache, die
um so auffälliger hervortritt, je grösser der Unterschied der Geschwindig-
keit des Contractionsverlaufes zwischen den beiden quergestreiften
Muskelarten desselben Thieres ist. Da dies bei den poikilothermen
Wirbelthieren in einem höheren Maasse der Fall ist, als bei Warm-
blütern, so ist auch der Unterschied in der Grösse der Latenzstadien
ersterenfalls bedeutender. So kann beim Frosch die Latenzzeit
des Herzmuskels bis 0,28 Sek. dauern, während dieselbe beim
Gastrocnemius desselben Thieres nach Helmholtz 0,01 Sekunde be-
trägt und nach neueren Untersuchungen noch wesentlich kürzer ist
(0,005 Sekunde). Das Stadium der steigenden Energie beträgt für
das Froschherz nach Marchand (2) 2 — 3 Sekunden, während derselbe
Zeitraum für die Zuckung eines Skeletmuskels nur nach Bruchtheilen
einer Sekunde misst. Durch einen ähnlich trägen Contractionsverlauf
zeichnen sich auch die dem Herzmuskel noch in anderer Beziehung
sehr nahe stehenden quergestreiften Muskeln der Medusen aus (Ro-
manos 3).
In neuerer Zeit sind nun ähnliche, wenn auch nicht so weitgehende
Unterschiede im zeitlichen Verlauf der Zuckung auch bei den quer-
gestreiften Stammesmuskeln selbst und zwar nicht nur bei verschiedenen
Thieren, sondern auch bei einem und demselben Individuum, ja sogar
in einem und demselben Muskel nachgewiesen worden.
Im Allgemeinen kann man sagen, dass es im physiologischen
Sinne zwei Arten vielkerniger, quergestreifter Muskel-
fasern giebt, solche, die sich durch einen raschen, und
solche, die sich durch einen trägeren Contractionsver-
lauf auszeichnen („flinke" und „träge" Muskeln). Zwischen
beiden giebt es zahllose Zwischenstufen.
So lässt sich leicht zeigen, dass die Skeletmuskeln einer Schild-
kröte oder des Chamäleons sich im Allgemeinen sehr viel langsamer
zusammenziehen, als etwa die eines Frosches oder Warmblüters, und
dass andererseits wieder gewisse Insectenmuskeln sich noch viel
schneller contrahiren, als selbst die in dieser Beziehung am meisten
begünstigten Warmblütermuskeln. Es ergiebt sich dies übrigens fast
immer schon unmittelbar aus der Beobachtung der den betreffenden
Thieren eigen thümlichen Bewegungen, und sei nur an die träge, lang-
same Locomotion der Schildkröte und andererseits an die ausser-
■Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
51
ordentlich raschen Schwingungen der Flügel vieler Insecten erinnert,
wobei sich die bewegenden Muskelfasern oft mehrere hundert Mal
in der Sekunde contrahiren müssen. Dementsprechend muss nun
auch die Zuckungscurve solcher Muskeln unverhältnissmässig kürzer
sein, als etwa die eines Froscli- oder gar Schildkrötenmuskels. Wahr-
scheinlich kann man, wie Hermann bemerkt (4, p. 38), in der Thier-
reihe eine continuirliche Scala in dieser Hinsicht aufstellen, welche
nach Marey mit den äusserst rapiden Zuckungen der Flugmuskeln
vieler Insecten beginnt; dann würden folgen die quergestreiften
Skelettmuskeln der Vögel, Fische, Säugethiere, Frösche, Kröten und
zu äusserst die der Schildkröte und des winterschlafenden Murmel-
thieres, dann die Herzmuskulatur und endlich die meisten glatten
Muskelzellen, deren Contractionsverlauf, wie schon erwähnt, sozusagen
makroskopisch ist.
Bei Froschmuskeln dauert die einzelne Zuckung bei gewöhn-
licher Temperatur etwa 0,1 — 0,3 Sek., bei der Schildkröte oft mehr
als 1 Sek. , während bei den Flugmuskeln mancher Insecten die
Fig. 34.
a drei maximale
Zuckungen bei
50, 100 und 200 gr
Belastung; b vier maxi-
male Zuckungen bei 50 —
500 gr Belastung. (Nach
Cash.)
Soleus roth (KaninchenJ
Gastr med weiss (Kanindieni
\300
Zuckungsdauer bis auf ^/soo Sekunde herabsinken, bei glatten Muskeln
dagegen umgekehrt mehrere Sekunden betragen kann. Hand in Hand
mit diesen Verschiedenheiten des Zuckungsverlaufes gehen auch Ver-
schiedenheiten der Grösse des mechanischen Latenzstadiums, und zwar
nimmt dasselbe mit wachsender Zuckungsdauer im Allgemeinen zu.
Von ganz besonderem Interesse ist nun die Thatsache, dass auch
die quergestreiften Muskeln eines und desselben Thieres, wie sie in
histologischer und chemischer Hinsicht verschieden sein können, auch
in functioneller Beziehung ganz wesentliche Unterschiede erkennen
lassen. Ran vi er (5) machte zuerst die interessante Beobachtung,
dass die rothen und blassen Muskeln des Kaninchens einen ganz ver-
schiedenen Zuckungsverlauf zeigen, indem die ersteren durch eine
verhältnissmässig lange Contractionsdauer und ein entsprechend
längeres, mechanisches Latenzstadium vor den blassen Muskeln aus-
gezeichnet sind , welche nach einer kurzen Latenzzeit viel rascher
zucken. Ran vi er verglich bei Kaninchen insbesondere die Function
des rothen M. semitendinosus mit der des blassen Vastus internus oder
M. adductor magnus und fand, dass jener, durch einzelne Inductions-
schläge gereizt, nicht wie der blasse Muskel rasche Zuckungen aus-
führt, sondern sich nach einem etwa vier Mal grösseren Latenz-
stadium allmählich verkürzt. Kr o necker und S t i r 1 i n g (6) be-
stätigten diese Thatsaphe und fanden die Zuckungsdauer der
52 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
rothen Muskeln fast drei Mal so lang als die der weissen,
während dagegen die Zuckungshöhe der ersteren im
Vergleich zu jener der weissen immer sehr unbedeutend
ist (Fig. 34 a, b).
Marey hatte ähnliche Beobachtungen an verschiedenen Muskeln
des Frosches gemacht und z. B, den M. hyoglossus träger als den
Gastrocnemius gefunden. Cash(7) stellte dann durch eingehende Ver-
suche fest, dass sowohl beim Frosch wie bei der Schildkröte
verschiedene Muskeln sich in ganz charakteristischer
Weise durch Form und Verlauf der Zuckungscurve
unterscheiden. Die mittleren Werthe der Contractionsdauer ver-
schiedener Skeletmuskeln des Frosches sind in folgender Tabelle ent-
halten :
1) M. hyoglossus 0,2—0,3 Sekunde
2) „ rectus abdominis .... 0,17 „
3) „ gastrocnemius 0,12 „
4) „ semimembranosus .... 0,108 „
5) „ triceps 0,104
Bei Testudo europaea fand C a s h die Dauer der Zuckung von
1) M. pectoralis mayor .... 1,8 Sekunde
2) „ glutaeus 1,6 „
3) „ palmaris 1,0 „
4) „ gracilis 1,0 „
5) „ biceps 0,9 „
6) „ splenius capitis 0,9 „
7) „ triceps brachii 0,8 „
8) „ retrahens colli 0,75 „
9) „ semimembranosus .... 0,6 „
10) „ omohyoideus 0,55 „
Charakteristischer noch als die Dauer ist die Art des Verlaufes
(Form) der betreffenden Myogramme. Viele derselben haben so
prägnante Formen, dass sie gewissermaassen zum Signalement der
Muskelspecies dienen können. Die beistehende Figur (35 a) zeigt,
wie ganz anders sich der Gastrocnemius verhält, als die Triceps- und
Fig. 36 a. Zuckungscurven von drei verschiedenen Froschmuskeln, unter gleichen
Umständen aufgenommen. (Nach Cash.)
die Semimembranosus-Gracilis-Gruppe. Die letzteren Muskeln erreichen
das Maximum der Verkürzung bald nach der Hälfte der Zeitdauer
ihres gesammten Zuckungsverlaufes, während der Gastrocnemius ^/s
seiner Zuckungszeit zur Verkürzung braucht und nur ^/s zur Ver-
längerung. Vergleicht man mit diesen Curven die beistehende Gruppe
der trägsten Froschmuskeln (Fig. 35 b), so tritt der Unterschied sehr
auffallend hervor.
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
53
Fast noch mehr geeignet, zu zeigen, wie formenreich die Zuckungs-
curven verschiedener quergestreifter Muskeln desselben Thieres sein
können, ist Fig. 35 c von der Schildkröte. Am raschesten contrahirt
sich der M. omohyoideus, entsprechend seiner Bestimmung, den Kopf
des Thieres bei Gefahr schnell unter den schützenden Panzer zu ziehen,
während der kraftvolle, zur Bewegung des schweren Thieres bestimmte
Pectoralis mayor „mit energischem Anhübe beginnt und ziemlich lange
auf der Höhe der Zusammenziehung verharrt" . Aehnliche Unterschiede
dürften sich hinsichtlich der rasch beweglichen Augen- und Zungen-
muskeln und der trägen Skeletmuskeln des Chamäleons herausstellen.
Es muss noch besonders bemerkt werden, dass sowohl die relative
wie absolute Zuckungshöhe der flinken Muskeln auch beim Frosch
viel grösser ist, als die der trägen. Ein 32 mm langer Rectus
abdominis von R. esculenta zog sich bei mittlerer Spannung etwa
Fig. 35 Ä. Vier Zuckungscurven verschiedener Froschmuskeln. (Nach Cash.)
{^io h]^oiä/
Vector maj.
Rracihs
Fig. 35 c. Vier Zuckungscurven verschiedener Schildkrötenmuskeln, unter gleichen
Umständen aufgenommen. Die Striche markiren ganze Sekunden.
2,6 Mal weniger zusammen , als der nur 28 mm lange Gastrocnemius.
Die gezeichneten (vergrösserten) Hubhöhen betrugen 6 und 15 mm.
Der 26 mm lange träge Hyoglossus hat bei annähernd proportionaler
Spannung eine Zuckungshöhe von nur 1,5 mm (Grützner).
Ein sehr bemerkenswerthes Beispiel trägen Zuckungsverlaufes bei
Warmblütermuskeln hat neuerdings Rollett (8) bekannt gemacht.
Es wurde schon oben der Besonderheiten, insbesondere des Sarko-
plasmareichthums gedacht, durch welchen sich die quergestreiften
Muskeln der Fledermäuse auszeichnen. Reiz versuche an denselben
(mit einzelnen Inductionsschlägen) haben nun ergeben , dass der
Zuckungs verlauf dieser ausgeprägt „trüben" Muskeln (M. pectoralis
mayor , biceps und triceps) auffallend träge ist. Rollett berechnet
im Mittel für das Latenzstadium 0,025 Sekunde, für den aufsteigenden
Curventheil 0,146, für den absteigenden 0,350 Sekunde, also für die
ganze Zuckungsdauer 0,496 Sekunde. Es erscheinen demnach diese
Muskeln träger als alle Froschmuskeln, aber flinker als alle Schild-
54 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
krötenmuskeln , flinker als die rothen Kaninchenmuskeln, aber viel
träger als die weissen desselben Thieres,
Sehr auffallend sind die Unterschiede im Zuckung'sverlauf ver-
schiedener anatomisch getrennter Muskeln desselben Thieres auch bei
vielen Wirbellosen. So fand Ch. Riebet (9) die Zuckungscurven
der Schwanz- und Scheerenmuskeln beim Flusskrebs sehr verschieden,
gleichgültig ob die Contraction vom Centralorgan oder durch künst-
liche Reizung ausgelöst wurde. Bei den Schwanzmuskeln ist der Ver-
lauf derselben sehr kurz und erinnert an die Zuckung des Gastrocnemius
vom Frosch. Der Scheerenschliesser zeichnet dagegen eine weit ge-
dehntere Curve, die von der der Schwanzmuskeln immer wesentlich
verschieden ist. Auch hier steht diese Thatsache wieder in Ueber-
einstimmung mit dem normalen Bewegungsmodus der betreffenden
Theile (rasches Wippen des Schwanzes, trägere, aber lange dauernde
Schliessung der Scheeren). Die grössten Unterschiede in dieser
Richtung wird man sicher zwischen den Flugmuskeln und den übrigen
Fig. 36. A Zuckungscurve eines Extremitätenmuskels von Dyticus; B von Hy-
drophilus; C von Melolontha; sämmtlich bei gleicher Geschwindigkeit der Schreib-
fläche gezeichnet. (Nach RoUett.)
Körpermuskeln der Insecten erwarten dürfen, deren Aveitgehende histo-
logische Verschiedenheit von vorneherein auf entsprechende functionelle
Differenzen hinweist. Leider liegen eingehendere Untersuchungen über
den Zuckungsverlauf der ersteren bisher nicht vor, und man weiss
nur, dass sie sich ausserordentlich rasch contrahiren können. Dagegen
hat Rollett neuerdings sehr interessante Beobachtungen mitgetheilt
über physiologische Verschiedenheiten gleichnamiger, aber histologisch
differenter Muskeln bei einander sonst sehr nahe stehenden Insecten
(Käfern) (10).
Alle Skeletmuskelfasern des Dyticus weichen in ihrem Bau
sehr wesentlich von allen Skeletmuskelfasern des Hydrophilus ab,
während bei jedem dieser Käfer für sich alle Muskelfasern eine ganz
übereinstimmende Structur erkennen lassen. „Bei Dyticus zeigen
sich am Querschnitt platte Muskelsäulchen und dementsprechend
radiär angeordnete Cohnheimsche Felder, wobei das Sarkoplasma-
geäder von grösseren, die Kerne umgebenden Ansammlungen feder-
artig ausstrahlt" (Fig. 25). Bei Hydrophilus dagegen finden sich
polygonale Cohnheimsche Felder, welche in der Mitte eine von
Sarkoplasma erfüllte Lücke zeigen; jedes Muskelsäulchen ist daher von
einem centralen Canale durchzogen und gleichmässig vom Sarkoplasma
umrahmt. Rollett benutzte Präparate von den genannten Käfern,
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
55
an welchen die die Oberschenkel des hinteren Beinpaares bewegenden
Muskeln direct mit Inductionsschlägen gereizt wurden. Bei diesen
Versuchen ergab sich ein wesentlicher Unterschied der Dauer und
Form der Einzelzuckung für die zwei Käferspecies. Die Curve des
Dyticus-Muskels steigt rasch zum Maximum der Verkürzung an , um
hierauf auch wieder schnell zur Abscisse abzusinken. Die Curve des
Hydrophilus- Muskels erreicht ihr Maximum viel später, hält sich
nahe demselben längere Zeit und fällt dann ganz allmählich ab (noch
gedehnter verläuft das Myogramm der Muskeln des Maikäfers)
(Fig. 36). Der Zuckungsverlauf der Dyticus-Muskeln ist also dem
der weissen, der der Hydrophilus- und Melolontha-Muskeln jenem der
rothen Kaninchenmuskeln vergleichbar. Im Uebrigen variirt die ab-
solute Dauer einer Zuckung und ihrer einzelnen Stadien in allen
Fällen innerhalb ziemlich weiter Grenzen. Die folgende Tabelle giebt
die Mittelwerthe aus einer grösseren Zahl von Einzelversuchen nach
Rollett.
Käfer
Latenz-
stadium
Zuckungs-
daner
Aufsteigender
Curventheil
Absteigender
Curventheil
Dy ticus
Hydrophilus
Melolontha
0,017
0,047
0,075
0,112
0,350
0,527
0,055
0,108
0,110
0,057
0,242
0,411
Vergleicht man damit die Zahlen, welche Marey (11) für die
Flugmuskeln verschiedener Insecten als der möglichen Zuckungs-
geschwindigkeit pro Sekunde entsprechend angiebt, so wird der ausser-
ordentlich weitgehende Unterschied beider Muskelarten in sehr deut-
licher Weise klargestellt:
Stubenfliege 330
Hummel 240
Biene 190
Wespe 110
Libelle 28
K 0 h 1 w e i s s 1 i n g 9
und wieder zeigt sich , dass die betreffenden Eigenschaften der Mus-
keln schon in den Bewegungen des unversehrten Thieres mehr oder
weniger deutlich zum Ausdruck kommen.
Aus dem Bisherigen ergiebt sich, dass nicht nur die quergestreiften
Muskeln verschiedener Thiere, sondern auch die einer und derselben
Thierspecies sehr weitgehende Differenzen in Bezug auf die zeitlichen
Verhältnisse des Contractionsverlaufes darbieten. Dasselbe gilt
nun nach Grützners Untersuchungen auch für die Fasern
eines einzelnen Muskels. So wie es „flinke" und „träge" Mus-
keln giebt, so giebt es auch flinke und träge Muskelfasern, die
in vielen und vielleicht den meisten Fällen einen anatomisch einheit-
lichen Muskel zusammensetzen. Schon im Jahre 1805 hat Ritter
eine physiologische Verschiedenheit verschiedener Muskelgruppen be-
hauptet und den Beugern beim Frosche eine geringere, „bedingte,
endliche", den Streckern eine beträchtlichere, „unbedingte, unendliche"
56 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Erregbarkeit zugeschrieben. Auf die betreffenden Thatsachen wird an
anderer Stelle näher einzugehen sein; hier sei nur darauf hingewiesen,
dass auch durch spätere Versuche (insbesondere vonRollett) gezeigt
wurde, dass bei elektrischer Reizung des K. ischiadicus die Beuger
wesentlich durch schwache, die Strecker durch stärkere Ströme gereizt
werden. Grützner constatirte dann (12), dass nicht nur bei indirecter
Erregung vom Nerven aus, sondern auch bei directer Reizung
die Beuge muskeln des Frosches sich früher und viel
schneller zusammenziehen, als die Strecker, was am deut-
lichsten hervortritt, wenn beide Muskelarten durchblutet und nicht
übermüdet sind.
Es würde sich also hier zunächst nur um ein weiteres Beispiel
für den schon erörterten Satz handeln, dass verschiedene Muskeln
desselben Thieres sich unter Umständen durch eine verschiedene
Zuckungsdauer und, wie gleich hinzugefügt werden kann, auch durch
eine verschiedene Erregbarkeit auszeichnen. Es wird später noch eine
Beobachtung Ran vier 's zu erwähnen sein, der zufolge der aus rothen
(trägen) und blassen (flinken) Fasern gemischte Triceps humer i des
Kaninchens im Anfang einer längeren Reizfolge wegen der leichteren
Erregbarkeit der blassen Fasern wie ein ungemischter „weisser" Muskel
„flink" zuckt, im Verlaufe der Ermüdung aber „träge" wie ein rother,
weil die leichter erregbaren flinken Fasern auch rascher ermüden, als
die trägen, aber ausdauernderen rothen.
Ein ganz analoges Verhalten konnte nun G r ü t z n e r auch an
den Beugern und Streckern des Froschfusses constatiren. Lässt man
nämlich an blutleeren Schenkeln die trägeren Strecker und die flinken
erregbareren Beuger häufige Zuckungen ausführen , so verschwindet
der anfängliche Unterschied im Contractionsverlauf später vollkommen,
ja er kann sich sogar umkehren. Das heisst, die Beuger, die vor-
wiegend aus leichter erregbaren , flinken Fasern bestehen , ermüden
auch mehr als die überwiegend trägen, resistenteren Strecker. Dies
ergiebt sich auch aus folgendem, von Grützner (I.e.) angestellten
Versuch. Unterbindet man beim Frosch die Arteria iliaca auf der
einen Seite, so springt das Thier zunächst mit scheinbar gleicher
Kraft und in der Richtung seiner Längsaxe, indem es die Strecker
(Gastrocnemius) beiderseits gleich gut in Thätigkeit setzen kann; bald
jedoch lässt es die Extremität auf der unterbundenen Seite ausge-
streckt liegen und zieht sie erst später, nach dem Sprung, an den
Körper heran : die Erregbarkeit der Beuger hat durch die kurze
Anämie schon beträchtlich gelitten.
Besteht ein einzelner Muskel aus zwei in dem angegebenen Sinn
physiologisch verschiedenen Fasergruppen, und überwiegt die eine
nicht allzu sehr über die andere, so ist, wie leicht ersichtlich, die
Zuckungscurve bei genügend starker Reizung als aus der Combination
von zwei durch Form und Verlauf verschiedenen Zuckungscurven
hervorgegangen anzusehen, und es wird sich dies unter Umständen
auch an den Myogrammen selbst ausprägen können. In der That
kennt man schon seit lange eigenthümliche d oppelgip feiige
Zuckungscurven, deren Zustandekommen sich nun leicht er-
klärt (13). In manchen Fällen, wenn die „trägen" Fasern nicht all-
zu sehr hinter den „flinken" zurückstehen, sieht man gleich bei den
ersten Reizungen auch die ersteren zur Geltung kommen; die Curve
ist gleich von vorneherein zweigipfelig , wie beispielsweise die des
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 57
Waden muskels der Ratte (14) und in der Regel auch die des
Sartorius vom Frosch. In anderen Fcällen, wo, wie in der Regel,
die flinken Fasern in der Mehrzahl vorhanden sind, contrahirt sich
der gemischte, frische Muskel in Folge künstlicher Reizung Anfangs
nur nach Art der flinken Fasern rasch, während die gleichzeitig mit-
erregten, aber langsamer und träger sich contrahirenden Antheile ein-
fach mitgerissen werden. Ermüdet man aber mehr und mehr die
flinken Antheile, so kommen nun auch die trägen Fasern zur Geltung,
und die Curve wird zweigipfelig (15).
In sehr instructiver Weise lässt sich, wie Grützner fand (16),
die verschiedene Erregbarkeit und der Unterschied im Zuckungsver-
lauf der flinken und trägen Fasern mittelst chemischer Reizung am
Sartorius des Frosches zeigen. Betupft man nämlich die obere, unmittel-
bar unter der Haut liegende Fläche dieses Muskels mit einer 1 — 2"/o
Lösung von Kalisalpeter, so zieht sich der Muskel langsam zu-
sammen; betupft man dagegen in gleicher Weise die untere Fläche,
so bleibt der Erfolg oft ganz aus oder ist doch viel geringer. Wohl
aber zuckt der ganze Muskel blitzschnell, wenn man ihn
elektrisch mit einem Inductionsschlag reizt. Die Ursache dieses
auffallenden Verhaltens hätte man nach Grützner darin zu suchen,
dass der Sartorius des Frosches im Wesentlichen aus zAvei Schichten
verschiedener Muskelfasern besteht, indem die oberen (trägen)
sich langsamer zusammenziehen als die unteren (flinken)
und nur die ersteren durch das Kalisalz, beide, namentlich
aber die flinken, durch den elektrischen Reiz erregt
werden. Aehnlich verhalten sich auch viele Warmblütermuskeln
(besonders dünne, wie Bauchmuskeln, Zwerchfell) im curarisirten
Zustande. Betupft man sie mit Salzlösung, so ziehen sie sich ganz
langsam (wurmförmig) zusammen; reizt man jedoch dieselbe Stelle
vorher oder nachher mit einem Inductionsschlag, so erfolgt ihre Zu-
sammenziehung blitzschnell zuckend.
Es kann auf Grund der mitgetheilten Thatsachen nicht wohl be-
zweifelt werden, dass in sehr vielen Fällen ein Muskel keine
physiologische Einheit darstellt, sondern eine Mischung von
mindestens zwei functionell verschiedenen Elementen, die bei den
normalen Bewegungen der Thiere wohl auch verschiedenen Zwecken
dienen, Avie schon aus der Uebereinstimmung des Bewegungsmodus
eines Organs oder eines einzelnen Muskels und der Zahl der die Be-
wegung charakterisirenden flinken oder trägen Fasern hervorgeht.
Besonders instructiv ist es in dieser Beziehung, dass, wieRollett be-
merkt, an den Flügeln gewisser Insecten sich ausser den durch un-
gemein rasche Contractionen ausgezeichneten Thoraxfibrillen auch
andere in anatomischer und physiologischer Hinsicht vollkommen ver-
schiedene Muskeln inseriren, die allerdings an Masse im Vergleich
zu jenen (den eigentlichen Flugmuskeln) sehr zurücktreten. Das Vor-
kommen von zweierlei Muskeln steht hier offenbar in Beziehung zu
zwei verschiedenen Actionen. Die eine derselben ist die Entfaltung
des Flugapparates, Stellung der Flügeldecken und Ausspannung der
Flügel. Diese Action erfolgt etwa nach demselben Modus wie die
Bewegung der Beine. Die zweite Action dagegen ist das Fliegen
selbst, von welchem durch die Untersuchungen Marey's bekannt
ist, dass es bei den Insecten durch eine oft zu ausserordentlicher
Höhe gesteigerte Frequenz des Flügelschlages zu Stande kommt. In
58 Die Forinänderuiig des Muskels bei der Thätigkeit.
diesem Falle ist der anatomische Unterschied der flinken und trägen
Fasern höchst bedeutend, und die Thoraxiibrillen nehmen deswegen
nicht nur in physiologischer, sondern auch in anatomischer Beziehung
eine Sonderstellung ein. Sie vereinigen in sich gewissermaassen alle
jene Eigenschaften, durch welche sonst in der Regel ausdauernde
und rasch sich contrahirende Muskeln ausgezeichnet sind,
nämlich einerseits grossen Sarkoplasmareichthum und an-
dererseits eine sehr entwickelte, besonders reiche Quer-
s treifung.
In den meisten anderen Fällen sind die histologischen Unter-
schiede zwischen flinken und trägen Muskelfasern viel geringer. Im
Allgemeinen kann man sagen, dass die letzteren, wenigstens bei
denWirbelthieren, sarkoplasma reich er, trüb und oft
auch schmaler sind, während die flinken, erregbareren,
aber auch leichter zu ermüdenden M u s k e 1 f a s e r n we-
niger Sarkoplasma enthalten und daher heller er-
scheinen und meist auch breiter sind. Wie schon früher
erwähnt, sind ferner die trüben Fasern oft durch Hämoglobin oder
andere Farbstofte gefärbt, ohne dass dies jedoch immer der Fall
wäre.
Ein ganz analoges Verhältniss wie bei dem Flugapparat mancher
Insecten flndet sich auch bei sehr vielen Muscheln, indem der Schliess-
muskel aus zwei durch Farbe und Structur scharf gesonderten Theilen
besteht, die nachweisbare physiologische Verschiedenheiten darbieten
und verschiedenen Functionen angepasst sind. In sehr auffallender
Weise macht sich dies bei Pecten- Arten geltend, wo der grössere
(gelblichgrau erscheinende) Antheil des Schliessmuskels aus quer-
gestreiften, der (weiss aussehende) Rest aus glatten Muskel-
zellen zusammengesetzt ist. Wie Coutance und Jhering zeigten,
vollführt der erstere allein die rasche Schliessung der Schale,
während der glatte Muskel dieselbe langsam schliesst, aber
dauernd und mit grosser Kraft geschlossen hält. Dies ist nicht
mehr möglich und die Schale klafft sofort, wenn der glatte Antheil
des Muskels durchschnitten wird; der gestreifte kann dann noch bei
Reizung rasche Schliessung bewirken, aber dieselbe ist nie von
langer Dauer. Die Zweckmässigkeit einer solchen Einrichtung liegt
auf der Hand. Coutance (18) hat auch schon, Avie später K n oll (17),
durch directe Reizversuche den sehr auffallenden Unterschied im
Contractionsverlauf des glatten und gestreiften Theiles des Schliess-
muskels nachgewiesen. Aehnlich wie Pecten verhält sich nach
Knoll auch Lima inflata, deren Schliessmuskel zwar nicht aus
zwei schon makroskopisch deutlich gesonderten Antheilen besteht,
aber in mehrfacher Lage an der Peripherie und vereinzelt im Innern
glatte Elemente enthält, während die Hauptmasse des Muskels aus
quer- (bezw. schräg-) gestreiften Zellen besteht. „Ruhig in Seewasser
gelassen, klaff"en die Schalen dieser Muschel in der Regel nicht un-
erheblich; von Zeit zu Zeit aber klappen sie jäh zusammen, Avodurch
das Thier sich ähnlich wie Pecten kräftig weiter zu schnellen ver-
mag. Auch bei der Auster besteht der Schliessmuskel aus einem
durchscheinenden grauen und einem weissen, sehnenähnlichen Theil,
während bei M y t i 1 u s nur der weisse , bei Solen nur der graue
vorkommt. Schwalbe, welcher zuerst die Zusammensetzung des
grauen Antheils aus „doppeltschräggestreiften" Muskelzellen erkannte.
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 59
machte auch schon auf functionelle Unterschiede beider Theile auf-
merksam. Vergleicht man den Act des Schalenschliessens bei Ostrea
und Mytilus, so sieht man, dass bei ersterer derselbe auf Ein-
wirkung äusserer Reize hin plötzlich und rasch geschieht, bei
letzterer dagegen sehr langsam und allmählich, so dass man bei offen-
stehenden Schalen bequem die Schliessmuskel durchschneiden kann,
ohne dass dabei, wie bei der Auster, das Messer eingeklemmt wird.
Schwalbe glaubt daher, dass die doppeltschräggestreiften Fasern
der Auster mehr für plötzliche und energisch auszuführende Bewegungen
eingerichtet sind, während die längstibrillären wohl auch hier den
festen Schluss besorgen. Bei Anodonta, wo eine ähnliche Diffe-
renzirung des Schliessmuskels in zwei schon makroskopisch unter-
scheidbare Abschnitte besteht, konnten weder Engelmann noch ich
selbst einen merkbaren Unterschied in der Geschwindigkeit der Con-
traction zwischen den beiden verschieden gefärbten Theilen des
Schliessmuskels nachweisen (19).
II. Al)häiigigkeit der Miiskelcontraction Yon der Stärke
der Heizung.
Eine systematische Untersuchung über diesen Punkt lässt sich
am Besten mit Hülfe des elektrischen Reizes in Form einzelner In-
duktionsschläge ausführen, da sich deren Stärke mit fast unbegrenzter
Feinheit abstufen lässt. Wir sind so in den Stand gesetzt, das Gesetz
der Abhängigkeit der Verkürzung von der Reizstärke genau zu er-
mitteln. Man überzeugt sich leicht, dass unter einem gewissen Grenz-
werth der Intensität (der „Reizschwelle") der Reiz überhaupt nicht
in sich tbar er Weise erregend wirkt; die Auslösung einer Contrac-
tion beginnt erst bei einer gewissen Reizstärke, und ihre Grösse (Höhe)
nimmt dann nach Fick bei weiterer Verstärkung derselben einige
Zeit proportional mit dem Reize zu; überschreitet die Stromstärke
jedoch einen gewissen Werth, so hört das Wachsthum der Zuckungs-
höhe auf und behält von nun ab für jeden grösseren Werth der
Stromstärke den einmal erreichten Maximalwerth. Diese Grenze
liegt im Allgemeinen nur wenig über derjenigen, wo die erste, eben
merkliche Zuckung ausgelöst wird. Den Vorgang dieser grössten Ver-
kürzung und Wiederverlängerung bezeichnet man als eine „maxi-
male Zuckung". Mit Fick (20) kann man dieses Verhalten auch
so ausdrücken, dass man sagt: „Jeder Reizanstoss löst entweder eine
maximale oder gar keine Zuckung aus, nur in einem beschränkten
Intervalle der Reizscala, das wegen seiner Kleinheit oft faktisch schwer
zu treffen ist, liegen Reizstärken, die untermaximale — sozusagen
unvollständige — Zuckungen auslösen." Wir werden später sehen,
dass es Muskeln giebt, bei welchen immer nur maximale Zuckungen
beobachtet werden (Herz).
Das Gesetz des annähernd proportionalen Wachsens der Zuckungs-
höhen innerhalb des erwähnten kleinen Intervalls, welches Fick
seiner Zeit aus Versuchen über indirecte Reizung von Skeletmuskeln
abgeleitet hatte, wurde in der Folge von Tigerst edt (21) bestritten,
welcher (auch bei directer Reizung curarisirter Muskeln) findet, dass
„bei gleichförmigem Zuwachs der Stärke des elektri-
60 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
sehen Reizes die Muskelzuckungen zuerst schnell, dann
immer langsamer (wahrscheinlich in Form einer Hy-
perbel) zunehmen^ um schliesslich einem Maximum sich
assymp totisch zu nähern" (1. c. p. 16), ein Satz, den auch
Hermann schon vorher ausgesprochen hatte (4. p. 108).
Wie schon erwähnt, scheint der Herzmuskel sich auf den ersten
Blick von allen quergestreiften Stammesmuskeln dadurch zu unter-
scheiden, dass jede Beziehung zwischen der Stärke des Reizes und
der Clrösse der darauf folgenden Contraction fehlt. Aus Unter-
suchungen von B o w d i t c h und K r o n e c k e r (22) ergiebt sich , dass
Inductionsströme von einer bestimmten Intensität unter allen Um-
ständen maximale Zuckungen der vorher ruhenden Ventrikelmuskulatur
auslösen, während schwächere Reize gar keine Wirkung haben, stärkere
dagegen keinen anderen Erfolg als die schwächsten überhaupt wirk-
samen Reize: minimale Reize sind daher, wie es Kr o necker
ausdrückt, hier zugleich maximale, und selbst bei sorgfältigster
Abstufung der Reizstärke gelingt es nicht, das Herz zu einer unvoll-
ständigen Zuckung zu bringen. Diese Regel scheint nur unter ganz
besonderen Umständen eine Ausnahme zu erleiden. Mays (23) fand
nämlich , dass zuweilen , und zwar sowohl bei höherer wie bei nie-
derer Leistungsfähigkeit der Herzspitze vom Frosch, die Höhen der
Pulse (Zuckungen) mit der Stärke der in gleichmässiger rhythmischer
Folge einwirkenden Inductionsschläge beträchtlich wechseln. Er er-
hielt diesen Zustand am sichersten, wenn der Ventrikel, mit altem
Blute gefüllt, im Oelbade am Manometer arbeitet.
Im Uebrigen Avird man Fick beipflichten müssen, wenn derselbe
in der betreffenden Eigenthümlichkeit des Herzmuskels nur die „ex-
treme Entwickelung einer Eigenschaft erblickt, welche jeder andern
Muskelfaser auch zukommt", da ja auch hier „die Breite des Inter-
valls der Reizscala für die untermaximalen Zuckungen in gar keinem
Verhältniss zu dem unbegrenzten Theile dieser Scala steht, welchem
die maximalen Zuckungen entsprechen". Freilich wird dadurch das
Räthselhafte der letzteren an sich nicht vermindert, da es schwer
einzusehen ist, warum über eine gewisse Grenze hinaus beliebig starke
Reize immer nur quantitativ gleiche Umsetzungen bewirken, die
nicht einmal dem überhaupt e r r e i c h b a r e n M a x i m u m der
Contraction entsprechen.
Dies geht, abgesehen von anderen noch zu erwähnenden That-
sachen, schon aus dem Umstände hervor, dass das, was durch Steige-
rung der Reizstärke nicht zu erzielen ist, durch rhythmische
Wiederholung gleich starker Reize erreicht werden kann.
Es wächst nämlich die Zuckungs höhe unter Umständen,
wenn in gleichen Zwischenräumen gleich starke Induc-
tionsströme auf den Muskel wirken. Zuerst wurde diese auf-
fallende Erscheinung gerade wieder am Herzmuskel von Bowditch
beobachtet, worauf Tiegel und Mi not dieselbe auch an Skelet-
muskeln des Frosches, Rossbach an Warmblütermuskeln, Riebet
an den Muskeln des Krebses und Rom an es an jenen der Medusen
feststellten (24). Wirken in rhythmischer Folge gleichstarke Inductions-
ströme auf die ruhende Herzspitze des Frosches ein, so gelingt es fast
immer, eine förmliche Stufenleiter oder „Treppe" von Contractionen
mit zunehmender Amplitude auszulösen, wie die beistehenden Curven-
reihen zeigen (Fig. 37).
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
61
Ganz analoge Erscheinungen hat in der Folge Tiegel (1. c. p.37)
an blutdurchströmten und mit Curare vergifteten Froschmuskeln
(Gastroenemius) beobachtet. Werden einem solchen Muskel in regel-
mässigen Intervallen einzelne Inductiousschläge von gleich bleibender
Stärke zugeführt, so wachsen die Zuckungshöhen, sofern es sich um
maximale Reize handelt, continuirlich an, und zwar durch eine Reihe
von mehreren Hundert Zuckungen, wobei die Höhe, welche die
„Treppe" (d. i. die Curve, welche sämmtliche Gipfelpunkte einer auf-
steigenden Zuckungsreihe verbindet) erreichen kann, innerhalb gewisser
Grenzen mit der Stärke des Einzelreizes wächst. Bei Anwendung
minimaler Reizstärken lässt sich gewöhnlich kein Ansteigen der
Zuckungsreihe oder doch nur eine Spur desselben nachweisen, während
es bei den maximalen Reihen stets aufs Schönste entwickelt ist (Fig. 38).
Fig. 37. Herz (Frosch) nach Sinusligatur künstlicli gereizt. Die erste Zacke jeder
Curve rührt von der Vorkammersystole, der eigentliche Gipfel von der Kammersystole
her. Beide zeigen die „Treppe". (Nach Engelmann.)
Fig. 38. Erregung eines etwas erschöpften blutleeren Froschwadenmuskels durch
Gruppen voij je 1, 2, 3, 4, 5 gleichgerichteten maximalen Oeffuungsinductionsschlägen:
Wachsen der Zuckungshöhen bei wiederholter Reizung in kurzen Intervallen („Treppe").
Abnahme bei längerer Dauer der Pause (Stimmgabel: ^/lo Sek.). (Nach Engelmann.)
Wird eine solche Reihe unterbrochen und nach einer Pause wieder
fortgesetzt, so ist die erste der neuen Zuckungen kleiner als die letzte
vor der Pause (Tiegel, R o s s b a c h , B u c k m a s t e r) , doch nimmt
der Muskel seine ansteigenden Zuckungen sofort wieder auf. Hierbei
ist es innerhalb einer gewissen Breite vollkommen gleichgültig, in
welchem Intervall die periodischen Reizungen erfolgen. Eine obere
Grenze ist nur dadurch gegeben, dass die Reize nicht gar zu selten auf
einander folgen dürfen, wenn noch eine „Treppe" erscheinen soll.
Dieser obere Grenzwerth beträgt nach Bowditch für den Herzmuskel
des Frosches etwa 60 Sekunden, |für quergestreifte Skeletmuskel
der Warmblüter nach Rossbach etwa 5 Sekunden. Die untere
Grenze ist durch jenen Werth des Reizintervalles bestimmt, bei welchem
die Zuckungsreihe zu einem Tetanus verschmilzt. In Bezug auf die
Form der „Treppe" ist zu erwähnen, dass dieselbe unabhängig
von Stärke und Häufigkeit der Reize stets die einer gleichseitigen
Hyperbel ist.
Berücksichtigt man, dass die geschilderte Erscheinung unab-
hängig ist von der Natur des Reizes (sie tritt auch bei mechanischer
Q2 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Reizung hervor), sowie auch vom Btutgehalt des Muskels, so scheint
es zweifellos, dass man es hier mit einem Process zu thun hat, der
mit dem Erregungsvorgang- bezw. der Contraction des Muskels aufs
Innigste zusammenhängt. Es muss späteren Erörterungen vorbehalten
bleiben, die wahrscheinliche Ursache des geschilderten Verhaltens
näher zu kennzeichnen. Bemerkt sei nur noch an dieser Stelle, dass
eine ähnliche, nur viel länger anhaltende Nachwirkung wie nach
j eder einzelnen Zuckung auch nach einer tetanischen Reizung
hervortritt. Rossbach (1. c.) wie auch Bohr (25) fanden, dass ein
und derselbe Reiz nach dem Tetanus eine grössere
Wirkung (stärkere Zuckung) hervorruft, als vor demselben. Bei
maximalen Reizungen ist diese positive Nachwirkung oft noch nach
mehr als ^/2 Stunde nachweisbar.
Wie die Höhe, so hängt auch die Latenzdauer der.
Muskelzuckung zum Theil von der Reizstärke ab.
Der von Helmholtz für directe Reizung des Froschmuskels
(Gastrocnemius) mit einzelnen Oeffnungs-Inductionsschlägen gefundene
Werth für das Latenzstadium (0,01 Sek.) hat sich bei späteren Unter-
suchungen als viel zu gross herausgestellt, denn die nach verschie-
denen Methoden erhaltenen Werthe von Place, Klünder, Lauter-
bach, Gad, Mendelssohn zeigen durchwegs, dass die Latenz-
dauer des direct mit Inductionsschlägen gereizten Froschmuskels nur
etwa 0,005"— 0,006" beträgt (vergl. T i g e r s t e d t [26]). Auch Tiger-
stedt (1. c. p. 152) kommt bei seinen ausgedehnten Versuchen zu
demselben Resultat. Es ist übrigens die Möglichkeit zu erwägen, dass
die Latenzdauer der Muskelzuckung einen noch geringeren Werth
hat, denn bei deren Bestimmung sind noch einige andere gleich zu
erwähnende Momente mit zu berücksichtigen. Nach Burdon- San-
der son (27) beträgt das Stadium der latenten Reizung bei Frosch-
muskeln nur 0,0025 Sekunden, und Regeczy (28) leugnete überhaupt
ganz dessen Existenz. Schon Helmholtz bemerkt, dass, wenn man
mit Inductionsströmen arbeitet, die hinreichend stark
sind, um das Maximumder Reizung hervorzubringen, die
Intensität der Ströme beliebig verändert werden kann, ohne dass da-
durch die Ergebnisse der Zeitbestimmungen geändert werden. Tiger-
stedt findet sowohl beim nicht curarisirten wie beim curarisirten
Muskel die Latenzdauer der Zuckung bei directer maximaler
Reizung mit Oeffnungs-Inductionsschlägen unabhängig von der Stärke
des Reizes. Innerhalb des Bereiches der Stromesintensität jedoch,
wo mit zunehmender Reizstärke auch die Zuckungshöhen wachsen,
nimmt nach Tiger stedt mit abnehmender Zuckungshöhe
die Latenzdauer stetig zu, und zwar zuerst langsam,
später aber immer schneller. Dies gilt sowohl für den nor-
malen wie für den durch Curare entnervten Muskel.
Die Latenzdauer des Gesa mmtmusk eis und des
Muskelelementes.
Es ist hier der Ort, die in neuerer Zeit wiederholt behandelte
Frage zu streifen, ob das Latenzstadium des Muskelelementes, d. h. eines
kleinsten Abschnittes einer Primitivfaser, von dem des aus zahlreichen
Fasern bestehenden ganzen Muskels verschieden ist oder nicht;
Alles, was seit H e 1 m h o 1 1 z über den zeitlichen Verlauf der Contrac-
Die Formänderung des Muskels bei der Tliätigkeit. 63
tion experimentell ermittelt worden ist, bezieht sich auf Muskelindi-
viduen im grob anatomischen Sinne. Fassen wir aber die mechanische
Zustandsänderung des „Muskelel em entes" (d. h. eines möglichst
kleinen Fasersegmentes) näher ins Auge, so ist es leicht ersichtlich,
dass dabei nicht nur die a c t i v e n , durch den Vorgang der Erregung
bedingten Form- und Lageveränderungen , sondern auch jene p a s -
siven Verlagerungen mit zu berücksichtigen sind, welche aus der
Verbindung des einzelnen Muskelelementes mit anderen in der Continuität
der Faser resultiren. Für eine eventuelle Theorie der Muskelprocesse
haben natürlich nur die ersteren unmittelbare Bedeutung, nichtsdesto-
weniger müssen die anderen mit berücksichtigt werden, weil sie, wie
leicht zu zeigen ist, auf die Erscheinungsweise der Contraction des
Gesammtmuskels von wesentlichem Einfluss sind. Es ist nicht schwer
zu zeigen, dass bei Reizung eines belasteten parallel fase-
rigen Muskels am einen Ende die von der Reizstelle
entfernteren Theile eine merkliche Dehnung erleiden,
bevor sie in Contraction g e r a t h e n. Ueberaus deutlich lässt sich
dies an polymeren Muskeln
demonstriren (29). Wird z. B.
der M, rectus int. maj. des
Frosches, der etwa in der
Mitte eine schräge sehnige
Inscription besitzt, vertical mit
dem tibialen Ende nach oben
aufgehängt und mit zwei Zei-
chenhebeln armirt, von denen
der eine in die obere Muskel-
hälfte dicht über der Inscrip-
tion, der andere in die knor-
pelige Beckenpfanne einge-
stochen wird, und reizt man
dann die untere Muskelhälfte
mit einzelnen Inductionsschlä- Fig. 39. o obere, « untere Muskelhälfte.
gen, so lässt sich bei graphi- (Nach Münz er.)
scher Verzeichnung der Ge-
staltveränderungen beider Muskelhälften jederzeit leicht zeigen, dass
im selben Augenblick, wo die untere direct gereizte Hälfte sich
zu verkürzen beginnt, die obere passiv gedehnt wird (Fig. 39).
„Das dadurch bedingte Ansteigen der oberen Curve geht aber
bald in ein Absteigen bis unter die Abscisse über, was einem
Kürzerwerden der oberen Muskelhälfte entspricht," welches seinerseits
ebenso wie die vorhergehende Verlängerung passiv verursacht ist.
„Sobald nämlich der untere Muskel sich contrahirt, zieht er seine
beiden Enden gegen einander, d. \\. er hebt einerseits das Ge-
wicht, dehnt andererseits die obere Muskelhälfte. Nun aber
fliegt das einmal in Bewegung gesetzte Gewicht vermöge seiner Träg-
heit über die eigentliche Hubhöhe hinaus („Wurfhöhe"), Im selben
Augenblick wird der ganze Muskel, also auch die obere Partie, entlastet;
letztere schnellt daher zusammen, sie verkürzt sich und es täuscht
dies eine vitale Contraction vor" (1. c. p. 251).
In der That wurde diese Erscheinung seinerzeit von Regeczy
(30) auch wirklich zu Gunsten der Annahme verwerthet, dass sich der
Erregungsprocess durch eine sehnige Inscription hindurch von einer
64
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Muskelhälfte auf die andere zu übertragen vermöge. Wird das Schleudern
in passender Weise ganz vermieden , so erhält man unter sonst
gleichen Verhältnissen nur Dehnung der oberen Muskelhälfte, die so lange
andauert, als die untere verkürzt bleibt. Dasselbe, was hier von einem
polymeren, durch eine sehnige Inscription in zwei physiologisch von
einander unabhängige Hälften getheilten Muskel gesagt wurde, lässt sich
aber auch übertragen auf die beiden Hälften eines monomeren parallel-
faserigen Muskels, wie etwa des Sartorius, dessen unteres Ende belastet
und gereizt wird, während ein leichter Schreibhebel durch die Mitte
des Muskels gestochen wird. Stets wird dann die obereHälfte
des vertical aufgehängten Muskels zuerst merklich ge-
dehnt, ehe die Verkürzung derselben beginnt (31). Diese
Erscheinung fehlt, Avenn der Zeiclienhebel mit dem unteren Ende des
Muskels in Verbindung ist, d. h. bei der gewöhnlich üblichen Art
der Aufzeichnung der Muskelcontraction.
Es ist also eine der Verkürzung vorhergehende Verlängerung
(Dehnung) des Gesamm tmuskels nicht vorhanden. Dagegen er-
leitet jedes M u s k e 1 e 1 e m e n t durch Reizung beziehungsweise Contrac-
tion einer entfei-nteren Stelle zunächst eine Dehnung, denn der belastete
Muskel übt, so lange er bei seiner Contraction der Last eine Beschleu-
nigung nach oben ertheilt, einen grösseren Zug auf seinen Aufhänge-
punkt aus, als in der Ruhe (Gad). Es ist klar, dass durch diesen
Umstand das mechanische Latenzstadium des Gesammt-
muskels wesentlich länger ausfallen muss, als das mecha-
nische Latenzstadium des Muskelelementes, und dass
demnach das kürzeste noch zu beobachtende Latenz-
stadium des Gesammtmuskels dem wahren Werthe des-
jenigen des Muskel elementes am nächsten kommen wird.
Um diese Verzögerung des Latenzstadiums möglichst auszuschliessen,
müsste eigentlich jeder Punkt des ganzen Muskels gleichzeitig erregt
werden, was bei keiner Form der elektrischen Reizung der Fall ist.
Auch bei Totaldurchströmung geht, wie wir sehen werden, die Er-
regung stets nur von bestimmten Stellen der durchflossenen Muskel-
strecke aus. Auch hier stellt daher das mechanische Latenzstadium nur
die obere Grenze der wirklichen Latenzdauer dar, da ja die Energie
(mechanische Thätigkeitsäusserung) des Muskels schon über einen ge-
wissen Werth gestiegen sein muss, ehe er dem Schreibhebel eine merk-
liche Bewegung ertheilen kann.
Tigerstedt (1. c.) hat aus einer grossen Zahl von Versuchen,
welche unter den verschiedensten Bedingungen angestellt worden waren,
für die Grösse des mechanischen Latenzstadiums des Frosch-Gastro-
cnemius folgende Werthe bestimmt:
Latenzdauer
in Sek.
Zahl
der Versuche
Procentisch
0,003
1
1,2
0,004
19
22,1
0,005
35
40,7
0,006
24
27,9
0,007
6
6,9
0,008
1
1,2
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 65
Die mechanische Latenzdauer würde demnach in diesem Falle
0,004—0,006 Sekunden betragen ; in der grössten Zahl der Fälle (41 ^lo)
beträgt sie 0,005. Sicher wird also das mechanisclie Latenzstadium
des Muskelelementes nicht länger als 0,004 Sekunden sein können,
wahrscheinlich ist es aber noch sehr viel kleiner, da es als sicher
gelten darf, dass innerhalb der als Latenzdauer der Muskelzuckung ge-
wöhnlich bezeichneten Zeit, welche zwischen dem Augenblick der
Reizung und dem irgendwie bestimmten Beginn der Verkürzung verfliesst,
eine grosse Menge Muskelelemente schon in mechanischer Wirksam-
keit begriffen sind. Am ehesten würde man noch aus dem Latenzstadium
der Verdickung einer direct gereizten Muskelstelle, wobei ja der
Thätigkeitszustand eines kleinen Muskelstückes in seiner zeitlichen
Entwickelung verfolgt wird, auf die Latenz des Muskelelementes
schliessen dürfen. Da ein einziges Muskelelement viel zu klein ist, um
allein für sich durch seine Contraction irgend einen merklichen mecha-
nischen Effect hervorzubringen, so lässt sich die Frage nach der Grösse
seines mechanischen Latenzstadiums direct überhaupt nicht experi-
mentell lösen (Gad). Dass es für die durch einen Reiz bewirkten
chemischen Veränderungen der Muskelsubstanz kein Latenz-
stadium giebt, darf auf Grund später zu erörternder Erfahrungen als
sicher gelten; inwieweit aber eine merkliche Zeit verstreicht, ehe an
Ort und Stelle mechanischeEnergie entwickelt wird, muss als
fraglich bezeichnet werden.
III. Einfluss der Belastung (Spannung) auf Orösse, Dauer und
Form der Muskeleontraction.
Es wurde schon erwähnt, dass der gänzlich unbelastete (etwa auf
Quecksilber schwimmende) Muskel seine contrahirte Gestalt beibehält,
wenn nicht eine dehnende Kraft einwirkt. Es ist daher auch unmög-
lich, den Verlauf der Verkürzung und Wiederverlängerung eines ab-
solut ungespannten Muskels graphisch darzustellen. Stets muss mit
demselben ein wenngleich noch so leichter Hebel verbunden werden,
dessen Lageveränderung durch einen der Verkürzung entgegen-
wirkenden Zug (Belastung) wieder ausgeglichen wird, sobald die Er-
schlaffung beginnt. Dadurch sind gewisse Fehler der Zuckungs-
curven bedingt, die namentlich bei den älteren Versuchen, wo träge
Massen nicht vermieden waren, sehr störend hervortraten. Besonders
im absteigenden Ast der Curve kommt es dann in Folge der Eigen-
schwingungen der im Herabfallen stark beschleunigten Massen zu
secundären kleineren Wellen, denen active Gestaltveränderungen des
Muskels nicht entsprechen. Später hat man es gelernt, diese Fehler
durch Benutzung möglichst leichter Hebel und passende Wahl des
Angriffspunktes der Last fast ganz zu vermeiden (20).
Wenn während des Ablaufes einer Zuckung die Spannung des
Muskels annähernd constant bleibt, wie es der Fall ist, wenn man
denselben an einem langen, einarmigen Hebel von möglichst geringer
Masse angreifen lässt, während ein Gewicht in grosser Nähe der
Drehaxe an demselben Hebel in entgegengesetzter Richtung wirkt, so
bezeichnet man eine solche Zuckung als eine „i s o t o n i s c h e" (F i c k)
(Fig. 40). Es zeigt sich nun, dass im Allgemeinen bei stärkerer Be-
lastung die Höhe solcher Zuckungen mit der Grösse der constanten
Biedermauii , Elektrophysiologie. 5
66
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Spannung allmählich, und zwar anfangs rasch, später viel langsamer
abnimmt, aber keineswegs proportional der Belastung, so
dass die entsprechenden Arbeits werthe gleichzeitig un-
unterbrochen zunehmen (vergl. die Tabelle bei Santesson im
Scandinavischen Archiv I, 1889, p. 25f.). Unter gewissen Bedingungen
macht sich bei wachsender Spannung direct'eine Zunahme der Con-
tractionsgrösse (Zuckungshöhe) bemerkbar. Nachdem schon 1863
A. F i c k an dem aus einkernigen Faserzellen bestehenden Schliess-
muskel von Anodonta beobachtet hatte, dass die Hubhöhen mit zu-
nehmender Belastung wachsen, constatirte Heidenhain dieselbe
paradoxe Thatsache bei tetanisirender Reizung von quergestreiften
Froschmuskeln , und später wurde dies auch bei Einzelzuck-
ungen von verschiedenen Forschern beobachtet, Avenn
40. Isotonisches Verfahren.
(Nach Gad.)
bei isotonischem Verlauf die Belastung nicht zu gross
war (Fick, Marey, v. Frey, 32). Besonders in dem Falle,
wenn die Spannung des Muskels während der Contrac-
tion stetig oder von einem bestimmten Zeitmomente an
zunimmt, wie es beispielsweise der Fall ist, wenn der Muskel an
einer elastischen Feder angreift, fällt die Verkürzung grösser
aus bei stärkerer Anfangsspannung als bei schwächerer.
Diese Thatsache wurde schon von Fick constatirt, indem er
zeigte, dass, wenn ein Muskel in geeigneter Weise an der Verkürzung
gehindert wird und die Zeit zwischen Reiz und Freigeben des
Muskels passend gewählt war, die Zuckung stets grösser ausfiel als
unter gewöhnlichen Verhältnissen. Dieselbe Erscheinung zeigte sich
auch, wenn der Muskel mit immer grösseren Gewichten belastet und
immer im selben Zeitmomente nach der Reizung freigegeben wurde.
Place (32) fand dann, dass bei Anwendung eines federnden
Schreibhebels, wo der zu überwindende Widerstand und daher auch
die Spannung während des Zuckungsablaufs stetig zunimmt, trotzdem
auch die Zuckungshöhe bisweilen zunahm, wenn die Anfangsspannung
von 0—25 gr vermehrt wurde. Später hat Tiger stedt (26) unter
denselben Umständen auch bei noch höheren Anfangsspannungen ein
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 67
Wachsen der Zuckungsgrösse beobachtet. In einer sehr ausführ-
lichen Arbeit hat endlich C. G. Santesson diese Verhältnisse be-
handelt (32).
Es ist durch alle diese Versuche als sicher erwiesen zu be-
trachten, dass innerhalb gewisser Grenzen die Contr ac-
tio n s g r ö s s e (Z u c k u n g s h ö h e) mit der A n f a n g s s p a n n u n g ,
sowie mit dem Spannungszuwachs während der Zuckung
wächst, wobei zu bemerken bleibt, dafs diese Zunahme der Zuckungs-
höhe weder von den mechanischen Bedingungen der Versuche an und
für sich, noch von einem etwaigen erregbarkeitsändernden Einfluss
des elektrischen Reizes bedingt sein kann, sondern durch eine spe-
cifische Eigen thümlichkeit der lebendigen Muskelsub-
stanz veranlasst ist. Der Muskel ist, wie dies Fick ausdrückt,
in einem gewissen Moment der Zuckung nicht immer derselbe
elastische Körper, welchem je nach der in diesem Augenblicke gerade
bestehenden Länge ein bestimmter (immer gleicher) Spannungswerth
zukäme. Die Ursachen der betreffenden Wirkungen wird man aber
füglich in nichts Anderem erblicken können, als in einem durch die
mechanischen Bedingungen, unter denen sich die Zuckung vollzieht,
bedingten und mit ihnen wechselnden latenten Erregungszustande.
Schenk (33) spricht es übrigens direct aus, dass die starken Zugkräfte,
welchen der Muskel stets ausgesetzt erscheint, wenn seine Zusammen-
ziehung irgend gehemmt oder nur erschwert ist, auf denselben als
„Reiz" wirken, der seinerseits sowohl die contrahirenden , wie imter
Umständen auch die contractionslösenden Processe zu beeinflussen ver-
mag. Gleichzeitig mit der Höhe ändert sich nämlich in der Regel auch
die Zuckungs d a u e r mit wachsender Spannung des Muskels; dagegen
wird der Beginn der Verkürzung nicht merklich beeinflusst. Wenn
Tiger stedt die vom Muskel zu bewegende, äquilibrirte Masse bis
zu 200 Gramm steigerte, sah er die Latenzdauer nur äusserst wenig
verlängert im Vergleich zu deren Werth bei alleiniger Anwendung
des leichten, fast raasselosen Hebels.
Das eben geschilderte Verhalten quergesti'eifter Stammesmuskeln
der Wirbelthiere ist, wie erwähnt, keineswegs für diese charakteristisch,
sondern es lässt sich auch an glatten Muskeln sowie am Herzmuskel
constatiren, ja es treten hier sogar die betreffenden Erscheinungen
noch viel deutlicher hervor. Der Versuche von Fick über den Ein-
fluss der durch verstärkte Belastung gesteigerten Spannung auf die
Contractionsgrösse des Schliessmuskels von Anodonta wurde schon
oben gedacht. Sehr auffallend gestalten ' sich die Erfolge einer ver-
mehrten Spannung des Herzmuskels sowohl bei Wirbelthieren wie
bei Wirbellosen. Freilich sind die beobachteten Wirkungen nicht
immer eindeutig in Folge der die normalen rhythmischen Bewegungen
des Herzens in der Regel vermittelnden intracardialen Nervenapparate,
deren Mitwirkung nur schwer auszuschliessen ist. Am einfachsten ge-
stalten sich die Versuche an dem von den Vorhöfen abgetrennten
ganglienfreien Ventrikel des Froschherzens, der sogen. „Herz-
spitze", sowie an dem S chn eck en herz en (Helix pomatia), in
welchem Ganglienzellen mit Sicherheit ebenfalls nicht nachgewiesen
sind. Da die Herzspitze des Frosches wie jeder ausgeschnittene
Stammesmuskel nur bei künstlicher Reizung sich contrahirt, sonst aber
fortdauernd in Ruhe verharrt, so eignet sie sich vortrefflich zur Unter-
suchung des Einflusses einer durch Steigerung des intracardialen
5*
QQ Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Druckes vermehrten Spannung der Muskelwand auf die Reizbarkeit
und Leistungsfähigkeit derselben. Derartige Versuche wurden zuerst
von Ludwig und Luchsinger (34) angestellt. Um den Einfluss
des Druckes möglichst isolirt untersuchen zu können, wurde die Herz-
spitze mit physiologischer Kochsalzlösung gefüllt. Bei einem Druckwerth
von etwa 20—50 Ctm. Wasser beginnen dann meist regelmässige
rhythmische Pulsationen des vorher ruhenden Ventrikels. Meist ist
eine geringe mechanische Reizung noth wendig, um eine erste Con-
traction zu Stande zu bringen, der sich aber dann eine lange Reihe
anderer spontan anschliesst. Mit dem Wechsel des Druckes wechselt
auch die Pulszahl in ganz gesetzmässiger Weise, und zwar ist sie
innerhalb gewisser Grenzen um so höher, je grösser der Druck (vgl.
Tabelle bei Luchsinger 1. c. p. 293). Analoge Beobachtungen an
dem ebenfalls ganglienfreien Bulbus aortae des Frosches theilt
Engelmann (35) mit. Am auffallendsten äussert sich jedoch der Ein-
fluss der Wandspannung bei dem dünnwandigen Schneckenherzen (36).
Schon am lebenden Thier zeigt sich, dass die durch Anschneiden be-
wirkte Entleerung des in Ruhe befindlichen Herzens stets zu einem
mehr oder weniger lang anhaltenden Stillstand im erschlafften Zustande
führt oder doch eine sehr verlangsamte Schlagfolge herbeiführt.
Schneidet man das Herz heraus, so lässt sich leicht zeigen, dass jede
selbst geringe Dehnung des erschlafften leeren Ventrikels genügt, um
entweder (rhythmische) Contractionen auszulösen oder die Schlagfolge
beträchtlich zu beschleunigen, wobei stets auch die Stärke der
einzelnen Contractionen wesentlich gesteigert w^ird. Die-
selbe Thatsache constatirte ganz neuerdings Schönlein (37) auch an
dem Herzen von Aplysia. Ist die Dehnung nicht allzu schwach und
dauert sie insbesondere einige Zeit an, so beobachtet man regelmässig
eine mehr oder minder bedeutende Nachwirkung, indem rhyth-
mische Contractionen auch nach Entspannung des Herzens noch einige
Zeit fortdauern. Eine solche Nachwirkung sahen Ludwig und
Luchsinger auch am Froschherzen.
Bei Helix pomatia gelingt es leicht, eine entsprechende Canüle
durch den Vorhof hindurch bis in den oberen Theil des Ventrikels
einzuführen und so das Herz mit Flüssigkeit (Schneckenblut) zu füllen.
Unter diesen Umständen lässt sich nun der Innendruck und damit die
Grösse der Wandspannung in einfachster Weise verändern. Oft ge-
nügt es schon, die gefüllte Canüle mit dem aufgebundenen Herzen nur
ganz wenig aus der horizontalen Lage mit der Spitze nach unten zu
neigen , um Pulsationen des vorher ruhenden Ventrikels eintreten zu
sehen. Eine in vieler Beziehung noch zweckmässigere Methode besteht
aber darin, die Canüle mit dem Herzen sofort vertical zu stellen, so
dass zunächst der Druck der ganzen Flüssigkeitssäule auf die Innen-
wand des Ventrikels wirkt. Durch allmählich tieferes Eintauchen in
ein weiteres mit 0,5 *^/o Kochsalzlösung gefülltes Gefäss lässt sich
dann leicht auch die Grösse des auf die Aussenfläche des Herzens
wirkenden Druckes von Null bis zu dem Momente steigern, wo
Innen- und Aussendruck einander gleich sind und die Wandspannung
daher ganz aufgehoben ist. Der Unterschied im Niveau des Flüssig-
keitsspiegels in der Röhre und in dem äusseren Gefässe giebt dann in
jedem Augenblick ein Maass ab für die Grösse der jeweiligen Wand-
spannung.
Die folgenden Zahlen mögen als Beispiel für die Veränderungen
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. (39
der Pulszahl bei Veränderung der Wandspannung unter diesen Um-
ständen dienen:
Druckhöhe Schlagzahl in der Minute
(Niveauditferenz in der Canüle
und im Aussengetassel
30 mm 50
15 „ 36
8 „ 21
5 „ 11
2 „ 0
30 , 50
Auch am Ureter des Kaninchens konnte Luchsinger (38) den
Einfluss der Wandspannung auf die an diesem glattmuskeligen Organ
zu beobachtenden Contractionserscheinungen nachweisen, so dass es, wenn
man alle mitgetheilten Thatsachen überblickt, keinem Zweifel unter-
worfen sein kann, dass eine vermehrte Spannung nicht nur bei quer-
gestreiften Stammesmuskeln, sondern in fast noch höherem Grade
beim Herzen und bei glatten Muskeln die Leistungsfähigkeit zu steigern
vermag, was sich in diesem Falle nicht nur in einer Ver-
grösserung der Einzelcontractionen, sondern auch in
der Auslösung beziehungsweise Beschleunigung rhyth-
misch wiederholter Contractionen äussert; die ver-
mehrte ( W a n d - ) S p a n n u n g vermag also nicht nur erreg-
b a r k e i t s s t e i g e r n d , sondern auch d i r e et als auslösender
Reiz zu wirken. Heiden hain hat beim quergestreiften Stammes-
muskel gezeigt, dass dabei nicht nur die mechanische Arbeitsleistung (die
ja von der Contractionsgrösse oder Zuckungshöhe wesentlich mit bedingt
wird) gesteigert, sondern überhaupt ein grösserer Theil der im Muskel
aufgespeicherten potentiellen Energie verbraucht, d. h. ein grösserer Theil
der chemischen Spannkräfte umgesetzt wird, und neuere Erfahrungen
haben dies durchaus bestätigt. Wenn dies aber bei einer und derselben
Stärke eines bestimmten Reizes geschieht, so muss die Ursache dafür
in einem veränderten Zustand des Muskels selbst liegen, der eben als
eine E r r e g b a r k e i t s s t e i g e r u n g bezeichnet wurde. Wenn man
nun sieht, dass eine über ein gewisses Maass gehende Dehnung oder
Spannung auf den Herzmuskel an sich als dauernder Reiz wirken
kann, indem dadurch ohne Hinzukommen eines andern Reizes lange
Reihen von rhythmischen Contractionen ausgelöst werden, während es
in andern Fällen noch eines äusseren Anstosses hierzu bedarf, eines
neuen Reizes, der aber an sich ohne die gleichzeitige Dehnung des
Muskels nicht genügt haben würde, so erscheint es berechtigt, die
Erregbarkeitssteigerung, von der man im letzteren Falle ge-
wöhnlich spricht, auf das Vorhandensein eines dauernden
Err egtmgszustandes zu beziehen, der, durch den Deh-
nungsreiz bedingt, an sich nicht ausreich t, um sichtbare
Rei z e r f 0 lg e z u bewirken. V o n d i e s e m G e s i c h t s p u n k t e aus
würde daher der Zustand der Erregbarkeitssteigerung
einer lebendigen Substanz sich unter Umständen nur
graduell von dem der Erregung unterscheiden. Wir wer-
den später noch zahlreiche andere Thatsachen kennen lernen , welche
zu Gunsten dieser Auffassung sprechen.
Wird ein Muskel so stark belastet, dass er das anhängende Ge-
wicht nicht mehr zu heben vermag, so treten auch bei stärkster
70
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Fig. 41.
Isometrisches Verfahren.
(Nach Gad.)
Fig. 42. a Isotoniscbe Zuckungs-
curve: h Isometrische Zuckungs-
curve.
Erregung zwar keinerlei äusserlich sichtbare Veränderungen auf,
gleichwohl ändern sich aber die Eigenschaften eines solchen Muskels
ganz wesentlich.
Vor Allem ist die elastische Zugkraft (Spannung)
des erregten Muskels bei seiner anfänglichen Länge
(d. h. der Länge im un erregten Zustande) Avesentlich
grösser als im Ruhezustande, denn die wirkliche Zusammen-
ziehung tritt ja eben erst als Folge dieses veränderten Zustandes ein,
indem dabei die angehängte Last von der durch die Erregung ge-
steigerten elastischen Kraft überwunden wird. Man kann nun nach
dem Vorgange F ick 's einen
Muskel verhindern, seine
Länge erheblich zu ändern
und zugleich seine jeweilige
Spannung durch ein sicht-
bares Zeichen erkennbar
machen. Dies lässt sich am
einfachsten in der Weise er-
reichen, dass man den Mus-
kel an dem sehr kurzen Arm
eines zweiarmigen Hebels
angreifen lässt, dessen an-
derer längerer Arm durch
eine elastische Feder in
seiner Bewegung beschränkt
ist. Verlängert man diesen
letzteren über den Angriffs-
punkt der Feder hinaus und
lässt man ihn vermittelst
einer Schreibspitze seine
Lageveränderungen an einer
bewegten Schreibfläche ver-
bei fast gänzlich" ausge-
schlossener Gestaltverände-
rung des Muskels eine Curve,
welche im wesentlichen das
Wachsen und Wieder-
ab nehmen der Span-
nung während der Zuck-
ungszeit bei annähernd
darstellt (Fig. 41 und
^ 1
Fig. 41.
Muskels
constanter
Fig. 42).
Eine solche Curve bezeichnet man nach Fick als eine „iso-
metrische" Zuckungscurve, weil sie bei gleichbleibendem Längen-
maass des Muskels gezeichnet ist, während bei dem gewöhnlichen
„isotonischen" Verfahren umgekehrt die Spannung annähernd con-
stant bleibt, während der Muskel sich frei verkürzt. Es ist natürlich
unmöglich, eine absolut isometrische Muskelzuckung graphisch zu
verzeichnen ; denn soll überhaupt ein Schreibhebel bewegt werden und
dadurch als Index der zu- und abnehmenden Spannung dienen, so
darf der Muskel nicht vollkommen unbeweglich zwischen zwei Punkten
ausgespannt sein, wie es für absolut mathematisch genaue Isometrie
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 71
erforderlich sein würde. „Die Gegenkraft gegen die Spannung muss
vielmehr von einem beweglichen Körper ausgeübt werden, welcher
dann eben nach Maassgabe der Spannungsgrösse einen zeichnenden
Stift mehr oder weniger weit führt" (Fick 39). Doch ist dies bei
dem Fick 'sehen Spannungszeiger nur in so geringem Maasse der
Fall, dass bei den höchsten in Betracht kommenden Spannungswerthen
die Verkürzung des Muskels nur einen Bruchtheil eines Millimeters
beträgt. Die Spannungswerthe, welche ein Muskel während seiner
Zuckung erreicht, sind unter Umständen sehr beträchtliche. Vergleicht
man isotonische mit isometrischen, unter sonst gleichen Verhältnissen
gezeichneten Curven desselben Muskels, so findet man stets, dass der
Gipfel der letzteren dem Anfangspunkt viel näher liegt, als der Gipfel
der isotonischen, d. h. mit anderen Worten, bei gleichbleibender Länge
erreicht der Muskel das Maximum seiner Spannung viel früher, als er
bei gleichbleibender Spannung das Maximum der Verkürzung erreicht
(Fig. 42).
IV. Einfluss der Ermüdung auf den Verlauf der Muskel-
contraction.
Als das wesentlichste Merkmal, durch welches sich eine lebendige
Substanz von einer todten unterscheidet, muss zweifellos ihr Stoff-
wechsel gelten, d. h. die chemischen Vorgänge im Innern der Sub-
stanz, bei welchen einerseits gewisse Stoffe entstehen, welche schliess-
lich als für den Organismus unbrauchbar zur Ausscheidung gelangen,
während andererseits Nährstoffe aufgenommen und assimilirt werden.
Den ersteren Vorgang wollen wir mit Hering „Dissimilirung",
den letzteren „As similirung" nennen. Die weiteren Ausführungen
H e r i n g ' s über diese beiden fundamentalen Stoffwechselprocesse sind
nun für alle folgenden Erörterungen von so grosser Bedeutung, dass
eine ausführlichere Darlegung durchaus erforderlich ist, wobei ich
mich am Besten an Hering's eigene Worte halte (40).
„Assimilirung und Dissimilirung haben wir uns als zwei innig
in einander verflochtene Processe zu denken , welche den , seinem
eigentlichen Wesen nach unbekannten Stoffwechsel der lebenden Sub-
stanz ausmachen und in allen kleinsten Theilen der letzteren zugleich
stattfinden, daher diese Substanz nichts Stetiges oder Ruhendes, sondern
ein immer mehr oder minder innerlich Bewegtes darstellt." „Es ist
im Wesen der lebendigen Substanz begründet und ihr ureigenes Ver-
mögen, zu assimiliren und zu dissimiliren; und sie thut dies, sofern
nur die Lebensbedingungen für sie gegeben sind, auch ohne die Mit-
hülfe besonderer äusserer Reize.'' Insoweit die Substanz gänzlich un-
beeinflusst ist von den nur gelegentlich Avirkenden äusseren Reizen,
bezeichnet Hering ihre Assimilirung (A.) und Dissimilirung (D.) als
„ au t o n 0 m e " .
„Solange nun diese autonome D. und A. in ganz gleichem Maasse
stattfinden , kann sich am Zustande der Substanz nichts ändern , und
sie bleibt daher qualitativ und quantitativ dieselbe." Diesen Zustand
vollkommenen Gleichgewichtes zwischen autonomer D. und A. be-
zeichnet Hering als den des „autonomen Gleichgewichtes".
„Aus diesem Zustand wird die Substanz herausgebracht, wenn
ein Reiz sie zu stärkerer Dissimilirung veranlasst, welcher letzteren
72 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
nun nicht mehr eine gleich starke A. das Gleichgewicht hält. Die
D. ist jetzt nicht mehr eine ausschliesslich autonome, sondern eine
gleichsam durch fremde Mitwirkung verstärkte und soll zum Unter-
schiede von der rein autonomen als allonome D. bezeichnet Averden.
Durch die jetzt stärkere Bildung von D. -Produkten und den ent-
sprechenden Verlust von Elementen, welche zuvor der Substanz selbst
angehörten und in ihren chemischen Bau eingefügt waren , wird die
Substanz innerlich verändert, um so mehr je stärker der Reiz ist und
je länger er wirkt. Wir linden daher die Substanz nach Schluss der
Reizung quantitativ und qualitativ verändert."
Fasst man den Process der D. als eine Leistung der lebenden
Substanz auf, so müsste man sie jetzt als minder leistungsfähig
bezeichnen. Wir wollen in Hinblick darauf, dass die Substanz nicht
nur qualitativ, sondern auch quantitativ geändert ist, ihre Beschaffen-
heit nach Einwirkung eines D.-Reizes im Vergleich zu der früheren
mit Hering als eine „unterwerthige" bezeichnen; es geht daraus
hervor, dass, sobald die Wirkimg eines D.-Reizes begonnen hat, auch
schon die Unterwerthigkeit der Substanz sich zu entwickeln beginnt,
um mehr und mehr zuzunehmen, je länger die Reizung andauert. In
demselben Maasse mindert sich aber auch die D.-D i s p o s i t i o n der
Substanz.
Dies bedeutet aber zugleich, dass die Erregbarkeit gegenüber dem
fortwirkenden D. -Reize entsprechend abnimmt oder, wie man es ge-
wöhnlich auszudrücken pflegt, dass die Substanz ermüdet. Diese
zweifellos vorhandene Wirkung jedes D.-Reizes kann in ihrem physio-
logischen Effect noch unterstützt werden durch eine, über eine ge-
wisse Grenze hinausgehende AnhäufungvonZersetzungs-oder
Dissimilations Produkten, die in manchen Fällen nachweislieh
hindernd auf die Funktionen der lebenden Substanz wirken.
Die Erscheinungen und Gesetze der „Ermüdung" sind an aus-
geschnittenen oder in situ befindlichen Kaltblütermuskeln eingehender
zuerst von Krön eck er (41) und Tiegel (24) am Warmblüter von
Rossbach (24) und neuerdings am Menschen von M o s s o (42) unter-
sucht worden, wobei sich eine Reihe von Thatsachen ergeben haben,
die wenigstens zum Theil im Folgenden zu besprechen sind.
Experimentell giebt sich die Ermüdung eines Muskels zu erkennen
durch die grössere Reizstärke, welche nötig ist, um gleiche Arbeits-
leistung, beziehungsweise gleiche Hubhöhe bei der Contraction zu er-
reichen, wie im unermüdeten Zustande oder umgekehrt durch die
Abnahme der Hubhöhe (beziehungsweise Arbeitsleistung) bei gleich-
bleibender Reizstärke. Reizt man einen Muskel rhythmisch, in gleichen
Intervallen, bei gleichbleibender maximaler Reizgrösse und Belastung
mit einzelnen Inductionsschlägen, so bemerkt man zweierlei Verände-
rungen der Zuckungscurven , indem sich einerseits die Höhe und
andererseits die Dauer derselben ändert.
Für Froschmuskeln fand Kronecker, dass die Hubhöhe von
Zuckung zu Zuckung stetig abnimmt, und zwar um einen gleichen
Bruch theil der Verkürzung. Die Ermüdungscurve, d. h. die obere
Verbindungslinie der einzelnen Zuckungsstriche, die in gleichen Ab-
ständen von einander auf einer ruhenden Schreibfläche aufgezeichnet
werden, ist somit in diesem Falle bei directer Reizung des Muskels
eine gerade Linie (Fig. 43 Ä und B).
Die Foi-mänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
73
Der ausgeschnittene Muskel ist nach einer gewissen Zahl von
Zuckungen bis zur Erschöpfung ermüdet. Genau das gleiche Ver-
halten zeigt nach Tiegel der curarisirte blutlose Froschmuskel auch
Fig. 43. A Zuckungen eines blut-
durchströmten, unvei-gifteten Froscli-
gastrocnemius. Zeigt die schnellere
Ermüdung bei grösserer Eeizfrequenz.
Stimmgabel: ^/lo Sekunde. (Nach
Engelmann.) B Reihe von Con-
tractionen der Fingerbeugemuskeln
bei künstlicher Reizung. Die Last
(1 Kilogramm) wurde bis zur Er-
schöpfung gehoben. (Nach Mos so.)
B
bei rhythmischer Reizung mit untermaximalen Inductionsströmen.
Eine Ausnahme von der Regel, dass die oberen Endpunkte der in
gleichen Abständen gezeichneten Zuckungshöhen in einer geraden
Linie liegen, bilden nur die ersten (20 — 30) Zuckungen einer Reihe,
bei welchen die Curve in Folge des schon früher erwähnten Ver-
74 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
haltens statt abzufallen, treppenförmig ansteigt. Dies Ansteigen kann
sich besonders bei Reizung curarisirter, blutdurchströmter
Muskeln über mehrere hundert Zuckungen erstrecken, worauf über
tausend Zuckungen genau gleich gross bleiben können, um dann erst
langsam, aber continuirlich abzusinken (Tiegel). Es erfolgt also,
wie von vornherein zu erwarten war, die Ermüdung des blutdurch-
strömten, normal ernährten Muskels viel langsamer als die des aus-
geschnittenen, blutlosen Präparates, und die Periode des treppen förmigen
Ansteigens der Zuckungshöhen ist letzterenfalls viel kürzer als im
ersten Falle. Beraerkenswerth ist es, dass nach Tiegel (1. c. p. 18)
die Ermüdungscurve (d. i. Gerade) für untermaximale Reize schneller
zur Abscisse absinkt, d. h. mit derselben einen grösseren Winkel
bildet, als die für den maximalen Reiz, dass also der Muskel für
den untermaximalen Reiz rascher ermüdet als für den
maximalen, vorausgesetzt, dass beide Reize in kurzen Intervallen
regelmässig mit einander abwechseln. Hat ein Muskel bei maximaler
oder untermaximaler Reizung eine Reihe von Zuckungen ausgeführt und
geht man nun zu einem schwächeren Reiz über, um unmittelbar nach-
her (nach etwa zwanzig oder mehr Zuckungen) wieder zur ursprüng-
lichen Reizstärke zurückzukehren, so sind, wie Tiegel fand, immer
die ersten Zuckungen der letzten Reihe höher als die letzten der ersten
Reihe. Es rindet also, wie es scheint, während untermaximaler Reizung
für jeden stärkeren (maximalen oder untermaximalen) Reiz Erholung statt.
Die Z u c k u n g s h ö h e n nehmen f e r n e r ii m so r a s c h e r a b , j e
kleiner d i e R e i z i n t e r v a 1 1 e werden (Fig. 43 Ä), und es gilt auch
dieses Gesetz sowohl für maximale wie untermaximale Reize des
curarisirten Muskels. Für den blutdurchströmten, normal ernährten Muskel
lässt sich stets ein Intervall zwischen je zwei Reizen rinden, bei welchem
die Zuckungshöhen auch nach noch so lange fortgesetzter Reizung nicht
abnehmen und Ermüdung daher nicht eintritt (z.B. das schlagende
Herz). Man wird dann im Sinne der obigen Erörterungen annehmen
dürfen , dass während jeder Reizpause die durch jeden D.-Reiz be-
wirkte, absteigende Aenderung der Muskelsubstanz durch den A.-Process
vollständig wieder ausgeglichen wird. Dass es anderenfalls (bei grösserer
Reizfrequenz) zu einer allmählich fortschreitenden Ermüdung und Ab-
nahme der Zucklingshöhe kommen muss, ist leicht verständlich.
Schwierigkeiten bietet dem Verständniss nur das anfängliche treppen-
förmige Wachsen der Zuckungshöhen, besonders am ausgeschnittenen,
blutlosen Muskel, ja es scheint diese Thatsache geradezu im Wider-
spruch mit den früher entwickelten Anschauungen zu stehen. Es ist
klar, dass wir zu einem richtigen Verständniss dieser Erscheinungen
nur dann gelangen können, wenn die die D.-Processe stets begleitenden
A.-Processe mehr als es bisher in der Physiologie üblich war, mit
berücksichtigt werden. In zahllosen Fällen können wir beobachten,
dass eine lebende Substanz, wenn sie durch einen D.-Reiz „absteigend"
verändert wurde, d. h. „un ter wert h ig" geworden ist, aus diesem
Zustande in den früheren „ ni i 1 1 e 1 w e r t h i g e n " Zustand des auto-
nomen Gleichgewichtes zurückstrebt, und zwar scheint diese durch
Ueberwiegen von A. über D. bedingte „Erholung" der Substanz mit
um so grösserer Energie sich zu vollziehen, je stärker die durch die
vorausgehende Reizung bedingte absteigende Veränderung Avar. Man
darf vielleicht die oben erwähnte Thatsache, dass ein Muskel bei
maximaler, rhythmischer Reizung langsamer ermüdet als bei unter-
Die Formänderung des Muskels bei der Thätig-keit. 75
maximaler, hierauf beziehen. Jedenfalls ändert sich nach Aufhören
eines D.-Reizes die lebende Substanz aus eigener Kraft im umgekehrten
Sinne, wie während der Wirkung des Reizes, d. h. „aufsteigend".
Die „Erholung" einer durch Reizung „ermüdeten" lebenden
Substanz ist stets eine „autonome aufsteigende Aenderung",
durch welche die Substanz ihre Unterwerthigkeit beseitigt und zur
Mittel werthigkeit zurückkehrt.
Es scheint nun, dass unter günstigen Bedingungen die durch einen
D.-Reiz bewirkte absteigende Aenderung der Substanz eine so energische
aufsteigende Aenderung zur Folge hat, dass durch die lebhaft ge-
steigerten A.-Processe nicht nur die ursprüngliche Mittelwerthigkeit,
sondern ein Zustand der „lieber wert higk ei t" herbeigeführt wird,
der sich natürlich seinerseits durch eine gesteigerte D. -Erregbarkeit ver-
rathen wird. Bei rhythmischer Reizfolge wird es sich in solchem Falle
dann nicht darum handeln, dass die lebende Substanz, wie etwa der
Herzmuskel, um den Zustand des Gleichgewichtes zwischen D. und
A. in regelmässigem Wechsel absteigender und aufsteigender Aende-
rung hin- und herschwankt, wobei in der Zeit der aufsteigenden
Aenderung die vorhergegangene absteigende Aenderung wieder voll-
ständig ausgeglichen wird, auch nicht um eine absteigende Veränderung
der Werthigkeit der Substanz („Ermüdung"), sondern im Gegentheil
um eine aufsteigende Aenderung, die sich in einer Steigerung
der Leistungsfähigkeit und einer Zunahme der Zuckungshöhen des Mus-
kels äussern muss. Von diesem Gesichtspunkte aus erklären sich alle
über das treppenförmige Ansteigen der Zuckungshöhen früher mitgetheil-
ten Thatsachen in befriedigender Weise, und wir erblicken in denselben
lediglich den Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes, demzufolge nicht
nur die physiologische Leistungsfähigkeit eines Organes (und speciell
der Muskeln), sondern auch dessen von der Ernährung in erster Linie
abhängige morphologische Entwicklung in auffallendster Weise durch
eine regelmässige Thätigkeit gefördert wird (Einfluss der Uebung).
Der Schwund von Muskeln, welche längere Zeit innerhalb des Körpers .
aus irgend welchem Grunde unthätig waren, die beträchtliche Ver-
grösserung derselben bei lebhafter Thätigkeit, beweisen zur Genüge
den günstigen Einfluss der Thätigkeit des Muskels auf seine Ernährung.
Dieser letztere wird wesentlich unterstützt durch die bei Wirbelthier-
muskeln beobachtete Regulirung der Zufuhr arteriellen
Blutes, wodurch natürlich auch der Gang der Ermüdungserscheinungen
mehr oder weniger beeinflusst werden muss. Nachdem Ludwig und
Sczelkow schon 1861 beobachtet hatten, dass die Gefässe der
Muskeln sich bei der Contraction erweitern, so dass das Blut mit
grösserer Geschwindigkeit hindurchfliesst, fand Tiegel (1. c. p. 81) die-
selbe Erscheinung auch bei directer Reizung curarisirter Froschmuskeln.
Solche in regelmässigen Interv^allen mit maximalen oder untermaximalen
Reizen (Inductionsströmen) behandelte Muskeln röthen sich in Folge
der Reizungen mehr und mehr, und es kann dies selbst bis zu Extra-
vasatbildung gehen. Die lange Dauer des treppenförmigen Ansteigens
der Zuckungshöhen unter diesen Umständen wird sicher zum Theil
auf diese Hyperämie zurückzuführen sein; dass diese letztere aber
nicht allein Ursache der „Treppe" ist, wurde bereits oben erwähnt
und ergiebt sich unmittelbar aus dem Auftreten derselben an blutlosen
Präparaten.
In Folge der Ermüdung ändert sich, wie erwähnt, nicht nur die
76 Die Formändening des Muskels bei der Thätigkeit.
Höhe der Zuckungsciirve in der beschriebenen Weise, sondern auch
deren zeitlicher Verlauf, indem dieselbe bei fortschreitender Ermüdung
immer gedehnter wird. Diese im Verlaufe einer längeren Zuckungs-
reihe allmählich zunehmende Verzögerung des Zuckungsablaufes, die
sich inslDCSondere durch eine beträchtliche Verlang-
sam u n g der Phase d e r W i e d e r v e r 1 ä n g e r u n g d e s IVI u s k e 1 s
äussert, kann schliesslich einen so hohen Grad erreichen, dass der
Muskel selbst bei längeren Reizintervallen von mehreren Sekunden
nicht Zeit findet, bis zum Beginn der folgenden Zuckung sich wieder
auf seine ursprüngliche Länge auszudehnen, so dass die Fusspuukte
der einzelnen Zuckungscurven sich höher und höher über die Abscissen-
axe erheben müssen. Funke (43) beobachtete Fälle, wo das Myogramm
in späteren Ermüdungsstadien trotz Reizintervallen von mehreren
Sekunden einer stetigen Tetanuscurve ähnlich sah. Aber nicht nur
die mehr oder weniger grosse Streckung ist es, durch welche sich die
Zuckungscurven des ermüdeten Muskels auszeichnen, sondern es wird
auch deren F o r m und besonders die des absteigenden Theiles modificirt.
Man kann diese Veränderung mit Funke im Allgemeinen dahin definiren,
dass der absteigende Ast der Curve mehr und mehr den
Charakter einer freien Fallcurve einbüsst, indem durch
die Ermüdung erzeugte und mit ihr sich steigernde Widerstände die
Verlängerung des Muskels durch das gehobene Gewicht oder seine
Schwere mehr und mehr und in immer früheren Stadien verzögere.
Der Muskel gleicht zuletzt, wie Funke sich treffend ausdrückt, einer
zähen, teigartigen Masse, die mit äusserster Trägheit dem Zuge folgt,
welcher sie zur ursprünglichen Form zurückzubringen strebt. Der
aufsteigende Ast der Curve büsst dagegen auch bei der bis zur
Erschöpfung fortgesetzten Ermüdung nur wenig an Steilheit ein. Je
kürzer die Intervalle zwischen den einzelnen Zuckungen sind, desto
rascher tritt nicht nur die Verminderung der Contractionsgrösse,
sondern auch die geschilderte Streckung und Formänderung der Curven
hervor. In einzelnen Fällen zeigt sich auch das Stadium der Er-
schlaffung sonst normaler, nicht ermüdeter, quergestreifter Muskeln auf-
fallend verlängert, sodass, wie zuerst Krön ecke r (44) beschrieb und
später Tiegel näher untersuchte (45) die Muskeln während längerer
Ruhepausen (bis 10 Sekunden) zwischen rhythmisch sich folgenden,
einfachen Inductionsreizen zuweilen ziemlich beträchtlich verkürzt
bleiben. Dass diese Erscheinung, welche Tiegel als „Contractur"
bezeichnete, mit einer etwaigen Ermüdung nichts zu thun hat, ergiebt
sich einfach schon daraus, dass sie mit der ferneren Function des
Muskels nicht zu-, sondern abnimmt. Während dieses Zustandes, der
sich, wie Tiegel fand, nur bei directer Muskelreizung entwickelt,
ist die Erregbarkeit des Muskels für den normalen Reiz vom Nerven
aus minimal, während die Contractur der Höhe der Zuckung ent-
sprechen kann. In besonders hohem Grade scheinen die Muskeln von
Frühlingsfröschen zur Contractur zu neigen, die dann auch bei noch
erhaltener Blutcirculation eintritt, und zwar um so stäi-ker, je intensiver
die Reizung war (vgl. auch Mosso 1. c).
Auf den Gang und Verlauf der P^rmüdungserscheinungen werden
natürlich alle jene Momente von grösstem Einfluss sein müssen, von
welchen überhaupt die Assimilation bezw. Dissimilation der Muskel-
substanz abhängt. Hier ist in erster Linie der ursprüngliche
physiologische Zustand des Muskels zu berücksichtigen , in
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 77
welchem er die Ermüclungsarbeit beginnt, der in so weiten Grenzen
schwankende Grad seiner „Leistungsfähigkeit" und „Erreg-
barkeit" während des normalen Zusammenhanges mit dem Organismus
oder nach der Trennung von diesem. Die Erfahrung lehrt, dass jeder
ausgeschnittene und daher den normalen Ernährungsbedingungen ent-
zogene Muskel früher oder später seine Erregbarkeit einbüsst und ab-
stirbt. Wann dies geschieht, ist allerdings bei verschiedenen Thieren
ausserordentlich verschieden, und wechselt auch bei Muskeln von
einem und demselben Thier sehr mit den äusseren Umständen. Jeden-
falls müssen wir uns vorstellen, dass von dem Momente der Trennung
vom Organismus an der Zustand des autonomen Gleichgewichtes der
Muskelsubstanz dauernd gestört bleibt, indem in Folge der minder
günstigen Assimilirungsbedingungen bei fortdauernder Dissimilation
eine immer mehr zunehmende autonome, absteigende Aenderung ein-
tritt, deren Ausdruck eben die verminderte Erregbarkeit ist. Im All-
gemeinen gilt die Regel, dass in Folge der geringeren Intensität der
Stoffwechselprocesse die Muskeln der Kaltblüter länger ihre Erreg-
barkeit bewahren als die Muskeln der Warmblüter; indessen ist dies
keineswegs ein durchgreifendes Gesetz. Speciell scheinen die M u s k e 1 n
der Fische sehr rasch nach ihrer Trennung vom Organismus die
Erregbarkeit einzubüssen (46). Der Ausdruck „Kaltblüter" schliesst
ferner die Wirbellosen in sich, von denen manche (z. B. Insecten)
sehr rasch absterbende Muskeln besitzen. Es ist bemerkenswerth,
dass auch nicht alle Muskeln desselben Thieres gleich schnell ab-
sterben und ihre Erregbarkeit verlieren. W^enn dem Sarkoplasma
wirklich eine nutritive Funktion zukommt, wie dies schon oben als
wahrscheinlich bezeichnet wurde, so darf man erwarten, dass die
sarkoplasmareich en, trüben Muskeln im Allgemeinen
später ermüden und schliesslich absterben werden, als
die sarkoplasm aarmen, hellen Muskeln. Dies scheint nach
Grützner' s Untersuchungen thatsächlich der Fall zu sein. Schon
Ran vi er beobachtete an dem aus weissen (hellen) und rothen (trüben)
Fasern gemischten Triceps humeri des Kaninchens, dass derselbe
sich Anfangs in Folge der leichteren Erregbarkeit der weissen Fasern
wie ein weisser Muskel verhält; ermüdet man ihn aber durch länger
anhaltende Reizung, so zuckt er wie ein rother, weil die weissen An-
theile erschöpft, die rothen aber noch leistungsfähig sind. Diese Ver-
schiedenheit prägt sich auch sehr deutlich in dem Umstände aus, dass
nach den Untersuchungen von Bierfreund (47) die weissen Muskeln
viel früher der Todtenstarre verfallen als die rothen. Unter sonst
gleichen Verhältnissen erstarren die ersteren 1 — 3 Stunden, die letzteren
erst 11 — 15 Stunden nach dem Tode. Zu einer Zeit, wo die Starre
der blassen Muskeln schon völlig wieder gelöst ist (10 — 14 Stunden
nach dem Tode), haben die rothen Muskeln die ihrige noch lange nicht
vollendet.
Hierher gehören endlich auch die Beobachtungen von Rollett(48)
an den in Bezug auf ihren Zuckungsverlauf so sehr verschiedenen
Muskeln von Dyticus und Hydrophil us. Der frische Dyticus-
muskel ist dem frischen Hydrophilusmuskel in Bezug auf Schnellig-
keit und Energie der Einzelzuckung weit überlegen, verliert aber
durch fortgesetzte Thätigkeit rasch die Energie seiner Zuckungen, und
zwar diese in viel höherem Grade als die Schnelligkeit derselben. Aber
auch die letztere nimmt deutlich ab. Der träger zuckende Hydrophilus-
78 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
muskel bewahrt dagegen auch nach lange fortgesetzter Thätigkeit
die Energie seiner Zuckungen noch m relativ hohem Grade; dagegen
werden dieselben im Verlauf der Ermüdung immer gedehnter, so dass
ihre Dauer schliesslich über 20 Mal grösser sein kann, als die Zuckungs-
dauer frischer Muskeln.
Wie früher bemerkt wurde, zeichnen sich besonders die Muskel-
fasern des Herzens durch ihren Reich thum an Sarkoplasma aus, und
es dürfte damit wohl zusammenhängen, dass gerade hier in vielen
Fällen ein ausserordentlich langes Ueberleben beobachtet wurde. So
sah Panum rudimentäre Herzpulsationen beim Kaninchen bis
15V2 Stunden, Vulpian bei der Maus bis 46, ja beim Hunde bis
96 Stunden nach dem Tode(!). Einzelne Muskelfasern des Herz-
fleisches von Säugethieren in physiologischer Kochsalzlösung untersucht,
zeigen oft noch am anderen Tage nach dem Tode deutlich rhythmische
Pulsationen (Sigm. Mayer).
In allen den erwähnten Fällen übt den grössten Einfluss auf die
Gesammtdauer des Ueberlebens oder auf die Steilheit des Erregbarkeits-
abfalles die Temperatur, und zwar sowohl die des isolirten Muskels
wie die des lebenden Thieres vor dem Tode. Es ist dies begreiflich,
wenn man die grosse Bedeutung der Temperatur für die Intensität aller
Stoffwechselprocesse und insbesondere auch der „autonomen Dissimi-
lation" bex'ücksichtigt. Man wird daher von voi-ne herein erwarten
dürfen, dass das Absterben und die daran sich knüpfende Erregbar-
keitsabnahme bei höherer Temperatur im Allgemeinen rascher erfolgt,
als bei niederer. Beim Kaltblüter ist dieser Temperatureinfluss
absolut bedeutender als beim Warmblüter.
Du Bois Reymond fand Gastrocnemius- und Triceps-Exemplare
vom Frosch bei 0*^ C, noch 10 Tage nach dem Ausschneiden erregbar,
Avährend an heissen Sommertagen bekanntlich die Erregbarkeit schon
früher als nach 24 Stunden und bei mittlerer Temperatur etwa am
dritten Tage verschwunden ist. Für die Stammesmuskeln der Warm-
blüter fehlen in dieser Hinsicht genügende Erfahrungen. Dagegen
liegen bei Säugethieren interessante Beobachtungen vor über den das
Absterben ausserordentlich verzögernden Einfluss vorhergehender
langsamer Abkühlung (künstliches Kaltblütigmachen), die man ent-
weder durch hohe Rückenmarksdurchschneidung (Bernard) oder
durch Berieselung des Bauchfelles mit kalter Kochsalzlösung erzielen
kann. An Kaninchen, die so in 6 — 10 Stunden auf 20° C. abgekühlt
wurden, erhält sich die directe Muskelerregbarkeit 6 — 8 Stunden nach
dem Tode (Israel 49).
Es kann nicht bezweifelt werden , dass die eigentliche Ursache
des Absterbens ausgeschnittener Muskeln in dem Aufhören des Säfte-
stromes und speciell der Blutcirculation zu suchen ist, indem Unter-
brechung des Kreislaufes in einem Muskel oder in einer Muskelgruppe
auch am lebenden Thier in kurzer Zeit zu einer Lähmung und
schliesslichen Erstarrung führt. An Kaltblütern gelingt der Versuch
allerdings nur in ziemlich unvollkommener Weise, da die Muskeln
derselben, z. B. der Amphibien, zwar auch von der Erhaltung der
Circulation abhängig sind , aber doch erst verhältnissmässig spät die
Folgen der Anämisirung deutlich erkennen lassen (K ü h n e 50). Ist
es doch bekannt, dass die Muskeln von Fröschen noch tagelang er-
regbar bleiben , wenn alles Blut durch Ausspritzen der Gefässe mit
0,6 "; 0 Kochsalzlösung vorher entfernt wurde (Salzfrösche). Um so
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 79
empfindlicher erweisen sich dagegen die quergestreiften Muskehi von
Warmblütern, besonders der Vögel, die nach relativ kurzer Zeit ihre
Erregbarkeit einbüssen und schliesslich erstarren (Schiffer 51), wenn
die Blutcirculation völlig unterbrochen wird. Umgekehrt lässt sich
die durch Anämisirung gesunkene oder ganz aufgehobene Erregbarkeit
durch künstliche Durchströmung mit arteriellem Blut wieder herstellen,
bezw. von vorne herein erhalten. Es gelingt dies noch um so später
nach dem Aufhören der Erregbarkeit, je länger sich diese letztere
überhaupt erhält (Bro wn-Seq uard 46). In viel geringerem Grade
ist die Erregbarkeit der. glatten Muskeln der Warmblüter vom Kreis-
lauf abhängig, und es verhalten sich dieselben in dieser Beziehung
mehr wie die quergestreiften Muskeln der Kaltblüter.
Es scheint, dass man sich vielfach ungerechtfertigte Vorstellungen
über die Raschheit des Absterbens glatter Warmblütermuskeln und
deren Empfindlichkeit gegen Veränderungen ihres Stoffwechsels gebildet
hat, die sich wohl aus der Erfahrung herleiten, dass die spontanen
Bewegungen gewisser glattmuskeliger Organe (wie z. B. des Darmes)
so rasch nach dem Tode erlöschen und mit ihnen zugleich auch die
Empfindlichkeit für beliebige künstliche Reize. Allein es lässt sich
leicht zeigen, dass dieser scheinbar dauernde Verlust der Erregbarkeit
im Wesentlichen nur durch die Abkühlung bedingt wird und
dass die Reizempfänglichkeit wieder hervortritt, wenn man die Tempe-
ratur künstlich steigert (Biedermann 52). Immerhin muss es über-
raschen, in wie hohem Grade die Muskelwand des ausgeschnittenen
Säugethierdarmes die Fähigkeit des Ueberlebens besitzt, indem die-
selbe unter Umständen länger als zwölf Stunden nach dem Tode des
Thieres noch erregbar gefunden wird. Ebenso wird der Ureter
vom Kaninchen oder Meerschweinchen, selbst wenn er lange Zeit in
kalter physiologischer Kochsalzlösung aufbewahrt oder einem stundenlang
vorher getödteten Thiere entnommen Avurde und ohne weitere Vor-
bereitung keine Spur von Erregungserscheinungen zeigt, wieder voll-
kommen reizbar, wenn man ihn auf Körpertemperatur erwärmt (1. c.
p. 387). Eine ähnliche Lebenszähigkeit zeigt nach Untersuchungen
von Grünhagen und seinen Schülern der Sphynkter iridis von
verschiedenen Säugethieren (53). Noch viel resistenter scheint nach
Sertoli's Beobachtungen (54) der ebenfalls aus glatten Muskelzellen
bestehende Afterruthenmuskel gewisser Säugethiere (Pferd, Esel und
Hund) zu sein, dessen Erregbarkeit selbst bis zu sieben
Tagen nach der Exstirpation andauert. Während des
grössten Theiles dieser Zeit befand sich der Muskel in einer Tempe-
ratur von 5—8° C. und wurde nur zur Zeit der Versuche auf 30
bis 37° C. erwärmt. Bleibt die Temperatur andauernd hoch (39—40°),
so erlischt die Erregbarkeit in kurzer Zeit.
Mit dieser grossen Resistenzfähigkeit gegenüber den Einflüssen
der normalen Ernährung steht die hohe Ermüdbarkeit gewisser glatter
Muskeln unter ganz normalen Verhältnissen in einem auffallenden
Gegensatze. Engelmann (Pflüger's Arch. 2. Bd. p. 2G3 f.) wies
nach, dass beim Ureter des Kaninchens schon nach jeder einmaligen
Contraction sich der Einfluss der Ermüdung geltend macht, indem un-
mittelbar nach Ablauf einer solchen die mechanische Reizbarkeit gleich
Null ist. Während der folgenden Ruhepause stellt sie sich allmählich
wieder her. In einem noch warmen, frischen Ureter vom Kaninchen,
in welchem das Blut normal cirkulirt, scheint schon nach wenigen
80
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
6 Min.
nach der
Excision.
Min.
Sekunden die anfängliche Höhe der Erregbarkeit wieder erreicht zu
sein. Bei der Ratte bedarf es hierzu unter denselben günstigen Be-
dingungen noch nicht einer
Sekunde. In einem abge-
kühlten oder dem Blutkreis-
laufe entzogenen Ureter
kehrt nach einer Contrac-
tion die Reizbarkeit viel
langsamer (nach 5, 10 und
mehr Sekunden) und nur
unvollkommen zurück.
Aus den mitgetheilten
Erfahrungen ergibt sich die
Folgerung, dass ausgeschnit-
tene Muskeln der Kaltblüter
(wirbellose und poikilo-
therme Wirbelthiere) zwar
im Allgemeinen langsamer
ermüden und auch lang-
samer absterben als die der
^Yarmblüter • doch gilt dies
keineswegs als durchgrei-
fende Regel, denn einerseits
giebt es Muskeln kaltblüti-
ger Thiere, welche selbst bei
niederer Temperatur rasch
ihre Erregbarkeit einbüssen
(Fische, Insecten), während
andererseits glatte Muskeln
von Warmblütern bei nie-
derer Temperatur ausser-
ordentlich lange erregbar
bleiben , auch wenn sie
dem Kreislauf völlig ent-
zogen sind.
Bei der durch Erregung
bewirkten Muskelermüdung
handelt es sich, wie gezeigt
wurde, ganz ebenso um eine
durch Ueberwiegen der D.-
Processe über die A.-Vor-
gänge bedingte absteigende
Aenderung der lebendigen
Substanz wie bei dem allmäh-
lichen Absterben eines vom
Organismus getrennten oder
dem Kreislauf entzogenen
Muskels. Es kann daher auch
nicht überraschen, dass die
Veränderungen, welche die
Zuckungs- (bezw. Contrac-
Fig. 44. Contractionen eines ausgesclmittenen jio^S- ) Curve in beiden Fäl-
Kaninchenherzens. (Nach Waller u. E. W. Reid.j len erleidet, in allen wesent-
9 Min.
11 Min.
19 Min.
22 Min.
28 Min.
40 Min.
75 Min.
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 81
liehen Punkten übereinstimmen. Abnahme der Contractionsgrösse
(Zucklingshöhe) und Verlängerung (Streckung) der Curve treten im
einen wie im anderen Falle als charakteristische Merkmale hervor.
Sehr anschaulich macht sich dies bei Beobachtung der Pulsationen des
herausgeschnittenen Säugethierherzens geltend (55), wobei allerdings
auch der später zu erörternde Einfluss der sinkenden Temperatur eine
ganz wesentliche Rolle spielt (Fig. 44).
Wenn der Zustand der Muskelermüdung auch in erster Linie
auf ein Ueberwiegen der D.-Processe über die gleichzeitige A. zu
beziehen sein wird, d. h. auf eine Verminderung des Vorrathes an
zersetzbarem Materiale oder an chemischer Spannkraft, so kommt
doch auch, wie insbesondere Ranke's Untersuchungen gezeigt haben,
die Anhäufung von gewissen Zersetzun gsp roducten "für
die zu beobachtenden Erscheinungen Avesentlich mit in Betracht (vgl.
Ranke 56).
Eine irgend erheblichere Anhäufung der genannten D.-Producte
des Muskels wird voraussichtlich nur im circulationslosen oder aus-
geschnittenen Präparate erfolgen können und dürfte das raschere Ein-
treten der Ermüdung in diesem Falle wohl zum Theil mit darauf zu
beziehen sein.
Die erholende Wirkung der Durchströmung mit (arteriellem)
Blut kann aber wohl nur zum geringsten Theil auf der Entfernung
der gebildeten D.-Produkte (COg, Milchsäure, KH2PO4 u. s. w.) be-
ruhen, da in diesem Falle eine Durchspülung des Muskels mit einer
indifferenten Flüssigkeit (physiologische Kochsalzlösung) denselben
Effect haben müsste, Avie Durchleitung von Blut, was keineswegs
der Fall ist.
Es führt also zweifellos das Blut dem erschöpften
oder absterbenden Muskel Stoffe zu, welche für die
Wiederherstellung seiner Leistungsfähigkeit wesent-
lich erforderlich sind. In Bezug auf die nothwendige Qualität
des Blutes kennen wir bestimmt nur den Einfluss weniger Bestand-
theile, so vor Allem des Sauerstoffs, der ja für die Erhaltung der Reizbar-
keit und Bewegungsfähigkeit jeder lebenden Substanz unerlässlich ist.
Die relativ grosse Masse eines 'ausgeschnittenen Kaltblütermuskels
bringt es natürlich mit sich, dass derselbe einer physiologischen
Wechselwirkung mit der Atmosphäre, die ja nur durch die Oberfläche
vermittelt werden kann, nur in sehr geringem, kaum nachweisbarem
Grade fähig ist, so dass das Vorhandensein oder Fehlen des freien Sauer-
stoffs in der Umgebung eines solchen Muskels, wenn überhaupt, nur
einen sehr geringen Einfluss auf die Erhaltung oder Wiederherstellung
der Erregbarkeit wird üben können. In der That fand Hermann
(4 p. 132), dass Froschmuskeln in reinen indifferenten Gasen (N, H)
und besonders im Vacuum ebenso lange und unter Umständen sogar
länger erregbar bleiben , als in der Luft. Ganz anders ist es bei
Durchströmung mit der O- haltigen Nährflüssigkeit. Hier findet zwischen
dem das Innere des Muskels überall berührenden Blute und der
Muskelsubstanz ein lebhafter respiratorischer Gasaustausch statt, und hier
lässt sich auch mit Sicherheit der erregbarkeitserhaltende Einfluss des
O constatiren. Dass venöses Blut nicht wie arterielles die Erregbar-
keit des Muskels zu unterhalten vermag, war schon Bichat bekannt,
und später zeigten L u d w i g und Schmidt (57), dass künstliche Durch-
leitung O-freien Blutes durch Warmblütermuskeln diese ebenso schnell
Biedermann, Elektrophysiologie. 6
82 Die Formänderung des Muskels bei der Thätig-keit.
absterben Hess, als wenn gar keine Durchströmung stattfand; ja es
schwindet, wenn ein Muskel von venösem Blut durchströmt wird , die
Reizbarkeit unter Umständen sogar rascher, als wenn er ganz blutleer
ist, was wohl hauptsächlich auf die direct schädigende Wirkung der
COg zurückzuführen sein dürfte. Analoge Versuche wurden mit
gleichem Erfolge auch am ausgeschnittenen Froschherzen angestellt.
Bei starker Luftverdünnung (unter der Luftpumpe) hören die spon-
tanen Pulsationen nach etwa einer Stunde auf und der Muskel
verliert auch seine Empfindlichkeit gegen künstliche (mechanische oder
elektrische) Reize. Nach Zutritt von Luft beginnen die Pulsationen
wieder. Cyon, Klug und Salt et (58) bewiesen die Abhängigkeit
der Herzbewegung von der Anwesenheit des 0 am Froschherzen, in-
dein O-haltiges Serum eingefüllt und dasselbe dann mit Serum ver-
tauscht wurde, welches mit CO2 gesättigt war; nur bei Anwesenheit
von O waren regelmässige Pulsationen zu beobachten. Mangel an
O macht demnach das Herz ganz ebenso scheintodt wie
etwa Flimmer Zellen oder einzellige Organismen. Da die
spontanen Contractionen des Herzens bei den erwähnten Versuchen
ganz allmählich bis zur Unmerklichkeit schwächer werden, und damit
gleichzeitig auch eine ebenso stetige Abnahme der Empfindlichkeit
für künstliche Reize Hand in Hand geht, so handelt es sich wohl
hauptsächlich um eine Lähmung der Muskeln des Herzens durch
O-Mangel.
Es ist natürlich nicht zu bezweifeln , dass auch noch andere vom
Blute zugeführte Nährstoffe eine ähnliche Rolle spielen, wie der O ; wie
auch umgekehrt die Abfuhr anderer D.-Producte des Muskels , neben
der der COg, für die Erhaltung der Erregbarkeit von Nöthen ist;
experimentell ist aber bisher wenig darüber ermittelt worden. Für
den Herzmuskel hat Martins (59) festgestellt, dass dem Serum-
albumin in hohem Grade die Fähigkeit zukommt, die gesunkene
Leistungsfähigkeit wieder zu heben. Wenn bei Durchspülung des
spontan schlagenden oder künstlich gereizten Herzens mit 0,6 '^ 0
Kochsalzlösung die Anfangs sehr kräftigen Pulsationen bis zur Unmerk-
lichkeit herabgesunken sind, wenn dann schliesslich das Herz völlig
still steht und selbst bei stärkster Reizung nicht die leiseste
Bewegung zeigt, so kehrt nicht nur die Reizbarkeit, sondern sogar die
automatische Thätigkeit wieder zurück, wenn Blut und Serum oder auch
nur Serumalbumin enthaltende alkalische Kochsalzlösung durchgeleitet
wird. Weder Pepton noch irgend ein anderer Eiweisskörper (Syntonin,
Ovalbumin, Casein, Myosin) zeigten diese Wirkung. Der damit be-
handelte erschöpfte Herzmuskel blieb dann auch bei Anwendung der
stärksten Reize vollkommen bewegungslos, während er in jedem Falle
nach Füllung mit Blut oder Serum wieder zur Schlagfähigkeit oder
spontanen Pulsation erwachte. Am quergestreiften Skeletmuskel
wurden ähnliche Versuche bisher nicht angestellt.
y. Einfluss der Temperatur auf die Muskelcontractioii.
Alle protoplasmatischen Gebilde werden in ihren Lebenserschei-
nungen ganz wesentlich von der jeweiligen Temperatur beeinflusst.
Für jeden Organismus giebt es eine untere Grenze der Temperatur,
bei welcher das Leben dauernd oder wenigstens zeitweise erlischt.
Die Formänderung des Muskels bei der Tliätigkeit. 83
und eine obere, bei av elcher hauptsächlich durch Gerinnung gewisser
Eiweissstoffe so tiefgreifende Störungen der Structur herbeigeführt
werden , dass eine Wiederherstellung der normalen Functionen aus-
geschlossen scheint. Im Uebrigen wechseln die absoluten Werthe der
betreffenden Temperaturen bei verschiedenen Plasmaarten ausser-
ordentlich, und selbst wenn man von den „kochfesten" Bacterien ab-
sieht, sind zahlreiche Fälle bekannt geworden, wo Bewegungserschei-
nungen plasmatischer Gebilde noch bei Temperaturen beobachtet
wurden, die weit über 40*^ C. hinausgehen. Innerhalb des von dem
Maximum und Minimum eingeschlossenen Gebietes der „manifesten
Contractilität" darf es als Regel gelten, dass die Lebhaftigkeit der
Bewegungen mit steigender Temperatur zunimmt. Dies gilt für
amöboides bewegliches Plasma ebensowohl, wie für die Geissei- und
FlimmerbeAvegung, und auch die verschiedenen Formen der Muskeln
bilden hiervon keine Ausnahme. Während man sich aber bei den
einfacheren Formen beweglichen Plasmas darauf beschränken muss,
die untere und obere Grenze, sowie das „Optimum" der Temperatur
Fig. 45. Schematische Zusammenstellung isotonischer Zuckungscurven bei verschie-
denen Temperaturen (—5 bis -f 42^2** C). (Nach J. Gad.)
zu bestimmen, bei welchem die spontanen Bewegungen bei scheinbar un-
beschränkter Dauer die grösste Geschwindigkeit erreichen, bieten die
Muskeln die Möglichkeit dar, in der Analyse der Erscheinungen noch
einen Schritt weiter zu gehen.
Im Vorhergehenden wurde schon wiederholt des sehr eingreifen-
den Einflusses gedacht, welchen die Temperatur auf den Verlauf der
Ermüdungs- und Absterbeerscheinungen der Muskeln besitzt, eine
Wirkung, die sich durch Steigerung der D.-Processe bei erhöhter,
durch Herabsetzung derselben bei niedriger Temperatur leicht erklärt.
Damit gehen gewisse Veränderungen des zeitlichen Verlaufes, der
Form und Grösse (Höhe) der Contraction Hand in Hand, welche ins-
besondere von Gad und Hey maus neuerdings zum Gegenstand
eingehender Untersuchungen gemacht wurden und als specifische
Temperaturwirkungen betrachtet werden können (60). Wird ein
curarisirter quergestreifter Skeletmuskel vom Frosch in geeigneter Weise
abgekühlt und von Zeit zu Zeit durch je einen Inductionsschlag ge-
reizt, so fällt vor Allem auf, dass die (isotonischen) Zuckungs-
curven um so gestreckter verlaufen, je niedriger die
Temperatur ist. Wie namentlich die Vergleichung der beistehenden
Curven (Fig. 45) ergiebt, ist dann insbesondere das Stadium
der steigenden Energie sehr verlängert, und es nimmt die
Steilheit des ansteigenden Astes bei annähernder Constanz der Steil-
heit des absteigenden fortdauernd ab. Doch bezieht sich diese Constanz
g;^ Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
nur auf einen verschieden langen oberen Theil der Curve; die
schliessiiche Rückkehr zur Gleichgewichtslage findet mit Abnahme
der Temperatur immer langsamer statt (Verkürzungsrückstand). Be-
merkenswerth ist der Gegensatz zwischen der Wirkung der Kälte
und der Ermüdung in Bezug auf den zeitlichen Verlauf der Muskel-
zuckung : Bei Abkühlung ist der absteigende Ast der
Curve ebenso steil oder steiler als der aufsteigende,
bei Ermüdung dagegen, die den Ablauf der Zuckung
ebenfalls verlangsamt, nach Angabe aller Autoren
minder steil.
Eine zweite sehr auffallende Erscheinung, die früheren Beobach-
tern ganz entgangen war, betrifft das innerhalb gewisser
Grenzen der Abkühlung zu beobachtende Ansteigen der
Zuckungshöhen. Die Hubhöhe zeigt ein absolutes Minimum in
der Nähe des Gefrierpunktes (der Muskelsubstanz), wo bei der Reizung
keine Längenänderung mehr zu beobachten ist ; ein relatives Mini-
mum hat die Hubhöhe bei etwa 19^ C, von wo aus sie einerseits bis zu
dem absoluten Maximum bei etwa 30 ° C. und zu dem relativen
Maximum bei 0*^ C. steigt. Das Minimum der Zuckungs d a u e r
fällt zusammen mit dem absoluten Maximum der Hubhöhe, sie wächst
von da an mit sinkender Temperatur continuirlich bis zum Ver-
schwinden der Zuckung. Wie die Zuckungsdauer verhält sich auch
das Latenzstadium, indem es mit sinkender Temperatur continuirlich
zunimmt. Es wurde schon erwähnt, dass ein absolutes Maximum der
Zuckungshöhe bei etwa 30 "^ C. erreicht wird ; steigt die Tempera-
tur noch höher, so nimmt die Erregbarkeit und damit
die Hubhöhe mehr u n d m e h r ab, während d i e Z u c k u n g s -
dauer annähernd gleich bleibt (Fig. 45 ^). Bei passender Ge-
schwindigkeit der Erwärmung gelingt es, nachzuweisen, dass die Er-
regbarkeit des Muskels gegen den elektrischen Reiz
fast vollkommen schwindet, ehe die Verkürzung durch
Wärmestarre eintritt. Auf die einzelne Zuckung des Muskels
bei isometrischem Verfahren hat die Temperatur natürlich einen
ganz analogen Einfluss wie bei i so tonischem Verfahren. Ein
Unterschied macht sich nur geltend in Bezug auf die Form des
Gipfels der Zuckungscurven. Alle isotonischen Curven sind auf
ihrem Gipfel kuppenförmig, d. h. sobald das Maximum der Ordinaten
erreicht ist, beginnt auch sofort die Wiederabnahme. In den isometri-
schen Curven dagegen tritt im Intervall zwischen Zimmertemperatur
und Gefrierpunkt auf der Höhe der Zuckung ein Plateau auf, d. h.
während kürzerer oder längerer Zeit bleibt das Maximum der
Spannung, nachdem es erreicht ist, constant.
* Der geschilderte auffallende Einfluss der Temperatur auf Höhe
und Verlauf der Zuckungscurve quergestreifter Stammesmuskeln scheint
darauf hinzuweisen, dass bei der Thätigkeit derselben zwei ihrer
Natur nach verschiedene Processe ins Spiel kommen, die, einander
entgegengesetzt, durch die absinkende Temperatur nicht in gleichem
Maasse beeinflusst werden. Schon Fick nahm an, dass der Er-
schlaffung des gereizten Muskels ein besonderer (chemischer)
Process zu Grunde liege, welcher von dem bei der Contraction
vorhandenen durchaus verschieden und ihm entgegengesetzt sei. Die
Ordinaten der Zuckungscurve würden demnach nicht der Intensität '
e ine s Processes proportional, sondern als Ausdruck der Resultirenden
Die Formänderung- des Muskels bei der Thätigkeit. 85
zweier antagonistischer Processe anzusehen sein. F i c k stellt sich
vor, dass etwa der erste Process in der Bildung eines gewissen Stoffes
(Spaltung von Zucker in Milchsäure), der zweite in der weiteren Zer-
störung des gebildeten Productes (Verbrennung der Milchsäure zu
HgO und CO2) bestehe. Die Säure würde eine theilweise Gerinnung
des Inhaltes der Sarkolemmschläuche bedingen, welche durch Vernich-
tung der chemischen Ursache wieder beseitigt wird. Gad und
mehrere seiner Schüler, sowie Schenk haben diesen Gedanken neuer-
dings noch weiter ausgeführt und insbesondere auch zur Erklärung
der in Rede stehenden Erscheinungen angewendet (33). Ohne hierauf
näher einzugehen, sei nur bemerkt, dass man naturgemäss auch auf
Grund der von Hering entwickelten allgemeineren Vorstellungen zu
ähnlichen Anschauungen gelangt und unter der Voraussetzung, dass
Temperaturveränderung auf den einen der beiden Fundamentalprocesse
des Stoffwechsels einen stärker herabsetzenden Einfluss ausübt, als
auf den andern, alle beobachteten Wirkungen zu erklären vermag.
Für die Annahme, dass speciell der active „Erschlaffungsprocess"
im Sinne F i c k ' s mit Assimilationsvorgängen Hand in Hand geht, Hesse
sich vielleicht die Beobachtung von Fr. Schenk (61) verwerthen,
dass die Erschlaffung um so langsamer erfolgt, je spär-
licher die Reservestoffe im Muskel sind. Bei Vergleichung
eines activ ermüdeten Muskels mit einem andern, dessen Erregbarkeit
mittels Durchspülung mit Milchsäurelösung herabgesetzt war, ohne
dass aber eine Verminderung des Gehaltes an Reservestoffen statt-
hatte, zeigte sich, dass der letztere stets rascher erschlaffte, als der
erstere. Jener verhält sich daher zu diesem ähnlich wie
ein abgekühlter Muskel zu einem ermüdeten.
Für den quergestreiften Warmblütermuskel liegen ausführlichere
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur auf Grösse und
Verlauf der Zuckung nicht vor, dagegen ist es für den Herzmuskel
der Kalt- und Warmblüter lange bekannt, dass durch Abkühlung der zeit-
liche Verlauf der natürlichen, spontanen, wie auch der künstlich ausgelösten
Contractionen sehr bedeutend verzögert wird, während das Umgekehrte
bei Steigerung der Temperatur der Fall ist. Gleichsinnige Ver-
änderungen erleidet dann auch das mechanische Latenzstadium, am
auffallendsten wohl am ausgeschnittenen Warmblüterherzen (W^aller 55).
Während bei normaler Temperatur (38°— 40*^) die Contraction schein-
bar im Momente des Reizes erfolgt, ein Latenzstadium daher nur bei
Anwendung feinerer zeitmessender Methoden nachweisbar ist, kann
dasselbe bei starker Abkühlung (12*^ — 0") mehr als eine Secunde
betragen. Ob bei gleichbleibender Reizstärke ähnliche Beziehungen
zwischen Temperatur und Contractionsgrösse des Herzmuskels be-
stehen, wie nach Gad und Hey man s beim quergestreiften Skelet-
muskel, ist nicht bekannt. Ist die Zuckungsdauer eines Muskels schon
normaler Weise sehr kurz, so wird sich insbesondere der Einfluss der
sinkenden Temperatur deutlich ausprägen, umgekehrt wird die durch
Erwärmung bedingte Verkürzung des Contractionsverlaufes charakte-
ristischer hervortreten, wenn der Muskel von vorneherein durch eine
träge Zuckung ausgezeichnet ist. Dies ist in höchstem Maasse bei
den glatten Muskeln der Fall, deren Contractionsverlauf durch Er-
wärmung ausserordentlich beschleunigt wird.
Auch sonst bietet übrigens das Verhalten glatter Muskelelemente
bei wechselnder Temperatur mannigfache und interessante Abwei-
gg Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
chungen, die vor allem Anderen dadurch bedingt sind, dass jene
in sehr vielen, ja vielleicht allen Fällen unabhängig vom Nervensystem
in einem Zustand mehr oder weniger ausgeprägter, stetiger Contraction
verharren („Tonus"), dessen Stärke in sehr auffälliger Weise von
der jeweils herrschenden Temperatur abhängig erscheint. In besonders
hohem Grade ist dies der Fall bei den glatten Muskeln vieler wirbel-
loser Thiere, sowie der poikilothermen Wirbelthiere. So zeigen bei-
spielsweise die Schliessmuskeln unserer Süsswassermuscheln (Anodonta,
Unio) in der Regel einen sehr stark entwickelten Tonus, der vom cen-
tralen Nervensystem sicher ganz unabhängig ist. Durch theilweises
Abbrechen der Schaale kann man namentlich bei grossen Exemplaren
von Anodonta nach Entfernung aller übrigen Weichtheile leicht ein
Präparat gewinnen, welches zu Reizversuchen aller Art sehr geeignet
ist (F i c k 32 , Biedermann 62). Immer zeigt sich dann der
Muskel zunächst so stark contrahirt, dass er nicht nur dem kräftigen
Zuge des unversehrten Schlossbandes Widerstand leistet, sondern
ausserdem noch eine Belastung von mehr als 20 Gramm ohne merk-
liche Dehnung erträgt. Auch wenn in Folge längerer Ruhe die
Schaalen bereits hinreichend klaffen , um eine erfolgreiche Reizung
vornehmen zu können, ist das Bestreben des belasteten Muskels, sich
zu verkürzen, noch immer ein sehr bedeutendes , wie schon daraus
hervorgeht, dass jeder Verminderung der Belastung sofort eine ent-
sprechende Verkürzung folgt. Selbst nach vielen Stunden lässt sich
in der Regel noch das Vorhandensein eines gewissen „Tonus" consta-
tiren. Sobald man die Insertion eines noch lebenden Muskels an der
einen Seite löst, contrahirt sich derselbe rasch um mehr als die Hälfte
der Länge, welche er bei ganz geschlossener Schaale hatte. Gleich-
wohl nimmt dieser Tonus, wie schon erwähnt, mit der Zeit, wenn auch
nur langsam, ab. Lässt man ein Präparat während mehrerer Stunden
bei mittlerer Temperatur liegen , so lässt sich diese allmähliche Er-
schlaffung immer leicht constatiren. Während es Anfangs eines ziem-
lich bedeutenden Kraftaufwandes bedarf, um die beiden Schaalenhälften
von einander zu entfernen, gelingt dies später immer leichter, und nach
Verlauf mehrerer Stunden vermag bisweilen schon eine Belastung von
kaum 10 Gramm eine fast maximale Dehnung des Muskels zu be-
wirken. Daher klaffen auch, Avenn bei der Präparation das elastische
Schlossband unversehrt bleibt, die Anfangs fest geschlossenen Schaalen
in der Folge immer weiter, indem das Verhältniss zwischen der
Spannung des die Schaalen öffnenden Bandes und dem tonischen Ver-
kürzungsbestreben des Muskels sich immer mehr zu Gunsten der
ersteren ändert.
Fast momentan beginnt nun aber die Verminderung des „Tonus",
wenn man das Präparat in höhere Temperatur bringt (Eintauchen in
Wasser von etwa 30 ^ C.), wodurch nach kurzer Zeit eine weitgehende
Erschlaffung erzielt wird, Wiederabkühlung vermag dann den Tonus
nur unvollkommen wiederherzustellen, während dies bei andern glatten
Muskeln in einer sehr vollständigen Weise gelingt. In neuerer Zeit
hat Bern stein (63) den Einfluss verschiedener Temperaturen auf die
Muscularis des Froschmagens untersucht und gelangte hierbei, wie
vordem auch Grünhagen und Samkowy (64), zu ganz analogen
Resultaten, wie ich selbst bei Untersuchung des glatten Muschel-
muskels. Bernstein benutzte nach Entfernung der Mucosa ein
ringförmiges Stück der Muskelhaut, welches in einem Glassgefäss
Die Formänderung' des Muskels bei der Thätigkeit. 87
zwischen zwei Haken ausgespannt war, während die Verkürzung
bezw. Dehnung mittels eines über eine Rolle läufenden Fadens auf
einen Schreibhebel übertragen wurde. Als erwärmendes Medium
diente physiologische Kochsalzlösung, welche vorher auf die gewünschte
Temperatur gebracht und dann in das Gefäss gefüllt wurde, oder mit
Wasserdampf gesättigte Luft. Das Verhalten eines solchen Muskel-
ringes entspricht nun vollkommen dem oben geschilderten des Muschel-
schliessmuskels. Befindet sich der Ring in Folge der mit der Ablösung
der Mucosa verbundenen mechanischen Reizung in massigem Tonus,
so weicht derselbe bei gewöhnlicher Zimmertemperatur nur sehr all-
mählich. Dagegen sinkt der Schreibhebel mit zunehmender
Geschwindigkeit, Avenn die Temperatur von etwa 25" bis
40*^ steigt. Wird während dieser Zeit mit tetanisirenden Induc-
tionsströmen gereizt, so erhält man viel kräftigere Contractionen als
vorher, was wohl weniger auf eine Erhöhung der Erregbarkeit
als auf das Nachlassen des Tonus zu beziehen sein dürfte. Zwischen
45 und 50 '^ C. hört die Dehnung und gleichzeitig auch die Erregbar-
keit auf, und erst bei circa 57*^ C. beginnt eine neuerliche Verkürzung,
welche grösstentheils durch Starreentwicklung bedingt ist. Wir
stossen also auch hier wieder auf die von G a d und H e y m a n s für
den quergestreiften Muskel nachgewiesene Thatsache, dass die Erreg-
barkeit für den elektrischen Reiz fast vollkommen schwindet, ehe die
Verkürzung durch Wärmestarre eintritt. Vorher bewirkt jede
Abkühlung des Präparates eine Contraction, d. h. eine
Verstärkung bezw. Wiederherstellung des Tonus. Das-
selbe Verhalten constatirten Grünhagen und Samkowy auch an
der Blasenmuskulatur des Frosches, während dagegen in manchen
Fällen glatte Muskeln von Warmblütern (Sphyncter iridis,
Muscularis des Oesophagus) unter gleichen Umständen ein
gerade entgegengesetztes Verhalten zeigen, indem sie
sich beim Erwärmen contrahiren, beim Abkühlen er-
schlaffen. Man wird jedoch hierbei im Auge behalten müssen,
dass der Erfolg der Erwärmung oder Abkühlung sich begreiflicher
Weise sehr wesentlich nach dem jeweiligen Zustande der erregbaren
Substanz, d. h. im gegebenen Falle dem Grad des vorhandenen Tonus,
richten wird. Dieser hängt aber seinerseits zweifellos von dem Er-
haltensein der normalen Lebensbedingungen und insbesondere auch der
normalen Temperatur ab. Es würde daher ganz wohl denkbar
sein, dass glatte Muskeln von Warmblütern unter Umständen tonus-
frei gefunden werden, wo die entsprechenden Elemente von Kalt-
blütern einen kräftigen Tonus zeigen. Vielleicht beruht hierauf
wenigstens zum Theil der Widerspruch, welcher sich nach den Unter-
suchungen der genannten Autoren bezüglich des Verhaltens der
glatten Muskeln der Warm- und Kaltblüter zu ergeben scheint.
Sicher ist, dass die glatten Muskeln der Blutgefässe am lebenden
Thier durch hinreichend starke Erwärmung (Annähern eines heissen
Körpers an eine blosgelegte kleine Arterie) local erschlaffen und sich
daher unter diesen Umständen wie die Elemente der Kaltblüter ver-
halten. Desgleichen beobachtete Hör vath (65), dass sich die Trachea
von Säugethieren bei der Erwärmung erweitert (Erschlaffung der Mus-
keln), bei der Abkühlung dagegen verengt (Contraction der glatten
Muskelelemente).
Auch die quergestreiften Herzmuskelfasern gerathen unter ge-
38 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
wissen Bedingungen in einen dauernden (tonischen) Contraetions-
zustand und bilden dann ein besonders günstiges Object, um den Einfluss
der Temperatur auf den „Tonus'' zu studiren. Als unmittelbare Ent-
stehungsursache des letzteren wirken hier meist äussere Reize mit,
wenngleich ein gewisser Grad von Tonus auch ohne Hinzukommen
solcher unter ganz normalen Verhältnissen vorhanden zu sein scheint.
Am Schneckenherzen (Helix pomatia) habe ich (36) in Folge plötz-
licher Drucksteigerung nach Ablauf einer grösseren oder geringeren
Zahl regelmässiger Zusammenziehungen sehr oft einen langanhalten-
den, gleichmässigeu Contractionszustand des Ventrikels beobachtet,
dessen Entwicklung an dem auf eine Canüle gebundenen und mit
Schneckenblut oder 0,5 '* o Kochsalzlösung gefüllten Herzen immer in
gleicher Weise vor sich geht. Während der Ventrikel sich Anfangs
unter dem vollen Druck der in der Canüle befindlichen Flüssigkeits-
säule ad maximum ausdehnt und bei jeder systolischen Zusammen-
ziehung vollkommen entleert, sieht man bald, dass die diastolische
Erschlaffung unvollständig wird; es bleibt so zu sagen ein Contrac-
tionsrest zurück, welcher nun mit jeder folgenden Zusammenziehung
wächst, bis endlich das Herz gar nicht mehr erschlafft und dauernd
(tonisch) systolisch contrahirt bleibt. Dieser „Tonus'" las st sich
nun unter Umständen sofort beseitigen, wenn man das
Präparat einer höheren Temperatur aussetzt, während er
bei Wiederabkühlung neuerdings hervortritt. Dieser „Kältetonus" löst
sich dann, wie es scheint, unter dem Einfluss der Wärme viel rascher
als der „Drucktonus". Es genügt meist schon ein einmaliges kurzes
Eintauchen in erwärmte Salzlösung, um den contrahirten Ventrikel
mit einem oft kaum merklichen „Latenzstadium" in den Zustand voll-
ständiger diastolischer Erschlaffung zu versetzen.
Eine Frage, die sich hier naturgemäss anschliesst, betrifft den
oberen und unteren Grenzwerth der Temperatur, bei welchem über-
haupt ein Muskel noch functionsfähig bleibt, oder doch wenigstens
wieder functionsfähig werden kann.
Dass man einen Muskel, wie überhaupt Protoplasma unter 0 ^ ab-
kühlen kann , ohne in vielen Fällen seine Erregbarkeit dauernd zu
schädigen, kann zwar nicht Wunder nehmen, da der Gefrierpunkt der
interstitiellen Gewebsflüssigkeit sowohl wie der contractilen Substanz
selbst nothwendig unter Null Grad liegen muss. Welcher Art jedoch
die Veränderungen sind, welche die Muskelsubstanz erlitten hat, wenn
ihre Reactionsfähigkeit durch Kälte fast auf Null herabgedrückt
worden ist, lässt sich schwer im Einzelnen sagen. Sicher ist die In-
tensität des Stoffwechsels auf ein Minimum beschränkt.
Sobald jede Reaction gänzlich aufgehört hat, ist nach Gad und
Heymans eine W^iedererholung nicht mehr möglich, und es muss somit
die erregbare Substanz selbst geschädigt worden sein. Dies kann
entweder dadurch geschehen, dass sie selbst gefriert, oder dadurch,
dass sie beim Gefrieren der interstitiellen Gewebsflüssigkeit mechanisch
verletzt wird.
Kühne und Hermann, sowie neuerdings Preyer haben be-
hauptet, dass hartgefrorene Muskeln nach ihrem Aufthauen noch ge-
zuckt haben, und das Gleiche wurde von Waller für den Herzmuskel
behauptet. Indessen fragt es sich bei diesen Versuchen immer, ob
auch die contractile Substanz selbst gefroren war oder nur interstitielle
Flüssigkeit.
Die Forniänderuug des Muskels bei der Thätigkeit. 89
VI. Einfluss cliemischer Substanzen auf die Muskelcontraction.
Die normalen Erscheinungen der Muskelthätigkeit erleiden immer
dann mehr oder weniger tiefgreifende Störungen, wenn die ehemische
Beschaffenheit der contractilen Elemente in irgend erheblichem Grade
sich ändert. Dafür liefern schon die bisher mitgetheilten Erfahrungen
genügende Belege, und insbesondere das Studium der Ermüdungserschei-
nungen, welche zum Theil sicher nur auf einer Anhäufung von ge-
wissen Zersetzungsproducten beruhen, ist in dieser Beziehung sehr
lehrreich. Ohne hier auf die Wirkungsweise aller der zahlreichen
Körper näher einzugehen, deren Einfluss auf die Muskelerregbarkeit
bisher geprüft wurde, sollen nur einige einschlägige Thatsachen näher
erörtert werden, die für das Folgende von besonderer Bedeutung sind.
Vor Allem muss hier auf den merkwürdigen und auffallenden
Gegensatz in der physiologischen Wirkung der chemisch einander so
nahe stehenden Kali- und Natronsalze hingewiesen werden. Seit lange
bedient man sich schwächerer Lösungen von NaCl (0,5 — 0,6 °/o), wenn
es darauf ankommt, eine Flüssigkeit zu verwenden, durch welche
quergestreifte und glatte Muskeln, sowie Nerven von Wirbelthieren
möglichst lange in möglichst normalem Zustande erhalten werden
können. Die „physiologische Kochsalzlösung" , deren Concentration
sich natürlich nach dem Salzgehalt der Gewebe richtet und daher
bei Seethieren entsprechend grösser sein muss, hatte man sich, gestützt
auf vielfache Erfahrungen, so sehr als eine völlig indifferente Flüssig-
keit zu betrachten gewöhnt, dass es füglich überraschen musste,
als ganz neuerdings F. S. Locke (66) darauf aufmerksam machte,
dass dies, auch für den quergestreiften Froschmuskel, nur in be-
schränktem Maasse , gilt. Er fand beim Vergleich normaler und
solcher Sartoriuspräparate , die vorher längere Zeit in 0,6 *^/o NaCl-
Lösung gelegen hatten, auffallende Unterschiede der Erregbarkeit und
des Zuckungs Verlaufes. Einzelne den ganzen Muskel durchsetzende
Liductionsströme von grösserer Stärke (besonders Oeffnungsschläge)
bewirkten am K.S.M. (Kochsalzmuskel) „tetaniforme Contractionen
von enormer Höhe und einer Dauer von mehreren Secunden , nach
welchen der Muskel plötzlich erschlaffte und nur einen kleinen Ver-
kürzungsrückstand zeigte'". Eine Neigung zu Contractur hat schon
S. Ringer (67) am K.S.M. beobachtet und zugleich gefunden, dass
diese Wirkung durch Zusatz von 1 Theil CaCL zu 5000 Theilen der
verwendeten NaCl- Lösung vollkommen aufgehoben wird. Auch
Locke sah die oben beschriebenen hohen tetaniformen Contractionen
nach kurzer Zeit verschwinden, wenn der so reagirende Muskel in
Kochsalzlösung gebracht wird, die 10 ''^o einer gesättigten Lösung von
CaS04 enthält.
Es scheint hiernach, dass eine Kalksalze in entsprechendem Ver-
hältniss enthaltende 0,6 *^/o NaCl-Lösung mehr „physiologisch" ist, als
eine reine, unvermischte.
Viel ausgeprägtere Veränderungen der Reactionsfähigkeit querge-
streifter (Frosch-)Muskeln bewirken K.S.-Lösungen, deren Procentgehalt
unter oder über 0,5 liegt. Ersterenfalls treten, wie schon CarslaAV (68)
bei Durchleitung durch die Gefässe eines Froschhintertheiles beobachtete,
sehr bald spontane Reizerscheinungen (tetanische Contractionen) ein,
die, durch Ruhezeiten getrennt, während mehrerer Minuten andauern.
90 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Lösungen über 0,7 bis 1 ^/o NaCl bedingen ausserdem eine contractur-
artige, allmählich wachsende und später wieder abnehmende Verkür-
zung des Muskels , während bei 2 ^, o die fibrillären Zuckungen weg-
fallen und nur eine langsam zunehmende Sclirumpfung mit gleich-
zeitigem Verlust der Erregbarkeit des Muskels eintritt. Vorher sind
sowohl Einzelreize wie Tetani mit starken Contracturen behaftet.
Man wird daher sagen dürfen, dass innerhalb gewisser Gi*enzen der
Concentration NaCl-Lösungen die Erregbarkeit quergestreifter Skelet-
muskeln zunehmend steigern, beziehungsweise direct (chemisch) reizend
wirken, womit zugleich eine auffallende Neigung zur Contractur ver-
bunden ist.
Die erregbarkeitssteigernde resp. erregende Wirkung der reinen
K.S.-Lösung wird durch einen Zusatz gewisser anderer Natronsalze,
insbesondere von NagCOg noch ganz ausserordentlich gesteigert. Ein
gänzlich unversehrter Sartorius vom Frosch geräth beim Eintauchen in
reine 0.6 ^lo NaCl-Lösung zwar auch bisweilen in schwache Erregung,
indem tibrilläre Zuckungen auftreten, doch sind diese Erscheinungen
dann niemals von langer Dauer. Fügt man aber der Lösung etwas
Natriumphosphat (Na2HP04) und eine geringe Menge NagCOg hinzu
(im Liter destillirten Wassers 5 Gramm NaCl , 2 Gramm Na2HP04
und 0,4 — 0,5 Gramm NaoCOa), so beobachtet man bei nicht zu hoher
Temperatur (3 — 10 '^ C.) fast ausnahmslos nach einer kürzeren oder
längeren Zeit der Ruhe den Beginn rhythmischer Thätigkeit des ein-
getauchten Muskels (69). Zunächst verräth sich dieselbe in den meisten
Fällen durch rasch auf einander folgende, schwache und wenig aus-
giebige , örtlich beschränkte Contractionen , welche in gleicher
Höhe von einer grösseren oder kleineren Zahl von Primitivfasern aus-
gelöst werden. Bisweilen sind diese Bewegungen so schwach, dass
sie sich nur durch ein leises, aber dennoch deutlich rhythmisches Er-
zittern des eingetauchten Muskels verrathen. Gewöhnlich werden aber
diese geringfügigen Erregungserscheinungen bald durch kräftigere und
zugleich in langsamerem Rhythmus erfolgende Contractionen derselben
oder anderer Faserstellen abgelöst, welche unter Umständen sogar be-
wirken können, dass sich der Muskel in regelmässigen Pausen nach
der Fläche oder Kante im Halbkreise krümmt oder sich gar schraubig
aufrollt. Im Uebrigen herrscht eine fast unerschöpfliche Mannigfaltig-
keit in Bezug auf die hier zu beobachtenden, bald interferirenden,
bald ungestört neben einander her laufenden Bewegungsformen, welche
jedoch das gemeinsam haben, dass an einer und derselben Stelle des
Muskels eine gewisse Zeit hindurch ein gleichförmiger Rhythmus der
Bewegung und somit auch der Reizauslösung eingehalten wird.
Es kommt nicht selten vor, besonders in späteren Stadien der
Einwirkung alkalischer Salzlösungen, dass Avährend längerer Zeit
immer nur eine Stelle des eingetauchten Muskels in rhythmischer
Thätigkeit verharrt, so dass das Präparat mit der Regelmässigkeit
eines schlagenden Herzens immer in einem und demselben Sinne sich
bewegt, und man hat dann nicht selten Gelegenheit, ein Phänomen
zu beobachten, welches so lebhaft an die von Luciani (70) seiner Zeit
beschriebene „periodische Function" des Froschherzens erinnert, dass
die Analogie beider Erscheinungen jedem Beobachter sofort auffallen
muss. Die Periodenbildung tritt oft ganz unvermittelt und plötzlich
ein, nachdem das Präparat eine Zeit lang in regelmässigem Rhythmus
pulsirt hat, indem eine kürzere oder längere Pause die regelmässige
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 91
Schlagfolge unterbricht; in anderen Fällen kündigt sich der Eintritt
der Erscheinung dadurch an, dass nach einer langen Reihe in gleich-
massigem Rhythmus erfolgender Pulsationen die zwischen je zweien
derselben betindlichen Pausen allmählich länger werden, ohne dass
jedoch die Beschaffenheit der einzelnen Contractionen hierbei irgend-
wie sich änderte. Endlich erfolgt eine lange Pause, worauf wieder
eine Reihe von Pulsationen folgt , die neuerdings durch eine Ruhe-
periode unterbrochen werden etc.
Bei niederer Temperatur kann das Spiel rhythmischer Thätigkeit oft
tagelang beobachtet werden. Die Erscheinung gewinnt ein besonderes
Interesse, wenn man sie im Zusammenhang mit einer Reihe in neuerer
Zeit von verschiedenen Forschern an dem vom Vorhof abgetrennten
Ventrikel des Froschherzens gemachter Beobachtungen betrachtet.
Merunowicz, Rossbach, Stienon, Gaule, Gaskell,
Löwit u. A. haben den interessanten Nachweis geliefert, dass auch
die ganglienlose „Herzspitze" des Frosches in regelmässige, rhyth-
mische Thätigkeit zu gerathen vermag, wenn gewisse chemische Sub-
stanzen der zur Speisung des Präparates benutzten, an sich unwirk-
samen 0,6^^/0 NaCl-Lösung beigesetzt werden ; dadurch ist offenbar die
Frage in den Vordergrund getreten, welche anatomischen Bestand-
theile der Herzspitze hierbei das primär Erregte sind. Es liegt sehr
nahe, auch hier in erster Reihe die Muskeln in Betracht zu ziehen,
umsomehr, als, wie gezeigt wurde, auch der durch Curare entnervte
Stammesmuskel unter fast genau denselben Bedingungen zu analoger
rhythmischer Thätigkeit angeregt wird. Es scheint überhaupt eine
allgemeine Ei genschaft der Muskelsubstanz zu sein, bei
allen dauernden Reizen unter gewissen Bedingungen in
einen merkbar rhythmischen Erregungszustand zu ge-
rathen. Für eine derartige Auffassung sprechen nicht nur die eben
mitgetheilten Thatsachen, sondern auch später mitzutheilende Beob-
achtungen über rhythmische Erregung des Sartorius und des Herz-
muskels durch den constanten elektrischen Strom.
Abgesehen von den „spontanen" rhythmischen Erregungserschei-
nungen, welche durch verdünnte Lösungen von NagCOg an quer-
gestreiften Muskeln hervorgerufen werden, verräth sich die specifische
Wirkung dieses Salzes auch durch eine sehr auffallende Steigerung
der Anspruchsfähigkeit für künstliche Reize. Dies tritt in allen
Fällen sehr deutlich hervor, wenn ein nicht zu dicker Muskel, wie der
Sartorius des Frosches, ganz oder partiell mit entsprechend verdünnten
Lösungen behandelt wird. Es wird später eine sehr auffällige, hierher
gehörige Thatsache zu erwähnen sein, die sich auf die veränderte
Wirkung des Kettenstromes an einem einseitig mit Na^COg behandelten
Sartorius bezieht. Aber auch bei örtlicher mechanischer Reizung, sowie
bei Anwendung einzelner Liductionsschläge oder inducirter Wechsel-
ströme macht sich die Erregbarkeitssteigerung durch eine sehr be-
deutende Zunahme der Zuckungshöhe resp. der Tetanuscurve, sowie
durch eine gesteigerte Neigung zur Contractur geltend.
Aehnlicli wie NagCOg, nur Avesentlich schwächer, wirken auch
stärkere Lösungen von Na2S04, sowie höchst verdünnte von NaOH
(in 0,5*^/0 NaCl-Lösung), sodass man insbesondere in Hinblick auf die
ganz gleichartige Wirkung derselben Substanzen auf den Herzmuskel
wohl berechtigt ist, von einer geradezu specifischen Wirkung der ge-
nannten Natronsalze zu sprechen, derzufolge die contractile Substanz
Q2 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
quergestreifter Muskeln schon durch die Anwesenheit sehr geringer
Mengen jener Stoffe derart verändert wird, dass sie leichter und
schon bei schwächeren Reizen in den Zustand der Erregung geräth,
als dies normaler Weise der Fall ist.
In gewissem Sinne vergleichbar ist die vielbesprochene und oft
untersuchte Wirkungsweise des Vera tri ns, eines Alkaloids, dessen
merkwürdigen Einfluss auf quergestreifte Muskeln Kölliker ent-
deckte, und der später insbesondere von Bezold (71), Fick und
Böhm (72) und Anderen näher untersucht wurde. Während bei An-
wendung von gewissen Natronsalzen und besonders des NagCOs die
Steigerung der Anspruchsfähigkeit für jedweden Heiz in den Vorder-
grund tritt, ist es bei Vergiftung mit Veratrin vor Allem die ganz
ausserordentliche Verlängerung der Contractionsdauer (Contractur),
welche das ganze Erscheinungsgebiet beherrscht.
Wird ein Frosch durch subcutane Injection von 1 — 2 Tropfen
einer etwa 0,2*^/o Lösung von Veratrin vergiftet, so zeigt sich schon
nach kurzer Zeit in der Regel eine auffallende Störung der normalen
Bewegungen, die sich vor Allem dadurch charakterisirt, dass zwar
rasche und kräftige Contractionen ausgeführt werden, die Erschlaffung
und Wiederverlängerung der Muskeln dagegen nur äusserst träge er-
folgt. Dies zeigt sich noch viel deutlicher bei Versuchen am isolirten
Nerv-Muskelpräparat, insbesondere, wenn die Gestaltveränderungen
graphisch verzeichnet werden. Während der aufsteigende Schenkel,
sowie der Gipfel der Curve keine erheblichen Veränderungen er-
kennen lässt, ist das Stadium der sinkenden Energie ausserordentlich
verlängert, und es kann sich die Erschlaffung über viele Secundeu
hinziehen. Seit v. Bezold diese merkwürdigen Wirkungen des
Veratrins zuerst genauer feststellte, darf es als sicher gelten, dass die-
selben lediglich in einem veränderten Zustand der Muskelsubstanz
selbst begründet sind und, wie Fick meint, wahrscheinlich auf
einer „Steigerung des Erregungsprocesses über das normale Maass
hinaus" beruhen. Um eine möglichst anhaltende Contraction zu er-
zielen, empfiehlt sich die Vergiftung mit grösseren Dosen mehr; am
zweckmässigsten fand ich es, 6 — 7 Tropfen einer P/o Lösung von
Veratrin. acet. in den Rückenlymphsack zu bringen und den Frosch
(R. tempor.) nach spätestens 10 Minuten zu tödten. Gewöhnlich
genügen schon 5 — 7 Minuten, um jene Symptome hervorzurufen,
welche das geeignete Stadium der Giftwirkung charakterisiren. Als
solche sind vor Allem mehr oder weniger ausgeprägte Streckkrämpfe
der Hinterextremitäten zu nennen, die einander in ziemlich kurzen
Pausen folgen und durch lebhafte Unruhe des Thieres und häufig
wiederholtes krampfhaftes Aufsperren des Maules eingeleitet werden.
Ein sicheres Zeichen der Brauchbarkeit ist es, wenn die Bauch-
muskeln bei mechanischer Reizung, etwa durch Fassen mit der Pin-
zette, in eine lang anhaltende tetanische Contraction verfallen, und wenn
das Gleiche bei Herstellung des Sartoriuspräparates nach Durch-
schneidung des Nerven der Fall ist. Hierbei sieht man oft, dass einer
raschen Zuckung im Momente der Durchschneidung der Nerven nach
kurzer Pause eine weitere, langsamer zunehmende Verkürzung folgt,
welche dann längere Zeit constant bleibt und nur ganz allmählich der
Wiedererschlaffung weicht.
Verzeichnet man die Gestaltveränderungen eines in der beschrie-
benen Weise mit Veratrin vergifteten Sartorius, indem man denselben
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
93
mittels der beiderseits befindlichen Knochenstümpfe in dem später zu
beschreibenden Hering'schen Doppelmyographen befestigt, nachdem
vorher eine der beiden beweglichen, unpolarisirbaren Elektroden dauernd
fixirt wurde, so erhält man im Wesentlichen gleiche Curven, ob nun
die Reizung durch einen irgendwo in der Continuität des Muskels
einwirkenden Inductionsschlag oder durch möglichst kurze Schliessung
eines Kettenstroms bewirkt wird. In beiden Fällen bleibt sozusagen
die Contractionswelle auf ihrem Wege durch den Muskel fixirt und
erzeugt so einen mehr oder weniger langen, in fast gleicher Stärke an-
haltenden Tetanus oder, wie man sich mit Rücksicht auf die bisher
gänzlich mangelnden Beweise der discontinuirlichen Natur der be-
treffenden Contraction wohl richtiger ausdrückt, eine „tonische" Ver-
kürzung des gesammten Muskels in allen seinen Theilen.
Wie bereits Bezold und Fick hervorhoben, kann man ver-
schiedene Formen der Zusammenziehung des Veratrinmuskels unter-
scheiden, von denen als eine
der am häufigsten vorkom-
menden nur die erwähnt
sei, bei welcher der eigent-
lichen tonischen Dauercon-
traction eine mehr oder
weniger deutlich ausge-
sprochene, rasch verlaufende
Initialzuckung vorangeht.
Es tritt dann ähnlich, wie
dies bereits oben bemerkt
wurde, im Momente der
Reizung eine rasche Zu-
sammenziehung des Muskels
ad maximum ein, worauf
sofort eine beträchtliche
Wiederverlängerung erfolgt,
der sich nun eine aber-
malige langsame Contraction
anschliesst, die nur ganz
allmählich der Erschlaffung
weicht (Fig. 46). Andeutun-
gen dieser eigenthümlichen
Verkürzungsweise werden kaum jemals ganz vermisst, insbesondere
nach längerem Verweilen des Präparates in verdünnter Kochsalz-
lösung. Es kann, wie schon Fick nachwies, nicht davon die Rede
sein, die erwähnte Anfangszuckung etwa durch indirecte Erregung
des Muskels von Seite der intramusculären Nerven zu erklären und
nur die nachfolgende Dauerverkürzung auf directe Muskelreizung zu
beziehen, denn man beobachtet ganz dieselben Curvenformen auch
nach vorgängigem Curarisiren. Möglicherweise hängt die Erscheinung
zusammen mit der von Grützner zuerst betonten Zusammensetzung
des Muskels aus zwei morphologisch und functionell verschiedenen,
den rothen und weissen (trägen und flinken) Muskeln entsprechenden
Faserarten. Zu Gunsten dieser Auffassung Hesse sich wohl auch
noch geltend machen, dass derartige doppelgipfelige Zuckungscurven
nicht selten auch unter anderen Verhältnissen, wie z. B. nach localer
Behandlung mit NaoCOy, oder selbst an ganz normalen Froschmuskeln
\^Jdd^^UUUvAjUv..Jud\.JvJUUv}^_L^K_KJ\
Fig. 46. Schliessungszuckung des veratrinisirten
M. sartorius vom Frosch (1 Daniell.). Der eigent-
lichen tonischen Verkürzung geht eine rasche
Initialznckung voraus. (Biedermann.)
g^ Die Formäüderung des Muskels bei der Thätigkeit.
vorkommen. Gerade für den Sartorius gilt dies nach Grützner als
Regel. Reizt man während des Stadiums der Wiederverlängerung den
Veratrinmuskel wiederholt etwa durch kurz dauernde Schliessung eines
Kettenstromes, so zeigt sich die Anspruchsfähigkeit desselben für den
Schliessungsreiz im Allgemeinen um so geringer, in einem je höheren
Grade er noch zur Zeit der Reizung verkürzt erscheint. Nicht selten
reagirt aber selbst der schon völlig erschlaffte Muskel unmittelbar
nachher kaum merklich auf denselben Reiz, der kurz vorher eine
mächtige Contraction auslöste. In der Mehrzahl der Fälle hält jedoch
die Zunahme der Reizerfolge vollkommen gleichen Schritt mit der
allmähhch zunehmenden Erschlaffung des Muskels, so dass die
während derselben in gleichen Zwischenräumen ausgelösten, fast
immer rasch verlaufenden Zuckungen sämmtlich zu gleicher
Höhe über einer Linie als Abscisse sich erheben, welche dem ab-
steigenden Aste der Curve entspricht, die der Muskel auch nach nur
einmaliger Reizung verzeichnet haben würde. Analoge Beobachtungen
machte Fick auch bei indirecter Reizung eines mit Veratrin ver-
gifteten Froschmuskels vom Nerven aus (72. p. 146).
Wie eben erwähnt wurde, ändert sich bei rasch wiederholter
Reizung der Charakter der Zuckungen in sehr auffallender Weise,
indem die Erschlaffung sehr bald ebenso schnell erfolgt, wie unter
normalen Verhältnissen. Bleibt der Muskel dann einige Zeit ungereizt,
so zeigt die erste neu ausgelöste Zuckung wieder alle für die Vera-
trinwirkung charakteristischen Merkmale. Auch die Temperatur übt
einen grossen Einfluss aus, indem der typische Verlauf der Con-
traction scurve des Veratrinmuskels am deutlichsten bei einer mitt-
leren Temperatur hervortritt und sowohl durch zu grosse Wärme wie
durch Kälte beinträchtigt wird. In beiden Fällen schwinden, wie
insbesondere L. Brunton und Cash (73) gezeigt haben, die Er-
scheinungen der Veratrincontractur, um wieder hervorzutreten, wenn
der abgekühlte oder erwärmte Muskel in eine gemässigte Temperatur
zurückversetzt wird. Bisweilen ist dies letztere allerdings nicht der
Fall, so dass es scheint, als wäre die Veratrinwirkung durch die ver-
änderte Temperatur dauernd aufgehoben.
Aehnlich wie Veratrin scheinen auch Baryumsalze auf die Sub-
stanz quergestreifter Muskeln einzuwirken, während Kaliumsalze
im Allgemeinen als Muskelgifte wirken, Avelche die Erregbarkeit mehr
oder weniger rasch herabsetzen und schliesslich dauernd vernichten.
Selbst in sehr starker Verdünnung ist dies noch immer in merklichem
Grade der Fall , so dass , wie schon Ranke hervorhob , die Kali-
salze wahrscheinlich als „Ermüdungsstoffe" der Muskeln eine wesent-
liche Rolle spielen. Sicher ist, dass sowohl bei örtlich beschränkter
Anwendung wie bei Durchspülung mit Lösungen von Kalisalzen
alle charakteristischen Erscheinungen der Muskelermüdung hervor-
treten, welche zunächst einfach durch Auswaschen des betreffenden
Präparates (Durchspülen mit 0,6*^/o NaCl-Lösung) sich wieder beseitigen
lassen.
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34. Ludwig und Luchsinger, Pflügers Arch. 25. Bd. p. 231.
35. Engelmann, Pflügers Arch. 29. Bd. p. 466.
36. Biedermann, Sitzungsber. d. Wiener Acad. LXXXIX. III. Abth. p. 19 Ö'. 1884.
87. Sehoenlein, Zeitschr. f. Biologie. XXX. N. F. XII.
38. Luchsinger, Pflügers Arch. 26. Bd. p. 464.
39. A. Fick, Pflügers Arch. 41. Bd. p. 176.
40. E. Hering, „Lotos" 1889. N. F. IX. p. 36 0".
41. Kronecker, Berichte der k. sächs. Ges. der Wiss. 1871. p. 718.
42. A. Mosso, Du Bois Arch. 1890. p. 89.
43. Funke, Pflügers Arch. VIII. p. 233.
, , ^^ ■ ^ - f Ber. der Berliner Academie. 1870. p. 629.
44. H. Krone eker, .^ n • a v, iq7q c i
\ Du Bois Arch. 1879. Suppl.
45. Tiegel, Pflügers Arch. 13. Bd. p. 71.
r Brown-Sequard, Journ. de la Physiol. 1858. p. 358.
46. l Krukenberg, Vergleich physiol. Vorträge, p. 358.
[ A. Mosso, „Die Ermüdung", übersetzt von Glinzer. 1892. p. 143.
47. Bierfreund, Pflügers Arch. 43. Bd.
48. Rollett, Denkschriften der mathem.-naturwiss. Klasse der kaiserl. Academie der
Wiss. in Wien. LIII. p. 243.
49. Israel, Du Bois Arch. 1877. p. 443.
50.
r Kühne, Keicherts Arch. 1859. p. 761.
\ Grützner (12.)
51. Schiffer, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1869. p. 579 und 593.
52. Biedermann, Pflügers Arch. 45. Bd. p. 377.
{Grünhagen, Pflügers Arcli. 9. Bd. p. 180.
A. Buchholz, Das Verhalten des Sphynkter iridis verschied. Thierarten u. s. w.
Inaug.-Dissert. Leipzig 1886.
54. Sex'toli, Arch. italiennes de Biologie. Tom. III. Fase. I.
55. Waller und Reid, Philosoph. Transact. Vol. 178 (1887) B.
56. J. Ranke, „Tetanus".
57. Ludwig und Schmidt, Ber. d. sächs. Ges. der Wiss. 1868.
fCyon, Compt. rend. I. p. 1049. (1867.)
58. i Klug, Du Bois Arch. 1879.
I Sallet, Du Bois Arch. 1882.
59. Martius, Du Bois Arch. 1882. p. 443.
60. Gad und Heymans, Du Bois Arch. 1890. Suppl.
61. Fr. Schenk, Pflügers Arch. 52. p. 117.
62. Biedermann, Sitzungsber. d. Wiener Academie. XCI. III. Abth. p. 29 fl". 1885.
63. Bernstein, Unters, aus d. physiol. Inst. d. Univers. Halle. II. Heft. 1890. p. 160.
' Grünhagen und Samkowy, Pflügers Arch. IX. 1874. p. 399 und XXXIH. p. 59.
Samkowy, Ueber den Einfluss verschied. Temp.-Grade auf die physiol. Eigen-
schaften der Nerven und Muskeln. Inaug.-Diss. Berlin 1875.
J. Biernath, Ueber die Irisbewegung einiger Kalt- und Warmblüter bei Er-
wärmung und Abkühlung. Inaug.-Diss. Leipzig.
F. Kühe, Ueber den Einfluss der Wärme und Kälte auf verschied, irritable Ge-
webe warm- und kaltblütiger Thiere. Inaug.-Diss. Bern 1884.
G. Pfalz, Ueber das Verhalten glatter Muskeln verschied. Thiere gegen Temp.-
Difterenzen und electr. Reizung. Inaug.-Diss. Leipzig 1882.
65. Horvath, Pflügers Arch. XIII.
66. F. S. Locke, Pflügers Arch. 54. Bd. 1893.
64
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 97
{Philosoph. Transact. 1884. p. 226.
Journ. of Physiol. (3). 1882. p. 380.
Journ. of Physiol. (4). 1883. p. 29.
Journ. of Physiol. (6). 1885. p. 361.
68. Carslaw, Du Bois Arch. 1887. p. 430.
69. Biedermann, Sitzungsbericht der Wiener Academie. LXXXII. III. Abth. 1880.
(lieber rhythmische, durch ehem. Reizung bedingte Contractionen quergestr.
Muskeln.)
70. Lueiani, Ber. d. sächs. Ges. 1873. p. 11.
71. V. Bezold, Unters, aus d. Würzburger Labor. 1867.
1 A. Fick, Unters, aus d. Würzburger Labor. 2. Lief. 1873.
\Piek und Böhm in Fick, Myotherm. Untersuchungen. V.
„„ , „ ^ -,«,(■ Journ. of Physiol. Vol. IV.
73. L. Brunton und Cash, { •'
I Centralbl. t. med. Wiss. 1883. No. 6.
TU. Eeizsummation und Tetanns.
Bisher war wesentlich nur von Einzelzuckungen die Rede, wie
man sie erhält, wenn ein Muskel durch kurzdauernde Reize erregt
wird. Es bleibt zu untersuchen, wie sich ein Muskel verhält, wenn
zwei oder mehrere Reize in immer kürzeren Intervallen aufeinander-
folgen. Sind die Pausen so lang, dass der Muskel jedesmal vor Beginn
einer neuen Zuckung vollkommen wieder erschlaffen kann, so entsteht
eine Zuckungs reihe, deren einzelne Glieder völlig von einander ge-
trennt sind und sich höchstens indirect (wie etwa bei der „Treppe"
oder durch Ermüdung) in Bezug auf Grösse und Verlauf beeinflussen.
Werden jedoch die Pausen kleiner, und folgen die Reize (einzelne
Inductionsschläge) rascher auf einander, so kommt man bald an eine
Grenze, wo noch vor völligem Ablauf der ersten und jeder folgenden
Zuckung der neue Reiz einwirkt und so den Muskel verhindert, jemals
seine volle Ruhelage wieder zu erreichen. Es bleibt dann eine gewisse
Verkürzung bestehen, deren Grösse von der Reizfrequenz wesentlich
mit abhängt, und um welche der Muskel gewissermaassen oscillirt. Je
rascher die Reize aufeinanderfolgen, desto stärker bleibt der Muskel
contrahirt, und desto kleiner erscheinen die einzelnen rhythmischen Oscil-
lationen, welche sich schliesslich auch bei graphischer Verzeichnung nur
noch durch eine leichte Kräuselung der „Tetanus-Curve", dem blossen
Auge durch ein zartes Flimmern der spiegelnden Oberfläche verrathen.
Schliesslich geht dann dieser „unvollkommene" in den „voll-
kommenen" Tetanus über, bei welchem sichtbare Gestaltverände-
rungen überhaupt nicht mehr nachweisbar sind. Der Muskel erreicht
nach Beginn der tetanisirenden Reize sehr rasch das Maximum
der Verkürzung, welches hier in der Regel wesentlich höher liegt
als bei jeder (maximalen) Einzelzuckung, bleibt dann während der
Fortdauer der intermittirenden Reizung gleichmässig contrahirt, um nach
Beendigung derselben meist rasch zur Ruhelage zurückzukehren. Un-
geachtet der scheinbaren Stetigkeit muss nun der Tetanus, wie sich
aus seiner Entstehung unmittelbar ergiebt, doch als ein aus der Sum-
mation von Einzelzuckungen hervorgegangener discontinuirlicher Vor-
gang angesehen werden, der nur in Folge der Trägheit des Muskels
nicht zu sichtbaren Massenbewegungen desselben führt, während, wie
wir sehen werden, die inneren molekularen Veränderungen in der
Biedermann, Elektrophysiologie. 7
98
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Fig. 47. Schema der Superposition zweier
Zuckungen nach Helmholtz.
Tliat den intermittirenden Charakter deutlich und unzweifelhaft ver-
rathen.
Die mannigfachen Besonderheiten der tetanischen Verkürzungsform
lassen sich nur verstehen, wenn die Gesetze derReizsummation
unter den einfachsten Bedingungen bekannt sind. Die ersten grund-
legenden Versuche verdanken wir wieder Helmholtz (1), Er leitete
dem Nerven eines Muskels rasch hinter einander zwei maximale Induc-
tionsschläge zu, indem er zwei derselben secundären Spirale ge-
näherte primäre Stromkreise rasch hinter einander öffnete. Fiel die
zweite Reizung in das Latenzstadium der ersten, so blieb sie gänzlich
erfolglos, und die Zuckungscurve zeigte keinen Unterschied gegenüber
der durch den ersten Reiz allein bewirkten. Fiel sie dagegen später,
so war der Verlauf der entsprechenden Curve ein derartiger, als ob
der zweite Reiz den Mus-
kel in der Ruhelage ge-
troffen hätte. „Von da an,
wo die zweite Reizung
wirksam wird, verläuft die
Zuckung nahezu so, als
wäre der in diesem Augen-
blicke stattfindende Contrac-
tionszustand des Muskels
sein natürlicher Zustand und
die zweite Zuckung allein
eingeleitet worden." (Fig.47.)
Wäre {a b c) die Zuckungscurve der ersten Reizung und (d e f)
die der zweiten, sofern jede für sich allein wirkte, so würde demnach
nach der Helmholtz'schen Regel die wirklich gezeichnete Curve der
Linie {a g h i Je) entsprechen. Man sieht leicht, dass die Höhe
der summirten Zuckung dann am grössten, d. h. verdoppelt sein müsste,
wenn das Intervall beider Reize gleich dem Stadium der steigenden
Energie einer einfachen Zuckung ist.
Diese Regel muss natürlich ihre Geltung verlieren, sobald meh-
rere gleichartige Reize in immer gleichen Intervallen aufeinanderfolgen,
da ja sehr bald ein nicht mehr überschreitbares Maass der Contraction
eintritt. Dagegen wäre es möglich, dass im unvollkommenen Tetanus
jeder einzelne Reiz ein gleichlanges Stadium steigender Energie be-
wirkte. Kries zeigte jedoch, dass dies selbst bei Summirung von nur
zwei Zuckungen keineswegs der Fall ist. Wie aus der schon erläu-
terten schematischen Zeichnung (Fig. 47) unmittelbar ersichtlich ist,
müsste der Gipfelpunkt der summirten mit dem der zweiten Einzel-
zuckung zusammenfallen, beziehungsweise senkrecht darüber liegen,
wenn die Helmholtz 'sehe Regel strenge Geltung hätte. Nach den Unter-
suchungen von V. Kries (2) ist dies aber keinesAvegs der Fall. Schon
1886 theilte v. Kries mit, dass bei summirten Zuckungen das Maximum
der Verkürzung nach dem Moment des zweiten Reizes merklich früher
erreicht wird, als bei einer einfachen Zuckung, dass mit anderen Worten
das Stadium der steigenden Energie bei der zweiten Zuckung kürzer
ist, als bei der ersten. Bezeichnet man mit v. Kries den Zeitraum,
um welchen der Gipfel der summirten Zuckung hinter den zweiten Reiz
fällt, als „Gipfelzeit", die Ordinatengrösse der summirten Zuckung als
„Gipfelhöhe", so zeigt sich, dem Gesagten entsprechend, dass in einer
Reihe „aufsteigend" (d. h. im Stadium der steigenden Energie) oder „ab-
Die Formänderung' des Muskels bei der Thätigkeit.
99
steigend" (im Stadium der sinkenden Energie) summirter Zuckungen,
welche durch je zwei maximale Inductionsströme ausgelöst werden, die
Gipfelzeit mit steigender Gipfelhöhe abnimmt (Fig. 48). Dies prägt sich
an den beistehenden Curvenreihen, bei welchen die Stelle des zweiten
Reizes unverändert bleibt, während die des ersten davon beliebig entfernt
werden kann, dadurch aus, dass der Gipfel der summirten Zuckung
um so weiter nach dem Moment des ersten Reizes hinrückt, je höher
er liegt. Vergleicht man eine aufsteigend und eine absteigend sum-
mirte Zuckung gleicher Höhe mit einander, so zeigt sich, dass die
Gipfelzeit der ersteren stets länger ist, als die der letzteren. In noch
viel höherem Grade macht sich die Verkürzung der Gipfelzeit beim
Fig. 48. rt) Reihe „aufsteigend" summirter Zuckungen; b) Reihe „absteigend" sum-
mirter Zuckungen. Die Stelle des zweiten Reizes bleibt beide Mal dieselbe und nur
die des ersten variirt. Verschiebung der Gipfelhöhe der summirten Zuckungen nach
links. (Nach v. Kries.)
unvollkommenen Tetanus geltend, wo das Stadium der steigenden
Energie oft auf den dritten oder vierten Theil der Zeit reducirt er-
scheint, welche es in der Einzelzuckung umfasst.
Aber auch die Höhenverhältnisse einer aus zwei einfachen
summirten Zuckung zeigen, dass die Auffassung der später folgenden
als einer einfachen Zuckung, welche lediglich auf eine andere Abscisse
gestellt ist, nicht ausreicht. So fanden schon K r o n e c k e r und H a 1 1 (3)
die Höhe „aufsteigend" summirter Maximalzuckungen Anfangs grösser,
als der Helmholtz' sehen Regel entspricht, dann aber um so kleiner, in
je vorgerückterem Stadium der ersten Zuckung die zweite sich super-
ponirte. Die grösste Kraft entfaltete der zweite Impuls, wenn er im
ersten Sechstel der primären Zuckungscurve eingreift. Dann verläuft
also die Zuckungscurve nicht so, als wäre der in diesem Augenblick
vorhandene Contractionszustand des Muskels seine Ruhelage und die
7*
100
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
zweite Zuckung allein angeregt worden, sondern es bleibt noch ferner
der Antrieb der ersten Zuckung wirksam. Im zweiten und dritten
Sechstel hilft die zweite Zuckung der ersten ziemlich genau dem
Helmholtz'schen Gesetze entsprechend, während in dem Falle, wenn die
zweite Zuckung vom Gipfel der ersten ansteigt, die Höhe der summirten
Contraction stets kleiner ausfällt, als der Regel entsprechen würde.
Es wurde schon oben ausführlich die Erscheinung besprochen, dass
bei wiederholter Reizung mit gleichstarken, maximal wirkenden In-
ductionsströmen die Zuckungs-
höhen in Form einer „Treppe"
anwachsen. Die Bedeutung dieser
Thatsache für die Folgeerschei-
nungen der Reizsummation hat
insbesondere C h. Riebet (4)
hervorgehoben. Er untersuchte
vorwiegend die quergestreiften
Muskeln des Krebses, bei wel-
chen die Erregbarkeitssteigerung
durch wiederholte gleichstarke
Reizung sehr deutlich ausgeprägt
ist. Selbst in dem Falle, wenn
die einzelnen Reize für sich allein
untermaximale Zuckungen aus-
lösen, ja auch dann, wenn sie
an sich gar keine merkliche Ge-
staltveränderung bewirken („sub-
liminal" sind), können sie bei
wiederholter Einwirkung wirksam
werden, indem jeder Einzel-
reiz die Anspruchsfähigkeit der
Muskelsubstanz für den nächst-
folgenden erhöht (Addition
latente).
In sehr schlagender Weise
demonstrirt die beistehende Fig. 49
diesen Einfluss wiederholter,
gleichstarker, an sich unwirk-
samer Reize auf den Muskel.
Die beiden ersten Reize haben
keinen merklichen Effect, die dritte Reizung bewirkt eine minimale
Zuckung; die vierte eine etwas grössere, während die drei noch
folgenden Reize sehr starke Contractionen auslösen, welche zu einem
unvollkommenen Tetanus verschmolzen sind. Es ist klar, dass eine
derartige Abhängigkeit der Erregbarkeit von einer vorhergehenden
Erregung die Höhe einer summirten Zuckung, wie auch die Grösse
der tetanischen Verkürzung wesentlich beeinflussen muss. So wird es
auch begreiflich, dass unter Umständen die Höhe einer summirten
Zuckung die jeder der beiden Componenten um ein Vielfaches über-
treff'en kann. (Fig. 50.)
Es wurde auch schon früher erwähnt, dass die Grösse des Inter-
valls zwischen je zwei Reizen eine gewisse Grenze nicht überschreiten
darf, wenn der begünstigende Einfluss des vorhergehenden Reizes auf
den Efl'ect des folgenden noch nachweisbar sein soll, und es erscheint
Fig. 49. „Addition latente"; Krebsmuskel;
zunehmende Wirkung von sieben aufeinander
folgenden, an sich unwirksamen Einzelreizen
(Inductionsschläge). (Nach Ch. Riebet.)
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
101
leicht begreiflich, dass unter Umständen bei rascher Aufeinanderfolge
schwacher Reize eine tetanische Verkürzung des Muskels zu Stande
kommen kann, obschon dieselben für sich allein keine sichtbare Ge-
staltve ränderung des Muskels bewirken. Bei welcher Intensität und
Frequenz der Reize eine derartige S ummation (Addition latente
Richet's) eintritt, hängt natürlich vor Allem von der Natur des Muskels
ab. Im Allgemeinen scheinen träger reagirende Muskeln mehr ge-
eignet zur Reizsummation, als flinke, was mit dem raschen Abklingen
aller Erregungserscheinungen bei den letzteren zusammenhängen
dürfte, da ja das Fortbestehen einer irgendwie gearteten Ver-
änderung der Muskelsubstanz in Folge eines Reizes die nothwendige
Vorbedingung der durch denselben bewirkten Erregbarkeitssteigerung
ist. In der That darf man den relativ trägen quergestreiften Herz-
muskel als einen solchen bezeichnen, welcher für Summations-
wirkungen in dem erwähnten Sinne sehr geeignet ist. Basch (5) hat
gezeigt, dass subliminale elektrische Einzelreize, die an und für sich
noch keine Contraction auszulösen vermögen, die Erregbarkeit des
Fig. 50. A Einfache Zuckung (Krebsmuskel); A^ Summirte Zuckung, entstanden durch
zwei einander sehr nahe gerückte Reize von derselben Grösse wie bei A. (Nach
Riebet.)
Herzmuskels (vom Frosche), wenn sie demselben in kleinen Inter-
vallen zugeführt werden, allmählich (durch addition latente) derart
steigern, dass sie nunmehr Contractionen auslösen; analoge Beobach-
tungen machte Engel mann (6) am Bulbus aortae des Froschherzens,
wo sich bei rhythmischer Reizung ebenfalls sehr deutliche Summations-
erscheinungen nachweisen lassen ; am auffälligsten treten diese letzteren
jedoch an glatten Muskeln hervor.
Hier lässt sich sehr oft zeigen , dass selbst unter den gün-
stigsten Bedingungen durch die stärksten einzelnen Inductions-
schläge ein sichtbarer Reizerfolg (Contraction) kaum erzielt werden
kann, während dieselben Objecte (Darm, Ureter, Muschelmuskel) bei
schwingendem NefF'schen Hammer durch die in rascher Folge wirkenden
Reize schon bei verhältnissmässig geringem Rollenabstande in Tetanus
gerathen. Auch bei Anwendung von Kettenströmen hat man oft Ge-
legenheit, zu beobachten, wie bei mehrmals in nicht zu grossen Pausen
wiederholter Schliessung eines an sich unwirksamen Stromes all-
mählich eine wirksame Erregung eintritt (Engelmann). Es scheint
übrigens das Vermögen der Reizsummation, wenn auch in einer grad-
weise verschiedenen Ausbildung, jedem irritablen Plasma zuzu-
102
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
kommen (Flimmerzellen, Nervenzellen, pflanzliches Plasma, wie z. B.
Dionaea etc.), so dass die geschilderten Erscheinungen am Muskel
nur einen speciellen Fall eines allgemeinen Gesetzes darstellen. Ob
man dabei den Vorgang als eine wirkliche „Summirung" an sich un-
wirksamer Reize zu einem wirksamen oder als eine durch dieselben
bedingte Erregbarkeitssteigerung auffassen will, scheint ziemlich
unwesentlich, wenn man die schon früher betonten Beziehungen
Fig. 51.
Fig. 52.
Fig. 53.
Fig. 51 — 53. Froschmuskel ; indirecte Reizung mit Induetionsströmen von zunehmender
Stärke bei gleichbleibender Frequenz (10—12 pro Sekunde). (Nach Grützner.)
zwischen einer durch Reize bedingten Erhöhung der Erregbarkeit
und dem Vorgang der Erregung selbst berücksichtigt.
In Bezug auf Form, Verlauf und Grösse der tetanischen
Z u s a m m e n z i e h u n g , sowie deren Abhängigkeit von ver-
schiedenen Variablen haben eingehende Untersuchungen an
quergestreiften Muskeln von Wirbelthieren und Wirbellosen Folgendes
ergeben : Sind die Reize schwach und ihre Zahl in der Sekunde
massig (10 — 12), so erhält man von einem Froschmuskel eine Curve
ähnlich der beistehenden (Fig. 51).
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 103
Es handelt sich, wie man sieht, um einen noch sehr unvollkom-
menen Tetanus, dessen einzelne Zacken tief einschneiden, so dass der
Muskel nur in geringem Grade dauernd verkürzt bleibt. Die Spitzen
der einzelnen Zacken liegen nahezu in einer Horizontalen. Werden
dann die reizenden Inductionsströme verstärkt oder wächst deren Fre-
quenz, so werden die Zacken immer kürzer und flacher und die Ein-
schnitte minder tief; der Muskel erreicht einen viel höheren Grad von
dauernder Verkürzung (Fig. 52). Schliesslich steigt die Curve gleich von
vorneherein steil an, und die Zähnelung ist sehr geringfügig, um dann
(im vollkommenen Tetanus) ganz zu verschwinden (Fig. 53 und Fig. 54).
Nach Kohn stamm (9) wird der Tetanus bei gleicher Frequenz
um so unvollkommener, je stärker der Reiz ist, da jede Verstärkung
des Reizes die Erschlaffung der Einzelzuckung beschleunigt.
Nach Bohr (7) soll die Tetanuscurve des unermüdeten
Muskels (Frosch, Kröte) eine „gleichseitige zu den Assym-
ptoten hingeführte Hyperbel" sein, was umso bemerkenswerther
schien, als auch das Grösserwerden einzelner Zuckungen in der
„Treppe", sowie bei Zunahme der Reizstärke nach ähnlichem Ge-
setze erfolgt; doch kann von einer Allgemeingültigkeit dieser Regel
wohl nicht die Rede sein, indem beispielsweise nach Rollett (8)
Fig. 54. Entstehung des Tetanus aus und Wiederauflösung desselben in Einzel-
zuckungen. Nur Anfang und Ende des Versuches sind abgebildet. In dem weg-
gelassenen mittleren Theil von 1,9' Dauer zeichnete der Muskel eine Horizontale.
(Nach Engel mann.)
die Tetanuscurve der Hydrophilusmuskeln sich derselben nicht fügt.
Eine Thatsache, die sich sofort bei Vergleichung eines durch eine
Folge maximal wirkender Inductionsschläge ausgelösten vollkommenen
Tetanus und einer Einzelzuckung aufdrängt, betrifft den Unter-
schied der Contractionsgrösse in beiden Fällen. Stets
verkürzt sich der frei zuckende, belastete Muskel
viel mehr im Tetanus, als bei einer einfachen Zuckung.
Kann es nun auch keinem Zweifel unterworfen sein, dass die grössere
Höhe des Tetanus aus der geschilderten Superposition der Einzel-
zuckungen erklärt wei'den muss, so bleibt doch der weitere Verlauf
des Vorganges zunächst noch sehr dunkel. Aus der Thatsache, dass
der Muskel im Tetanus eine gewisse maximale Verkürzung nicht über-
schreitet, lässt sich nur schliessen, dass bei fortgesetzter Ueberlagerung
die Helmholtz'sche Regel ihre Geltung mehr und mehr verliert,
indem jeder neue Reiz um so weniger wirksam wird, je stärker der
Muskel bereits durch die vorhergehenden verkürzt ist. Die Höhe der
Tetanuscurve wächst mit der Reizstärke und, wenn diese gleich bleibt,
mit der Frequenz der Reize. In gleichem Sinne ändert sich auch die
Steilheit des Anstiegs (Kohn stamm 9).
104
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Eine für die Beurtheilung der tetanischen Verkürzung wichtige
Thatsache haben v, Kries und v. Frey festgestellt (10), indem sie
zeigten, dass man bei künstlicher Unterstützung des
Muskels denselben unter Umständen auch durch einen
Einzelreiz zu demselben Grade der Verkürzung bringen
kann, wie im vollkommenen Tetanus. Unter dem Muskel-
hebel wird bei diesen Versuchen eine Stellschraube angebracht, die
gestattet, den Hebel auf eine beliebige Höhe einzustellen. Die Be-
lastung wirkt erst dann voll auf den Muskel, wenn er anfängt, den
Hebel von der Unterstützung abzuheben. Die Thatsache, dass der
unterstützte Muskel sich bei einer einfachen Zuckung ebenso stark
contrahirt, wie der nicht unterstützte im stärksten Tetanus, tritt be-
sonders deutlich hervor, wenn man Einzelzuckungen und Tetani in
einem Versuche wechseln lässt. Wählt man eine nicht zu geringe Be-
Fig. 55. a Gastrocnemius (Frosch): Einzelzuckungen, Tetanus und Gruppe unterstütz-
ter Zuckungen bei 10,5 gr Belastung; h Dasselbe bei 0,5 gr Belastung. (Nach v. Frey.)
lastung, so erhebt sich die tetanische Curve stets mehr oder weniger
hoch über den Gipfel der Einzelzuckungen des nicht unterstützten
Muskels. Lässt man nun auf den Tetanus eine Zuckungsreihe mit
Unterstützung folgen (Fig. 55 r?), so tritt der Parallelismus beider Vor-
gänge sehr deutlich hervor, und man kommt zu der Ueberzeugung,
dass bei der Summirung der Zuckungen im Tetanus eine Art von
Unterstützung des Muskels in sich selbst stattfinden müsse; es macht,
wie Grützner (11) sich ausdrückt, den Eindruck, „als wenn der
Muskel im vollkommenen Tetanus sich deshalb so bedeutend zu-
sammenzieht, weil er sich gewissermaassen selbst in sich unterstützt
und trägt".
Im Einzelnen können in Bezug auf die Veränderung der Höhen-
werthe in einer Reihe unterstützter Zuckungen mannigfache Ver-
schiedenheiten auftreten. Entweder fällt, wie in dem eben angeführten
Beispiel, der höchste Zuckungsgipfel mit der höchsten Stellung der
Unterstützungsschraube zusammen, oder es wird schon früher der
höchste Gipfel erreicht, so dass bei weiterer Zunahme der Unter-
stützung die Zuckungshöhen wieder sinken. Es kann endlich auch
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
105
der Fall eintreten, dass die Zuckungshöhen bei linear fortschreitender
Unterstützung Anfangs wachsen, dann abnehmen und endlich wieder
wachsen bis zur grössten Höhe, so dass die Function zwei Maxima
besitzt (v. Frey 10 und 12). (Fig. 56.)
Auch diese Verhältnisse finden ihren Ausdruck in gewissen Formen
tetanischer Curven mit 2 und 3 Gipfeln.
Alle vorstehend erwähnten Thatsachen beziehen sich übrigens
nur auf den entsprechend belasteten Muskel. Bei sehr geringer Be-
lastung hat dagegen die Unterstüzung kaum noch einen Einfluss auf
die Lage der Zuckungsgipfel, und dem entsprechend ist dann auch
der Unterschied zwischen Tetanushöhe und Zuckungs-
Fig. 56. Curarisirter Muskel. Zuckungs-
reihe mit wechselnder Unterstützung.
Spannung 6 gr. Reizintervall 1 Sek.
(Nach V. Frey.)
Fig. 57. Tetanus und Einzelzuckung
eines ermüdeten und curarisirten Muskels.
Spannung 10 gr. Reizfolge 0,1". (Nach
V. Frey.)
Fi-. 57.
höhe verschwunden (Fig. 55 &). Dies wird begreiflich, wenn
man bedenkt, dass bei der geringen Spannung die äusseren Be-
dingungen des Zuckungsablaufes durch die Unterstützung nicht
wesentlich verändert werden können. Tetani, welche niedriger
sind als die E i n z e 1 z u c k u n g , finden sich häufig bei ermüdeten
Muskeln (Fig. 57). Hat ein Muskel nach einer , längeren Zuckungs-
reihe kurze Zeit geruht, so sind dann bei Wiederaufnahme der Reizung
die ersten Zuckungen besonders hoch im Verhältniss zu den nach-
folgenden („Einleitende" Zuckungen Buckmaster's) , und dieses
Missverhältniss wird auch nicht ausgeglichen, wenn man den Muskel
unterstützt.
Eine ausreichende Erklärung aller dieser Verhältnisse und
insbesondere eine genaue Analyse der tetanischen Verkürzung be-
gegnet zur Zeit leider noch unüberwindlichen Schwierigkeiten, was
206 -D^ß Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
begreiflich erscheint, wenn man berücksichtigt, wie viele verschiedene
Factoren die Tetaniiscurve beeinflussen. Die Erscheinung der
.,Treppe", die Superposition im Helmholtz'schen Sinne, der Ein-
fluss der (inneren) „Unterstützung", sowie die Ermüdung und
Contractu r haben sämmtlich mehr oder weniger Antheil an dem
Verlauf des Tetanus (v. Frey).
Dazu kommt als ein wahrscheinlich sehr Avesentlicher Factor der
Umstand, dass ein Muskel in der Mehrzahl der Fälle keine physio-
logische Einheit darstellt, sondern in der Regel eine Mischung von
mindestens zwei functionell verschiedenen Elementen ist, die kaum
alle gleichzeitig und gleichmässig thätig sein dürften. Dies führt zur
Erörterung der Frage nach der Abhcängigkeit der tetanischen
Erregung von der Natur des Muskels. Hier ist, wie leicht
ersichtlich, vor Allem die innerhalb weiter Grenzen schwankende
Zuckungsdauer verschiedener Muskeln bezw. verschiedener Fasern
eines und desselben Muskels zu berücksichtigen. Ein stetiger Tetanus,
wobei sich die Zuckungen in der oben erörterten Weise superponiren,
wird, wie leicht ersichtlich, nur dann zu erwarten sein, wenn das
Reizintervall gleich oder kleiner ist, als die Dauer der Zuckung bis
zum Momente der maximalen Verkürzung. Hieraus ergiebt sich un-
mittelbar , dass zur Auslösung eines vollkommenen Te-
tanus die Einzelreize um so rascher aufeinanderfolgen
müssen, je kürzer die Zuckung sdauer ist. Nehmen wir
an, es handle sich um eine Zuckung von so raschem Verlauf,
wie etwa die der Flugmuskeln gewisser Insecten, die kaum
^/aoo Sekunde dauert, so würden mehr als 300 Reizungen pro
Sekunde erforderlich sein, um einen Tetanus zu bewirken. Dauert
andernfalls die Zuckung, wie bei den Muskeln der Schildkröte, etwa
1 Sekunde, so werden schon zwei Reize in der Sekunde einen voll-
kommenen Tetanus herbeiführen können. Am auffallendsten macht
sich das bei glatten Muskeln geltend, deren Trägheit es begreiflich
erscheinen lässt, dass man einen unvollkommenen Tetanus hervor-
zurufen vermag, selbst wenn die einzelnen Reize (etwa wiederholte
Schliessungen eines Kettenstromes von hinreichender Stärke) durch
Pausen von mehreren Sekunden von einander getrennt sind.
Folgende Zahlen geben eine allerdings nur annähernd richtige
Vorstellung von der zur tetanischen Verschmelzung der Zuckungen
nöthigen Reizfrequenz pro Sekunde:
Schildkröte 2 (Marey),
Frosch, Hyoglossus (träge) . 10 — 15,
Gastrocnem. (flink) . 30,
Krebs, Scheerenmuskel (träge) 20 (Riebet),
Schwanzmuskel (flink) 40 .,
Neugeborner Warmblüter 16 (Soltmann),
Kaninchen (rother Muskel) . 4 — 101 (Kronecker und
(weisser „ . 20—30) Stirling),
Vogel 100 (Riebet),
Insecten 800 — 400 (Marey, Landois).
Es ist selbstverständlich, dass die angeführten Zahlen wesentliche
Aenderungen erleiden werden, wenn der Zustand des betreffenden
Muskels sich ändert. Es wurde schon oben ausführlich besprochen,
M'ie verschieden die Zuckungsdauer ausfällt, je nachdem der Muskel
frisch oder ermüdet, blutdurchströmt oder blutleer, normal oder ver-
Die Formänderung des Muskels bei der Thätig:keit.
107
giftet (Veratrin) , erwärmt oder abgekühlt dem Versuch unterwofren
wird. Es werden daher bei unveränderter Reizfrequenz je nach dem
physiologischen Zustand des Muskels bald ein vollkommener, bald ein
unvollkommener Tetanus oder auch nur vereinzelte Zuckungen aus-
gelöst werden können. Ein Blick auf die obige Tabelle zeigt auch
sofort, wie bedeutend der Unterschied der zum Tetanisiren erforder-
lichen Reizfrequenz bei functionell verschiedenen quer-
gestreiften Muskeln eines und desselben Thieres ist. Da gerade
diese Verhältnisse von grosser Bedeutung sind, so muss hier noch etwas
näher darauf eingegangen Averden. Nachdem zuerst Ran vi er (13)
auf die merkwürdigen physiologischen Verschiedenheiten der rothen
und blassen Muskeln des
Kaninchens aufmerksam
gemacht und insbeson-
dere auch den seinen
Versuchen zufolge enor-
men Unterschied der zum
Tetanisiren erforder-
lichen Reizfrequenz her-
vorgehoben hatte, stellten
Kronecker und Stir-
ling (14) fest, dass der
rothe Kaninchenmuskel
dem trägen Zuckungs ver-
lauf entsprechend schon
durch vier Reize pro
Sekunde in unvollkom-
menen, durch zehn Reize
dagegen in ziemlich voll-
kommenen Tetanus ver-
setzt wird. Reizinter-
valle von ^'e Sekunde
gestatten dem weissen Muskel fast völlige Wiederausdehnung, während
der rothe, wenngleich zitternd, hoch contrahirt bleibt. Zum voll-
kommenen Tetanus bedarf der weisse Kaninchenmuskel 20 — 30 Reize,
Ganz analoge Curven erhält man bei entsprechender Reizung der
flinken Schwanz- und der trägen Scheerenmuskeln des Krebses
(Riebet 4) (Fig. 58).
Sehr charakteristische und in functioneller Beziehung wichtige
Unterschiede der tetanischen Verkürzung haben die Untersuchungen
R 0 1 1 e 1 1 ' s (8) an den anatomisch und physiologisch so wesentlich ver-
schiedenen Muskeln von Hydrophilus und Dyticus ergeben. Ab-
gesehen davon , dass auch hier wieder die flinken , rasch zuckenden
Muskeln von Dyticus eine höhere Reizfrequenz zum Tetanus er-
fordern, als die trägen Muskeln von Hydrophilus, wie sich aus den
beistehenden Figuren (59 a. h.) sofort ergiebt, zeigt sich ein sehr be-
merken swerth er Unterschied auch in Bezug auf den Verlauf eines
länger anhaltenden vollkommenen Tetanus. Die ersten Tetani, welche
von frisch präparirten D y t i c u s muskeln erhalten Averden, steigen viel
steiler an, sinken jedoch viel rascher wieder ab, als jene von
Hy drop hilusmuskeln, deren Ausdauer im Tetanus ausserordentlich
bedeutend ist, was sich auch darin zeigt, dass bei wiederholter Reizung
die Höhe der Tetani sich nur wenig ändert, während sie bei Dyticus
Fig. 58. Tetanuscurve der Schwanz- und Scheeren-
muskeln des Krebses bei gleichartiger Reizung. Die-
flinken Schwanzmuskeln gerathen in unvollkommenen^
zitternden, die trägen Scheerenmuskeln in vollkom-
menen Tetanus. (Nach Eichet.)
108
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
rasch abnimmt. „Der Hydrophilusmuskel erhält sich trotz an-
strengender Leistungen durch lange Zeit so leistungstähig, dass er,
wenn ihm auch nur kurze Ruhe zwischen längeren, in gewisser Zahl
aufeinanderfolgenden Perioden der Thätigkeit gewährt wird, doch nur
ganz allmählich erschöpft wird. Der D y t i c u s muskel dagegen wird
durch anstrengende Leistungen in verhältnissmässig kurzer Zeit er-
schöpft; wenn ihm aber zwischen den Perioden erschöpfender Thätig-
keit auch längere Ruhe
h/'^'^'"^ gewährt wird, so kann
-^ ^ — er sich während der
letzteren auch nach
wiederholter solcher An-
strengung immer wieder
bis zu einem gewissen
Grade erholen." Dissi-
milation und Assimila-
tion müssen also wohl
in beiden Muskelarten
einen ganz verschie-
denen Verlauf nehmen.
Ganz analoge Erfah-
rungen machte Riebet
(1. c. p. 114) in Bezug
auf den Verlauf der
tetanischen Verkürzung
bei länger fortgesetzter
Reizung an dem trägen
Scheerenmuskel und
dem flinken Schwanz-
muskel des Krebses,
Ein vollkommener Te-
tanus des letzteren ist
nie von langer Dauer,
der Muskel erschlaff't
sehr bald und zeigt dann
einige Zeit eine sehr
verminderte Erregbar-
keit ; dagegen steigt der
Tetanus des Scheeren-
muskels allmählich an
Fig. 59. a Tetani von Dyticus-, b solche von Hy-
drophilusmuskeln bei gleichartiger Reizung. (Nach
Eollett.)
und kann sehr lange andauern. Die Beziehung dieser Erscheinungen
zu der normalen Art der Thätigkeit beider Muskeln ist unverkennbar.
Der kräftig entwickelte Scheerenschliesser hat die Aufgabe, unter
grosser Kraftentfaltung lange Zeit hindurch in gleichmässiger Con-
traction zu verharren, während der Schwanz rasche Bewegungen (Stösse)
nach Art eines Ruders auszuführen hat, wobei es weniger auf eine
langdauernde Kraftleistung, als vielmehr auf Schnelligkeit der Be-
wegung ankommt.
Es liegt in diesen Erfahrungen eine weitere Bestätigung der Folge-
rungen, welche, wie bereits oben erwähnt wurde, aus der Verbreitung
und dem Vorkommen sarkoplasmaarmer und sarkoplasmareicher (heller
und trüber, bezw. blasser und rother) Muskeln in Bezug auf Kraft
und Ausdauer derselben sich ergeben. Eine noch viel grössere Be-
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 109
deutung gewinnen aber diese Thatsachen, wenn man berücksichtigt,
dass in der Mehrzahl der Fälle e i n Muskel beiderlei functionell ver-
schiedene Faserarten in wechselndem Mengenverhältniss enthält.- Wie
sich diese Mischung unter Umständen schon bei einer einfachen ein-
maligen Zuckung verräth und an der Curve deutlich ausprägt, so ist
es auch, nur in noch viel höherem Grade, im Tetanus der Fall.
Im Allgemeinen wird man erwarten dürfen, dass Muskeln, welche
ihrer Hauptmasse nach aus trägen (trüben, rothen) Fasern bestehen,
mehr die Eigenschaften dieser und umgekehrt bei Vorwiegen der
flinken Fasern auch mehr das Verhalten der letzteren zeigen werden.
Ein gutes Merkmal bietet nach Grützner (15) das Verhältniss
zwischen der Höhe der Einzelzuckung und jener des
Tetanus, Die letztere übertrifft ja beim belasteten Muskel stets er-
heblich die erstere ; doch ist der Unterschied unter sonst
gleichen Verhäl tnissen bei den trägen Fasern ausser-
ordentlich viel bedeutender als bei den flinken.
Vergleicht man beispielweise bei directer Reizung die Höhe des
Tetanus bei dem gemischten Gastrocnemius des Frosches und der
Kröte, so zeigt sich, dass der vorwiegend aus trägen Fasern be-
stehende Wadenmuskel der letzteren ungeachtet seiner geringeren
Grösse dasselbe Gewicht viel höher hebt als der eines Frosches.
Ersterer ballt sich von stärksten elektrischen Reizen getroffen fast zu
einer Kugel zusammen, während der Frosch wadenmuskel auch im
stärksten Tetanus von der Gestalt einer Kugel weit entfernt ist.
Während bei den flinken Muskeln des Frosches (Triceps, Gastro-
cnemius) die Höhe der Zuckung zu der des Tetanus wie 1 : 2 — 3 sich
verhält, beträgt das Verhältniss bei den gleichnamigen Muskeln der
Kröte etwa 1 : 5 und steigt bei den trägeren Muskeln noch erheblich
(Hyoglossus und Rectus vom Frosch 1 : 8—9). Bei Untersuchung des
isometrischen Muskelactes am Menschen (M. obductor indicis oder
interrosseus dorsalis primus) mittels eines besonders hierzu construirten
Spannungszeigers fand Fick(16) bei Vergleichung der Spannung, die
durch einen maximalen Einzelreiz entwickelt wird, mit der, welche bei
tetanischer Reizung zu Stande kommt, dass die letztere den lOfachen
Werth von jener erreichen kann, während beim Frosch sowohl beim
isotonischen" wie beim isometrischen Acte der Unterschied ein viel
geringerer ist. Es verhält sich also der menschliche Skeletmuskel
ganz entschieden so, wie es rothen, trägen Fasern entspricht.
Man wird mit Rücksicht auf die mitgetheilten Erfahrungen, wo-
nach die im Tetanus geleistete Arbeit der flinken (weissen, hellen)
Muskeln ebensowohl in Bezug auf die Grösse der gehobenen Gewichte,
wie insbesondere auch in Bezug auf die Höhe, bis zu welcher die Last
gehoben wird, äusserst unbedeutend ist im Vergleich mit denselben
Leistungen der trägen (trüben, rothen) Muskeln, die letzteren mit
Grützner geradezu als „Tetanusmuskeln" bezeichnen dürfen,
indem sie durch ihre physiologischen Eigenschaften dieser Verkürzungs-
form sozusagen angepasst sind und darin Ausserordentliches leisten.
Wenn flinke und träge Fasern in einem Muskel vereint sind, so kann
es in Folge der schon oben erwähnten Verschiedenheit der Erregbar-
keit geschehen, dass bei schwacher Reizung (direct oder vom Nerven
aus) ganz andere Antheile des Muskels zucken bezw. in Tetanus ge-
rathen, als bei starker Reizung. Grützner ist auch geneigt, die
Summationswirkungen im Tetanus zum grossen Theil auf die geschil-
^]^() Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
derten Unterschiede im physiologischen Verhalten der beiden Faser-
arten zurückzuführen. Die auffallende Uebereinstimmung einer Reihe
unterstützter Zuckungen mit einem Tetanus, auf welche oben aufmerk-
sam gemacht wurde, bezieht Grützner (11, p. 280) in der That auf
eine innere Unterstützung des Muskels durch seine trägen (rothen,
trüben) Faserantheile. „Diese halten ihn ruhig in einer bestimmten,
mittleren Länge fest, die natürlich um so kleiner wird, je mehr sich
rothe Fasern betheiligen. Trifft jetzt den so verkürzten Muskel ein
passender, namentlich nicht zu starker Reiz, so zucken wesentlich
seine leicht erregbaren (weissen) Antheile, Diese zweite aufgesetzte
Zuckung muss also schneller erfolgen, wie v. Kries thatsächlich ge-
funden hat (Verkürzung der Gipfelzeit). Je stärker aber der Reiz ist,
um so mehr gerathen wieder die träger arbeitenden Antheile in Thätig-
keit, um so eher verschwindet die Discontinuität (was, wie erwähnt,
Kohn stamm bestreitet), und um so höher erhebt sich auch die
Tetanuscurve. "
„So versteht sich auch einfach die leicht zu beobachtende That-
sache, dass man mit einem schon verkürzten, und zwar ruhig und
^leichmässig verkürzten. Muskel noch Zuckungen ausführen kann, wie
dies ja bei einer grossen Menge von Hantirungen nothwendig ist."
(Grützner.)
Nach dieser Anschauung, die, wie mir scheint, in der That einen
der wesentlichsten und wichtigsten Factoren, welche bei der tetanischen
Zusammenziehung in Betracht kommen, hervorkehrt, „bleibt ein Tetanus
so lange zitternd und unstät, als sich auf die Zusammenziehung der
rotheu Muskelantheile noch die Zuckungen der weissen aufsetzen
können. Haben sich aber die rothen bis auf ihren Höhepunkt ver-
kürzt, dann ist der Muskel im Ganzen so kurz, dass die zupfenden
Bewegungen der weissen Muskeln kaum noch oder gar nicht mehr
eine Discontinuität in der Bewegung, ein Zittern erzeugen."
An die trägen, sarkoplasmareichen quergestreiften Skeletmuskeln
reiht sich natui'gemäss sowohl hinsichtlich seiner histologischen wie
Auch physiologischen Eigenschaften der Herzmuskel an. Dem
trägen Zuckungsverlauf und der grossen Ausdauer entsprechend, sollte
man erwarten, denselben auch in hohem Grade geeignet zu finden
zu einem stetigen, vollkommenen Tetanus. Doch lehrt die Unter-
suchung gerade das Gegentheil, und es nimmt der Herzmuskel in
dieser Beziehung wie in mancher anderen eine gewisse Sonderstellung
ein. Summationsversuche lassen sich am Herzen um so leichter aus-
führen , als man die spontanen rhythmischen Contractionen , deren
physiologische Werthigkeit als Einzelzuckungen ausser allem Zweifel
steht, benutzen kann, um bei langsamer Schlagfolge (am Froschherzen)
die Wirkung eines neu hinzukommenden künstlichen Reizes (Induc-
tionsschlages) in verschiedenen Phasen der Contraction und Erschlaffung
zu untersuchen. Bei derartigen Versuchen fand nun Marey (17),
dass der Herzmuskel in verschiedenen Phasen seiner Thätigkeit für
Reizung mit einem einzelnen Inductionsschlag in wechselndem Grade
empfindlich und während einer gewissen Periode überhaupt nicht er-
regbar (refractär) ist. Für nicht zu starke Reize zeigen sich
«owohl derVentrikel, wie auch alle anderenAbschnitte
des Herzens unerregbar während der ganzen Dauer der
Systole des betreffenden Theiles, während im Stadium
der Diastole, sowie in der Pause jeder Reiz eine Extra-
Die Formänderung des Muskels bei der Thcätigkeit.
111
conti' action auslöst; bei stärkerer Reizung erscheint
diese „refraetäre Periode'" immer mehr abgekürzt, und
sehr starke Reize scheinen schliesslich in jeder Phase
der Herzthätigkeit erregend zu wirken (Marey, Tigerstedt,
Loven u. A.). Diese merkwürdige Eigenschaft der gesammten Herz-
musculatur erklärt nun auch zum Theil das eigenthümliche Verhalten
des Herzens bei Einwirkung rasch aufeinanderfolgender (tetanisiren-
der) Reize. Denn es ist klar, dass in Folge dieser Eigenthümlichkeit
jede stetige oder in rasch aufeinanderfolgenden Momenten wiederholte
Reizung keine continuirliche oder summirte Contraction (Tetanus),
sondern nur eine von ausgeprägten Pausen unterbrochene Reihe von
Contractionen hervorrufen kann. B o w d i t c h hat zuerst bei Reizver-
suchen am Froschherzen die Erfahrung gemacht, dass selbst dann,
wenn die einzelnen Inductionsschläge durch Intervalle von mehreren
Sekunden getrennt sind,
die Zahl der Contrac-
tionen oft geringer ist,
als die der Reize. Noch
viel auffälliger wird
dieses Missverhältniss
zwischen den Reizen und
Contractionen , wenn
die ersteren in rascher
Aufeinanderfolge ein-
wirken , wobei der
Herzmuskel oft eine
grosse Reihe von Rei-
zen unbeantwortet lässt
(B a s c h 5). Stets ent-
wickelt sich unter diesen
Umständen ein neuer,
von Intensität und Fre-
quenz der Reize ab-
hängiger Rhythmus des
Herzmuskels , indem,
wie dies Engel mann
(6) bei Tetanisiren mit
Wechselströmen auch
am Bulbus aortae des
Frosches fand, bei sehr geringer Reizstärke durch „latente Summirung"
nach einiger Zeit eine Systole und später vielleicht noch eine oder
mehrere ausgelöst werden. Das Latenzstadium der ersten und die
Intervalle der eventuell folgenden weiteren Contractionen sind um so
länger, je schwächer die Einzelreize sind. Mit wachsender Dichte der
erregenden Ströme nähert sich die Dauer des Latenzstadiums bald
einem Minimum, ebenso die Intervalle zwischen den einzelnen Systolen
(Fig. 60). Bei den stärksten Strömen sah Engelmann den Bulbus
nach der ersten Contraction nicht wieder völlig erschlaffen; er bleibt
auf einer gewissen Höhe tetanisch contrahirt. Doch handelt es sich
dabei nicht um eine wirkliche Superposition der Contractionen, son-
dern die erste Erhebung ist von gleicher Höhe, wie nach einem ein-
zigen wirksamen Reize.
Fig. 60. Bulbus aortae (Frosch); tetanisirende Reizung
mit Inductionsströmen. Reizfrequenz 80 pro Sekunde.
Die Stimmgabel zeichnet halbe Sekunden. Die Ziffern
unter den Figuren geben die Intensitäten der tetani-
sirenden Ströme an. Die Intensität bei übergeschobenen
Rollen = 1000 gesetzt. (Nach Engel mann.)
112
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Anfangs können in der tetanischen Curve noch kleine Wellen
sichtbar sein, deren Periode aber nicht die der Reize ist,
sondern eine eigene, längere, durch die specifische
Natur der Muskelsubstanz bestimmte. Insofern unterscheidet
sich also dieser Tetanus sehr wesentlich von dem gewöhnlicher quer-
gestreifter Muskeln. Aehnliche „Tetanuscurven" erhielt Ran vi er (18)
auch vom Ventrikel des Froschherzens. Es kann nicht bezweifelt
werden, dass das geschilderte Verhalten der Herz- und Bulbusmuskeln
bei tetanisirender Reizung mit der so hoch entwickelten Fähigkeit der-
selben zu rhythmischer Thätigkeit im engsten Zusammenhang
steht; so ist bekannt, dass auch völlig constante Reize, wie z. B.
chemische und mechanische, während der ganzen Dauer ihrer Ein-
Fig. 61. a Khythmische Contraetionen
des Beines von Dyticus marginalis
auf tetanische Reizung. Eeizfrequenz
880 pro Sek. h Rhythmisch unter-
brochene Tetani vom Bein von Hydro-
philus piceus. (Nach Schoenlein.)
Wirkung rhythmische Contraetionen des Herzmuskels und unter ge-
wissen Umständen auch quergestreifter Skeletmuskeln auslösen; doch
ist diese Eigenschaft bei den letzteren stets viel weniger entwickelt,
als bei den ersteren.
Man darf annehmen, dass eine Folge von Einzelreizen in ihrem
physiologischen Effect der Wirkung eines stetig andauernden Reizes
um so mehr sich nähern wird, je rascher die Reize auf einander
folgen, und es würde mit Rücksicht hierauf kaum überraschen können,
wenn unter gewissen Umständen, wie beim Herzmuskel, so auch beim
quergestreiften Skeletmuskel die Wirkung einer Reiz folge mit der
eines Dauer reiz es übereinstimmte. In der That scheint dies der
Fall zu sein, und es sind insbesondere zwei Erscheinungen, welche in
dieser Beziehung ein allgemeineres Interesse beanspruchen, nämlich
einerseits der rhythmisch unterbrochene Tetanus und
andererseits die sogenannte Anfangszuckung. Riebet (4 p. 126)
hat zuerst rhythmische Veränderungen in der Curve
tetanisch gereizter Krebsscheerenmuskeln beschrieben,
zu deren Entstehung, wie es schien, schwache und sehr frequente
Reize erforderlich sind. Bald darauf theilte Schoenlein (19) (Fig. 61 a h)
analoge Beobachtungen an Käfermuskeln mit (D y t i c u s und Hydro-
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 113
philus). Er fand, wenn er die im abgetrennten Femur liegenden
Muskeln mit Inductionsströmen von hoher Frequenz und sehr geringer
Stärke reizte, entweder rhythmische Contractionen (bei Dyticus) oder
rhythmisch unterbrochene Tetani von längerer Dauer (H y d r o p h i 1 u s
und Krebs) oder endlich Contractionen, welche in wechselndem Maasse
durch Ruhepausen getrennt sind. Die Reizfrequenz betrug bei diesen
Versuchen gewöhnlich 880 pro Sekunde, doch sind die Erscheinungen
auch noch bei viel höheren Frequenzen zu beobachten. Die untere
Grenze reichte für die Käfer bis 100 und 80, für den Krebs bis
30 pro Sekunde. In Bezug auf die Stromstärke war die Rhythmik
von eben wirksamen Rollenentfernungen an auf 1 — 2 mm, also
auf ein sehr kleines Intervall des Schlittens, eingeschränkt. Bei
weiterer Annäherung geht die Rhythmik immer in glatten, ununter-
brochenen Tetanus über. Man sieht, dass sich auch hier der schon
früher hervorgehobene Unterschied zwischen den Muskeln von Hydro-
philus und Dyticus geltend macht, indem, wie bemerkt, die ersteren,
sowie die trägen Scheerenmuskeln des Krebses längere, rhythmisch
unterbrochene Tetani geben, während so frequente rhythmische Con-
tractionen, wie sie unter diesen Umständen bei Dy ticusmuskeln die
Regel sind, dort niemals vorkommen. Ich stehe nicht an, in den er-
wähnten Beobachtungen Schoenlein's und R i c h e t ' s ein Analogon
der Thatsache zu erblicken, dass auch der Herzmuskel unter ähnlichen
Verhältnissen rhythmische Contractionen ausführt, denen allerdings stets
der Werth von Einzelzuckungen zukommen dürfte, während dies bei
den Käfermuskeln nicht oder doch nicht immer der Fall ist. Bei den
flinken Muskeln von Dyticus, wo die Frequenz der rhythmischen
Contractionen durchschnittlich in Grenzen von 2—6 pro Sekunde
schwankt, ausnahmsweise aber auch auf 30 steigt, wird man vielleicht
den einzelnen Contractionen den Werth von Einzelzuckungen beimessen
dürfen, während die trägen Hydrophilus- und Krebsmuskeln
durchwegs kurze Tetani zeichnen. Es wird später gezeigt werden,
dass der Herzmuskel stets, quergestreifte Stammesmuskeln wenigstens
unter gewissen Umständen durch den constanten Kettenstrom zu ganz
analoger rhythmischer Thätigkeit angeregt werden. Im Allgemeinen
bewirkt jedoch ein constanter Strom nur bei seiner Schliessung und
eventuell auch bei der OefFnung eine einmalige Contraction (Schliessungs-
und Oeffnungszuckung) quergestreifter Muskeln, und zwar ebensowohl
bei directer wie bei indirecter Reizung vom Nerven aus. Ganz die-
selbe Wirkung hat nun unter Umständen auch der unter-
brochene Strom.
Bernstein (20) hat zuerst beobachtet, dass bei einer gewissen
Frequenz (etwa 900 pro Sekunde) und nicht zu grosser Intensität der
dem N. ischiad. des Frosches zugeführten Inductionsströme statt eines
Tetanus eine einmalige, rasch verlaufende „Zuckung" des M. gastro-
cnemius, eine sogenannte „ A n f a n g s z u c k u n g", auftritt ; dieselbe ist
am deutlichsten bei den schnellsten Unterbrechungen des primären
Kreises, wird dann mit abnehmender Reizfrequenz schwächer und
verschwindet unterhalb einer gewissen Grenze (200 — 300 Reize pro
Sekunde) gänzlich. Die Erscheinung tritt ebenso wie bei indirecter
auch bei directer Reizung curarisirter Muskeln auf. Nach G r ü n -
hagen(21) und Engel mann (22) erfolgt unter Umständen auch am
Schluss der tetanisirenden Reizung eine „Endzuckung", welche
demnach der Oeffnungszuckung bei Reizung mit dem Kettenstrom
Biedermann, Elektrophysiologie. 8
W/^ Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
entsprechen würde. Die Untersuchung der Wirkungen sehr hoher
Reizfrequenzen auf Muskeln (und Nerven) hat vielfach zu wider-
sprechenden Resultaten geführt, weil die Herstellung elektrischer Reize
von sehr hoher Zahl in der Zeiteinheit grossen technischen Schwierig-
keiten begegnet, sobald völlige Gleichmässigkeit der Stärke und Auf-
einanderfolge der Reize gefordert wird. Weder die Anwendung von
Schleifcontacten , noch auch die Schliessung in Quecksilber bietet
in dieser Beziehung hinreichende Garantie. Auch Kroneck er 's
„akustischer Stromunterbrecher" (14), bei welchem die durch
Anreiben bewirkten Longitudinalschwingungen eines magnetisirten
Eisenstabes Inductionsströme in einer übergeschobenen Drahtspule er-
zeugen, versagt nach Roth (23) bei sehr hohen Reizfrequenzen (über
4000 Schwingungen). Mit gutem Erfolge bediente sich neuerdings
Roth (I.e.) des Mikrophons, um in zuverlässiger Weise elektrische
Reize von hoher, regelmässig und genau controllirbarer Frequenz zu
erzielen. Pfeifen von verschiedener Tonhöhe wurden durch einen
Gasmotor angeblasen, während sich im primären Stromkreis ein
Trockenelement von der Kraft eines Leclancher befand. Bei indirecter
Reizung eines Froschgastrocnemius vom Nerven aus sah Roth den
Tetanus schwinden, wenn bei der gegebenen Stromstärke des Blake-
Mikrophons 5000 Reize pro Sekunde durch eine Pfeife von 2500
Schwingungen ausgelöst wurden. Die Grenze für directe Erregung
des Muskels liegt unter sonst gleichen Umständen um etwa 300 Reize
tiefer, v. Kries (24) bediente sich, um Stromoscillationen hoher
Frequenz zu erhalten, inducirter Ströme, welche entstehen, wenn
zwischen der freien Fläche des Eisenkerns einer Drahtrolle und dem
gerade gegenüber liegenden Pol eines kräftigen Elektromagneten eine
Scheibe rotirt, deren Peripherie abwechselnd aus Eisen und einer nicht
magnetischen Substanz (Messing) besteht. Da jeder Eisenzahn der
Scheibe im Vorübergang sofort magnetisch wird, so ändert sich dadurch
zugleich der Magnetismus des Eisenkerns der Rolle, wodurch ein
Strom inducirt wird. Die Frequenz der Stromoscillationen ist gleich
der Zahl der Eisenstücke, welche in der Zeiteinheit zwischen Eisen-
kern und Magnetpol durchlaufen. (Einen ähnlichen Apparat hat später
auch G r ü t z n e r construirt.)
Sowohl Roth wie v. Kries zeigten, dass eine obere Grenze der
Reizfrequenz, bei welcher noch Tetanus erzeugt wird, nur als eine
relative existirt. „Für jede Stromintensität, die als Schwankungsbreite
eines oscillatorischen Vorganges gegeben ist, würde sich eine Frequenz
angeben lassen, welche nur überschritten zu werden braucht, um den
Reizeffect verschwinden zu lassen" (v. Kries). Man muss daher, um
Tetanus zu erhalten, mit der Intensität steigen, wenn man mit der
Frequenz steigt, andernfalls tritt die Erscheinung der Anfangszuckung
hervor, welche Roth als einen sehr kurz dauernden Tetanus auffasst,
während sie S choenlein(25) als eine durch Summirung an sich un-
Avirksamer Reize entstandene einfache Zuckung bezeichnet. Auch
V. Kries (1. c.) findet den zeitlichen Verlauf der Anfangszuckung
durchaus mit dem einfacher Inductionszucküngen übereinstimmend.
Lässt man in einem gegebenen Fall die Frequenz constant und
schwächt allein die Stromesintensität, so gewahrt man nahezu dieselben
Erscheinungen wie vorher (Kraft 26). Eine der „Anfangs"- und „End-
zuckung" bei sehr frequenter rhythmischer Reizung analoge Erschei-
nung beobachtete Engelmann (6) auch am glattmuskeligen Urbter
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 115
des Kaninchens, indem hier „die Beendigung einer Folge periodisch
wiederkehrender kurzer Reize wie Oeflfnung eines constanten Stromes
wirkt, ebenso wie die Schliessung schnell auf einander folgender
Stromstösse wie Schliessung eines constanten Stromes wirkte". Aehn-
liche Beobachtungen habe ich selbst am Schliessmuskel von Ano-
d 0 n t a gemacht (27). Auch am Herzmuskel lässt sich ein der
Anfangszuckung entsprechendes Phänomen beobachten. „Lässt man
eine Reihe von Reizen (Inductionsschlägen) , die in Pausen von zwei
oder mehr Sekunden jedes Mal Zuckung geben würden, also unfehlbar
wären, in Intervallen von weniger als einer Secunde auf die abge-
schnittene Herzkammer einwirken, so folgt nur dem ersten Reiz eine
Systole, den späteren höchstens eine schwache örtliche Wirkung"
(Engelmann 22).
Kehren wir nun nochmals zur Betrachtung des stetigen , voll-
kommenen Tetanus zurück, so fragt es sich zunächst, ob der Erregungs-
zustand des Muskels dabei wirklich ein stetiger ist, wie es nach Be-
trachtung der Curve den Anschein hat, oder ob nichtsdestoweniger
discontinuirliche Zustandsänderungen nachweisbar sind, die sich bei
der gewöhnlich geübten Art, dieselben dai'zustellen , nur nicht durch
entsprechende Gestaltveränderungen äussern. Man ka'nn sich vor-
stellen, dass die contractilen Elemente des Muskels durch die mit
einer gewissen Geschwindigkeit einander folgenden Reize in eine neue
Gleichgewichtslage versetzt und in derselben erhalten werden, solange
die Reizung dauert, oder man kann annehmen, dass nicht nur die
Reizung, sondern auch die Muskelzusammenziehung selbst ein dis-
continuirlicher Vorgang ist, indem jedem Reizstosse eine schwingende
Bewegung kleinster Theilchen der Muskelfaser entspricht. In der That
lassen sich zwingende Gründe dafür beibringen, dass der Tetanus auf
elektrischem Wege discontinuirlich ist trotz scheinbarer Stetigkeit.
Berührt man einen in heftigem Tetanus befindlichen Muskel oder
besser eine ganze Extremität, so fühlt man leicht ein Vibriren, welches
durch feine graphische Hülfsmittel sowohl objectiv dargestellt werden
kann, wie es auch subjectiv durch das sogenannte Muskelgeräusch
oder den Muskelton vernehmbar und an dem Flimmern auf der
glänzenden Oberfläche eines tetanisch contrahirten Muskels, welches
Brücke (28) sogar am passend beleuchteten Arm eines Mannes durch
die Hautdecken wahrgenommen hat, erkennbar ist. Helmhol tz hat
eine objective Darstellung der Schwingungen des tetanisirten Muskels
dadurch erzielt, dass er Uhrfedern oder Papierblättchen an einem
elastischen Brettchen befestigte und dieses dem Muskel anlegte (29).
Die federnden Blättchen mussten in Mitschwingung gerathen, wenn
ihre eigene Schwingungsperiode mit der des tetanischen Muskels
übereinstimmte. Auch ein an die Sehne eines solchen befestigter,
straff gespannter Faden kommt, wie Engelmann zeigte (22), in
longitudinale Schwingungen, die einem leichten, beweglichen Schreib-
hebel merkliche Stösse ertheilen können. Da rasche Schwingungen
(z. B. von Stimmgabeln) durch Luftkapseln vollkommen treu über-
tragen werden, so können auch, ohne dass erhebliche Längenänderungen
des Muskels vorhanden sind, die sclmellen Erzitterungen desselben im
Tetanus durch derartige Vorrichtungen (wie z. B. die Pince myo-
graphique von Mar ey) den Schreibhebel mit verhältnissmässig grossen
Amplituden schwingen lassen (Krön eck er und Hall, 3, und v. Lim-
beck 30).
WQ Die Formäuderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Die besprochenen Thatsachen gewinnen ein noch erhöhtes
Interesse mit Rücksicht auf die vielumstrittene Frage, ob die
natürliche, willkürlich oder reflectorisch ausgelöste,
dauernde Contraction quergestreifter Muskeln eben-
falls durch rhythmisch sich wiederholende Reizimpulse
bedingt wird, wie der künstliche Tetanus.
Schon Wollaston (1810) und Ermann (1812) haben den Ver-
such gemacht, das Muskelgeräusch für die Beantwortung der an-
geregten Frage nach der discontinuirlichen Natur der willkürlichen
Muskelzusammenziehung zu verwerthen (Martins 31). Später hat
Helmholtz dieselbe Erscheinung genauer untersucht. Er ging, wie
Ermann, von der Beobachtung aus, dass, wenn man des Nachts bei
verstopften Ohren die Kaumuskeln stark contrahirt, „ein dumpfes,
brausendes Geräusch entsteht, dessen Grundton durch vermehrte
Spannung nicht Avesentlich verändert wird, während das damit ver-
mischte Brausen stärker und höher wird". Helmholtz fand dann,
als er seinen eigenen Masseter direct und die Armmuskeln eines
jungen Mannes vom N. medianus aus künstlich mittels eines in
einem anderen Zimmer stehenden Inductionsapparates tetanisirte, dass
statt des normalen Muskelgeräusches der Ton der strom-
unterbrechenden Feder aus dem Muskel heraustönte.
Dies beweist unmittelbar, dass im Innern des Muskels Schwingungen
vor sich gehen müssen, so scheinbar stetig auch die Form desselben
verändert ist, und dass jedem einzelnen Reize in der That eine
Schwingung entspricht ; denn wenn man die Zahl der Reize verändert,
so ändert sich auch die Höhe des Muskeltones, die innerhalb gewisser
Grenzen immer genau der Reizfrequenz entspricht. Wenn man dennoch
an dem tetanisirten Muskel keine Gestaltveränderungen bemerkt, so
kann dies nur daher rühren, dass Schwingungen der kleinsten Theil-
chen stattfinden, während die äussere Form sich nicht merklich ändert,
etwa wie ein in Longitudinalschwingungen befindlicher Stab tönt, ohne
dass äusserlich eine Formänderung sichtbar ist. Uebrigens würde, wie
Hermann hervorhebt, das Muskelgeräusch auch erklärbar sein, wenn
der periodische Vorgang im tetanisirten Muskel durchaus kein grob
mechanischer wäre, indem die später zu besprechenden rhythmischen
Actionsströme an sich hierzu genügend erscheinen.
Die Versuche von Helmholtz lassen bereits auf einen hohen
Grad von Beweglichkeit der kleinsten Theilchen quergestreifter Muskeln
schliessen, denn er beobachtete bei elektrischem Tetanisiren durch
240 Einzelreize pro Sekunde noch immer einen deutlichen Muskelton
von entsprechender Höhe. In der Folge suchte dann B ernste in (33)
festzustellen, wie weit man überhaupt gehen dürfe, um noch einen
deutlichen Muskelton zu hören , bis zu welcher Grenze also die
Muskelelemente beim elektrischen Tetanus der Schnelligkeit der ein-
wirkenden Reize folgen. Mit Hülfe des akustischen Stromunter-
brechers (bei welchem eine verschieden gespannte schwingende
Feder den Kreis der primären Spirale öffnet und schliesst) reizte
er den Wadenmuskel des Kaninchens theils direct, theils vom
Nerven aus und überzeugte sich, dass der Muskelton eine bedeutende
Höhe erreichen kann, indem ein Ton von 748 Schwingungen noch laut,
ein solcher von 933 Schwingungen wenigstens leise gehört wurde.
Bei einer Frequenz von 1056 Reizen pro Sekunde war jedoch nur
noch ein um eine Quinte oder Octave tieferer Ton vernehmbar. Viel
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. ]17
tiefer würde nach Loven (34) die Grenze der Reactionsfähigkeit der
Kaninchenmuskeln liegen. Mit Berücksichtigung aller Cautelen hörte
er am M. tibialis anticus bei Reizung vom Nerven aus mit sehr
schwachen Inductionsströmen von einer Frequenz von 330—380 pro
Sekunde einen Ton, welcher fast immer schon deutlich eine Octave
tiefer war, als der Ton des Interruptors ; derselbe verschwand bei
weiterer Steigerung der Stromstärke, um schliesslich bei einer ge-
wissen Intensität wieder hervorzutreten, und zwar unison mit dem
erregenden Ton. In einzelnen Fällen traten bei mittelstarker Reizung
beide Octaven bald gleichzeitig, bald mit einander abwechselnd hervor.
Niemals Hess sich dagegen ein wahrer Muskelton bei einer höheren
Reizfrequenz als 880 pro Sekunde entsprechend dem a" vernehmen,
wobei die Muskeln das a', d. h. die tiefere Octave, angaben. Bei
höheren Reizfrequenzen ist nur ein dumpfes Muskel g e r ä u s c h , aber
kein entsprechender Ton hörbar. Versuche, bei welchen der N.
ischiadicus mittels des Telephons tetanisch gereizt wurde , lieferten
analoge Resultate. Bei fortschreitender Veränderung der Tonhöhe
durch Hineinsingen der Skala von g (198 Schwingungen) zu g'
(396 Schwingungen) hörte Loven von dem Muskel ganz deutlich die
ganze Skala bis zum c' (264 Schwingungen); das d' war sehr undeut-
lich, e', fis' und g' dagegen riefen wieder sehr deutliche Muskeltöne
hervor, aber diese gehörten der tieferen Octave an. Krön eck er
und Stirling (14) hatten angegeben, dass bei Reizung des weissen
Wadenmuskels vom Kaninchen mit Hülfe einer in das Schlitten-
inductorium eingeschalteten König'schen Stimmgabel (180 Schwingungen)
oder mittels des schnell vibrirenden Wagner'schen Hammers der der
Schwingungszahl des Unterbrechers entsprechende Ton mit allen Eigen-
thümlichkeiten seiner Klangfarbe gehört werde, „wie wenn die Zu-
leitungsdrähte Schallleiter wären". Auch diese Angabe vermochte
Loven nicht zu bestätigen. Stets, auch bei Reizung mit dem an-
gesungenen Telephon, „war der Muskelton auffallend dumpf und
klanglos", und es wurde nur der Grundton oder dessen tiefere Octave
wiedergegeben, nicht aber die Obertöne, Auch nach den Beobachtungen
von Wedenski (35), die sich allerdings auf die Wahrnehmbarkeit der
Actionsströme des tetanisirten Muskels mittels des Telephons beziehen,
deren Einzelheiten später mitgetheilt werden sollen, scheint die Fähig-
keit des quergestreiften Muskels, sehr frequente Reize durch ent-
sprechende, rhythmisch wechselnde Zustandsänderungen anzuzeigen,
eine begrenzte zu sein. Bevor jene obere Grenze der Frequenz
rhythmischer Reize erreicht ist, bei welcher der Muskel nur mehr
mit einem dumpfen, nicht musikalischen Geräusch antwortet, erleidet
auch die Anfangs geltende Regel eine Ausnahme, dass die Tonhöhe
der Reizfrequenz entspricht, indem ein um eine Octave, Quinte oder
sogar zwei Octaven tieferer Ton auftritt. Nach Wedenski besteht
ein vollständiger Parallelismus zwischen den elektrischen Schwankungen
und den mechanischen (tönenden) Vibrationen des Muskels, in dem
Sinne, dass die Höhe des gehörten Tones in beiden Fällen dieselbe
ist. Jede sehr frequente Reizung beantwortet der Muskel mit einem
eigenthümlichen Geräusch, aber nicht mit einem Ton von entsprechen-
der Höhe. Für Warmblütermuskeln liegt diese Grenze etwa bei
1000 Reizen pro Sekunde; für Froschmuskeln aber viel tiefer; diese
hören nach Wedenski schon bei etwa 200 Reizen pro Sekunde
auf, einen der Reizfrequenz entsprechenden Ton zu geben; Loven
WQ Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
konnte vom Wadenmuskel des Frosches einen mechanischen (durch
Vibrationen bedingten) Ton überhaupt nicht hören, selbst wenn die
empfindlichsten Hülfsmittel angewendet wurden. Es scheint hieraus
hervorzugehen , dass die Fähigkeit der Muskeln . bei rhythmischer
Heizung einen musikalischen Ton hervorzubringen, um so höher ent-
wickelt ist, je beweglicher der Muskel ist, d. h. je rascher er zuckt
(Vogelmuskeln werden voraussichtlich bis zu sehr hohen Frequenzen
folgen können; weisse Säugermuskeln scheinen nach Kronecker und
Stirling [1. c] den rothen in dieser Beziehung weit überlegen zu
sein-, Schildkrötenmuskeln tönen wohl kaum oder nur bei relativ
niederer Reizfrequenz). So zeigt sich auch, dass die Fähigkeit eines
Muskels, zu tönen, erhebliche Veränderungen erleidet, wenn durch
irgendwelche Einflüsse die Beweglichkeit der kleinsten Theilchen ver-
mindert wird. Dies gilt vor Allem von der Emnüdung, auf deren
Einfluss es zurückzuführen ist, dass ein Muskel, der im Beginn der
Reizung einen Ton von entsprechender Höhe liefert, später einen
tieferen und schliesslich nur noch ein unbestimmtes Geräusch giebt
(Wedenski 1. c). Der Charakter des Muskeltones hängt endlich
auch von der Intensität der Einzelreize ab; ist dieselbe sehr gering,
so tritt trotz ausreichender Frequenz an Stelle des musikalischen
Tones bei maximaler Reizstärke ein unbestimmtes Geräusch.
Der Umstand, dass bei directer Reizung vom Nerven aus der
Muskelton nicht immer der Reizfrequenz entspricht, macht nun offen-
bar auch den Schluss auf den Rhythmus der centralen Innervation
aus dem natürlichen Muskelgeräusch unsicher. Es wurde schon
oben erwähnt, dass Muskeln, welche man willkürlich in kräftige und
anhaltende Contraction versetzt, ein dumpfes, brausendes Geräusch
hören lassen. Es ist schwer, die Höhe des Grundtones desselben zu
bestimmen, weil er an der Grenze der wahrnehmbaren Töne liegt.
Helmholtz schätzte ihn für seine Kaumuskeln zu 36 — 40 Schwingungen
pro Sekunde. Vorher hatte bereits W o 1 1 a s t o n versucht, die Frequenz
der Schwingungen seiner willkürlich contrahirten Armmuskeln zu be-
stimmen, indem er den Arm auf ein gekerbtes Brett stützte, über
welches ein abgerundetes Holz mit solcher Geschwindigkeit hinweg-
geführt wurde, dass das Geräusch gleiche Höhe mit dem Muskel-
geräusch hatte. So fand er, dass die Frequenz des letzteren zwischen
20 — 30 Schwingungen lag. Mit Hülfe der mitschwingenden federnden
Blättchen fand Helmhol tz später, dass bei willkürlicher Innervation
ein starkes, leicht sichtbares Mitschwingen eintrat, wenn die Feder
auf etwa 18 — 20 Schwingungen eingestellt war.
Aus diesen Versuchen scheint somit hervorzugehen , dass die
Schwingungszahl der natürlichen Muskelvibration des Menschen
nicht 30—40, sondern nur 18—20 beträgt. Was man daher als
Muskelton hört, würde nur der erste Oberton der wahren Muskel-
vibration sein, deren Grundton nicht mehr im Bereiche der hörbaren
Töne liegt; er entspricht nach Helmholtz dem C der sechzehn-
füssigen offenen Orgelpfeifen und ist wie dieser Ton ein Resonanzton
des Ohres. Man kann daher das bei willkürlicher Anspannung der
Muskeln unmittelbar hörbare Geräusch nicht benutzen, um aus seiner
Höhe directe Schlüsse auf die Frequenz der centralen Erregungs-
irapulse zu ziehen. Dass aber trotzdem die Periode der natürlichen
Erregung vom Centralorgan aus etwa um 18 — 20 pro Sekunde liegt,
schien durch die objectiven Resonanzversuche an mitschwingenden
Die Formänderung des Muskels bei der Tliätigkeit. HQ
Federn, sowie durch eine Beobachtung von Du Bois-Reymond
sichergestellt zu sein, derzufolge ein ganz cähnliches Geräusch wie bei
willkürlicher Innervation auch bei künstlichem Tetanisiren gehört
wird, wenn die Ströme nicht dem Nerven oder Muskel direct, sondern
dem Rückenmark zugeführt werden. Man hört unter diesen Um-
ständen nach Du Bois-Reymond nicht den Ton der Stromoscilla-
tionen, sondern einen tieferen, welcher seinem ganzen Charakter nach
dem Muskelgeräusch entspricht. Bei objectiver Registrirung der
Dickenschwankungen des blossgelegten Musculus biceps femoris des
Kaninchens mittels Marey 'scher Luftkapseln kamen Krone cker und
Stanley Hall (3) zu ganz entsprechenden Resultaten. In Ueberein-
stimmung mit den Angaben von Helmhol tz und Du Bois-Rey-
mond zeigte die vom Muskel gewonnene Curve nur 20 seichte Wellen,
wenn die Zahl der dem Rückenmark zugeführten Reize etwa 43 pro
Sekunde betrug. Es schien hiernach auch objectiv festgestellt, dass
das Centralorgan (Rückenmark) nicht nur seinen eigenen , ihm unter
allen Umständen zukommenden Innervationsrhythmus besitzt, sondern
dass auch die Zahl der ausgesendeten Impulse mit der Zahl der
Schwingungen des natürlichen Muskeltones im Allgemeinen überein-
stimmt. Wesentlich niedriger fanden Horsley und Schäfer (36)
die Zahl der Muskelvibrationen bei tetanisirender Reizung der Hirn-
rinde, des Stabkranzes oder des Rückenmarkes, indem die Durch-
schnittszahl der Schwingungen nur 10 betrug, wenn die Reizfrequenz
höher als 10 pro Sekunde war; diesem geringen Werthe entsprachen
auch die Befunde bei willkürlicher Dauercontraction, und ebenso würde
es sich nach Canney und Tun stall (37) beim Menschen verhalten
(vergl. auch Griff itsh 38).
Auch V. Kries (39) gelangte zu ähnlichen Resultaten. Er be-
nutzte einen dem Marey'schen Sphygmographen nachgebildeten Apparat:
„Ein federndes Stahlplättchen ist an einem Ende hxirt, das andere
freie Ende trägt auf der einen Fläche ein circa 2 cm langes Holz-
stäbchen, an welchem die auf den Muskel aufzusetzende kleine Pelotte,
ein dünnes Holzplättchen von 1 cm Durchmesser, befestigt ist; auf
der andern Fläche der Stahlfeder sitzt eine Schneide, welche ganz
wie beim Marey'schen Sphygmographen die Bewegungen der Feder
mit starker Vergrösserung auf einen sehr leichten Schreibhebel über-
trägt." Wird die Hand des gehörig fixirten Armes kräftig zur Faust
geballt, so erhielt v. Kries von der Beugemuskulatur am Unterarm
Curven wie (Fig. 62 a), deren Periodicität im Rhythmus von 11,8 pro
Sekunde deutlich erkennbar ist. Noch langsamer erfolgten die
Oscillationen bei andern Muskeln, so am Deltoideus (Halten eines
Gewichtes bei horizontal gestrecktem Arm) im Rhythmus von 9,6 pro
Sekunde, bei Plantarflexion des Fusses sogar nur 7,7. Es scheint
demnach, dass die bisher fast allgemein für den Rhythmus der cen-
tralen Innervation angenommene Zahl von 18 — 20 Impulsen pro Se-
kunde zu hoch gegriffen ist, und dass sie bei langsamen Bewegungen
oder dauernder Zusammenziehung im Allgemeinen auf 8 — 1 2 pro Se-
kunde veranschlagt werden kann. Im Uebrigen muss aber, wie Kries
hervorhebt, sowohl der Rhythmus der physiologischen Innervation
wie auch der zeitliche Verlauf der einzelnen Impulse innerhalb
ziemlich M^eiter Grenzen wechseln können, denn „wenn die Dauer-
contractionen, die unser Wille hervorbringt, durch 11 — 12 Innervations-
anstösse pro Sekunde bewirkt werden, und wenn andererseits wir
120 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
auch im Stande sind, 11 Einzelbewegungen in der Sekunde auszu-
führen (Ciavierspiel), wobei doch nothwendig dieser Rhythmus in den
Innervationsvorgängen auch vorhanden sein muss: so wird schon ge-
folgert werden können, dass in beiden Fällen trotz der übereinstim-
menden Periode die Innervationen doch noch sehr wesentlich ver-
schieden gewesen sein müssen" (v. Kries 1. c).
Wie schon Brücke (28) hervorhob, ist es höchst unwahrschein-
lich, dass es willkürliche Muskelbewegungen giebt, welche nur durch
einen einzigen, einfachen, vom Gehirn ausgehenden Reizimpuls veran-
lasst werden. Unter allen Umständen handelt es sich auch
bei den kürzesten willkürlichen „Zuckungen" um kurze
Tetani. Hiermit steht in Uebereinstimmung , dass nach Baxt (14,
p. 26) „eine willkürliche, möglichst einfache Contraction (Anschlag
mit einem Finger) ziemlich genau doppelt so lange Zeit dauert, als
die gleiche, durch einen einzelnen Inductionsschlag ausgelöste Be-
wegung". Auch V. Kries bestätigte dies und konnte ausserdem bei
graphischer Verzeichnung der Thätigkeit der Beugemuskeln bei
schnellster rhythmischer Bewegung des Mittelfingers oder der ganzen
Hand (9 pro Sekunde) ganz deutlich kleine, den grösseren Wellen auf-
gesetzte Oscillationen darstellen, deren Intervall etwa ^/se Sekunde
betrug (Fig. 62 h).
Fig. 62. Oscillationen bei willkürlicher Muskelthätigkeit. a bei angestrengter Dauer-
contraction der Vorderarmmuskeln (Ballen der Hand zur Faust); die Feder an der
Volarseite des Unterarmes angelegt, b Thätigkeit der Beugemuskulatur bei schnellen
rhythmischen Beugebewegungen des Mittelfingers. (Nach v. Kries.)
Wenn hierbei wirklich jede Täuschung durch Eigenschwingungen
ausgeschlossen war, so wird man nicht umhin können, mit Kries an-
zunehmen, dass die Rhythmik der Anschwellungen des Muskels hier
wie in anderen Fällen den Rhythmus der ihn treffenden Innervations-
anstösse anzeigt. Bei rasch auf einander folgenden kurzen Bewegungen
würden wir uns daher die Vorgänge der Innervation so vorzustellen
haben, „dass unser Wille über Reizcombinationen verfügt, in welchen
die Einzelanstösse sehr schnell folgen, und jedesmal einer an Stärke
bedeutend überwiegt". Die oben erwähnte Verbreitung und die Ver-
schiedenheit des physiologischen Verhaltens der flinken und trägen
Muskelfasern legt den Gedanken sehr nahe, dass bei langsamen und
raschen Bewegungen zugleich auch eine Innervation functionell ver-
schiedener Elemente stattfindet, umsomehr als partielle Innervationen
eines und desselben Muskels zweifellos vorkommen. Zu Gunsten einer
solchen allerdings noch Aveiterer Untersuchung bedürftigen Annahme
Hesse sich vielleicht auch der von v. Kries betonte Umstand geltend
machen, dass die höchsten Frequenzen der Innervationsanstösse nicht
stattfinden, wenn es sich um die Entwickelung möglichster Kraft,
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 121
sondern wenn es sich um eine möglichst grosse Beweglichkeit handelt.
„Die stärksten Anstrengungen werden mit niedriger Reizfrequenz
(10 — 12 pro Sekunde) bewirkt."
Wenn schon die zuletzt besprochenen Erfahrungen ganz ent-
schieden gegen die Annahme eines constanten, unveränderlichen
„Eigenrhythmus" der nervösen Centralorgane sprechen, so gilt dies
nicht minder auch hinsichtlich der Beobachtungen v. Limbeck's
über die Zahl der Oscillationen, welche ein Muskel bei künstlicher
Reizung des Gehirns oder Rückenmarks mit Inductionsströmen von
wechselnder Frequenz erkennen lässt (30). Sowohl beim Warmblüter
(Hund, Kaninchen) wie beim Kaltblüter kann man die Zahl der in
der Zeiteinheit auf das Centralorgan einwirkenden Reize innerhalb
weiter Grenzen variiren, ohne dass die erregten Muskeln aufhören,
im gleichen Rhythmus Oscillationen (Längen- oder Dickenschwan-
^^/V1r"rrt1rVv-rv-^rmTrnv/ATV,WlVWW(MWÄVlWM«
\
Fig. 63. Tetanuscurve vom Kaninchen bei directer Reizung des Eückenmai-kes. Die
Reizfrequenz variirt zwischen 10 und 34 p. Sek. (Nach v. Limb eck.)
Fig. 64. Muskeloscillationen bei Strychnintetanus (Frosch); a Anfang, b Ende der
Curve. (Nach v. Limb eck.)
kungen) auszuführen. Besonders anschaulich ergiebt sich dies aus
der beistehenden Curve (Fig. 63), welche, durch directe Reizung des
Rückenmarks eines Kaninchens gewonnen , auf das allerdeutlichste
erkennen lässt, wie mit der Zahl der dem Centrum zufliessenden
Reize auch die Zahl der Contractionen des Muskels pro Sekunde zu-
nimmt. Durch langsames Anspannen der Feder am Neff'schen Hammer
des Inductionsapparates wurde hier die Reizfrequenz zwischen 10
und 34 variirt, wobei die Uebereinstimmung der Zahl der Einzel-
contractionen (Oscillationen) des Muskels eine so grosse ist, dass
Anfangs sogar die Wirkungen der Schliessungs- und Oeffnungsschläge
an der Curve sichtbar sind, wie die kleineren und grösseren Zacken
erkennen lassen. Zu demselben Resultate führten auch Versuche, bei
welchen reflectorisch eine Dauercontraction der Muskeln erzeugt
wurde (centrale Reizung des N. ischiadicus der andern Seite). Bei
]^22 Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Reizfrequenzen, wie sie Krön eck er und Stanley Hall (43 pro
Sekunde), sowie Horsley und Schäfer vervA^endet haben, konnte
V. Limiaeck niemals Oscillationen am Myogramm erkennen; die
Curven verliefen vielmehr vollkommen glatt. Dagegen treten sowohl
beim Frosch wie beim Kaninchen sehr deutliche, in ihrem Rhythmus
jedoch auffallend verschiedene Oscillationen beim Strychninkrampf
hervor. Wie (Fig. 64) zeigt, schwankt die Zahl derselben beim
Frosch pro Sekunde, zwischen 3 und 9, während sie beim Kaninchen
(Fig. 65) 10 — 19 beträgt. Gegen Ende des Anfalles werden di Os-
cillationen allmählich seltener und bilden oft eigenthümliche Gruppen
(Fig. 65).
Fig. 65. Strychnintetanus beim Kaninchen. (Xach v. Limb eck.)
LITERATUR.
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35. Wedensky, [^^^ ^^.^ J^^ J^^^ ^ 3^^
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39. V. Kries, Du Bois Arch. 1886. Suppl.
VIII. Das LeitungsYermögen der Muskeln.
Hinsichtlich des Vermögens, einen örtlich ausgelösten Erregungs-
vorgang weiter zu leiten, macht sich im allgemeinen ein bemerkens-
werther Gegensatz geltend zwischen dem nicht weiter difFerenzirten,
durch fliessende (amöboide) Bewegung ausgezeichneten Protistenplasma
und den aus diesem sich differenzirenden contractilen Fibrillen.
Während locale, möglichst begrenzte Reizung dort in der Regel auch
nur locale Wirkungen zur Folge hat, die sich im günstigsten Falle
nur über die nächste Nachbarschaft ausbreiten, finden wir das Lei-
tungsvermögen fibrillär differenzirter Theile fast immer sehr hoch
entwickelt. Ob man es bei den durch eine besondere Art von
„Zellenleitung" vermittelten Reizbewegungen gewisser Pflanzen um eine
von Zelle zu Zelle fortschreitende Uebertragung der Reizursache
(Dehnung, Zerrung) in Folge von Turgorsch wankungen, etwa vergleich-
bar der Uebertragung in C a r c h e s i u m - S t ö c k e n , deren einzelne
Individuen nicht in plasmatischer Verbindung unter einander stehen,
oder des E r r e g u n g s v o r g a n g e s selbst (der Plasmaveränderungen)
zu thun hat, scheint in den meisten Fällen noch nicht genügend fest-
gestellt zu sein. Letzterenfalls (etwa im Gewebe des reizbaren Wulstes
von Mimosa) wüi'de es sich um eine für ungeformtes Plasma auf-
fallend rasche Reizleitung handeln, besonders wenn man berück-
sichtigt, dass die Bewegui^sfähigkeit des in Zellen eingeschlossenen
pflanzlichen Plasmas im Ganzen nur wenig -entwickelt ist, und mit
der der freilebenden Amöben etwa auf gleicher Stufe steht. Stets
lässt sich aber zeigen, dass mit der Zunahme der Beweg-
J24 I^ie Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
lichkeit und der Empfindlichkeit für äussere Reize
auch das Leitungsvermögen wächst, eine Thatsache, die sich
bei den Protisten unmittelbar aus einer Vergleichung der trägen Rhizo-
poden mit den lebhaft beweglichen Flagellaten und Ciliaten ergiebt.
In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich bei den Infusorien aller-
dings um Reizung von bezw. Leitung in Bewegungsorganoiden
(Wimpern, Geissein), die als fibrillär differenzirte Theile zu be-
trachten sind; doch scheint auch das Körperplasma selbst in solchen
Fällen vielfach eine sehr rasche Reizübertragung vermitteln zu
können.
Es scheint, dass die Beeinflussung der Wimperbewegung bei
localer Reizung von Ciliaten hierher gehört. Stösst z. B. Para-
m e c i u m a u r e 1 i a beim Vorwärtsschwimmen auf ein Hinderniss, so
tritt fast im selben Augenblicke ein Schlag sämmtlicher Körpercilien
in der der normalen entgegengesetzten Richtung ein, durch welchen
das Thier einen kurzen Stoss nach rückwärts erhält, worauf die ur-
sprüngliche Bewegung wieder beginnt. Eine derartige Beeinflussung
der Wimpern ohne gleichzeitige Mitbetheiligung der Myoide ist auch
bei nur mit solchen versehenen Ciliaten bisweilen zu beobachten.
Die Contraction der Myoide selbst, der einfachsten Muskel-
elemente, die wir kennen, erfolgt in der Regel so schnell, dass eine
Analyse des zeitlichen Verlaufes bei örtlicher Reizung nicht möglich
erscheint. „Reizt man z. B. ein Spirostomum, das sich wegen
seiner gestreckten Gestalt am besten dazu eignet, nur local an einem
Ende, so tritt sofort eine Contraction des ganzen Körpers ei;:, ohne
dass man eine zeitliche Differenz in der Contraction des vorderen und
des hinteren Endes bemerken könnte." „Daraus geht hervor, dass die
Reizleitung innerhalb der Myoide eine ungemein schnelle ist, ebenso
wie ja auch der Reizerfolg ohne wahrnehmbares Latenzstadium selbst
bei schwächster Reizung dem Reize unmittelbar folgt, während bei
dem nicht weiter differenzirten Rhizopodenplasma zwischen Reiz und
sichtbarem Reizerfolg fast immer eine erhebliche und jedenfalls merk-
liche Zeit der latenten Reizung liegt" (Verworn),
In beiden Beziehungen verhalten sich die Myoide ganz so wie
die höchstdifferenzirten quergestreiften Muskeln, bei welchen
wir aber in der Lage sind, ungeachtet der grossen Schnelligkeit der
Erregungsleitung den wellenförmigen Ablauf der Contraction mit aller
wünschenswerthen Sicherheit zu messen. Die ersten darauf abzielenden
Versuche verdanken wir Aeby (1); derselbe bediente sich der
graphischen Methode, um den Verlauf der Contractionswelle an
zwei verschiedenen Punkten eines Muskels (Gracilis des Frosches)
zu bestimmen. Nehmen wir an, es handle sich um einen parallel-
faserigen Muskel, der an dem einen Ende local erregt wird, so wird
die Folge davon ofi'enbar zunächst eine Contraction (Verdickung) der
gereizten Stelle sein, die sich nun mit grosser Geschwindigkeit von
dem Reizorte aus durch die ganze Länge des Muskels hindurch fort-
pflanzt. Zwei beliebige Punkte in der Continuität des Muskels werden
daher immer zu verschiedenen Zeiten nacheinander in Contraction
gerathen, und so wird es ermöglicht, mittels zweier Schreibhebel, deren
jeder durch die Verdickung eines bestimmten Muskelquerschnitts ge-
hoben wird, die Verdickungscurve dieser beiden Querschnitte an einem
geeigneten Myographien aufzuzeichnen (Fig. 70). Aus der Grösse der
Verschiebung beider auf derselben Alascissenaxe stehenden Curven
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
125
lässt sich leicht die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Contractions-
welle berechnen (Fig. 66).
Gleichzeitig mit Aeby kam v. Bezold (1861) (2) zu einem
analogen Resultate, aber nach einer ganz verschiedenen Methode. Er
Fig. 66.
Fig. 67.
Fig. 66. Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der Con-
tractionswelle im Muskel.
Die Grösse der Verschie-
bung beider (Verdickungs-)
Curven dient als Maass.
(Nach Marey.)
Fig. 67. Bestimmung der
Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der Erregung im Mus-
kel nach V. Bezold.
Fig. 68. Bestimmung der
Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der Erregung im Mus-
kel nach Bernstein.
Fig. 68.
Hess, indem er einen parallelfaserigen Muskel in der Mitte leicht zwischen
Kork klemmte, so dass eine directe Uebertragung der Formänderungen,
nicht aber die Fortleitung des Erregungsvorganges gehindert war, nur
den untersten Theil (Fig. 67) seine Verkürzung aufschreiben und be-
stimmte die Zeit zwischen einer Reizung am oberen Ende und dem
Beginn der Zuckung des unteren; dieselbe entsprach offenbar der
Fortpflanzungsgeschwindigkeit von der gereizten Stelle bis zu dem
ersten Querschnitt jenseits der Klemmstelle. Während sich aus den
Versuchen von Aeby und v. Bezold die Leitungsgeschwindigkeit
in den quergestreiften Muskelfasern des Frosches nur zu etwa einem
126 I^iö Formäuderung- des Muskels bei der Thätigkeit.
Meter pro Sekunde (1,2 — 1,6 m) berechnet, ergaben spätere Ver-
suche wesentlich höhere Werthe. So fand Bernstein (3), indem er
das Latenzstadium derVerdickungscurve in einem be-
stimmten Querschnitt des Muskels (die Gruppe des Gracilis und
Semimembranosus vom Frosche) mass, wenn einmal die Reizung un-
mittelbar an der zeichnenden Stelle, und hierauf möglichst entfernt
davon erfolgte, Werthe von 3,2 — 4,4 Meter. Die Versuchsanord-
nung wird durch die beistehende Figur 68 erläutert. Es handelt sich,
wie man sieht, um eine Modification von Aeby's Verfahren,
wobei jedoch nicht sowohl die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
C ontractions welle selbst, sondern vielmehr die der ihr zu Grunde
liegenden Erregung gemessen wird, deren Werth als mit jener
identisch angesehen werden.
Da sich die von Aeby und Bernstein benutzten Muskeln
Gracilis und Semimembranosus durch je eine sehnige Inscription
von allerdings sehr schrägem Verlauf auszeichnen , so dass jeder
Muskel sozusagen aus zwei völlig von einander getrennten Theilstücken
besteht, deren Erregung unter allen Umständen isolirt bleibt, schien
3^
dL\
Fig-. 69. (Nach Bernstein.)
es wünschensAverth, die Versuche an geeigneteren Präparaten zu wie-
derholen. Dies geschah von Seite Hermann 's (4), der beide zu-
sammengelegte Sartorien eines curarisirten Frosches benutzte und die
Geschwindigkeit der Leitung zu etwa 2,7 Meter bestimmte.
Auf Grund der Versuche von Bernstein lässt sich nun auch
ohne Schwierigkeit die Dauer und Länge einer ganzen Contvac-
tions welle bestimmen. Hätten wir einen genügend langen Muskel zur
Verfügung, so würden wir bei Reizung am einen Ende das Fortschreiten
der Contractionswelle direct mit dem Auge verfolgen können. Dies ist
bei der Kürze der benutzbaren Muskelpräparate nicht möglich ; wohl
aber erhalten wir unter der Voraussetzung einer Zusammensetzung des
Muskels aus physiologisch gleichartigen Fasern in der Verdickungs-
curve irgend eines Querschnitts ein annähernd richtiges Bild von dem
Verlauf und der Dauer der Contractionswelle, oder richtiger von dem
wechselnden Zustande des betreffenden Miiskelelementes, während die
Contractionswelle über dasselbe hinwegläuft. Die Dauer der ge-
zeichneten Curve ist darum gleichzeitig die Schwingungsdauer der
Contractionswelle. Da die Geschwindigkeit dieser Welle bekannt ist,
so lässt sich auch ihre Länge berechnen. Wenn die Welle {iv)
(Fig. 69) sich in der gezeichneten Lage befindet, so ist sie an der Reiz-
stelle p eben abgelaufen ; während ihrer Dauer in p hat sie sich aber
bis (7) fortgepflanzt. Nennen wir nun ihre Dauer {D) ihre Länge {L)
und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit {G) , so hat man L^^GD.
Nach Bernstein 's Versuchen erhält man für (i) Werthe zwischen
198 und 380 mm.
• Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 127
An contractilen Substanzen, bei welchen das Reizleitungsvermögen
wenig entwickelt ist, wie beispielsweise den Rliizopoden (Dif-
flugia), lässt sich bei localer Reizung unmittelbar erkennen, dass die
dadurch hervorgerufenen Veränderungen in der nächsten Umgebung
der Reizstelle am stärksten ausgeprägt sind und um so schwächer
werden, je weiter sie sich überhaupt durch Leitung ausbreiten (Ver-
worn5). Bei leiser Berührung eines Pseudopodiums von Difflugia
mit der Spitze einer Nadel bleiben die Reizerscheinungen (Runzelung
und Auspressen einer Aussenmasse) stets local beschränkt, Ist der
Reiz stärker, „so erstrecken sich die Erscheinungen schon über das
ganze Pseudopodium und treten nach erfolgter Reizung bedeutend
schneller und heftiger auf, so dass das betreffende Pseudopodium zum
grossen Theil, eventuell ganz eingezogen wird; weiter entfernte
Pseudopodien bleiben jedoch auch in diesem Falle noch von dem Re-
tractionsprocess verschont oder retrahiren sich nur ein kurzes Stück
und ganz allmählich.'" Bei sehr starker Reizung kann sich endlich
der Contractionsprocess auf alle Pseudopodien erstrecken, so dass schliess-
lich die ganze Pseudopodienmasse eingezogen wird. „Das gereizte
Pseudopodium wird dabei am schnellsten, fast plötzlich, zurückgezogen,
während die anderen, je weiter sie abstehen, um so langsamer folgen.''
Es ergiebt sich daher, dass stärkere Reize nicht nur einen
schnelleren Reizerfolg haben, als schwächere , sondern dass die-
selben auch auf weitere Strecken hin fortgepflanzt
w^ erden, als schwächere, so dass also der Erfolg mit der
Entfernung von der gereizten Stelle abnimmt.
Obschon es von vornlierein wahrscheinlich ist, dass dasselbe für
die Leitung jedweden Erregungsvorganges in jeder lebenden Substanz
gilt, so begegnet doch der directe Nachweis in allen den Fällen
grossen Schwierigkeiten, wo die Erregbarkeit und das Leitungsvermögen
erheblichere Grade erreichen, da die Unterschiede bei der geringen
Länge der verfugbaren Strecken voraussichtlich verschwindend klein
sein werden. Dem ungeachtet ist es B e r n s t e i n gelungen, nachzuweisen,
dass die Contractions welle im quergestreiften Frosch-
m u s k e 1 bei ihrem Ablauf eine merkliche Schwächung
(ein „Decrement") erleidet, worauf es beruht, dass die Ver-
dickungscurve einer d i r e c t gereizten Muskelstelle stets höher aus-
fällt, als wenn man eine entfernte Stelle mit derselben Stromstärke
reizt. Es muss hierbei allerdings berücksichtigt werden, dass es sich
um Versuche an a u s g e s c h n i 1 1 e n e n , also nicht mehr normal ernährten*
Muskeln handelt, so dass, wie Du Bois-Reymond hervorhob, das
beobachtete Decrement ganz wohl eine Absterberscheinung sein könnte.
In der That zeigen gewisse, später zu erörternde galvanische Erschei-
nungen an ganz unversehrten Muskeln, dass hier eine Abnahme
der der Contraction vorauseilenden Erregungswelle
nicht merklich ist.
Mit Rücksicht auf die ausserordentlich bedeutenden Unterschiede
in der Geschwindigkeit des Zuckungsablaufes der quergestreiften
Muskeln verschiedener Thiere und selbst verschiedener Muskeln einer
und derselben Thierspecies kann es nicht überraschen, ähnlichen Ver-
schiedenheiten auch hinsichtlich des Leitungs Vermögens zu be-
gegnen, denn die Muskelzuckung ist ja im Allgemeinen nur der Ausdruck
der von der Reizstelle aus sich über den ganzen Muskel ausbreitenden
Contraction. Demgemäss finden wir die Fortpflanzges ch win-
128
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
digkeit der Erregung bezw. Contraction in denselben
Fällen und in demselben Sinne verschieden wie den
Zuckungsverlauf, so dass man sagen kann, je schneller dieser
letztere, desto grösser ist jene und umgekehrt. Nach Mes-
sungen von Hermann und Aeby beträgt sie bei Schildkrötenmus-
keln im Mittel 0,5 — 1,8 Meter; da es sich hierbei um den schnell beweg-
lichen Halsretractor handelte, so dürften andere Muskeln desselben
Thieres noch geringere Werthe liefern. Bernstein und Steiner (6)
haben, wie zu erwarten war, an Warmblütermuskeln (Sternomastoideus
des Hundes) die Leitungsgeschwindigkeit erheblich grösser als bei Kalt-
blütern gefunden (3 — 6 Meter), und aus gewissen, später zu besprechen-
den Versuchen von Hermann ergeben sich an den Muskeln des
lebenden Menschen Werthe, welche zwischen 10 und 13 Meter pro
Sekunde schwanken! Rollett(7) verdanken wir Versuche über die
Fig. 70. Bestimmung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Muskelerregung mittels
der Pince myographique. (Nach Marey.)
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Contraction an den hinsichtlich der
zeitlichen Verhältnisse des Zuckungsverlaufes bekanntlich sehr ver-
schiedenen rothen und weissen Muskeln des Kaninchens. Er benutzte
den weissen Musculus semimembranosus und den rothen Cruralis, indem
er nach Freilegung derselben eine 30—40 mm lange Strecke zwischen
die Pincetten einer Marey 'sehen Pince myographique nahm (Fig. 70).
Dieselben wurden mit je einer Marey'schen Registrirtrommel verbunden,
mittels welcher die Verdickungscurven auf einem rotirenden Cylinder
aufgeschrieben wurden, auf welchem gleichzeitig auch eine 1 00 Schwin-
gungen pro Sekunde ergebende Stimmgabel schrieb. Als Reiz wirkte
ein Oeffnungs-Inductionsschlag. Die Versuchsthiere waren mit Curare
vergiftet. Stets zeigte sich auch hier die der direct gereizten Stelle
entsprechende Verdickungscurve höher und weniger gedehnt als die
fortgeleitete Welle, und man ist daher für die Beurtheilung der zeit-
lichen Verschiebung der Curven allein auf die Abstände des Beginnes
der Curven angewiesen. Der abweichende physiologische Charakter
der weissen (flinken) und der rothen (trägen) Muskeln zeigt sich auch
hier in Bezug auf die Dauer der Verdickung, welche an der direct
Die Formäuderimg' des Muskels bei der Thätigkeit. 129
gereizten Stelle des Cruralis immer grösser ist als am Semimembranosus.
Die Sekundengeschwindigkeit der Fortpflanzung betrug bei dem letz-
teren Muskel 5417 — 11 364 mm, bei dem ersteren 3000—3400 mm. Man
sieht, dass die für die rothen (trcägen) Kaninchenmuskeln gefundenen
Werthe mit den von Bernstein und Steiner für den Kopfnicker
des Hundes gefundenen Fortpflanzungsgeschwindigkeiten (3500 mm pro
Sekunde) gut übereinstimmen. Wenn schon eine derartige vergleichende
Untersuchung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung in den
quergestreiften Muskeln verschiedener Thiere eine vollgültige Be-
stätigung des Satzes bildet, dass die Geschwindigkeit, mit welcher der
Yerkürzungsvorgang an jeder Stelle sich abspielt, mit der Leitungs-
geschwindigkeit im innigsten Zusammenhang steht, so ergiebt sich
dies ebenso klar aus dem Umstände, dass auch an einem und dem-
selben Muskelpräparate alle jene Momente, durch welche erfahrungs-
gemäss die Zuckungsdauer im Plus- oder Minus-Sinne verändert
wird, in Gleichem auch die Leitungsgeschwindigkeit beeinflussen, wie
insbesondere Ermüdung (Absterben) und Temperaturschwan-
kungen.
Wie die Zuckungsdauer und überhaupt die Erregbarkeit quer-
gestreifter Warmblütermuskeln in Folge irgendwelcher Schädigungen
sehr viel rascher abnimmt, als bei Kaltblütern , so gilt dasselbe , nur
in noch wesentlich höherem Maasse, von dem Leitungsvermögen,
welches stets zuerst leidet und zu einer Zeit, wo die locale Erregbar-
keit noch deutlich nachweisbar ist, bereits erloschen erscheint. Das
nähere Studium dieser Absterbeerscheinungen an Warmblütermuskeln
ist in vieler Beziehung von grossem Interesse. Da die Leitungs-
geschwindigkeit fortdauernd und nachweislich rascher als die Er-
regung abnimmt, so scheint hier ein einfaches Mittel gegeben zu sein,
die Thatsache des Avellenförmigen Ablaufes der Contraction ohne alle
Aveiteren Hülfsmittel mit dem b 1 o s s e n A u g e zu verfolgen. Wie
zuerst Schiff (8) beschrieb, sieht man kurze Zeit nach dem Tode
eines Warmblüters bei localer mechanischer Eeizung eines blossgelegten
Muskels unmittelbar an der gereizten Stelle einen Wulst sich
erheben, der bestehen bleibt, Avährend fast im selben Augenblicke
zwei Contractionswellen nach beiden Seiten bis ans Ende des Muskels
ablaufen. „Während die Contraction weiter geht, erschlaften die dem
nunmehr erhobenen Wulst näher gelegenen Theile. Lst die Con-
tractionswelle am Ende des Muskels angelangt, so geht sie wieder
von hier aus rückwärts zu ihrem Ausgangspunkte hin. Während
dessen ist aber von der Keizungsstelle eine neue Welle nach beiden
Seiten ausgegangen, die der rückläufigen begegnet und sich mit ihr
kreuzt, und so wiederholt sich dasselbe Spiel mehrere Male, indem die
Wellen nach der Kreuzung ungestört weiter laufen, bis sie endlich
schwächer werden und aufhören." Schreitet das Absterben weiter
fort, und nimmt in Folge dessen das Leitungsvermögen immer mehr
ab, so bleibt schliesslich das geschilderte Wellenspiel aus, während
sich nach wie vor eine wulstförmige Dauercontraction an der Stelle
des Reizes erhebt, die Schiff seiner Zeit als den eigentlichen Ausdruck
der muscularen Erregbarkeit ansah und daher als „idiomusculäre'"
Contraction der „neuro muscularen" Zuckung gegenüberstellte.
Am deutlichsten tritt diese locale Wulstbildung bei mechanischer
Reizung (durch Schlag oder Streichen mit einer stumpfen Kante) an
absterbenden Muskeln eines todten Thieres hervor, welche bei elek-
Biedermann, Elektrophysiologie. 9
130 I^iß Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
trischer Reizung nicht mehr zucken. „Die Erhebung geschieht lang-
sam und zwar um so langsamer, je mehr der Muskel schon erschöpft
ist und je längere Zeit seit dem Tode des Thieres verstrichen ist.'"
Hat der Wulst sein Maximum erreicht, so verharrt er auf demselben
längere oder kürzere Zeit, manchmal mehrere Minuten, um dann ver-
hältnissmässig langsam wieder abzunehmen. Man kann auf diese
Weise, besonders wenn die Striche quer zur Faserrichtung laufen, an
der Oberfläche eines hierzu geeigneten Muskels mit einem harten
Gegenstand geradezu schreiben und zeichnen.
An frischen Froschmuskeln gelingt es nur selten , deutliche idio-
musculäre Wülste zu erzeugen. Besser geeignet erweisen sich nach
Hermann (9) Sartorien halbeingetrockneter Schenkel. „Spannt mau
einen solchen Muskel auf Kork aus, so bewirkt in einem gewissen
Stadium jede Berührung mit einer Nadel, namentlich sanftes queres
Aufdrücken derselben, einen localen Wulst, welcher einige Zeit stehen
bleibt. Noch besser lässt sich dasselbe Verhalten an abgekühlten
Froschmuskeln beobachten, bei welchen sowohl mechanische wie elek-
trische Reizung eine am Reizorte längere Zeit anhaltende Contraction
bewirkt. Auch das contractile (quergestreifte Muskelfasern enthaltende)
Gaumenorgan gewisser Fische (Cyprinoiden, Schleie) zeigt sehr schön
die idiomusculäre Contraction.
Die angeführten Beobachtungen von Schiff, denen ähnliche von
Bennett Dowler aus älterer Zeit (Hermann's Handb. I. 1. p. 45,
Anmerkung) an den Muskeln eben verstorbener Menschen an die
Seite zu stellen sind, erfuhren in der Folge mehrfache Bestätigung
und werthvolle Ergänzungen, die freilich die ursprüngliche Deutung
Schiffs, der sich später auch Kühne anschloss, wonach es sich
lediglich um eine Folgewirkung der verminderten Erregbarkeit des
Muskels handeln sollte, mindestens zweifelhaft erscheinen Hessen. Es
gehören hierher vor Allem Beobachtungen über das Auftreten des
„idiomusculären" Wulstes, sowie der von ihm ausgehen-
den, langsam fortschreitenden Contraction swellen an
den Muskeln lebender Menschen. Nachdem bereits E.H.
Weber, Ed. Weber und Funke idiomusculäre Wülste von ganz
gleicher Beschaffenheit wie an den Muskeln von Enthaupteten auch
an sich selbst durch Aufschlagen mit einer stumpfen Kante auf
den Biceps oder Gastrocnemius hervorzurufen vermochten, eine Art
der Erzeugung dieses Phänomens am Menschen, auf welche später
Kühne als auf eine „unter Turnern all- und altbekannte" hin-
wies, verfolgte besonders L. Auerbach die hierher gehörigen Er-
scheinungen eingehender und theilte seine Beobachtungen in einer
Abhandlung „Ueber topische Muskelreizung" mit, welche sich in den
Jahresberichten der schlesischen Gesellschaft vom Jahre 1861 (natur-
wiss.-med. Abtheilg., Heft 3) findet. Er bewirkte die örtliche Reizung
durch Aufschlagen mit dem Percussionshammer und berichtet, dass
am Menschen sehr allgemein, und zwar an sehr vielen Muskeln des
Körpers, bei dieser Reizmethode ein annähernd kegelförmiger Hügel
an der percutirten Stelle entsteht, der meist 3 — 5 Sekunden ziemlich
unverändert bestehen bleibt und dann an derselben Stelle langsam
wieder einsinkt. Geringe scheinbare Ortsveränderungen jenes Hügels
bezieht er auf eine durch den mechanischen Reiz bedingte Gesammt-
verkürzung der getroffenen Muskelbündel. Bei manchen, aber „sel-
tenen" Individuen (Auerbach führt vier derartige Fälle an) trete
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 131
hierzu noch eine wellenartige Erscheinung, welche er jedoch nur am
Pectoralis major und an der inneren Hälfte des Biceps bei starkem
Aufklopfen auf eine Stelle, unter welcher ein Knochen liegt, erzielen
konnte. Diese wellenartige Erscheinung bestehe in niedrigeren Er-
hebungen, die zu beiden Seiten des idiomusculären Wulstes auftauchen
und, einer Welle auf ruhigem Wasserspiegel gleichend, allmählich sich
verflachend, mit sehr massiger Geschwindigkeit nach den beiden
Muskelenden hin sich bewegen. Eine rückläufige Bewegung dieser
Wellen sah er am Menschen nie. Sehr wohl ausgeprägt fand er
letztere hingegen bei dem Kaninchen, bei dem er das von Schiff
beschriebene Wellenspiel an den meisten Muskeln durch leichte mecha-
nische Reizung, als Auftippen oder queres Streichen mit einem
stumpfen Körper, hervorrufen konnte. Besonders geeignet hierfür er-
weisen sich nach A. Pick (11) der gegen den Bauch zu gelegene Ab-
schnitt des Pectoralis major und namentlich der Sternomastoideus.
Bestreicht man diesen Muskel mit einem Scalpellstiel etwas kräftiger quer
zur Faserrichtung, so tritt nach Ablauf einer kurzdauernden Zuckung
der betroffenen Muskelbündel an der erregten Stelle ein linearer Wulst
auf, während nach beiden Richtungen von der Reizstelle, zuweilen
aber auch nur in einer Richtung, eine flache, langsam sich fort-
bewegende Welle gegen die Insertionsenden des Muskels fortschreitet.
Stets erlischt nach dem Tode die wellenförmige Contraction früher als
der idiomusculäre Wulst, der noch mehrere Stunden später hervor-
gerufen werden kann. Bisweilen scheint sich der idiomusculäre Wulst
gewissermaassen zu spalten, indem an der Stelle des Reizes eine Ver-
tiefung sich bildet, während beiderseits davon je eine Welle entsteht,
die nach beiden Enden der Muskeln sich fortbewegt und eventuell
reflectirt werden kann. Auch am lebenden Menschen ist Aehnliches
von Baierlacher (12) beobachtet worden.
Aus diesen Erfahrungen, sowie aus Beobachtungen von Erb (13)
an sehr erregbaren Reconvalescenten nach schweren Krankheiten, wie
z. B. Phthysikern u. A., bei denen ein Schlag auf gewisse Skeletmuskeln
einen umschriebenen Wulst bewirkt, von welchem nach beiden Seiten
hin kleine Contractionswellen bis zu den beiden Enden der Muskel-
fasern verlaufen, schien sich zu ergeben, dass diese Erscheinungen
nicht sowohl durch eine herabgesetzte Erregbarkeit
der Muskeln bedingt sind, sondern dass es sich viel-
mehr um normale Reiz Wirkungen handelt, die Auerbach
geradezu als Ausdruck der höchsten Erregbarkeit betrachtet.
Analoge Beobachtungen an Kranken (meist abgemagerten, schlecht
genährten Individuen) verdanken wir Chwostek (14) und Pick (1. c),
aus denen hervorgeht, dass sich beim Menschen der idiomusculäre Wulst
regelmässig, Avenn auch nicht an allen Muskeln und durch jeden
mechanischen Reiz hervorrufen lässt. Als besonders geeignet erwiesen
sich der Biceps brachii und die Flexorengruppe des Vorderarmes
hierfür. Dass eine feste Unterlage der gereizten Muskeln für die Er-
zielung eines Reizeffectes vortheilhaft ist, erscheint leicht begreiflich
und lässt sich am Thier bei gleichartiger Reizung geeigneter Muskeln
vor und nach dem Anbringen einer festen Unterlage constatiren.
Vielleicht beruht der Umstand, dass die Wulstbildung namentlich an
den Muskeln der unteren Extremitäten nur an sehr abgemagerten
Personen, viel seltener dagegen an wohlgenährten, gesunden Indi-
viduen beobachtet wird, weniger auf einem bestimmten Erregbarkeits-
9*
132 ^iö Formäuderung des Muskels bei der Thätigkeit.
zustand der Muskulatur, als vielmehr darauf, dass derartige Muskeln
dem einwirkenden mechanischen Reize zugänglicher sind. Unter allen
Umständen verdient es aber besondere Berücksichtigung, dass, wenn
nebst dem idiomusculären Wulste auch wellenförmige Contractionen
auftraten, der Muskel noch zuckungs fähig war, so dass also die-
selben Fasern sowohl schnell wie langsam sich fort-
pflanzende Contra ctionswellen zu leiten vermochten.
Dasselbe lässt sich, wie Kühne zeigte (1. c. p. 618), auch an ganz
frischen Froschmuskeln zeigen, ja es tritt das Phänomen hier sogar
noch regelmässiger ein als bei den Muskeln des Warmblüters. Hängt
man den Sartorius an dem einen Ende auf und legt an dem andern
Ende mit der Scheere einen Querschnitt so an, dass man zugleich den
Muskel etwas spannt, „damit das Wellenspiel nicht in den ruck weisen
Zuckungen untergehe", so sieht man „namentlich bei durchfallendem
Lichte, worin der Muskel in den schönsten Farben spielt, die zarten
Wellen scheinbar in der durchsichtigen Masse aufsteigen und wieder
herabwallen, wodurch zugleich das Farbenspiel des schillernden Mus-
kels in den lebhaftesten Wechsel geräth".
Auch Her m a n n (9, p. 604) machte analoge Beobachtungen an
frisch präparirten und auf einer Korkplatte befestigten Sartorien,
welche an irgend einer Stelle mechanisch durch Einstechen einer
Nadel oder Aufdrücken eines feinen hölzernen Meisselchens gereizt
wurden. „Man sieht dann häufig von dieser Stelle aus ein zartes
Wogen oder Rieseln über die Fasern ablaufen", welches sich von der
gereizten Stelle aus nach beiden Richtungen erstreckt und meist die
Reizung etwas überdauert. Es kann natürlich nicht davon die Rede
sein , in diesen Fällen das Phänomen aus einer verminderten Erreg-
barkeit des Muskels herzuleiten. Aus Versuchen, welche Milrad (15)
an Muskeln anstellte, deren Erregbarkeit durch verschiedene chemische
Substanzen (Veratrin, Chloroform, NaoCOg, Coffein) entweder herab-
gesetzt oder gesteigert wurde, scheint sich zu ergeben, dass zwar das
Auftreten des idiomusculären Wulstes durch eine Herabsetzung der
Erregbarkeit begünstigt, durch eine Erhöhung derselben beeinträchtigt
wird, wenngleich die Differenz zwischen dem normalen und dem ver-
gifteten, bezw. ermüdeten Muskel meist nur eine kleine und oft die
Fehlergrenze der Bestimmung nicht überschreitende ist, dass jedoch
die langsam fortschreitenden, wellenförmigen Contractionen stets nur
bei normaler oder gesteigerter Erregbarkeit beobachtet werden. So
erwähnen auch Schiff wie Auerbach, dass das Wellenspiel bei
Bestreichen mit einer stumpfen Nadel nur an den Muskeln frisch
gefangener Frösche hervortritt, und Milrad bemerkt, dass es fast
immer gelingt, diese Contractionsform zu erzeugen, wenn man die Er-
regbarkeit künstlich steigert, oder zu beseitigen, wenn man jene herab-
setzt. Da sowohl der idiomusculäre Wulst wie das Wellenspiel auch
an curarisirten Thieren beobachtet werden, so kann es sich natürlich
nur um eine Folgewirkung der directen Muskelreizung handeln, ob-
schon von mancher Seite (freilich auf Grund gänzlich unzureichender
Versuche 16) die Ansicht vertreten wurde, dass die motorischen Nerven-
endigungen bei den in Rede stehenden Muskelphänoraenen betheiligt seien.
Obschon zweifelsohne mechanische Reize zur Erzeugung des idio-
musculären Wulstes am besten geeignet sind, so ist doch die Anwen-
dung anderer Reizqualitäten keineswegs ausgeschlossen. So fand
schon Auerbach (1. c. p. 322), dass bei localer Einwirkung „schwä-
Die Formänderung des Muskels bei der Tliätig-keit. 133
eherer" faradisclier Ströme hügelige Erhebungen an beiden Polen, bei
stärkeren Strömen dagegen ein markirter Wulst über der ganzen
intrapolaren Strecke entsteht, Thatsachen, welche später auch Mil-
rad (1. c. p. 266) bestätigte. Als idiomusculären Wulst wird man
ferner auch die später genauer zu schildernde Schliessungsdauercon-
traction bezeichnen müssen, welche man an der Kathode bei Anwendung
eines constanten Stromes von hinreichender Stärke sowohl an quer-
gestreiften wie glatten Muskeln auftreten sieht, und ebenso scheint das
unter gleichen Verhältnissen zu beobachtende, von der Anode aus-
gehende Wogen der quergestreiften Muskeln (galvanisches Wogen,
Hermann) dem Wellenspiel bei mechanischer Reizung direct ver-
gleichbar.
Eine ganz besondere Bedeutung für die Aufklärung der Be-
ziehungen der Contractionswellen zu den bei den verschiedenen
Formen der Muskelcontraction auftretenden Erscheinungen dürfte, wie
Rollett (7, p. 201 if.) richtig hervorhob, den Muskeln der In -
s e c t e n zukommen , an denen zuerst B o w m a n Beobachtungen
machte, welche sich den vorstehend geschilderten direct anschliessen.
Es handelt sich dabei um wellenförmige Contractionen an einzelnen
lebenden oder überlebenden Muskelfasern, welche sich direct mit
dem Mikroskope beobachten und deshalb (sowie wegen der grossen
Langsamkeit ihres Ablaufs) Details erkennen lassen, welche an einem
aus zahlreichen und sicher in verschiedenen physiologischen Zuständen
befindlichen Fasern bestehenden Gesammtmuskel stets verborgen
bleiben müssen. Dazu kommt noch, dass es gelingt, solche kurze Con-
tractionen durch Behandlung mit geeigneten Härtungsmitteln während
ihres Ablaufes zu fixiren, so dass es möglich wird, die feinsten Details
der den Contractionsvorgang begleitenden Veränderungen der Muskel-
fasern zu erkennen Schon während des Lebens lassen sich an
manchen Insecten zweierlei Bewegungsvorgänge an den quergestreiften
Muskeln beobachten , solche , welche , der Zuckung der Wirbelthier-
muskeln entsprechend, in raschen, blitzähnlichen Zusammenziehungen
eines Muskelbündels in seiner Totalität bestehen und andererseits langsam
über die Faser ablaufende Knoten oder kurze Wellen, die oft periodisch
oder rhythmisch ohne sicher nachweisbaren äusseren Reiz entstehen.
Es ist auch hier wieder wichtig, hervorzuheben, dass, wie schon
Wagen er (17) nach Beobachtungen an der Larve von Corethra
hervorhebt, dieFasern, an welchen jenes Wellenspiel her-
vortritt, noch ganz wohl im Stande waren, totale Con-
tractionen (Zuckungen) auszuführen. Er sah wiederholt beide
Formen von Bewegungen an derselben Faser mit einander abwechseln,
wobei jedoch zu bemerken ist, dass das Wellenspiel allerdings bei
ganz lebenskräftigen Thieren nicht vorzukommen scheint. Auch
Lau 1 an i 6 (18), welcher C orethra -Larven in den verschiedensten
Stadien des Absterbens untersuchte, unterscheidet scharf die Muskel-
bewegungen des lebenskräftigen Thieres von den Bewegungen, welche
an den überlebenden Muskeln des absterbenden Thieres einti-eten. Die
ersteren (secousses, contractions totales et simultanees) sieht er als den
Ausdruck der normalen Muskelthätigkeit an; die letzteren („ondes
musculaires") als den Ausdruck der eigenen Thätigkeit überlebender
Muskeln. Beide Erscheinungen sind in der Folge von Rollett (19)
einer genaueren Analyse unterworfen worden. Er beschreibt das
Wellenspiel an den Muskeln absterbender Corethra- Larven mit fol-
\^4: Diß Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
genden Worten : „Die Anfangs nur in geringer Zahl an einzelnen
Muskelfasern auftauchenden, unter dem Mikroskope sichtbaren Wellen
treten allmählich an immer zahlreicheren Fasern der Muskeln des
Thieres zu Tage und wiederholen sich dann an derselben Faser in
immer kürzeren Perioden , so dass sich ein lebhaftes Wellenspiel ein-
stellt, Avelches erst nach geraumer Zeit, so wie es gekommen, auch
wieder vergeht. Die Wellen an den einzelnen Fasern wiederholen sich
nur mehr in längeren Perioden, die Zahl der Fasern, an welchen
Wellen ablaufen, verringert sich immer mehr, und nach einiger Zeit
sind nur noch wenige Fasern vorhanden, an welchen nur noch in
langen Perioden auf einander folgende Wellen ablaufen, bis endlich
nur an einzelnen Fasern in sehr langen Perioden noch Wellen auf-
treten."
Da, wie auch Rollett bestätigt, die ersten langsam ablaufen-
den Wellen schon an Fasern auftreten, welche noch totaler Contrac-
tionen (Zuckungen) fähig sind, so kann nicht bezweifelt werden, dass
auch die kurzen Wellen nur .,als durch die Besonderheit der Reizung
bedingte, eigenthümlich ablaufende Bewegungsvorgänge normal be-
schaffener Muskelsubstanz" anzusehen sind. Die grösste Ueberein-
stimmung zeigen die eben beschriebenen Wellen an den Muskeln ab-
sterbender Corethra-Larven mit den seit Bowman (20) oft unter-
suchten Bewegungen frisch ausgeschnittener Insectenmuskeln. Rollett
untersuchte diese letzteren an langen, schmalen Streifen von Muskeln
einer grossen Zahl von Käfern , an denen sich das Wellenspiel oft
stundenlang beobachten lässt. Gewöhnlich ist dasselbe, wenn man die
Muskelstückchen recht rasch unter das Mikroskop bringt, gleich beim
ersten Anblick so lebhaft entwickelt, als es überhaupt werden kann.
Auch hier treten die Wellen als kurze, steil ansteigende und ab-
fallende und langsam dahinrollende Knoten der Fasern auf und ihre
Länge liegt auch hier in engen Grenzen, etwa 12 — 24 Querstreifen
umfassend. Eine solche Begrenzung bleibt auch erhalten, wenn
das Wellenspiel wieder weniger lebhaft wird, was auch hier dadurch
geschieht, dass die Wellen an immer weniger Fasern in immer längeren
Perioden und endlich nur an einzelnen Fasern in sehr langen Perioden
auftreten. Wenn man ganz frisch ausgeschnittene Käfermuskeln rasch
zwischen Objectträger und Deckgläschen unter das Mikroskop bringt
und ein lebhaftes Wellenspiel daran ablaufen sieht, so bleibt man, wie
Rollett bemerkt, häufig ganz im Unklaren über den Ausgangspunkt
der Wellen. Dieselben laufen über die Fasern hin, und man sieht sie
nur immer aus derselben Richtung her ankommen und in derselben
Richtung hin fortlaufen. Das ist aber nicht immer der Fall. Man ist
gelegentlich auch im Stande, an einzelnen Fasern bestimmte Ausgangs
punkte der fortschreitenden Wellen aufzufinden, die inmitten einer Faser
liegen. Diese Erscheinung wurde von Bowman und später von
Aeby, welcher die durchsichtigen Beine gewisser kleiner Spinnenarten
für die Beobachtungen benutzte, schon beschrieben. An der betreff'en-
den Stelle bildet sich ein Wulst, der, wie Aeby treffend angiebt,
auf dem Höhenpunkt seiner Bildung einen Augenblick stehen zu
bleiben scheint, dann sich plötzlich in der Weise theilt, dass die aus-
gebuchtetste Stelle in die frühere Gleichgewichtslage rasch zurücksinkt,
die beiden Wulsthälften aber auseinandertreten und in entgegen-
gesetzter Richtung gegen beide Faserenden hingleiten ; hat man eine
solche Stelle einmal aufgefunden, dann überzeugt man sich leicht, dass
Die Formändernng des Muskels bei der Thätigkeit. 135
sie durch geraume Zeit einen stehenden Ausgangspunkt immer neuer
periodisch auf einander folgender Wellen bildet. Nach Rollett hat es
den Anschein, als ob in vielen Fällen die kurzen Contractionswellen
ihren Ausgangspunkt an oder zunächst einem Querschnitt nehmen,
was vielleicht auf die Bedeutung des Muskelstromes oder der das Ab-
sterben begleitenden chemischen Veränderungen der Muskelsubstanz
als auslösender Reiz schliessen lässt. In einzelnen Fällen lässt sich
mit aller Sicherheit ein Doyer'scher Hügel als Ausgangspunkt einer
Contractionswelle erweisen, und es scheint, dass dies sogar für alle
in der Continuität einer Faser entstehenden Wellen gilt.
Rollett versuchte die Fortpflanzungsgeschwindigkeit dieser Wellen
an hinreichend langen, aus den Schenkelstreckern und Beugern des
hintersten Beinpaares grösserer Käfer herausgeschnittenen Muskel-
streifen nach derselben Methode zu bestimmen, welche E. H.Weber
zur Messung der Geschwindigkeit des Capillarkreislaufes benutzte,
indem die Zahl der Metronomschläge bestimmt wurde, welche zwischen
die Coincidenz des Maximums eines Knotens mit einem bestimmten
Theilstrich am Anfang und Ende eines Ocularmikrometers fielen. Es
ergaben sich hierbei Werthe von 0,08—0,67 mm (im Mittel 0.169 mm);
die Länge der Wellen schwankte zwischen 0,08 und 0,115 mm. Es
handelt sich also, wie man sieht, um wahre „Miniaturwellen", welche
sich mit äusserst geringer Geschwindigkeit fortpflanzen, gegen welche
selbst jene der langsamsten Contractionswellen an quergestreiften
Wirbelthiermuskeln, die nach Auerbach zwischen 314 — 471 mm pro
Sekunde schwankt, noch sehr erheblich ist. Leider ist es bisher nicht
möglich gewesen, die Leitungsgeschwindigkeit der einer raschen
Zuckung zu Grunde liegenden Erregung an Insectenmuskeln zu
messen. Sicher wird dieselbe aber bei der kurzen Zuckungsdauer
(0,112—0,527 Sekunden, Rollett) eine sehr beträchtliche sein, wenngleich
nach Rollett als wahrscheinlich anzunehmen ist, dass bei den In-
sectenmuskeln auch die längsten (am raschesten sich
fortpflanzenden) Wellen weit hinter jenen der Muskeln
der Vertebraten zurückbleiben. Es wurde sehen oben er-
wähnt, dass sowohl Schiff wie auch andere Beobachter an quer-
gestreiften Wirbelthiermuskeln vielfach ein Reflexion der ans Ende
einer Faser gelangten langsamen ContractionsAvellen beobachteten. Es
scheint, dass etwas Aehnliches an Insectenmuskeln nicht oder nur sehr
selten vorkommt, wenigstens ist es Rollett niemals gelungen, weder
an den ganzen Muskeln von Corethr alarven, noch auch an aus-
geschnittenen Käfermuskeln irgend etwas zu sehen, „was sich hätte
als reflectirte Welle deuten lassen".
Sowohl in dem Falle, wenn, wie erwähnt wurde, die W^elle in-
mitten einer Faser entsteht und nach beiden Seiten abläuft, wie dann,
wenn ein bestimmter Ausgangspunkt nicht sicher zu entdecken ist,
sieht man die Wellen noch unterwegs und mitunter ganz plötzlich
ohne vorhergehende Verkleinerung erlöschen. Eine Interferenz zweier
von entgegengesetzter Seite (den beiden Endquerschnitten einer Faser)
her kommender Contractionswellen hat Rollett nur einmal be-
obachtet, wobei die beiden Wellen sich zunächst zu einer grösseren
Welle vereinigten, um dann sofort zu verlöschen.
Einer Art von Summation verdanken, wie Rollett (19) wahr-
scheinHch gemacht hat, auch jene schon erwähnten „fixirten"
Contractionswellen ihre Entstehung, die man so häutig an den
igg Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
Muskelfasern in Alkohol oder Osmiumsäure ertränkter Insecten zu be-
obachten Gelegenheit hat. Dieselben zeichnen sich vor den be-
sprochenen Wellen lebender Muskeln in der Regel durch ihre
grössere Länge aus, was E n g e 1 m a n n darauf zu beziehen gen eigt
ist, dass es sich dabei um Wellen handelt, die fixirt wurden, während
ihre Fortpflanzgeschwindigkeit noch bedeutend war. Nach R o 1 1 e 1 1
entstehen dieselben jedoch dadurch, „dass eine ganze Reihe auf ein-
ander folgender, kurzer, lebender Wellen successive partiell flxirt
werden, so dass sie demnach keine einheitliche Bildung, sondern „eine
Summe von f e s t g e 1 e g t e n T h e i 1 e n zeitlich auf einander
gefolg ter Contr actio ns wellen" darstellen. Wenn eine be -
stimmte Stelle einer Muskelfaser längere Zeit hindurch den Ausgangs-
punkt periodischer kurzer Wellen gebildet hat, sieht man dann oft, wie
Rollett beschreibt, von den contrahirten Muskelabschnitten einige im
verkürzten Zustande verharren, während die beiderseits angrenzenden
Muskelabschnitte wieder erschlaffen. Es hat sich dann eine nur ein
kurzes Muskelsegment umfassende dauernde Contraction gebildet, von
der nun die weiteren Wellen stets ausgehen. „Dabei bemerkt man aber,
dass jede neue Welle, die an den contrahirt gebliebenen Abschnitten ent-
steht, wieder einen neuen solchen Abschnitt anlegt, während die andern
wieder erschlaffen ; auf diese Weise bildet sich eine immer längere
fixirte, contrahirte Strecke aus, bis schliesslich die ganze Bewegung
plötzlich stockt oder mit einer gegen das erschlafft bleibende Faserende
hin gleichsam verrinnenden Welle aufhört." An den Muskeln von
Vertebraten, an welchen Contractionswellen zwar auch beobachtet
werden, die aber nicht das lebhafte und lange dauernde spontane
Wellenspiel zeigen, sind solche fixirte Wellen auch nur als seltener
Befund constatirt worden (Bowman, I.e., Nasse, 21). Sehr häufig
ist bei Insectenmuskeln der Doyer'sche Hügel der Ausgangspunkt des
Wellenspiels und dem entsprechend auch die Stelle, wo sich fixirte
Contractionswellen besonders leicht bilden. Bisweilen kommt es hier
zur Entstehung partieller Contractionen, der sogen, seitlichen
fixirten Contractionswellen (.,ondes laterales"). Nach Rollett ist dies
eine besondere Eigenschaft der Muskelfasern der meisten Chryso-
meliden (7, p. 216), während bei anderen Insectenmuskeln das Auf-
treten seitlicher Contractionswellen ein sehr seltenes Ereigniss ist
(Tenebrioniden, Curculioniden und Scarabaeiden). Es
scheint, dass die Nervenhügel der C h r y s o m e l i d e n der 1 *^; o Ormium-
säure und dem Alkohol oder einem durch diese Reagentien eingeleiteten
Vorgange besondere Angriffspunkte für eine physiologische Wirkung
darbieten, die erfolgt, ehe noch jene Agentien auf die Muskelsubstanz
selbst einwirken, und als deren Ergebniss unmittelbar vor dem Ab-
sterben der betreffenden Fasern die dem Nervenhügel entsprechende
seitliche Contraction eintritt. Im Uebrigen gilt für die Entstehung
dieser seitlichen Wellen dasselbe, was bereits über die Entwicklung
der „fixirten" Wellen überhaupt gesagt wurde.
Fassen wir die vorstehend mitgetheilten Thatsachen zusammen,
so ergiebt sich als Hauptresultat, dass sowohl die quergestreif-
ten Muskelfasern der Vertebraten wie auch jene der
Evertebraten die Fähigkeit besitzen, lange und kurze,
rasch und langsam sich fortpflanzende Contractionswellen
zuleiten, wobei es anscheinend nur a u f V e r s c h i e d e n -
h e i t e n der Reizung ankommt. Mit Rücksicht auf die normale
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 137
Function der Muskeln als locomotorischer Organe dürfte den kurzen
Wellen, wenn überhaupt, nur eine geringe Bedeutung zukommen. Um
so interessanter sind dieselben jedoch in theoretischer Hinsicht. Die
enormen Unterschiede der Fortpflanzungsgeschwindigkeit lassen es auf
den ersten Blick fraglich erscheinen, ob es sich in beiden Fällen wirk-
lich um dieselben Elementartheile der Muskelfasern handelt, da er-
fahrungsgemäss Verschiedenheiten der Intensität innerhalb des Be-
reiches der zur Auslösung von Zuckungen erforderlichen Reizstärke
keine merklichen Unterschiede der Leitungsgeschwindigkeit entsprechen;
auch ist nicht daran zu denken, die „trägen" und „flinken" Muskel-
fasern zur Erklärung heranzuziehen, da die hier zu beobachtenden
Unterschiede der Contractions- und Leitungsgeschwindigkeit nicht im
Entferntesten ausreichen, um die vorhandenen Difterenzen zu erklären.
Fast unwillkürlich lenkt sich dagegen der Blick auf die beiden wesent-
lichen Hauptbestandtheile jeder Muskelfaser, das Sarkoplasma und
die Fibrillen. Wir wissen, dass in vielen Fällen dem Protoplasma
(Sarkoplasma), aus welchem sich zuckende Fibrillen differenzirt haben,
die eigene Contractilität nicht völlig mangelt; so zeigen viele ciliate
Infusorien die Fähigkeit, sich vermittels ihrer Myoide sowohl
zuckend wie auch durch Contraction des Körperplasmas träge und
mehr dem Typus der amoeboiden Bewegung entsprechend zu bewegen.
Die Möglichkeit, dass auch dem Bildungsplasma der Muskelfasern
höherer Thiere Contractilität zukommt, dürfte um so weniger zu
bezweifeln sein, als von mancher Seite (Kühne) die Fibrillen
geradezu als passive, elastisch wirkende Elemente angesehen worden
sind, deren Bedeutung hauptsächlich in der Wiederverlängerung des
Muskels zu erblicken sein würde. Wenn auch diese extreme An-
schauung keineswegs als den Thatsachen entsprechend angesehen wer-
den kann, so ist doch anderseits ebensowenig die Möglichkeit der
Contractilität des Sarkoplasmas in Abrede zu stellen. Giebt man dies
a,ber zu, so ist nach aller Analogie anzunehmen, dass die Verhältnisse der
Erregbarkeit und des Leitungsvermögens bei beiden Elementarbestand-
theilen jeder Muskelfaser ganz wesentliche Verschiedenheiten darbieten
werden, und zwar in dem Sinne, dass die Fibrillen viel rascher leiten
(„zuckend" sich contrahiren) , während das minder erregbare Sarko-
plasma, wie fast jedes nicht weiter difi^erenzirte Plasma, den Erregungs-
vorgang nur langsam fortpflanzt. Auf Grund der histologischen Unter-
suchung erscheint es freilich ausgeschlossen, die Fibrillen als überhaupt
nicht betheiligt bei den langsam fortschreitenden Contractionswellen
anzusehen, indessen ist es doch bemerkenswerth, dass das Wellenspiel
an Muskelfasern gerade unter Bedingungen sich besonders leicht ent-
wickelt , welche erfahrungsgemäss für die Erregung des nicht weiter
differenzirten contractilen Plasmas günstig sind. So zeigt sich die
mechanische Reizung besonders erfolgreich, auch muss wenigstens
bei Wirbelthiermuskeln die Intensität der Erregung eine viel grössere
sein , als zur Auslösung einer Zuckung erforderlich ist. Sehr be-
merkenswerth ist ferner auch die zeitliche Aufeinanderfolge der Ent-
wicklung der verschiedenen Contractionsformen , indem man zuweilen
Gelegenheit hat, zu beobachten, wie nach Ablauf der dem Reiz sich
unmittelbar anschliessenden, scheinbar gleichzeitig erfolgenden Zuckung
erst der idiomusculäre Wulst sich erhebt, von dem dann noch später
die langsam verlaufenden Wellen ausgehen. Dies würde durchaus in
Uebereinstimmung stehen mit der viel grösseren Latenzdauer und
]^38 1*16 Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit.
langsameren Entwicklung der Contraction rein plasmatischer Theile.
Eine sichere Entscheidung der hier angeregten Fragen Avird erst dann
möglich sein, wenn unsere Kenntnisse über die functionellcn Beziehungen
zwischen Sarkoplasma und Fibrillen weiter fortgeschritten sein werden,
als es zur Zeit der Fall ist.
In den bisher besprochenen Fällen haben wir es ausschliesslich mit
der Leitung des Erregungsvorganges innerhalb einzelner, viel-
kerniger, langgestreckter Zellen, als welche die quergestreiften Skelet-
muskelfasern aufzufassen sind, zvi thun. Eine Conti'actionswelle hört
entweder unterwegs auf oder schreitet bis zum Ende jeder Faser fort,
wo sie eventuell reflectirt werden kann oder, wie in der Regel, einfach
erlischt. Jede noch so zarte sehnige Inscription macht die Fortpflanzung
auch der stärksten Erregung darüber hinaus gänzlich unmöglich, so dass
Reizung eines polymeren Muskels am einen Ende stets nur eine Contrac-
tion des direct betroffenen Theilstückes zur Folge hat. Ebenso wenig
ist eine Uebertragung der Erregung in querer Richtung von einer Faser
auf die benachbarten, nächstanliegenden möglich, und scheinbare Aus-
nahmen (wie insbesondere an vertrocknenden Muskeln) sind, wie
später zu erörtern sein wird, in anderer Weise zu deuten. Ganz
wesentlich verschieden gestaltet sich dagegen die Erregungs-
leitung an muskulösen Organen, welche aus einkernigen
M u s k e 1 z e 1 1 e n zusammengesetzt sind.
Ein coordinirtes Zusammenwirken zahlreicher Muskelzellen bei
localisirter Reizung ist hier offenbar nur möglich, wenn entweder die
Uebertragung der Erregung unter Vermittlung von Nerven erfolgt,
oder wenn sich dieselbe direct von Zelle auf Zelle zu übertragen und
fortzupflanzen vermag. Es scheint, dass beide Möglichkeiten that-
sächlich realisirt sind.
Was zunächst das Herz betrifft, so hat hier zuerst E n g e 1 m a nn (22)
die betreffenden Verhältnisse näher untersucht, nachdem bereits A.
Fick (23) eine kurze darauf bezügliche Mittheilung gemacht hatte.
Wenn man den vom Vorhof getrennten ruhenden Ventrikel des Frosch-
herzens an einer beliebigen, noch so begrenzten Stelle reizt, so beob-
achtet man stets eine darauf folgende allgemeine Contraction (Systole)
des Hohlmuskels, so dass die Erregung sich von der gereizten Stelle
aus gleichmässig nach allen Richtungen hin durch Leitung verbreitet
haben musste. Dazu ist, wie Engel mann gezeigt hat, nicht einmal
Unversehrtheit des Ventrikels nothwendig, sondern der Versuch ge-
lingt auch noch dann, wenn man die Herzkammer eines eben ge-
tödteten Frosches mittels einer Scheere in zwei oder mehr, jedesmal
nur durch eine ganz schmale Brücke von Muskelsubstanz noch zu-
sammenhängende Stückchen zerschneidet ; nach einiger Zeit contrahiren
sich dann auf Reizung irgend eines dieser Stückchen nach einander
auch die andern. Es ist ganz gleichgültig, an Avelchen Stellen die
einzelnen Stückchen mit einander zusammenhängen ; Bedingung ist
nur, dass sie durch etwas Muskel Substanz verbunden bleiben.
Der Versuch in dieser Form beweist also, „dass sich die Er-
regung in der Herzkammer von jedem Punkte aus nach
jedem andern Punkte längs jedes beliebigen andern
Punktes fortpflanzen kann." Bei dem erwähnten Versuche
pflegt das volle, Anfangs gestörte Leitungsvermögen des einzelnen
Muskelbrückchens erst allmählich, im Verlaufe einiger Zeit wieder-
zukehren, und oft ist dies sogar erst nach einer Stunde oder später
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 139
der Fall. Hängt ein Stück der Kammer noch mit der pulsirenden
Vorkammer zusammen, so contrahirt sich, wenn das Leitungsvermögen
überall wieder hergestellt ist, nach jeder Vorkammersystole zuerst
dieses Stück, darnach das hieran grenzende u. s. f. Die Contraction
pflanzt sich also in peristaltischer Richtung von der Kammerbasis nach
der Spitze zu fort. Zeigt das Prcäparat keine spontanen Bewegungen
mehr, so hängt die Reihenfolge, in Avelcher die einzelnen Stücke sich
contrahiren, nur davon ab, welches Stück zuerst gereizt wird, indem
die Contraction von diesem aus nacheinander auf alle anderen fort-
schreitet; niemals überspringt dieselbe ein Stück. Da die Annahme,
dass jede Zelle mit ihren Nachbarn durch Nervenfasern verbunden ist,
sowohl durch die histologische Untersuchung, wie insbesondere durch
die geringe Geschwindigkeit der Erregungsleitung von vornherein aus-
geschlossen erscheint, so bleibt nur die zweite mögliche Annahme
übrig , dass die Erregung (Contraction) d i r e c t von Zelle
zu Zelle in derselben Weise fortschreitet, wie inner-
halb jeder einzelnen Zelle.
Die zeitlichen Verhältnisse des Contractionsverlaufes fanden, soweit
es sich um die „Zuckung" des Herzmuskels handelt, bereits früher
Besprechung. Hier soll nur die Leitungsgeschwindigkeit, d. i. die
Schnelligkeit des Fortschreitens der Erregung von Querschnitt zu
Querschnitt, noch erörtert werden. Diese ist unter normalen Verhält-
nissen auch am Froschherzen so gross, dass alle Stellen sich wie bei
Reizung eines quergestreiften Skeletmuskels anscheinend völlig gleich-
zeitig zusammenziehen. Dieser Schein kann bei sehr frischen, kräftigen
Herzen auch noch nach Spaltung der Kammer in mehrere Stücke
bestehen. In der Regel ist aber dann das wellenförmige Fort-
schreiten der Contraction ohne Weiteres erkennbar. Oft scheint
es, als ob die Leitung in den Brücken langsamer als in den grösseren
Stücken erfolge: denn jedes der letzteren zieht sich scheinbar auf ein-
mal, als Ganzes zusammen, während zwischen der Contraction von
zwei auf einander folgenden Stücken eine merkliche Zeit vergeht.
Mittels eines Viertelsekunden schlagenden Metronoms bestimmte Engel-
mann die mittlere Leitungsgeschwindigkeit an 10 — Ib mm langen,
durch passende Einschnitte in die Kammer hergestellten Muskelstreifen
im Maximum etwa gleich 30 mm in der Sekunde, gewöhnlich aber nur
zu 10 — 20 mm. Obschon diese Werthe sicher weit unter der normalen
Höhe liegen, so lassen sie doch schliessen , dass selbst im günstigsten
Falle die Leitungsgeschwindigkeit unverhältnissmässig kleiner ist, als
sie sein müsste, wenn die Uebertragung der Erregung durch Nerven
vermittelt würde. In sehr auffallender Weise wird die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit durch Abkühlung des Präparates vermindert. Ab-
kühlung von 17 '^ C. auf 5*^ C. genügte beispielsweise, um jene von
20 mm auf 8 mm herabzudrücken. Unter normalen Verhältnissen
pflanzt sich die Erregung stets von den Vorkammern auf den Ven-
trikel fort. Dass hierbei lediglich Muskelleitung im Spiele ist, hat
neuerdings Engelmann (22) in überzeugender Weise durch Ver-
suche am „suspendirten" Froschherzen dargethan , welche nach dem-
selben Princip angestellt Avurden, dessen sich seiner Zeit H elm hol tz
zur Messung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im
Nerven bediente. Die Vorkammern vertraten gewissermaassen die Stelle
des Nerven, die Kammer jene des Muskels-, die ersteren wurden in
verschiedener Entfernung von der Kammer gereizt und jedes Mal das
140 Die Formänderung- des Muskels bei der Thätigkeit.
Latenzstadium der Kammersystole gemessen. Erfolgte die Leitung
durch Nervenfasern, so war eine merkliche Differenz bei der Kleinheit
der verfügbaren Strecken nicht zu erwarten, wohl aber, wenn Zellen-
leitung im Muskel stattfand. Stets zeigte sich nun in der That eine
sehr erhebliche Verspcätung im Eintritt der Ventrikelsystole bei Reizung
des Vorhofes in grösserem Abstände. In einem gegebenen Falle, in
welchem allerdings die Geschwindigkeit schon nicht mehr ganz normal
war, betrug die Verspätung etwa 0,09", was einer Leitungsgeschwindig-
keit von 90 mm pro Sekunde entspricht. Das ist aber, wie Engel-
mann hervorhebt, ein Werth, der etwa 30 0mal geringer ist,
als unter gleichen Bedingungen die Fortpflanzungsge-
schwindigkeit im motorischen Frosch nerven. Damit er-
scheint aber, Avie innerhalb des Vorhofes und Ventrikels selbst, so auch
vom Vorhof zum Ventrikel die Muskelleitung sicher gestellt. So sehr
die Grösse der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im Muskel
von verschiedenen Zusttänden desselben (Ermüdung, Temperatur)
abhängig ist, so kann sie unter Umständen doch erhalten bleiben, un-
geachtet hochgradiger Veränderungen der Muskelsubstanz. So zeigt
sich , dass bei partieller Quellung des Sartorius vom Frosch die ver-
änderte Strecke das Vermögen der Contractilität bereits völlig verloren
haben kann, ohne dass die elektrische Reizbarkeit und das Leitungs-
vermögen erheblich beeinträchtigt sind (Biedermann 24). Dasselbe
gilt, Avie Engel mann (1. c.) fand, auch für die Muskelbalken des
Vorhofes vom Froschherzen, welche „nach vollständiger Aufhebung
ihrer Contractilität doch den Bewegungsreiz für den Ventrikel noch
fortzupflanzen im Stande sind, und zwar mit einer Geschwindigkeit
durchaus derselben Ordnung, wie wenn das Verkürzungsvermögen er-
halten wäre" *).
Dass analoge Verhältnisse der Erregungsleitung, wie sie hier für
das Froschherz geschildert wurden, auch für den Herzmuskel höherer
Wirbelthiere gelten, dürfte wohl kaum zu bezweifeln sein, und es ist
dies insofern von Belang, als beispielsweise bei Säugethieren im All-
gemeinen eine viel weniger ausgiebige Berührung der einzelnen
kurzen und breiten Muskelzellen stattfindet, die nur mit ihren abge-
stumpften Endflächen und kurzen Seitenzweigen Avirklich verschmelzen.
Aehnlichen Verhältnissen begegnet man auch wieder im Darm der
I n s e c t e n u n d M y r i o p o d e n , in dessen Wand netzartig verbundene,
quergestreifte (einkernige) Muskelzellen liegen, durch deren Contraction
die normalen, peristaltischen Bewegungen des Verdauungstractus ver-
mittelt werden. Als das geeigneteste Object für die combinirte ana-
tomische und physiologische Untersuchung empflehlt Engelmann (25)
den Fliegendarm und zwar den Anfangstheil des Enddarmes, von der
Einmündung der Malpighi'schen Gefässe bis zum Rectum. „Die Muskel-
haut besteht hier im Wesentlichen aus einer einzigen Lage von starken,
quergestreiften, von deutlichem Sarkolemma (das den Herzmuskelzellen
durchweg fehlt) umschlossenen Circularfasern , die durch merkliche
Zwischenräume von einander geschieden sind." Jede Faser erscheint
mit ihren Nachbarn durch einen oder mehrere schief oder zuweilen
quer verlaufende Aeste verbunden, durch deren Vermittlung die con-
*) Ganz neuerdings hat Kaiser (Zeitschr. f. Biologie 1894) die Beweiskraft der
betreffenden Versuche in Frage gestellt, indem er die beobachteten Wirkungen auf
Stromschleifen bezieht. Inwieweit dies liegründet ist, müssen weitere Versuche zeigen,
zu denen ich noch nicht Zeit gefunden habe.
Die Formänclerung des Muskels bei der Thätigkeit. 141
tractile Substanz in der ganzen Länge des Enddannes sozusagen im
physiologischen Sinne ein Continuum bildet. Reisst man die letzten
Hinterleibssegmente einer Fliege mit der Pincette ab, so bleibt in der
Regel der Enddarm daran hängen und zeigt nun, frisch in 0,5 ^/o NaCl-
Lösung untersucht, lebhafte peristaltische Bewegungen: in ziemlich
regelmässigen Intervallen von wenigen Sekunden laufen peristaltische
Wellen von der Einmündungsstelle der Malpighi 'sehen Gefässe nach
abwärts zum Rectum, Anfangs laufen die Wellen zu schnell, als dass
es möglich wäre, den Vorgang im Einzelnen näher zu verfolgen.
Wartet man aber V 4 oder V2 Stunde, oder belastet man das Präparat mit
einem etwas schwereren Deckgläschen, so pflanzt sich die Contraction
langsamer fort, die Wellen folgen sich in grösseren Pausen, und man
sieht sie deutlich über die einzelnen Fasern und ihre Verbindungs-
stücke ablaufen. „Reizt man, kurz nachdem eine Contractionswelle
am unteren Ende des schmalen Anfangsstückes vom Enddarme ange-
kommen, dieses Ende mechanisch mit einer Nadelspitze, so läuft so-
gleich eine antiperistaltische Welle durch die Muskelfasern hinauf und
erreicht die Einmündungsstelle der Malpighi 'sehen Gefässe, wenn sie
nicht vorher durch Zusammentreffen mit einer von oben kommenden
Welle erlosch." Remerkenswerth ist auch der Umstand, dass, wie
es scheint, das Leitungsvermögen der contractilen Substanz durch
den Contractionsvorgang selbst vorübergehend merklich herabgesetzt
wird. Eine nach längerer Ruhe ablaufende Welle schreitet mit an-
scheinend gleichbleibender Geschwindigkeit von ihrem Ausgangs-
punkte fort. War aber kurz vorher eine Welle abgelaufen, so bringt
die neue Reizung nur eine ganz örtliche Zusammenziehung hervor oder
doch nur eine Welle, die rasch an Stärke abnimmt und nahe ihrem
Ausgangspunkt erlischt.
Bekanntlich finden sich auch im Verdauungstract gewisser Fische
(Schleie, Cobitis) quergestreifte Muskelfasern in ähnlicher Anordnung;
ob hier auch analoge Beziehungen der Erregungsleitung bestehen, ist
bisher nicht näher bekannt (26). Dagegen liegen sehr eingehende
Untersuchungen über die Erregungsleitung innerhalb des contractilen
Gewebes gewisser Medusen (bei Aurelia) vor, denen zufolge ganz
ähnliche Verhältnisse gegeben zu sein scheinen, wäe beim Herzmuskel (27).
Die grösste Uebereinstimniung mit den bisher besprochenen Formen
einkerniger quergestreifter Muskelzellen zeigen in Bezug auf die
Verhältnisse der Erregungsleitung die so vielgestaltigen Verbände
glatter Muskelzellen. Auch auf diesem Gebiete verdanken wir
wieder Engelmann die wichtigsten Aufschlüsse (28). Als ein für
die genauere Untersuchung besonders geeignetes Object erweist sich
vor Allem der Ureter mancher Säugethiere (Kaninchen, Meer-
schweinchen, Ratte u. a.), der bekanntlich einen zart-n, beim Kanin-
chen etwa 1,3 mm dicken Muskelschlauch darstellt, der sich vom
Hilus der Niere bis zur Blase längs des M psoas in einer Ausdeh-
nung von etwa 11 cm hinabzieht. Die zwischen der Adventitia und
der Schleimhaut gelegene Muskelhaut besteht aus einer inneren,
dünnen Längsschicht und einer äusseren, viel dickeren Circularschicht.
Beide setzen sich zusammen aus glatten, membranlosen, einkernigen
Faserzellen von ungefähr 0,2 mm Länge, die im physiologisch
frischen Zustande kaum merkliche Grenzen erkennen lassen. Die
Muscularis macht dann selbst bei Anwendung starker Vergrösserungen
den Eindruck einer fast homogenen, durchscheinenden Masse. Erst
1^2 I^ie Formänderimg des Muskels bei der Thätigkeit.
beim beginnenden Absterben kommen zwischen den blassen Kernen
feine Streifen als optischer Ausdruck der Zellgrenzen zum Vorschein.
Innerhalb der bindegewebigen Adventitia befindet sich ein lang-
maschiges, zum grössten Theil aus blassen Fasern bestehendes Nerven-
geflecht („Grundplexus" Engelmann ' s), in welchem bemerkens-
werther Weise im Verlaufe Nervenzellen gänzlich fehlen.
Engelmann giebt an, dass die Anzahl der innerhalb der Muscularis
darstellbaren Nervenendigungen viel kleiner sei, als die der
glatten Muskelzellen. Doch bedarf dieser Punkt erneuter
weiterer Prüfung mit Hülfe der unterdessen bekannt gewordenen
besseren Untersuchungsmethoden, die wahrscheinlich einen sehr grossen
Nervenreichthum enthüllen werden.
In der Regel beobachtet man an dem mit möglichster Schonung
freigelegten Ureter spontane Contractionswellen , welche von Zeit zu
Zeit (meist in Pausen von 10 — 20 Sekunden) von der Niere zur Blase
peristaltisch ablaufen. „Fixirt man einen bestimmten Punkt irgendwo
in der Continuität des Ureter, so sieht man in der Regel kurz
vor der Zusammenschnürung des betreffenden Segmentes, wobei das-
selbe dünn, cylindrisch und fast ganz weiss wird, eine plötzliche,
schwache Erweiterung derselben Stelle erfolgen. Dabei verschiebt
sich der Ureter merklich nach unten (blasenwärts). Die Geschwindig-
keit, mit welcher die Contractionswelle abläuft, lässt sich wegen ihrer
Kleinheit leicht bestimmen. Man kann entweder die Metronomschläge
zählen, welche ein auf Drittel- oder Viertelsekunden gestelltes Instru-
ment während der Zeit giebt, in welcher die Contractionswelle sich
von einem Punkte des Ureter bis zu einem anderen fortpflanzt, wobei
ein Beobachter einen der Niere näher gelegenen , ein zweiter einen
davon entfernteren fixirt, oder beide Beobachter markiren mittels
Marey'scher Tambours die Contraction zweier von einander entfernter
Punkte im Verlauf des Ureter. Es ergab sich bei kräftigen, gut er-
wärmten Kaninchen eine Geschwindigkeit von 20 — 30 mm pro Se-
kunde; bei Katzen, Ratten scheint sie etwas grösser zu sein" (Engel-
mann).
Bei künstlicher (etwa mechanischer) Reizung pflanzt sich von der
gereizten Stelle aus die Contraction stets nach beiden Seiten
hin fort, wobei in Bezug auf die Fortpflanzungsgeschwindigkeit kein
merklicher Unterschied der peristaltischen und antiperistaltischen Welle
zu constatiren ist. Dabei ist es aber bemerkenswerth, dass die Con-
traction nur bei directer Reizung der Muscularis entsteht.
„Weder durch Drücken der Schleimhaut oder der Adventitia mit den
dai'in enthaltenen Nervenstämmchen noch auch der grösseren Nerven-
stämme am Hilus und an der Blase lässt sich eine Contraction irgend
eines Theiles des Ureter auslösen. Stets entsteht bei localer Reizung
auch nur eine örtliche, beiderseits langsam fortschreitende Contraction.
Durchschneidet, zerquetscht oder unterbindet man den Ureter irgendwo
in der Continuität, dann folgt auf jede Reizung oberhalb oder unter-
halb der getödteten Stelle eine Contraction, die sich in dem gereizten
Stück nach beiden Seiten hin fortpflanzt, niemals aber die todte Stelle
überschreitet. Da auch selbst noch kurze ausgeschnittene Stücke
des Ureter Peristaltik bei Reizung zeigen, so kann mit Rück-
sicht auf den Bau nicht davon die Rede sein, etwa Ganglien-
zellen für das Zustandekommen der Peristaltik verantwortlich zu
machen, vielmehr verhält sich der Ureter gegen mechanische Reizung
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 143
in allen Fällen genauso, „als ob er eine einzige kolossale hohle
Muskelfaser wäre". Welch ausserordentlich grossen Einfluss die
Temperatur auf die Erregbarkeit und daher auch das Leitungsver-
mögen des Ureter besitzt, wurde schon früher hervorgehoben, avo zu-
gleich die ungemeine Lebenszähigkeit der den normalen Ernährungs-
bedingungen entzogenen Muskulatur Erwähnung fand. Wie bei den
quergestreiften IVluskelnetzen des Insectendarmes hat j •' d e C o n -
tracti ons welle eine vorübergehende Herabsetzung der
Erregbarkeit und des Leitungsvermögens des Muskel-
schlauches zur Folge, die sich erst während der folgenden Diastole
und Pause wieder herstellt. Jede Verminderung des Leitungsver-
mögens macht sich immer zuerst dadurch bemerkbar, dass die Con-
tractions welle, gleichgültig, ob sie spontan oder künstlich ausgelöst
war, um so schwächer wird, je weiter sie läuft und eventuell schon
in nächster Nähe der Reizstelle erlischt. Schliesslich erhält man statt
der fortschreitenden Wellen überhaupt nur eine langanhaltende Con-
traction in den unmittelbar an die Reizstelle grenzenden Theilen
ein Analogon der idiomusculären Contr actio n quer-
gestreifter Muskeln.
Mit dem Leitungsvermögen wächst und sinkt die Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit der Bewegung, was sich beson-
ders deutlich und leicht bei Abkühlung und Erwärmung beobachten lässt.
Da jede Contractionswelle den zeitlichen Ablauf der nächstfolgenden
beeinflusst, so erscheint es selbstverständlich, dass, wenn die spontanen
Contractionen in unregelmässigen Perioden auf einander folgen, jene,
denen eine kürzere Pause vorausging, sich langsamer fortpflanzen, als
die, welche auf eine lange Pause folgen, was sich natürlich noch leichter
bei künstlicher Auslösung von Contractionswellen constatiren lässt.
Es lässt sich zeigen, dass unmittelbar nach Ablauf einer Contractions-
welle das Leitungsvermögen überhaupt ganz aufgehoben ist und erst
verhältnissmässig lange nachher wieder die anfängliche Höhe erreicht.
Das ersterwähnte Stadium dauert schon unter normalen Verhältnissen
beim Kaninchen länger als eine Sekunde, kann aber bei Abnahme
der Reizbarkeit leicht auf 5, 10, ja 15 Sekunden ansteigen. Unter
normalen Verhältnissen ist höchstens 10 Sekunden nach Ablauf einer
Contraction die normale Leitungsgeschwindigkeit wieder hergestellt.
Die Langsamkeit des ganzen Erregungsablaufes gestattet natürlich
auch leicht und sozusagen unmittelbar, die Länge der Contrac-
tionswelle im Ureter zu bestimmen, indem man den annähernd ge-
schätzten Werth der Contraction sdauer mit der Fortpflan-
zungsgeschwindigkeit multiplicirt. Rechnen wir die erstere zu
etwa Vs Sekunde, diese dagegen zu 30 mm, so ergiebt sich die Wellen-
länge zu etwa 1 cm, ein Werth, der ziemlich constant zu sein scheint,
da erfahrungsgemäss die Aenderungen in der Dauer der Contraction
innerhalb weiter Grenzen ziemlich genau umgekehrt proportional sind
den gleichzeitigen Aenderungen der Leitungsgeschwindigkeit. Mit
diesem Resultate stimmt nun vollkommen überein, was die directe
Beobachtung lehrt , indem man am blossgelegten Ureter un-
mittelbar sehen kann, wie lang die Contractions-
welle ist.
An fettfreien, etwas hyperämischen Uretern kann man leicht con-
statiren, wie bei jeder Contraction immer etwa eine Strecke von 1 cm
Länge scheinbar gleichzeitig erblasst und mit der Zusammenschnürung
144 Die Formänderung des Muskels bei der Tliätigkeit.
wellenartig Aveiterläuft. Etwa in der Mitte dieser Strecke erscheint
die Erblassung gewöhnlich am stärksten, der Ureter zuweilen fast
weiss; nach beiden Seiten geht dann die Farbe allmählich wieder ins
Grauröthliche über. Wenn man hieraus auf die Grösse der Contrac-
tion der einzelnen Querschnitte schliessen darf, so würde folgen, dass
Verkürzung und Erschlaffung der Muskelsubstanz des Ureter gleich
schnell ablaufen. (Engelmann.)
Man sieht aus dem Vorstehenden, dass an dem in Rede stehenden
Objecte sich mit Leichtigkeit eine Reihe von Thatsachen, den Verlauf
und die Leitung des Contractionsvorganges betreffend , sozusagen un-
mittelbar erkennen lassen, zu deren Feststellung beim quergestreiften
Muskel die feinsten Hülfsmittel angewendet werden müssen, und wir
werden in der Folge noch mehrfach Gelegenheit haben, auf diesen
Vortheil hinzuweisen. Hier soll nur noch die Avichtige Frage erörtert
werden, in welcher Weise die Leitung der Erregung (Contraction) in
dem aus zahllosen, durch eine Kittsubstanz verbundenen Zellindividuen
bestehenden Organ zu Stande kommt.
Wenn man sieht, dass mechanische Reizung der Muskelhaut, an
welcher Stelle des Ureter sie auch angebracht sein möge , eine Con-
traction hervorruft, die von dem gereizten Punkt nach beiden Seiten
hin fortschreitet, mit einer Schnelligkeit, die tausend- und mehr-
mal kleiner ist, als die Leitungsgeschwindigkeit der Erregung im
Nerven ; wenn wir weiter sehen , dass das peristaltische und antijaeri-
staltische Fortschreiten der Bewegung noch an jedem Stückchen des
Ureter wahrgenommen werden kann, nachdem es ausgeschnitten worden
ist, dann scheint, wie Engel mann ausführt, nur eine Vorstellung
möglich : das peristaltische und antiperistaltische Fortschreiten der Be-
Avegung kommt dadurch zu Stande, dass die Erregung, ohne
Vermittlung von Ganglienzellen oder Nervenfasern,
direct von Muskelzelle auf Muskelzelle fortgepflanzt
wird. Mit anderen Worten: in normalem Zustande ist der Ureter
physiologisch eine einzige hohle organische Muskel-
faser. Die neueren Untersuchungen über den anatomischen Zu-
sammenhang glatter Muskelzellen scheinen dieser Auffassung durchaus
das Wort zu reden, indem durch dieselben wenigstens eine Continuität
des Sarkoplasmas, wenngleich auch nicht der Fibrillen, wahrscheinlich
gemacht wird. Es scheint dies aber auch genügend, wenn, wie kaum
zu bezweifeln sein dürfte, jenes als Vermittler der Erregung der Fi-
brillen fungiren kann. Im Uebrigen bedarf es nicht einmal derartiger
„Plasmabrücken", denn nichts steht, wie Engelmann richtig bemerkt,
im Wege, denContact der nackten, hüllenlosen Faserzellen während
des Lebens so innig anzunehmen, dass er einer physiologischen Con-
tinuität gleichkommt. Damit ist aber gesagt, dass eine molekulare
Wirkung sich von dem Platze ihres Entstehens aus in jeder Rich-
tung durch den Ureter fortpflanzen kann. In ganz gleicher Weise würde
natürlich auch der Leitungsvorgang innerhalb der oben besprochenen
quergestreiften Muskelzellennetze aufzufassen sein. Es würde sich
demnach bei den erwähnten, aus glatten oder quergestreiften einkerni-
gen Muskelzellen zusammengesetzten Theilen um Zellverbände handeln,
deren einzelne Individuen in ähnlicher Weise functionell coordinirt sind,
wie dies auch schon von anderen reizbaren Zellaggrcgaten des Thier-
und Pflanzenkörpers bekannt ist. In der That wird man fast unwill-
kürlich an die coordinirte Thätigkeit von Flimmerzellen erinnert, die
Die Formänderung des Muskels bei der Tliätigkeit. 145
nachweisbar in leitender Verbindung mit einander stehen, ^bschon die
einzelnen Elemente in last noch höherem Grade als die glatten Muskel -
Zellen als anatomisch gesonderte Individuen erscheinen. Wenigstens
sind Piasraabrücken in diesem Falle nicht nachgewiesen, deren Existenz
bei manchen glatten Muskeln, sowie bei reizbaren Pflanzengeweben
zweifellos sicher steht. Begreiflicher Weise wird aber in allen solchen
Fällen von „Zellenleitung" die Fortpflanzung der Erregung viel leichter
Störungen unterworfen sein und in viel höherem Grade von äusseren
und inneren Bedingungen abhängen, als innerhalb eines und desselben
Zellkörpers. Darauf dürfte es daher wohl auch wesentlich zurück-
zuführen sein, dass gerade die peristaltische Bewegung glattmuskeliger
Organe erfahrungsgemäss ausserordentlich leicht und durch die
verschiedensten Eingriff"e gestört und beeinträchtigt wird. Dies gilt
insbesondere auch bezüglich der Darmbewegung, die Engel-
mann in gleicher Weise aufzufassen geneigt ist, wie die Peristaltik
des Ureter (29). Sieht man von den so reich entwickelten Nerven-
und Gangliengeflechten der Darmwand und der viel mächtigeren Ent-
wicklung der Muskelschichten ab, so zeigt ja auch der Bau beider
Organe eine so weitgehende Uebereinstimmung , dass von vorn-
herein gewiss die Vermuthung gerechtfertigt erscheint, dass auch die
Erregungsleitung und die darauf beruhende Peristaltik in beiden Fällen
auf demselben Princip beruhen. In dieser Beziehung würde vor Allem
der Nachweis von Wichtigkeit sein, dass eine an irgend einer Stelle
in der Continuität des Darmes ausgelöste Contractionswelle sich unter
günstigen Umständen ebenso wie im Ureterschlauch nach beiden Seiten
von der Reizstelle, also peristaltisch und antiperistaltisch, fortzupflanzen
vermag. Es ist dies aber freilich nicht immer und vor Allem nicht
bei allen Thieren der Fall. So wird man kaum jemals selbst unter
den günstigsten Erregbarkeitsverhältnissen (im Sommer bei hoher Tem-
peratur) am F r 0 s c h darm bei örtlicher Reizung etwas Anderes er-
zielen, als eine locale oder nur wenige Millimeter fortschreitende Ein-
schnürung. Viel eher gelingt dies an dem lebhafter beweglichen Warm-
blüterdarm, insbesondere dem der Katze oder des Hundes, wo man
noch ausserdem den Vortheil hat, dass nach dem Oefl*nen des Abdomen
die Därme in der Regel in Ruhe verharren, was beim Kaninchen
nicht in dem Maasse der Fall ist. Aber selbst hier lassen sich die
gewünschten Beobachtungen nicht im Entferntesten mit gleicher Sicher-
heit anstellen, wie etwa am Ureter. Es scheint vielmehr ein bestimmter
Zustand der Erregbarkeit des Darmes ein wesentliches Erforderniss
für das Gelingen der Versuche zu sein. Dies wird nach Engelmann
am sichersten erreicht, wenn man die Thiere durch Verblutung aus
den grossen Halsgefässen tödtet. Oeff'net man bald nach dem letzten
Athemzug den Bauch , so findet man die Därme entweder bereits in
dem gewünschten Zustand oder sie gerathen doch nach einiger Zeit
hinein. Reizt man dann die Muskelhaut einer Dünndarmschlinge an
irgend einer Stelle mechanisch (durch Kneipen mit der Pincette), so
entsteht nach Engel mann sofort eine kräftige Contraction der
Ringfaserschicht, welche von der gereizten Stelle aus in peristal-
tischer und antiperistaltischer Richtung mit einer geringen
Geschwindigkeit (von etwa 40 mm pro Sekunde) über den ganzen
Dünndarm abläuft. Dasselbe Resultat erzielte Engelmann auch
bei Reizung des Dickdarmes. Während bei den ersten Reizungen
Biedermaun, Elektrophysiologie. 10
146 I^iß Formänderimg des Muskels bei der Tliätigkeit.
die Contraction im ganzen Verlauf stark bleibt, zeigt sich später
eine mit der Entfernung vom Ausgangspunkt zunehmende Schwä-
chung und Verlangsamung der Welle, bis schliesslich nur noch
locale Einschnürungen erhalten werden.
Es würde demnach also durchaus Uebereinstimmung mit dem
Verhalten des Ureter bestehen. Da Engelmann analoge Beobach-
tungen auch am Magen und Darm von Ratten, Mäusen, Tauben (hier
besonders schön), am Oesophagus, Magen und Darm vom Frosch, an
Uterus und Vagina trächtig gewesener Kaninchen mittheilt, so scheint
der Schluss gestattet, dass in allen Fällen, wo peristaltische Bewegung
hervorgerufen werden kann, auch antiperistaltische Contractionen
wenigstens möglich sind. Es muss aber freilich auf der anderen
Seite zugegeben werden, dass die Erregungsleitung innerhalb der Darm-
muscularis gerade unter Umständen ausbleibt, wo man sie vielleicht
am sichersten erwarten würde. Dies gilt vor Allem in Fällen, wo die
Bauchhöhle unter erwärmter NaCl-Lösung geöffnet wird , wobei der
Darm in der Regel vollkommen ruhig bleibt. Reizt man unter diesen
annähernd normalen Verhältnissen irgend eine Stelle durch
leichtes Quetschen oder durch Fadenumschnürung mechanisch, so tritt,
wie van Braam-Honckgeest (30) angiebt und Nothnagel (31)
bestätigt, immer nur eine auf den Ort der Reizung beschränkte
locale, ringförmige Einschnürung auf, nie eine von der Reizstelle aus-
gehende peristaltische oder antiperistaltische Welle. Da man nicht
wohl annehmen kann , dass hier das Leitungsvermögen geringer ist,
als nach dem Verbluten des Thieres, so bleibt, wenn man sich auf
Engel mann's Standpunkt stellt, kaum eine andere Annahme übrig,
als dass die Fortleitung der Erregung durch eine Art von Hemmung,
die vielleicht von den Gangliengeflechten ausgeht, verhindert wurde.
In der That lässt sich ja auch die Mitwirkung nervöser Einflüsse,
sei es hemmender, sei es bewegender Natur, bei der Peristaltik der
Därme nicht leugnen. Die Frage dreht sich nur darum, ob die nor-
male Bewegung, d. i. das Fortschreiten einer Contractionswelle in der
einen oder anderen Richtung, auf jedem Punkte der durch-
laufenen Strecke durch Vermittlung nervöser Erregungen zu
Stande kommt. Dass solche bei der meist heerdweise erfolgenden Aus-
lösung von Contractionen eine ganz wesentliche Rolle spielen dürf-
ten, kann ja wohl kaum in Abrede gestellt werden. Gegen die erstere
Annahme könnte nun, wie schon Engelmann für den Ureter hervor-
hebt, vor Allem die Langsamkeit des Fortschreitens geltend gemacht
werden, das mit dem Auge stets bequem zu verfolgen ist. Andererseits
bietet sie aber ebenso wenig wie die Engelmann ' sehe Ansicht eine
Erklärung für das Beschränktbleiben des Reizerfolges am ganz nor-
malen Darm oder für das plötzliche Erlöschen einer Contractionswelle,
wie dies z. B. Nothnagel (1. c. p. 14) mehrfach beobachtete. Viel-
leicht wird man den gegebenen Verhältnissen am meisten gerecht,
wenn man annimmt, dass zwar die Fortleitung einer peristal-
tische n W e 1 1 e unter a 1 1 e n U m s t ä n d e n a u f M u s k e 1 1 e i t u n g
beruht, dass aber die Auslösung der Erregung, wie auch Hemmungen,
welche an jeder beliebigen Stelle wirksam werden können, durch
die nervösen Einrichtungen der Darmwand vermittelt werden. Mit
dieser Auffassung Avürden sich eventuell auch die von Nothnagel
beobachteten auffallenden Erfolge der chemischen Reizung des
Die Formänderung des Muskels bei der Thätigkeit. 147
Darmes mit Kali- und Na-Salzen vereinen lassen. Leider ist es
nicht möglich, die fragliche Hypothese durch functionelle Ausschaltung
der Ganglienplexus mittels specilisch wirkender Gifte zu prüfen; doch
würde immerhin die Wirkung geringer Dosen von Aether oder Chloro-
form zu untersuchen sein, da man ja wohl annehmen könnte, dass die
Ganglienplexus ihre Erregbarkeit früher einbüssen, als die Muskel-
elemente selbst. Vielleicht beruht auch die Möglichkeit der Auslösung
peristaltischer und antiperistaltischer Wellen in einem gewissen Stadium
nach dem Verblutungstode auf einem früheren Absterben der Darm-
ganglien.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so ergiebt sich, dass die Leitung
der Erregung in glattmuskeligen Theilen nur ausnahmsweise leicht und
sicher von Statten geht, in der Mehrzahl der Fälle aber überhaupt
ausbleibt. Die Bildung einer „idiomusculären", wulstför-
migen, nur langsam wieder verschwindenden Contrac-
tion am Orte des Reizes ist hier bei localer Erregung
die Regel.
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C. Die elektrische Reizung der Muskeln.
Unter allen zu Gebote stehenden künstlichen Reizmitteln irritabler
Substanzen nimmt zweifelsohne der elektrische Strom die erste Stelle
ein. Das gilt nicht nur in Bezug auf die leichte Anwendbarkeit und
die Möglichkeit, die Intensität messbar aufs Feinste abzustufen, sondern
vor Allem auch hinsichtlich der Eigenart der Wirkungsweise,
So oft auch bei den vorstehend besprochenen Untersuchungen an
Muskeln der elektrische Strom als Reizmittel Verwendung fand, so
handelte es sich doch fast ausschliesslich um einzelne oder rasch auf
einander folgende Inductionsströme, weil es zunächst nur darauf ankam,
einen momentanen, in seiner Stärke leicht variablen Reiz zu be-
sitzen, der die reizbaren Theile möglichst wenig schädigt. Auf der
anderen Seite bietet aber gerade die genauere Untersuchung der durch
Kettenströme bedingten Erregungserscheinungen an Muskeln grosses
Interesse vmd ist für die Auffassung der Wirkungsweise des elektrischen
Stromes überhaupt von grösster Bedeutung.
In Bezug auf die Versuchstechnik erscheint es erforderlich,
einige methodische Bemerkungen vorauszuschicken. Alle älteren Reiz-
versuche an thierischen Theilen, bei welchen der elektrische Strom als
Erregungsmittel diente, sind derart angestellt worden, dass man die
reizbaren Theile über passend geformte, metallische, in der Regel aus
Platin bestehende Elektroden brückte und vermittels derselben den
Strom zuführte. Dieses Verfahren hat jedoch in Folge der sich stets
einmischenden Polarisationsströme grosse Nachtheile, so dass es unter
allen Umständen geboten erscheint, unpolarisirbare Elektroden zu be-
nutzen, wo immer auch Kettenströme zur Verwendung gelangen. Ganz
besonders wird dies unabweisbare Nothwendigkeit, wenn stärkere Ströme
länger geschlossen bleiben. Seit Du Bois-Reymond die Technik
der Elektrophysiologie durch die Einführung der unpolarisirbaren Com-
bination amalgamirtes Zink und Zinkvitriol, zunächst zum Zwecke der
Ableitung thierisch-elektrischer Ströme, bereichert hat, fanden der-
artige Elektroden die ausgedehnteste Anwendung bei Reizversuchen,
und man hat denselben, je nach Bedarf, sehr verschiedene Formen
gegeben. Wenn es darauf ankommt, einem quergestreiften Muskel
einen Strom zuzuführen, dann bleibt vor Allem zu berücksichtigen,
dass durch Verschiebung des sich contrahirenden Muskels unter den
berührenden Elektroden leicht Fehler entstehen, die nur vermieden
150
Elektrische Reizung- der Muskelu.
werden können, wenn jene, mit dem Muskel, beziehungsweise den zur
Insertion dienenden Knochen fest verbunden, allen Bewegungen zu
folgen vermögen. Für den M. sartorius des Frosches, der sich
seines regelmässig - parallelfaserigen Baues wegen vor Allem zu der-
artigen Versuchen eignet und leicht völlig unversehrt im natürlichen
Zusammenhang mit dem Becken- und Unterschenkelknochen präparirt
Averden kann, hat zuerst Hering unpolarisirbare bewegliche Elek-
troden construirt, die den verschiedensten Zwecken dienen können (1).
„Eine 5,5 cm lange Glasröhre (Fig. 71) ist an ihrem oberen Theile
mit einer geschlitzten Messinghülse versehen, die oben zwei diameti-al
gegenüberliegende Spitzen trägt, welche in den Löchern eines Axen-
lagers ruhen, so dass sich die vertical herabhängende Röhre um diese
Spitzen sehr leicht drehen und gleichsam pendeln kann. Das Axen-
Fig. 71. Apparat zur Untersuchung der polaren ^Yirkungen des elektrischen Stromes
im Muskel (Doppelmyograph). — Eine unpolarisirbare bewegliche Muskelelektrode für
sich gezeichnet. (Nach Hering.)
lager ist an einem Messingringe (m) befestigt, welcher auf einem hori-
zontalen Stabe (q) von Bein oder Hartgummi verstellbar ist. Ueber
das untere Ende der Glasröhre ist ein kurzer Cylinder (Ji) von Hart-
gummi geschoben, dessen Lichtung die Fortsetzung der Röhrenlichtung
bildet und welcher ausserdem in querer Richtung so durchbohrt ist,
dass ein dünner Knochen, wie die Tibia oder das Os ilei des Frosches
durch das Bohrloch hindurchgesteckt und mittels einer Schraube be-
festigt werden kann. Ein kleiner amalgamirter Zinkstab wird von
oben in die Röhre gebracht und durch einen an seinem oberen Ende
angelötheten Messingbügel (b) getragen, der sich an der Messinghülse
der Röhre fixiren lässt. Dieser Bügel läuft andererseits in einen
kurzen, nach unten abgebogenen Kupferdraht aus, der in einen dem
Axenlager angelötheten und mit Quecksilber gefüllten Stahlnapf (s)
taucht. Beim Hin- und Herpendeln der Röhre bleibt der Contact des
Drahtendes mit dem Quecksilber erhalten. Am unteren Ende des
Stahlnapfes befindet sich ein Bohrloch mit Klemmschraube zur Be-
Elektrische Reizung der Muskeln.
151
festigung eines Leitungsdrahtes. Beim Gebrauch wird der Hartgummi-
ansatz und das unterste Stück der Glasröhre mit Kochsalzthon , die
übrige Röhre mit Zinkvitriollösung gefüllt und sodann der Zinkstab
eingeschoben. Nachdem der Knochen durch das Bohrloch des Hart-
gummiansatzes und den Tlion durchgestossen ist, wird er mit der
Schraube fixirt. In derselben Weise wird der Knochen am anderen
Ende des Muskels in einer ganz gleichen Elektrode befestigt, so dass
nunmehr der Muskel horizontal zwischen beiden Elektroden ausgespannt
ist. Am unteren Ende jeder Elektrode ist ferner ein Faden befestigt,
welcher die Verbindung mit einem Muskelzeiger oder Muskelschreiber
herstellt. Es kann beliebig die eine oder die andere Elektrode fixirt
werden, so dass nur noch die andere der Verkürzung des Muskels
folgt."
Nehmen wir an, es sei die den Beckenknochen tragende Elektrode
fixirt, so lässt sich die Bewegung resp. Gestaltveränderung des ganzen
Fig. 72. 1 — 8 Zuckungscurven bei Reizung des Muskels mit einzelnen Inductions-
schlägen; 9 — 19 Zuckungscurven (Schliessungszuekungen) bei Reizung mit dem Ketten-
strome (tetanischer Charakter). (Nach Tigerstedt.)
Muskels leicht beobachten und eventuell graphisch darstellen, wenn die
andere frei bewegliche Elektrode durch einen horizontal verlaufenden
Faden, welcher über zwei Rollen (R und r Fig. 71) geschlungen ist
und am Ende ein Gewichtsschälchen trägt, mit einem langen Zeiger .?
verbunden wird, der an der Axe der einen, grösseren Rolle be-
festigt ist. Da der Schreibstift Kreisbogen beschreibt, so wird
dadurch die Zuckungscurve auf der berussten, bewegten Schreib-
fläche mehr oder weniger verzerrt, ein Fehler, der jedoch für die
hier zunächst in Betracht kommenden Erscheinungen von geringem
Belang ist. Wenn man nun unter den eben erörterten Bedingungen
die Wirkung verschieden starker Kettenströme auf den durch
Curare entnervten Sartorius untersucht, so lässt sich leicht fest-
stellen, dass, möglichst günstige Erregbarkeitsbedingungen des Muskels
vorausgesetzt, die dauernde Schliessung eines schwachen Stromes immer
nur eine einmalige, rasch ablaufende „Zuckung" auslöst, deren Höhe
Anfangs gering, bei weiterer Verstärkung der Stromes-Intensität rasch
ihrem maximalen Werthe zustrebt. Von einer gewissen Grenze der
152
Elektrische Reizung dei" Muskeln.
Stromstärke ab bleibt die Höhe der Schliessungszuckungen constant;
dagegen treten andere Vex'änderungen der gezeichneten Curven hervor,
die im Folgenden noch näher zu besprechen sein werden. Bei Ver-
gleichung maximaler durch einzelne Inductionsschläge ausgelöster
Zuckungen und maximaler durch den Kettenstrom bedingter
„Schliessungszuckungen" fällt unter sonst gleichen Bedingungen be-
sonders die viel beträchtlichere Höhe, sowie der abge-
stumpfte rundliche Gipfel der letzteren auf. Dies macht sich
schon bei langsamer, noch deutlicher aber bei rascher Bewegung der
Schreibfläche bemerkbar. Nach Tigerstedt (2) zeigt der Verlauf
jeder Schliessungszuckung „tetanischen" Charakter, indem die ent-
sprechenden Curven viel gestreckter verlaufen, als bei Zuckungen,
welche durch inducirte Ströme ausgelöst werden (Fig. 72). Dass es
sich dabei aber nicht nothwendig um einen wirklichen „Tetanus", d. h.
um eine durch Summation entstandene Contraction, zu handeln braucht,
bedarf kaum besonderer Erwähnung. Lassen schon diese Thatsachen
allein darauf schliessen, dass ausser der Stromes in ten s ität auch die
Dauer der Durchströmung von Einfluss auf die Stärke der Erregung
(bezw. Contraction) ist, so geht dies doch noch viel deutlicher aus
entsprechenden Versuchen an träge reagirenden Muskeln hervor, indem
die Grösse des Erfolges in ihrer Abhängigkeit von der
Dauer der Reizwirkung geradezu im umgekehrten Ver-
hältnis s zur Beweglichkeit der Theilchen einer irri-
tablen Substanz zu stehen scheint. So ist die ausserordent-
lich geringe und oft ganz fehlende Eeiz-
wirkung einzelner Inductionsschläge auf
viele Protisten und pflanzliches Plasma
allbekannt, und ebenso findet man die-
selben kurzdauernden Reize, wenn über-
haupt, erst bei hoher Intensität auf glatte
Muskeln wirkend, während sie rasch
zuckende quergestreifte Fasern im All-
gemeinen leicht und sicher erregen. In
einer überaus anschaulichen Weise kann
man dies an jedem erschlafften (möglichst
tonusfreien) Präparate des Schliessmuskels
vonAnodonta sehen (3). Es lässt sich,
wie schon oben erwähnt wurde, aus dem-
selben leicht ein Präparat gewinnen, wel-
ches in ganz ähnlicher Weise der elektri-
schen Reizung zugänglich ist, wie der
Sartorius des Frosches. (Fig. 73.) Man
kann dann, nachdem die eine Schalen-
unpolarisirbare Pinselelektroden beiderseits
möglichst nahe der Insertionsstelle des im Allgemeinen parallelfaserigen
Muskelbandes anlegen, wobei, um eine Verschiebung der der anderen,
beweglichen Schalenhälfte entsprechenden Elektrode auszuschliessen,
die Zuleitung des Stromes an dieser Stelle am besten durch eine kurze
Fadenschlinge erfolgt.
einen hinreichend starken Strom durch
so beobachtet man Gestaltveränderungen,
der mehr oder weniger allen glatten
Trägheit der Reaction, im Allgemeinen
Fig. 73. Schema der elektrischen
Reizung des Muschelschliess-
muskels.
hälfte dauernd fixirt ist,
Schickt man hierauf
den erschlafften Muskel ,
welche , abgesehen von
]\[uskeln eieenthümlichen
Elektrische Reizung der Muskeln.
153
mit jenen übereinstimmen, welche quergestreifte Muskeln unter
analogen Verhältnissen darbieten. Was zunächst Form und Ver-
lauf der Contraction bei Schliessung des Stromes betrifft, so ent-
spricht die etwa gezeichnete Curve natürlich kaum jemals dem Vor-
gange, den man mit Rücksicht auf den zeitlichen Verlauf der Zusammen-
ziehung beim quergestreiften Muskel als ,,Schliessungs- Zuckung" zu
bezeichnen pflegt. Abgesehen von der Langsamkeit, mit der sich
der ganze Vorgang abspielt, tritt auch der Unterschied in
der Dauer der V e r k ü r z u n g s - und E r s c h 1 a f f u n g s - P h a s e
(Stadium der steigenden und sinkenden Energie) beim
Fig. 74. Schliessungscon-
traction des Schliessmuskels
von Anodonta (Reizung mit
dem Kettenstrom); bei s
Schliessung, bei o Oefihung.
Fig. 75. Einfluss der
Schliessungsdauer auf die
Contractionsgrösse des
Schliessmuskels von Ano-
donta (Reizung mit dem
Kettenstrom) ; bei a Schlies-
sungsdauer = V* Sek., bei
b = 1 Sek., bei c =4 Sek.,
0 Oeffeungscontraction.
(B i e d e r m a n n.)
ljüJiAl^±J^jdjLJUUJiJU^-UJLLL±±lAAJ
Fig. 74.
Fig. 75.
glatten Muschelmuskel ungleich schärfer hervor, wo-
durch die Contractionscurve ein eigenthümliches und charakteristisches
Gepräge erhält. Es sind in dieser Beziehung zwei Fälle zu unter-
scheiden, je nachdem der Reizstrom geöffnet Avird, bevor oder sobald
der Muskel das Maximum der Verkürzung erreicht hat, oder längere Zeit
hindurch geschlossen bleibt. Ersteren Falls erhält man , Avenigstens
unter gewissen Umständen, wie insbesondere bei Benutzung erwärm-
ter und daher rascher reagirender Präparate, Curven, die man nach
Form und Verlauf als gedehnte Zuckungscurven zu bezeichnen ge-
neigt sein könnte, da hier nicht nur die Verkürzung rasch zu beträcht-
licher Höhe ansteigt, sondern auch die Wiederverlängerung nur eine
verhältnissmässig kurze Zeit für sich in Anspruch nimmt (Fig. 74).
254 Elektrische Reizung der Muskeln.
Anderen Falls erhält man aber bei längerem Geschlossen-
bleiben des Stromkreises Curven^ welche sich zwar im Moment
der Schliessung rasch erheben, ohnejedoch wieder abzusinken,
entsprechend einer gleichbleibenden dauernden Verkürzung
des Muskels. Es kann derselbe unter diesen Umständen selbst bei
minutenlanger Schliessungsdauer fast ebenso lange im Zustande maxi-
maler Verkürzung verharren, und zwar ebensowohl bei Reizung mit
schwachen wie mit starken Strömen. Am allerdeutlichsten lässt sich
aber an dem in Rede stehenden Präparat die Abhängigkeit der Con-
tractionsgrösse von der Schliessungsdauer erkennen, wenn man den
Stromkreis öffnet, ehe noch das Maximum der Verkürzung
erreicht ist, Kettenströme, die bei einer Schliessungsdauer von
3 — 4 Sekunden eine maximale Contraction des Muskels bedingen,
bewirken oft nur eine sehr geringfügige Verkürzung, wenn die
Schliessungsdauer nur etwa ^/4 Sekunde beträgt. Innerhalb dieser
Grenzen fällt dann bei unveränderter Stromstärke die
Schliessung.« contraction um so grösser aus, je länger der
Strom dauert (Fig. 75). Hiermit steht nun in voller Ueber-
einstimmung, dass einzelne Inductionsströme selbst die
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Fio-. 76. Contractionscurven des Scliliessmuskels von Anodonta bei Reizung mit ein-
zelnen Schliessungs- und Oeffnungsinduetionsströmen (s und o) von zunehmender Stärke
(a bei grösstem Rollenbestand).
allerempfindlichsten Präparate erst bei einer sehr
hohen Intensität zu erregen vermögen, soweit dies wenig-
stens aus den sichtbaren Gestaltveränderungen sich erschliessen lässt
(Fig. 76). Frische oder ältere, aber noch in ziemlich hohem Grade
tonisch contrahirte Muskeln erweisen sich inducirten Strömen gegen-
über überhaupt als gänzlich unempfindlich.
Auch bei periodisch wiederholter tetanisir ender
Reizung lässt sich die Ueberlegenheit eines länger fliessenden Stromes
gegenüber kurz dauernden „Stromstössen" stets constatiren. Schon
Fick giebt an, dass rasches Schliessen und Oeffnen eines an sich
hinreichend starken Kettenstromes mit der Hand den glatten Muschel-
muskel häufig unerregt lässt ; dabei ist die Dauer des einzelnen Strom-
stosses noch immer sehr beträchtlich; wird dieselbe noch mehr herab-
gesetzt, so bedarf es immer stärkerer Ströme, um überhaupt erregend
zu wirken. Dies macht sich in besonders auffallender Weise bei
Reizung mit rasch auf einander folgenden inducirten Wechselströmen
bemerkbar, und Fick gedenkt bereits der Thatsache, „dass in dem-
selben Stromkreis, der die zweite Spirale eines gewöhnlichen Schlitten-
apparates schliesst, ein Froschmuskel in heftigstem Tetanus begriffen
sein kann, während der Muschelmuskel keine Spur von Erregung
zeigt", und dass dies auch dann noch der Fall war, wenn die Ströme
Elektrische Reizung der Muskeli
155
genügend kräftig waren, um die Muskeln der Hand des Experimen-
tators in Tetanus zu versetzen (4).
An diese Erfahrungen am glatten Muschelschliessmuskel schliessen
sich naturgemäss die Beobachtungen von E n g e 1 m a n n am Ureter an (5).
Auch hier lässt sich leicht zeigen, dass die Schliessungscontraction
nur dann zu Stande kommt, wenn die Stromesdauer eine gewisse
Grenze überschreitet, die um so tiefer liegt, je stärker der Strom ist.
Die beistehende Tabelle nach Engelmann lässt dies sehr deutlich
erkennen :
Stromstärke in
Eheochordwiderstand.
Minimum der zur
Contraction erforderlichen
Schliessunffsdauer.
4000 cm
500 „
50 „
25 „
15 „
12 „
11 „
10,5 „
<
Viertelsekunde
Hiermit steht in Uebereinstimmung, dass es „gewaltiger Strom-
stärken" bedarf, um durch einzelne Inductionsströme am Ureter eine
Contraction hervorzurufen. Engel mann gelangte erst dann zum
Ziele, als er metallische Elektroden (Zinkdrähte) nahm, die intrapolare
Strecke kurz machte und die primäre Spirale des Du Bois' sehen
Schlittenapparates mit 2 — 4 Grove'schen Elementen in Verbindung
setzte.
Es bot sich schon wiederholt Gelegenheit, zu constatiren, dass Er-
scheinungen , deren Feststellung am quergestreiften Muskel die com-
plicirtesten Versuchsmethoden und die feinsten Hülfsmittel erfordert,
an glattmuskeligen Theilen ohne Weiteres beobachtet werden können.
Dies gilt besonders auch hinsichtlich des Einflusses der Stromesdauer
auf die Erregung. Oben wurde schon erwähnt, dass der immer sehr
beträchtliche Unterschied der maximalen Zuckungshöhe bei Reizung
mit inducirten und Kettenströmen an sich schon darauf hinweist, dass
letzteren Falls die Dane r der Durchströmung wesentlich mit in Betracht
kommt. Den genaueren Nachweis für Kettenströme gleicher Intensität
und verschiedener Dauer hat jedoch für den quergestreiften Frosch-
muskel zuerst Fick geliefert. Es ist dies hier viel schwieriger, als
bei glatten Muskelelementen, da, wie von vornherein zu erwarten war,
die Zeiträume, während welcher der Strom fliessen muss, um wirk-
same Erregung auszulösen, im ersteren Falle viel kürzer sind. In der
That zeigt sich denn auch bei Versuchen, wo die Schliessung des
Sti'omes mittels eines der üblichen „Schlüssel" bewerkstelligt wird,
niemals ein merklicher Einfluss der Schliessungsdauer auf die Höhe
(Grösse) der Schliessungszuckung, und es ist dies auch ohne Weiteres
verständlich: Wenn erst einmal der Strom so lange dauert, dass der
Muskel das Maximum der Contraction erreichen kann, so wird ein
256 Elektrische Reizung der Muskeln.
ferneres Dauern des Kettenstromes für die Schliessungszuckung ohne
Belang sein. Dies dürfte aber voraussichtlich immer der Fall sein,
wenn durch eine willkürliche, Avenn auch noch so rasche, Hand-
bewegung der Kreis geschlossen und geöffnet wird.
Unter gewissen Umständen kann allerdings auch der quergestreifte
Stammesmuskel Eigenschaften annehmen, die es ermöglichen, die relative
Unwirksamkeit sehr kurzdauernder Reize ohne alle feineren Hülfsmittel
nachzuweisen. Brücke fand die Empfindlichkeit quergestreifter
Muskeln gegen kurzdauernde Ströme bei Curarevergiftung ver-
mindert. Den Aerzten ist es ferner seit lange bekannt, dass an patho-
logisch gelähmten quergestreiften Muskeln eine gewisse Unwirksamkeit
der kurzdauernden, inducirten Ströme bei völliger Wirksamkeit der
Schwankungen von Kettenströmen hervortritt, und diese Thatsache
wurde der Ausgangspunkt einer grossen Reihe von Untersuchungen (6).
So fand Erb (1. c.) bei rheumatischer (Facialparalyse) oder durch
Nervendurchschneidung bewirkter Lähmung, Neumann im Er-
müdungs- und Absterbezustand die Empfindlichkeit der Muskeln
gegen kurzdauernde Ströme sehr vermindert oder gänzlich auf-
gehoben bei völlig erhaltener, ja sogar gesteigerter Erregbarkeit für
den Kettenstrom.
Mit diesen Veränderungen geht die allmähliche Entwick-
lung eines viel trägeren Zuckungs Verlaufes Hand in Hand,
so dass sich auch hier wieder der oben angeführte Satz als geltend
erweist, dass langsamer reagirende contractile Substanzen einer längeren
Reizdauer bedürfen, als rasch reagirende. In sozusagen extremer
Weise entwickelt erscheint dieses Verhalten bei sehr vielen glatten
Muskeln, so dass man wohl berechtigt ist, zu sagen, dass der quer-
gestreifte Muskel beim Absterben und insbesondere bei beginnender
Degeneration sich in seinen physiologischen Eigenschaften jenen bis
zu einem gewissen Grade nähert. In einer überaus auffallenden Weise
machten sich die erwähnten Unterschiede in einer bisher nicht publicirten
Versuchsreihe geltend, welche L. Krehl im hiesigen Institut an
Fröschen durchführte , denen der eine Ischiadicus am Oberschenkel
durchschnitten worden war. Nach etwa ^U Jahren ergab die Ver-
gleichung der beiden Gastrocnemii höchst auffallende Verschieden-
heiten bei Reizung mit tetanisirenden oder einzelnen Inductionsströmen,
sowie andererseits mit dem Kettenstrom. Ersteren Falls mussten die
Rollen einander fast bis zur Berührung genähert werden, ehe am ge-
lähmten Muskel ein schwacher Erfolg eintrat, andernfalls zeigte sich
eine ausserordentlich starke Dauerverkürzung Avährend der Schliessungs-
zeit. Der Muskel der gesunden Seite reagirte dagegen in ganz nor-
maler Weise.
Dass nichtsdestOAveniger auch hier die Schliessungserregung eine
Function der Stromesdauer ist, zeigte durch einwandfreie Ver-
suche zuerst A. Fick (7). Um der Dauer eines einzelnen „Strom-
stosses" jeden beliebigen Werth geben zu können, bediente sich
Fick federnder Contacte, wobei eine Metallspitze sehr schnell über
eine metallische Platte von wechselnder Breite hinübergeführt
wurde (Spiral -Rheotom). Es ergab sich dabei, dass auch bei
Reizung eines normalen quergestreiften Frosch-
muskels die Grösse (Höhe) der bei Schliessung eines
K e 1 1 e n s t r o m e s auftretenden Zuckung nicht nur von
der Stromstärke, sondern auch von der Zeit ab-
Elektrische Reizung der Muskeln. 157
hängt, während welcher derselbe in constanter Dichte
den Muskel durchflies st. Der Grenzwerth, unter welchen die
Schliessungsdauer nicht sinken darf, wenn die Zuckungshöhe maximal
bleiben soll, würde nach Fick etwa 0,001 Sekunde entsprechen.
Wenn dieser Werth auch nur als ein angenäherter zu bezeichnen ist,
so ergiebt sich aus demselben doch, dass der Unterschied zwischen
der zur Auslösung einer wirksamen Schliessungserregung nöthigen
Schliessungsdauer bei glatten Muskeln und dem quergestreiften Frosch-
muskel ein ganz enormer ist. Wir werden später sehen, dass ein
ähnlicher gradweiser Unterschied auch wieder zwischen dem quer-
gestreiften Muskel und markhaltigen Nerven besteht, indem zur Er-
regung der letzteren wieder eine noch viel kürzere Schliessungsdauer
genügt.
Resumiren wir schliesslich das Resultat der vorstehend mit-
getheilten Erfahrungen , so lässt sich sagen , dass ein Strom
von gegebener Stärke unter allen Umständen eine
merkliche Zeit fliessen muss, um den Muskel aus dem
Zustand der Ruhe in den der betreffenden Stromes-
intensität entsprechenden, maximalen Erregungs-
zustand überzuführen. Wirkt die Reizursache, d. i.
der Strom, zu kurze Zeit ein, so erfolgt nur eine
schwache Contraction, weil sich der neue Zustand
nicht in vollem Maasse entwickeln kann; bei noch
kürzerer Schliessungsdauer bleibt aber jede Wirkung
gänzlich aus, weil dann der Reiz nicht einmal so lange
einwirkt, um überhaupt nur in merklichem Grade die
der Contraction zu Grunde liegenden Veränderungen
der Muskelsubstanz herbeizuführen. Die erforderliche
Zeit schwankt bei verschieden rasch reagirenden Mus-
keln innerhalb sehr weiter Grenzen, ist aber ganz all-
gemein um so grösser, je träger der C ontractions Ver-
la u f ist.
Ist damit eigentlich schon bewiesen, dass der Strom nicht nur im
Momente seines Entstehens , sondern auch während der Dauer
seines Fliessen s den Vorgang der Erregung auslöst, so geht dies
doch noch überzeugender aus einer genaueren Untersuchung der
Formänderungen eines Muskels während des dauernden Ge-
sell lossenseins eines Stromes hervor. Für den glatten Muschel-
muskel wurde schon oben darauf hingewiesen, dass derselbe unter
diesen Umständen minutenlang in gleichbleibender, dauernder Ver-
kürzung verharrt. Die Grösse dieser „Schliessungsdauer con-
traction" wächst bis zu einer gewissen Grenze mit der Stärke des
reizenden Stromes, doch ist die Erscheinung an sich bei allen über-
haupt wirksamen Intensitätsgraden deutlich ausgeprägt, ja man kann
sagen , dass die Schliessungsdauer contraction überhaupt
die einzige der dauernden Schliessung entsprechende
Contractionsform des glatten Muschelmuskels darstellt.
Vergleicht man hiermit das Verhalten des quergestreiften Mus-
kels unter denselben Bedingungen, so ergeben sich bemerkenswerthe
Unterschiede. Es wurde schon erwähnt, dass hier unterhalb einer ge-
wissen Grenze der Stromstärke die Schliessung immer nur eine ein-
malige „Zuckung" auslöst, wobei sich der Muskel rasch verkürzt und
fast ebenso rasch wieder verläi
J58 Elektrische Reizung der Muskeln.
dauernd geschlossen bleibt. Ist in einem gegebenen Fall die
Schliessungszuckung erst maximal geworden, so bedingt eine weitere
Steigerung der Stromesintensität zwar keine weitere Zunahme der
Zuckungshöhe, wohl aber Veränderungen in der Form der Contractions-
curve, welche der Ausdruck einer während der ganzen Dauer der
Durchströmung anhaltenden Zusammenziehung des Muskels sind.
Wundt (8) hat zuerst beobachtet, dass der Muskel nach Ablauf der
Schliessungszuckung nicht sofort seine natürliche Länge wieder erreicht,
sondern dass ein grösserer oder geringerer Grad von Verkürzung zurück-
bleibt, die sich erst im Momente der Oeffnung des Stromkreises rasch
und plötzlich ausgleicht, falls nicht diese letztere an sich den Muskel
erregt und eine abermalige, stärkere Contraction (Oeffnungszuckung)
bewirkt. Die Grösse der Schliessungsdauercontraction wächst auch
hier bis zu einer gewissen Grenze mit der Stärke des reizenden
Stromes; sie ist, Avenigstens unter den gegebenen Bedingungen (bei
Verzeichnung der Gestaltveränderungen mittels des Hering'schen
Doppelmyographen) , bei schwachen Strömen unmerklich , tritt aber
weiterhin stets deutlich als ein besonderer Curvenabschnitt hervor,
indem der absteigende Schenkel der Curve nicht bis zur Abscissenlinie
reicht, sondern mehr oder weniger hoch über derselben verläuft, so
Fig. 77. Sartorius in der Mitte fixirt (Doi^pelmyograph). Aufeinanderfolgende
Schliessungsreize bei gleichbleibender Stärke und Richtung des Stromes. Einfluss
der (localen) Ermüdung an der Kathode.
lange der Strom geschlossen bleibt (Fig. 77, K). Bei Anwendung sehr
starker Ströme erscheint dann die Schliessungszuckung eventuell nur
als ein Haken angedeutet, indem der Muskel nach Erreichung des
Maximums der Verkürzung nur wenig erschlafft und sich so dem
normalen Verhalten des glatten Muschelmuskels nähert. Es scheint,
dass dies früher und in höherem Grade bei Präparaten eintritt, welche
schon ermüdet und weniger leistungsfähig geworden sind. Ueberhaupt
ist die Schliessungsdauercontraction sozusagen viel widerstandsfähiger
als die Schliessungszuckung, wie sich unter Anderem auch
daraus ergiebt, dass, wenn ein Muskel durch wiederholte Schliessungen
bei unveränderter Stromesrichtung ermüdet wird, die Anfangszuckung
ziemlich rasch an Grösse abnimmt und alsbald ganz ausbleibt, während
die Dauercontraction nur äusserst langsam bei fortschreitender Er-
müdung des Muskels an Grösse abnimmt. Die Anfangszuckung ist
längst verschwunden, wenn noch immer jede neue Schliessung den
Muskel zu dauernder Verkürzung in fast gleichem Grade anregt, wie
zu Anfang des Versuches (Fig. 77, K)'^ erst sehr spät bleibt auch
diese Stromeswirkung aus. In jedem solchen Falle verhält
sich dann der quergestreifte Muskel ganz so wie von
Anfang an der glatte Muschelmuskel: Es erfolgt über-
Elektrische Reizung der Muskeln. 159
h a u p t keine S c h H e s s u n g s z ii c k u n g , sondern nur eine
mehr oder minder beträchtliche Dauercon tracti on. Es
zeigt sich also auch in dieser Beziehung wieder eine Uebereinstimmung
des ermüdeten quergestreiften mit dem normalen glatten Muskel. Im
Verein mit den früher mitgetheiltcn Thatsaehen beweist die Schliessungs-
dauercontraction unwiderleglich, dass der elektrischeStrom den
Vorgang der Erregung ebensowohl beim quergestreif-
ten wie beim glatten Muskel Wcährend der ganzen Dauer
seines Fliessens auslöst.
Viel augenfälliger noch als bei der Schliessungserregung macht
sich der Einfluss der Stromesdauer hinsichtlich der Oeffnungs-
erregung geltend, so dass hier der Einfluss der Stromes intens! tat
gegenüber dem der Stromesdauer sehr in den Hintergrund tritt. Ist
die Stromesintensität gering und die Schliessungsdauer kurz, so erfolgt
niemals eine Oeffnungserregung ; Ströme, deren Schliessung der Curare-
muskel mit maximalen Zuckungen und starker Dauercontraction be-
antwortet, bewirken oft bei der Oeffnung noch keine Spur von sicht-
barer Erregung, und im günstigsten Falle tritt dann nach langer
Schliessungsdauer eine schwache Oeffnungszuckung auf. Obschon nun
'iiiiwrimr
Fig. 78. Eeihe von Zuckungscurven des in der Mitte fixirten, im Doppelmyographen
befestigten Sartorius. K = Kathoden-, A = Anodenhälfte. Die Zahlen entsprechen
dem jedesmaligen Reochordwiderstand. Einfluss der wachsenden Stromstärke.
andererseits starke Ströme schon nach kurz dauernder Schliessung deut-
liche Oeffnungserregung bewirken, ist es dennoch keineswegs die Stro-
mesintensität, welche in erster Reihe den Erfolg des Oeffnungsreizes
beeinflusst, sondern wesentlich die Dauer der Durchströmung.
Dieselben Veränderungen, welche an der Curve der
Schliessungscontraction bei wachsender Stromesinten-
sität zu beobachten sind, treten auch an der Curve der
Oeffnungscon tracti on hervor, wenn die Dauer der vor-
hergehenden Durchströmung gesteigert wird (24).
Die einfachste Art der Formänderung, mit welcher ein querge-
streifter Muskel den Oeffnungsreiz beantwortet, ist wieder die Oeffnungs-
zuckung; die Verkürzung erfolgt dann rasch im Momente der Oeff-
nung des Stromkreises, und fast ebenso rasch erreicht der Muskel
wieder seine ihm in der Ruhelage zukommende Länge, so dass ganz
analoge Curven entstehen, wie bei der Schliessung schwächerer Ströme.
In dieser einfachen Weise verläuft aber die Oeffnungszuckung nur
dann, wenn der Muskel sehr erregbar, der Strom nicht zu stark ist, und
die Schliessungsdauer nicht zu lange ausgedehnt wird. Starke Ströme
liefern fast regelmässig mehr oder weniger gedehnte (tetanische)
Oeffnungszuckungen, die dann stets der vorher bestehenden Schliessungs-
IQQ Elektrische Eeizuug der Muskeln.
dauercontraction aufgesetzt erscheinen, indem der aufsteigende Schen-
kel der Zuckungscurve sich von der Linie der Dauercontraction als
Abscisse erhebt, während der absteigende zur ursprünglichen Abscissen-
linie abfällt (Fig. 78).
Lässt man einen starken Strom so lange geschlossen, bis jede
Spur der Dauerverkürzung verschwunden ist, so erreicht der Muskel
nach Ablauf der O effnungs zuckung nicht sofort seine natürliche
Länge, sondern bleibt dauernd verkürzt (O effnungs d au e r-
contr actio n)- die Schliessung des gleichgerichteten
Stromes bewirkt in diesem Falle keine Verkürzung,
sondern eine Verlängerung des Muskels; man kann sich
leicht überzeugen, dass nicht nur die Höhe der Oeffnungsz uckung,
sondern auch die Grösse der Oeffnungsdauercontracti on bis
zu einer gewissen Grenze mit der Dauer der vorhergehenden Durch-
strömung wächst. Bei gesunkener Erregbarkeit des Mus-
kels bleibt, wie bei der Schliessung so auch bei der
Oeffnung, die Zuckung ganz aus, und nur die Dauer-
contraction markirt den Erfolg der Reizung. Der Muskel
verkürzt sich dann bei der Oeffnung, bleibt längere Zeit nach Unter-
brechung des Stromes verkürzt, verlängert sich aber rasch und sofort
bei Schliessung des gleichgerichteten Stromes. Man sieht, dass, sofern
es sich um den quergestreiften Muskel handelt, ebensowohl bei der
Oeffnungserregung wie bei der Schliessungserregung drei Haupt-
formen der Verkürzung unterschieden werden können: 1) die
einfache Zuckung, 2) Zuckung mit sich unmittelbar an-
schliessender dauernder Verkü r z ung und endlich 3) Dauer-
contraction ohne vorhergehende Zuckung. Von diesen
entspricht 1) dem schwächsten Grade der Erregung, 3) ist eine Er-
müdungserscheinung. Wundt hat bei seinen Versuchen über die
Oeffnungserregung offenbar nur die dritte Form beobachtet; er sagt
nämlich (8, p. 142): „Lässt man die Kette noch längere Zeit geschlossen,
so erfolgt nun bei der Oeffnung derselben eine Verkürzung; diese
geschieht viel langsamer als die Verkürzung bei einer Zuckung; sie
bleibt einige Zeit auf ihrem Höhepunkte, und erst allmählich tritt
wieder eine geringe Verlängerung ein." Es muss dem gegenüber be-
tont werden, dass auch nach stundenlanger Durchströmung, wenn nur
für möglichste Erhaltung der Erregbarkeit und des Leitungsvermögens
gesorgt ist, eine ausgesprochene Zuckung bei Oeffnung des Stromes
erfolgt.
Da die trägen glatten Muskeln überhaupt nicht zucken, so er-
scheint es fast selbstverständlich, dass wie bei Schliessung so auch bei
Oeffnung eines Kettenstromes der Charakter der Gestaltveränderung
stets nur dem einer mehr oder weniger starken Dauercontraction
entspricht. Stellt man Versuche an dem tonusfreien, möglichst er-
schlafften Schliessmuskel von Anodontaan, so bedarf es ziemlich
starker Ströme und längerer Schliessungsdauer, um eine deutliche
Oeffnungscontraction auszulösen, deren Curve dann in Folge der lang-
samen Erschlaffung des gereizten Muskels der Curve der Schliessungs-
contraction in der Nähe der Gipfels aufgesetzt erscheint (Fig. 75 o). Auch
am Ureter des Kaninchens stellte Engelmann fest, dass, wenn eine
Oeffnungscontraction stattfinden soll, die Schliessungsdauer eine gewisse
zeitliche Grenze übersteigen muss. Diese wird von starken Strömen
früher als von schwachen erreicht und desto früher, je grösser die
Elektrische Reizung der Muskeln.
161
Erregbarkeit. „Bei grosser Stromstärke und hoher Reizbarkeit kann
schon nach einer Schliessungsdauer von weniger als ^i Sek. OefF-
nungscontraction eintreten, bei Strömen von geringer Intensität und
bei herabgesetzter Erregbarkeit bedarf es dazu nicht selten einer
Schliessungsdauer von 30—60 Sekunden," Im Uebrigen nimmt bei
einem gegebenen Strom auf einer bestimmten Stufe der Erregbarkeit
dieGesammtdauer derOeffnungscontraction mit wachsender Schliessungs-
dauer bis zu einer gewissen Grenze zu. Es stellt sich somit heraus,
dass sowohl bei Schliessung wie bei Oeffnung eines
Ketten Strom es eine dauernde Erregung nicht nur glatter,
sondern auch quergestreifter Muskeln herbeigeführt
wird, deren Grösse im ersten Falle hauptsächlich von
der Strom es intensität, im andern Falle auch in hohem
Grade von der Dauer der Durch Strömung abhängig er-
scheint.
Sehr eigenthümlich gestaltet sich in Bezug auf das Hervortreten
der Oeffnungserregung das Verhalten des noch in einem gewissen
Fig. 79. Contractionscurven des Schliessmuskels von Anodonta bei Reizung mit
dem Kettenstrom; a unmittelbar nach der Präparation (starker Tonus), b 4 Stunden
später, nach Erschlaffung des Muskels; s Schliessung; o Oeffnung des Stromes.
Grade tonisch verkürzten glatten Muschelmuskels. Es wurde schon
erwähnt, dass in jedem solchen Falle die Schliessung eines Ketten-
stromes, wenn überhaupt, nur eine sehr schwache Erregung bewirkt.
Da nun der Oeffnungsreiz sowohl am quergestreiften, wie am tonus-
freien, glatten Muskel stets viel schwächer wirkt, als unter sonst
gleichen Verhältnissen der Schliessungsreiz, so erscheint es sehr auf-
fallend, dass der erste sichtbare Reizerfolg bei einem möglichst frischen,
stark „tonischen" Präparat des Muschelmuskels ausnahmslos nur bei
Oeffnung des Stromkreises eintritt, während die Schliessung ent-
weder gänzlich wirkungslos bleibt oder doch nur eine im Vergleich
zur Oeffnungscontraction minimale Verkürzung bewirkt (Fig. 79 a).
Auch wenn man die Intensität eines eben wirksamen Stromes in der
Folge sehr bedeutend steigert, beobachtet man keine wesentliche
Aenderung in dem Verhalten des Muskels, es sei denn, dass die
Oeffnungscontraction dann schon nach ganz kurzer Schliessungsdauer
kräftig hervortritt. Handelt es sich um überhaupt wirksame Strom-
stärken, so genügt in der Regel eine Zeit von 1 — 2 Sekunden, um
eine merkliche Verkürzung des Muskels zu erzielen; doch wächst
Biedermann, Elektrophysiologie. 11
162 Elektrische Reizung der Muskeln.
innerhalb gewisser Grenzen der Erfolg, wenn bei unveränderter Stromes-
richtung und -Stärke die Schliessungszeit verlängert wird. Bemerkens-
werth ist noch, dass bei mehrmals wiederholter Reizung desselben
Präparates die Grösse der Oeffnungscontraction sehr rasch abnimmt ;
es scheint dies in Zusammenhang zu stehen mit dem ausserordentlich
langsamen Abklingen aller Erregungserscheinungen und so auch der
Oeffnungsdauercontraction, indem es minutenlang währt, ehe bei immer
gleichbleibender Belastung der verkürzte Muskel seine ursprüngliche
Länge wieder erreicht hat. Es ist unter diesen Umständen leicht er-
sichtlich, dass von einer Vergleichung der Erfolge bei wiederholter
Reizung eines und desselben Muskels unter rasch wechselnden Ver-
suchsbedingungen (wie beispielsweise bei verschiedener Schliessungs-
dauer und Intensität des Stromes) nur sehr bedingungsweise die Rede
sein kann, indem bei der ungemeinen Langsamkeit der Wieder-
erschlaffung eigentlich nur der erste Versuch Berücksichtigung ver-
dient. Man darf wohl annehmen, dass auch andere glatte Muskeln mit
entwickeltem „Tonus" Kettenströmen gegenüber ein ähnliches Verhalten
zeigen werden , wie das in Rede stehende Präparat. Morgen (9)
stellte Versuche an einem ringförmigen Stück des Froschmagens an,
welches entweder noch im Zusammenhang mit der Mucosa oder nach
Abpräpariren der letzteren zwischen zwei Metallhaken in einer feuchten
Kammer aufgehängt wurde, so dass die Gestaltveränderungen des ent-
sprechend belasteten Muskelringes graphisch verzeichnet werden
konnten. Es stellte sich bei Reizung mit dem Kettenstrome ein be-
merkenswerther Unterschied heraus, je nachdem die Schleimhaut erhalten
oder entfernt war. Ersteren Falls traten deutliche Contractionen sowohl
beim Schliessen wie Oeffnen des Kreises ein; je mehr aber die Erreg-
barkeit des in einem gewissen Tonus verharrenden Präparates sank,
desto mehr kam die Oeffnungserregung ins Uebergewicht, deren Grösse
übrigens auch hier wieder innerhalb gewisser Grenzen mit der
Schliessungsdauer wächst. Nach einer sehr langen (meist mehrere
Sekunden betragenden) Latenzzeit steigt die Contraction langsam an,
so dass sie meist erst nach ^/2 Minute ihr Maximum erreicht hatte.
Dann beginnt sofort die Erschlaffung, die sich ebenso langsam oder
noch träger vollzieht. Nach Abtrennung der Schleimhaut
sah Morgen die Schliessungscontraction in der Regel
ganz ausbleiben, und nur bei der Oeffnung des Kreises
erfolgte eine starke Verkürzung. Ein analoges Verhalten zeigt
sich an dem gleichen Präparat auch nach Vergiftung des Thieres mit
Morphium. Dass etwa im gegebenen Falle das Zustandekommen der
Schliessungscontraction an nervöse Elemente (Ganglienzellen?) geknüpft
ist, erscheint höchst unwahrscheinlich. Im Wesentlichen dürfte es sich
nur um eine Folge der durch die Präparation verstärkten tonischen
Contraction der Muskelhaut handeln. Bernstein, unter dessen
Leitung die Arbeit Morgen' s ausgeführt wurde, macht hierbei auch
auf den Umstand aufmerksam, dass Präparate, welche sich spontan oft
und stark contrahiren, auch besonders starke Schliessungscontractionen
geben, während dies bei schlecht erregbaren oder narkotisirten Präpa-
raten nicht der Fall ist.
Es wurde an anderer Stelle bereits erwähnt, dass mehrfach in
nicht zu kurzen Pausen wiederholte, an sich unwirksame elektrische
Reize sich bei glatten Muskeln leicht zu einer wirksamen Erregung
Summiren, und Engel mann (1. c. p. 282) hat diese Thatsache so-
Elektrische Keizung der Muskeln.
163
wohl füi' Schliessungs- wie Oeffniingsreize am Kaninchenureter fest-
gestellt. Das letztere gelingt unter Umständen auch am glatten
Muschelschliessmuskel (Fig. 80). Bei Anwendung stärkerer Ströme
sieht man dann, insbesondere an nicht vollständig erschlafften Präpa-
raten, nach Beendigung einer längere Zeit hindurch fortgesetzten
rhythmischen Reizung eine neuerliche weitere Verkürzung erfolgen,
über deren Natur als Oeffnungscontraction kein Zweifel bestehen kann
und deren Entstehung durch S um raation an sich unwirksamer
O e ff nungs reize zu erklären ist, wie dies für das gleiche Object
auch schon von Fick (4, p. 44 und p. 50) nachgewiesen wurde. Ich
stehe nicht an, in dieser Erscheinung ebenso ein Analogon jener
„Endzuckung" zu erblicken, welche, wie früher erwähnt wurde,
am Schluss einer tetanisirenden Reizung quergestreifter Muskeln mit
sehr frequenten inducirten Strömen bisweilen hervortritt, wie die
Fig. 80. Oeffnungscontraction (o) des Muschelschliessmuskels (Anodonta) nach rhyth-
mischer Reizung mit einem starken Kettenstrom (10 Dan.). Während der Reizung
unvollkommener Tetanus. Die Zeitmarken entsprechen Sekunden.
„Anfangszuckung" unter gleichen Umständen als Analogon der
Schliessungszuckung bei Reizung mit dem Kettenstrome aufzufassen
sein dürfte.
Als ein wesentliches unterscheidendes Merkmal zwischen den durch
einzelne Inductionsschläge und Schliessung bezw. Oeffnung von Ketten-
strömen ausgelösten „Zuckungen" quergestreifter Muskeln wurde oben
schon der gestrecktere Verlauf („tetanische Charakter") der letzteren
besonders hervorgehoben. Der ganze Verkürzungsvorgang
in allen seinen einzelnen Phasen (besonders aber im
Stadium der absteigenden Energie) dauert entsprechend
der grösseren Dauer des Schliessungs- oder Oeffnungs-
reizes länger. Es ist nun eine Frage von erheblichem theoretischen
Interesse, wie sich das Stadium der latenten Reizung in beiden Fällen
verhält. Sehr eingehende Untersuchungen hierüber verdanken wir
Tigerstedt (2), nachdem bereits v, Bezold (10) festgestellt hatte,
dass bei nicht übermässig starken Strömen die Schliessungszuckung
eine kürzere Latenzdauer hat, als eine Schliessungsinductionszuckung.
Der Unterschied beträgt (beim nicht curarisirten Gastrocnemius) durch-
schnittlich nach Tigerstedt 0,003". Ich selbst habe die gleiche
Thatsache bei später noch näher zu besprechenden Versuchen am
11*
IQ^ Elektrische Keizung der Muskeln.
curarisirten Öartorius ausnahmslos beobachtet. Wie schon v. Bezold
fand , ist die Grösse des Latenzstadiums bei Reizung mit
Ketten strömen sehr wesentlich von der Stärke der-
selben abhängig-, und zwar um so beträchtlicher, je schwächer die
zur Reizung verwendeten Kettenströme sind. Wird die Intensität der
letzteren sehr gesteigert, so kann es schliesslich zu einer völligen Aus-
gleichung des anfänglich sehr beträchtlichen Unterschiedes kommen.
Noch länger als bei den S c h 1 i e s s u n g s z u c k u n g e n ist in
der Regel das Laten zstadi u m der Oeffnungserr egung,
so dass bei schwächeren Kettenströmen der Unterschied gegenüber den
Inductionszuckungen noch viel ausi:eprägter hervortritt, als bei diesen
und Schliessungszuckungen. Durch Steigerung der Stromesintensität
und der Schliessungsdauer lässt sich derselbe aber auch in diesem Falle
fast ganz ausgleichen. Fragt man nun nach der Ursache der kürzeren
Latenzdauer von Schliessungs- und Oeffnungs-Inductionszuckungen, so
liegt, wie es scheint, eine Antwort sehr nahe, wenn man sich erinnert,
dass zur Auslösung einer „Zuckung" eine gewisse Steilheit des An-
steigens der Stromesintensität im Muskel erforderlich ist. Nach einem
seiner Zeit von Du Bois-Reymond aufgestellten Gesetze sollte der
elektrische Strom nicht erregend wirken durch seine absolute Dichte,
sondern durch die Veränderung derselben von einem Augenblick zum
andern, und zwar wäre die Anregung zur Bewegung, die
diesen Veränderungen folgt, um so bedeutender, je
schneller sie bei gleicher Grösse vor sich gehen, oder je
kürzer sie in der Zeiteinheit sind. Wenn man nun andererseits
Grund hat, vorauszusetzen, dass in Folge der geringeren Spannung
Kettenströme von mittlerer Stärke ihre Dichte im Muskel weniger
steil als Inductionsströme verändern, so würde die längere Latenzdauer
wenigstens der S ch Hess un gs Zuckungen, wie Tigerstedt (1. c.
p. 197) bemerkt, von rein physikalischen Facto ren abhängen und eine
selbstverständliche Consequenz des erwähnten „allgemeinen Gesetzes"
von D u B o i s - R e y m 0 n d sein. Nun wurde aber bereits gezeigt, dass
Avenigstens der erste Theil dieses letzteren für den Muskel keine
Geltung hat. Es wird im Folgenden auch der zweite Theil des
Gesetzes als nicht allgemein gültig zu erweisen sein. Damit fällt
aber doch nicht die Möglichkeit weg, die erwähnten Unterschiede des
Latenzstadiums in der angedeuteten Weise zu erklären.
Es handelt sich hier offenbar nur um den Beginn der Contrac-
tion , nicht um deren endgültige Grösse und weiteren Verlauf. Ob-
schon daher die erregende Wirkung kurzdauernder inducirter Ströme
zweifellos geringer ist, als die von Kettenströmen, sofern man die
Grösse und Dauer der Zuckungen berücksichtigt, so ist es doch leicht
denkbar, dass jener Grad der Stromesdichte, welcher zur Auslösung
einer, wenn auch kleineren, Zuckung erforderlich ist, bei inducirten
Strömen rascher erreicht Avird, als beim Kettenstrome.
Dies führt unmittelbar zur Untersuchung der Frage, wie sich
überhaupt die Abhängigkeit der Reiz Wirkungen von dem
zeitlichen Verlauf der elektrischen Bewegung gestaltet.
Werfen wir hier einen vergleichenden Blick auf die Gesammtheit
contractiler Substanzen, so ergiebt sich unmittelbar die Avichtige That-
sache, dass rasche Dichtigkeitsschwankungen eines Stromes zwar ge-
eignet sind, rasch bewegliche Plasmaarten (quergestreifte Muskeln)
wirksam zu erregen, während sie hingegen trägeren Theilen gegenüber
Elektrische Keizung der Muskeln. 165
sich unwirksam erweisen. Es rindet dies seinen klarsten Ausdruck in
dem bekannten Umstände, dass normale quergestreifte Muskeln bei
Reizung- mit dem Kettenstrome ganz vorwiegend im Momente des Ent-
stehens und Verschwindens (der Schliessung und Oeffnung) zucken. Die
sichtbaren Erscheinungen der Dauererregung treten um
so mehr zurück, die erregenden Wirkungen de r S t r o m e s-
s c h Av a n k u n g e n dagegen um so mehr i n d e n V o r d e r g r u n d ,
je rascher beweglich das reizbare Plasma ist. Für diesen
Satz bietet die Summe der Erfahrungen an contractilen Substanzen
hinreichende Belege. In sehr charakteristischer Weise macht sich dies
auch dann geltend, wenn man die Wirkung eines ganz allmählich
anschwellenden Stromes bei verschiedenen irritablen Gebilden unter-
sucht. Schliesst man Avie gewöhnlich den Kettenkreis mit der Hand,
etwa durch Eintauchen eines Drahtes in Quecksilber, so steigt natürlich
die Intensität äusserst rasch von Null bis zur vollen Höhe an, wobei
übrigens die Gestalt der Schwankungscurve im Einzelnen unbekannt
bleibt. Wenn man nun aber eine Vorrichtung benutzt, mittelst deren
die Intensität des Stromes ganz allmählich von Null ab gesteigert
werden kann, wie etwa beim langsamen und gleichmässigen Ver-
schieben des Schlittens am Du Bois' sehen Rheochord, so lässt sich
leicht zeigen, dass derselbe Strom, dessen plötzliche
Schliessung eine maximale Zuckung mit anschliessen-
der Dane rcontr actio n auslöst, keine Spur von Verkür-
zung oder günstigsten Falles eine schwache Dane rcon-
tr action des quergestreiften Muskels bewirkt. Wiederholt
man dagegen denselben Versuch an einem aus glatten Muskelzellen be-
stehenden Präparat, wie etwa dem Schalenschliesser von Anodonta,
so ergiebt sich ein wesentlich anderes Resultat. Fi ck erwähnt zwar (4),
dass es ihm gelungen sei, auch diesen Muskel „ohne alle Verkürzung
in Ströme von ziemlich beträchtlicher Stärke einzuschleichen", doch
war hierzu eine ausserordentlich langsame Steigerung der
Stromstärke, die sich über mehrere Minuten erstreckte, erforderlich.
Dass aber unter diesen Umständen keine sichtbaren Erregungserschei-
nungen auftreten, kann wohl kaum überraschen, wenn man berück-
sichtigt, dass der Einfluss der immer zunehmenden Ermüdungsver-
änderungen der Muskelsubstanz an allen jenen Stellen, avo, wie wir
sehen Averden, der Strom während seiner Dauer den Vorgang der Er-
regung auslöst, sich in um so höherem Grade geltend machen muss,
je langsamer die Intensität anwächst. Wirkt ja in jedem folgenden
Zeitmomente der Strom auf Faserstellen ein, welche bereits während
der ganzen vorhergehenden Durchströmungszeit um so mehr modificirt
Avurden, je länger dieselbe dauerte. Uebrigens lässt sich leicht zeigen,
dass, Avie zu erwarten AA^ar, gerade der Muschelmuskel im erschlafften
Zustande für Einschleichen des Stromes in besonders hohem Grade
empfindlich ist.
Berindet sich ein Rheochord im Reizkreise, und schaltet man so
viele Elemente ein, dass deren Strom voraussichtlich genügen würde,
um ohne Rheochord eine starke Schliessungscontraction auszulösen, so
beobachtet man stets auch dann eine ganz analoge, der Entstehung
einer Schliessungsdauercontraction entsprechende Gestaltveränderung
des Muskels, wenn der Rheochordschlitten allmählich und möglichst
gleichmässig von der Nullstellung aus vorgeschoben wird. Die Con-
traction beginnt, wenn der Strom eine gewisse Intensität erreicht hat.
166
Elektrische Keizung' der Muskeln.
worauf die Curve sich um so steiler erhebt, je rascher das Vorschieben
des Schlittens erfolgt. Ich konnte auf diese Weise bisweilen noch
starke Wirkungen erzielen, wenn die Stromesintensität langsam während
2 Minuten gesteigert wurde; allerdings erfordert der Versuch dann
sehr empfindliche Präparate.
Mit Rücksicht auf die vorstehend mitgetheilten Erfahrungen darf
man wohl behaupten, dass jede als „Zuckung" zu bezeichnende
Grestaltveränderung eines geeigneten Muskels zu ihrer Entstehung
stets einer mehr oder weniger raschen positiven oder negativen
Dichtigkeitsschwankung des Stromes bedarf, ob diese nun von Null
oder einem endlichen Werthe ausgeht und da, wie sich bei partieller
Durchströmung eines parallelfaserigen Muskels ohne Weiteres ergiebt,
bei Totalreizung aber später noch zu beweisen sein wird, jeder Zuckung
Fig. 81. a, i, c Verschiedene Formen von Schwankungscurven der Stromesintensität
nach A. Fick. Die Abscissen bedeuten die Zeiten in Sekunden, die Ordinaten die
Stromstärke.
eine durch die ganze Länge des Muskels ablaufende Contractions-
welle entspricht, so scheint durch eine rasche Stromschwankung
vor Allem die Fortleitung der Erregung vom Orte der directen
Reizung bedingt und vermittelt zu werden. Während demnach
die Stärke der Erregung in erster Linie von Intensität,
Dichte und Dauer des Stromes abhängt, ist die Aus-
lösung einer Contractionswelle auch noch von der Art
(Steilheit) des Ansteigens der Stromesintensität im
Muskel abhängig.
Die vorstehend mitgetheilten Sätze lassen sich nach dem Vor-
gange von Fick (4, p. 25 f.) durch eine einfache graphische Dar-
stellung noch anschaulicher machen (Fig. 81). Die Abscissen bedeuten
die Zeiten, die Ordinaten entsprechen der jeweiligen Stromstärke.
Während nun in einem gegebenen Falle ein Strömungsvorgang, wie er
in Fig. 81 {a) dargestellt ist, weder den quergestreiften noch den glatten
Muskel sichtbar zu erregen vermag, so kann ein Strömungsvorgang
Elektrische Reizung der Muskeln. 167
wie etwa Fig. 81 (ft) für den letzteren ein wirksamer Reiz sein.
Zur Entstehung der Schliessungszuckung beim quergestreiften
Muskel würde dann unter allen Umständen ein höherer Grad der
Steilheit der Stromesdichtigkeitscurve erforderlich sein. Bei Strom-
schwankungen, welche vom Werthe Null ausgehen und wieder dahin
zurückkommen, sind beispielsweise folgende Fälle möglich : Eine Schwan-
kung von der Form (Fig. 81, c c), wie sie etwa einem einzelnen schwachen
Inductionsstrom oder einem „Stromstoss" entspricht, wirkt eventuell
nicht zuckungserregend, wohl aber eine von der Form (d), weil hier die
geringe Dauer des Stromes durch grosse Intensität aufgewogen Avird.
Dagegen kann eine Schwankung von der Form (e) auf dasselbe Prä-
parat, welches (c) unerregt Hess, als Reiz wirken, weil hier die grössere
Dauer die geringere Intensität compensirt, und dasselbe würde vielleicht
auch Betreffs einer Schwankung mit geringerer Steilheit des Anstiegs
und Abfalls gelten (f).
Auf die verschiedene Art des Ansteigens der Stromesintensität
pflegt man gewöhnlich auch die auffallende Ueberlegenheit der
erregenden Wirkung des Oeffnungs - Inductionsstromes zurückzu-
führen, die sich nicht nur an quergestreiften, sondern auch an
glatten Muskeln, ja, wie es scheint, bei fast allen irritablen
Gebilden im gleichen Sinne geltend macht. Da jedoch die hierüber
vorliegenden Untersuchungen sich bisher fast ausschliesslich auf den
motorischen Nerven beziehen, so dürfte es zweckmässiger sein, die
Erörterung der betreffenden Thatsachen an anderem Orte zu bringen,
wo dann auch die wenigen Erfahrungen mitgetheilt werden sollen, die
man bisher hinsichtlich der Abhängigkeit der Erregung von der ge-
naueren Gestalt der Schwankungscurve der Stromesintensität ge-
wonnen hat.
Wie in mancher anderen Beziehung, so scheint auch dem Ketten-
strome gegenüber das Verhalten des Herzmuskels eine Aus-
nahme zu bilden. Nachdem zuerst Eckhardt (11) beobachtet hatte,
dass die ganglienfreie Herzspitze des Frosches rhythmisch pulsirt,
wenn ein constanter elektrischer Strom durch dieselbe geleitet wird,
ist diese leicht zu bestätigende Thatsache wiederholt Gegenstand der
Untersuchung gewesen (12). Die Frequenz der Pulsationen nimmt
mit der Stärke des Stromes bis zu einer gewissen Grenze zu. Erinnert
man sich der früher besprochenen Erfahrung, dass der Herzmuskel
auch andere continuirlich einwirkende, stetige Reize, wie insbesondere
mechanische und chemische, mit rhythmischen Erregungserscheinungen
beantwortet, so kann die erwähnte Wirkung dauernder Durchströmung
kaum überraschen, und es erhebt sich nur die Frage, ob es sich dabei
wirklich um eine specifische Eigenthümlichkeit des Herzmuskels han-
delt und nicht vielmehr um eine solche, die an demselben nur in einer
sozusagen extremen Weise entwickelt erscheint. In der That hat
Hering (13) schon vor längerer Zeit beobachtet, dass ein curarisirter
Sartorius vom Frosch unter Umständen bei dauernder Nebenschliessung
des eigenen Längsquerschnittstromes durch Eintauchen in 0,6 ^/o NaCl,
sowie auch bei Einwirkung sehr schwacher künstlicher Ströme in
rhythmische Erregung geräth, sich also seinerseits ganz ähnlich ver-
hält, wie, nach K ü h n e ' s und meinen Beobachtungen, bei chemischer
Reizung. Dabei handelte es sich aber nur um schwache Contractionen
des gänzlich unbelasteten und noch überdies in Flüssigkeit getauchten
Muskels. Es ist mir aber später gelungen, auch an dem im Hering '-
168
Elektrische Reizung der Muskeln.
Fig. 82. 2 Reihen rhythmischer Zuckungen während
dauernder Schliessung eines Kettenstromes (Thermo-
Sternsäule, Reochordwiderstand 60) nach 15 Minuten
dauernder Einwirkung von Na2C03 (2 *'/o) auf das
tibiale Ende des Sartorius; b zweite Reizung desselben
Muskels; Einfluss der Ermüdung.
sehen Doppelmyographen eingespannten, be-
lasteten Sartorius durch einmalige dauernde
Schliessung eines Kettenstromes lange Serien
sehr kräftiger Zuckungen auszulösen, wenn
vorher die Erregbarkeit der Muskelsubstanz
am Orte der directen Reizung (wie Avir sehen
werden , dem Kathodenende des Muskels)
durch Behandlung mit nicht zu schwachen
Lösungen von NagCOg (1 — 3'*/o) local ge-
steigert wurde (14). Fig. 82, ft, zeigt eine
solche Curvenreihe, welche nach 13 Minuten
dauernder Einwirkung einer 2 "/o Lösung
von NagCOg auf das tibiale Ende eines
curarisirten Sartorius während der Schlies-
sung eines mittleren, absteigend gerichteten
Stromes gezeichnet wurde. Vor Ablauf der
mächtigen ersten Zuckung beginnt, lange
bevor noch der absteigende Curvenschenkel
die Abscisse erreicht hat, neuerdings eine
rasche Verkürzung („Zuckung" ) des Muskels.
Durch Superposition von drei einander rasch
folgenden Zuckungen erreicht derselbe nahe-
zu wieder das frühere Maximum der Con-
traction, und nun folgen in ganz regel-
Elektrische Keizuno' der Muskeln.
169
massigem Rhythmus 25 kräftige, der Anfangszuckung an Grösse zu-
nächst kaum nachstehende Einzelzuckungen, welche, Anfangs etwas
dichter gedrängt, später in Zwischenräumen von etwa 1 Sekunde aus-
gelöst werden. Von der 20. Zuckung an nimmt die Grösse, der Ver-
kürzung rasch ab, und schliesslich bleibt nur eine spurweise Dauer-
contraction übrig, die erst bei Oeffnung des Stromes völlig schwindet.
Es scheint, dass die einzelnen Impulse sich Anfangs rascher folgen, als
später. Bisweilen nehmen die gewissermaassen aus der Auflösung der
Schliessungsdauercontraction hervorgehenden rhythmischen Zuckungen
im Verlaufe einer Curvenreihe plötzlich rasch an Höhe zu, wobei die
Verbindungslinie der Gipfelpunkte zunächst steil ansteigt, um ebenso
rasch unter Abnahme der Zuckungshöhe wieder abzusinken (Fig. 83),
ein Verhalten, welches an das bekannte treppenartige Anwachsen der
Zuckungen verschiedener Muskeln bei Reizung mit gleichstarken In-
ductionsströmen erinnert. Da bei Anwendung sehr starker Ströme,
Fig. 83. Rhythmische Zuckungs-
reihe vom Sartorius. Dauernde
Schliessung des Stromes. Allmäh-
liches Anwachsen der Zuckungen.
/I-jlJL/l.
-OU.
J.
wie nach H e r i n g ' s Beobachtungen auch selbst sehr schwacher, auch
ohne Hinzukommen einer künstlichen Erregbarkeitssteigerung ganz
analoge rhythmische Erregungserscheinungen entstehen können, die
meist nur weniger regelmässig sind, so scheint die Vermuthung nicht
unberechtigt, dass ein dauernd und stetig fliessender Strom
in vielen Fällen, vielleicht sogar immer, einen discon-
tinuirlichen Erregungszustand setzt, der nur deshalb
zu einer scheinbar stetigen Contraction führt, weil die
Bedingungen des Versuches in der Regel derart sind,
dass schwache, wenig kräftige oder nur auf einzelne
Faserbündel beschränkte rhythmische Con tractionen
ohne sichtbaren mechanischen Effect bleiben. Von
diesem Gesichtspunkte aus würde man demnach in der That von
tetanischen Schliessungszuckungen und von einem tetanischen
Charakter der Schliessungsdauercontraction sprechen können , ja es
erscheint sogar zweifelhaft, ob bei Reizung curarisirter Muskeln mit
starken Kettenströmen wirklich einfache, nicht tetanische Schliessungs-
zuckungen überhaupt vorkommen; der gedehnte Verlauf spricht jeden-
falls eher zu Gunsten dieser Anschauung als dagegen. Inwieweit
hier jedoch ein Rückschluss auch auf die Wirkungsweise schwächerer
170 Elektrische Reizung der Muskeln.
Ströme gestattet ist, muss vorläufig unentschieden bleiben, ebenso
wie es auch auf Grund der bis jetzt vorliegenden Erfahrungen nicht
möglich erscheint , die discontinuirliche Natur der Schliessungs-
dauercontraction als Regel hinzustellen, wenngleich Manches
dafür zu sprechen scheint. Wenn bei dem Herzmuskel ganz regel-
mässig und ausnahmslos, bei dem quergestreiften Skelettmuskel
wenigstens unter gewissen Bedingungen der constante Strom während
seiner Schliessung rhythmisch sich folgende Contractionen auslöst, so
ist dies, wie es scheint, viel häufiger bei glatten Muskeln der Fall.
Hier hat zuerst Engelmann (5) am Ureter des Kaninchens eine Er-
scheinung beobachtet, welche, wie ich glaube, ohne Bedenken als ein
Analogen der vorstehend erörterten Thatsachen gelten darf. Ich meine
jene periodisch von der Kathode des constanten Stromes ausgehenden
ContractionsAvellen , welche entstehen , ohne dass merkliche Verschie-
bungen des Reizobjectes auf den Elektroden nachweisbar waren. „Die
Zahl der während einer Schliessungsdauer von 1 — 2 Minuten beob-
achteten Contractionen betrug bei Heizung mit schwachen Strömen
gewöhnlich weniger (2 — 3), bei Reizung mit starken mehr (5 — 7). Die
Zeiträume, in denen sich die Wellen folgten, schwankten zwischen 4
und 20 Sekunden. Häutig waren die Perioden ziemlich gleich und
kurz, in anderen Fällen von verschiedener Dauer. In der Zeit zwischen
zwei Wellen pflegte, wenigstens bei stärkeren Strömen, der Ureter an
der negativen Elektrode nicht ganz zu erschlaffen (Schliessungsdauer-
contraction)." Auch nach Oeffnung des constanten Stromes sah
Engel mann am Ureter der Ratte (1. c. p. 414) mehrmals periodische
Contractionswellen von der Stelle des positiven Poles ausgehen, eine
Erscheinung, zu der als Analogen die Thatsache gelten darf, dass
auch am Sartorius unter den früher erwähnten Bedingungen bisweilen,
wiewohl seltener, die Auflösung einer Oeffnungsdauererregung in rhyth-
mische Einzelzuckungen beobachtet wird. In der Regel kommt es
freilich nur zu mehr oder weniger gedehnten Einzelzuckungen, über
deren tetanische Natur eine sichere Entscheidung nicht möglich ist.
Wie man sieht, besteht also ein principieller Unterschied hinsicht-
lich der am Herzen , sowie an anderen quergestreiften und glatten
Muskeln bei constanter Durchströmung zu beobachtenden Erschei-
nungen in keiner Weise, und nur in quantitativer Beziehung machen
sich Verschiedenheiten insofern geltend, als rhythmische Erregungs-
auslösung, welche im einen Falle ausnahmslose Regel ist, andernfalls
nur unter gewissen Bedingungen erfolgt. Die sehr viel langsamere
Aufeinanderfolge der einzelnen Contractionswellen bei elektrischer
Reizung des Ureter erklärt sich leicht durch die geringere Erregbar-
keit und trägere Reaction der glatten im Vergleich zu quergestreiften
Muskeln. Besteht ja doch, wie später zu zeigen sein wird, ein ähn-
liches Verhältniss auch wieder zwischen diesen letzteren und den
motorischen Nerven, so dass sich in gradweiser Abstufung dieselben
Erscheinungen bei elektrischer Reizung glatter Muskeln, des Herz-
muskels, quergestreifter Stammesmuskeln und motorischer Nerven
wiederholen. Man kann hieraus zugleich ersehen , dass die Aufein-
anderfolge der rhythmischen Erregungsimpulse im Allgemeinen eine
um so raschere ist, je grösser die Erregbarkeit ist. Es ergiebt sich
dies nicht nur aus einer vergleichenden Betrachtung der Reizerfolge
an glatten und quergestreiften Muskeln, Herzmuskel und Nerven, sondern
auch aus den Erscheinungen, welche man bei jedem einzelnen Reiz-
Elektrische Reizung der Muskeln. 171
versuche an einem dieser Gebilde beobachtet. Sinkt die Erregbarkeit
unter dem Einfluss des Stromes oder aus anderen Gründen unter
einen gewissen Grenzwerth, so hört unter allen Umständen die Mög-
lichkeit rhythmischer Dauererregung auf; es kommt bloss zur Aus-
lösung einer einzigen „Zuckung" oder zur Entwicklung einer wenig-
stens anscheinend stetigen Dauercontraction. Man könnte geneigt sein,
in den vorstehend besprochenen Erscheinungen eine Ausnahme jenes
Satzes zu erblicken, wonach die Auslösung einer „Zuckung" (be-
ziehungsweise einer sich fortpflanzenden Contractionswelle) stets nur
durch eine mehr oder weniger steile Intensitätsschwankung des elek-
trischen Stromes vermittelt wird. Es darf aber dabei nicht vergessen
werden, dass dies im Grunde nur bedeutet, dass die durch den Strom
(wie durch jedes beliebige andere Reizmittel) gesetzten Veränderungen
der erregbaren Substanz mit einer gewissen Raschheit von Null oder
einem endlichen Werthe anwachsen müssen, wenn es überhaupt zur
Entstehung einer Contractionswelle kommen soll. Mehr oder weniger
rasche Schwankungen des Erregungszustandes einer irritablen
Substanz sind aber auch denkbar und kommen wirklich vor, wenn
die Reiz Ursache an sich ganz stetig wirkt; man braucht hier nur
an die Pulsationen der Herzspitze bei chemischer oder mechanischer
Reizung zu erinnern. Es hängt dies offenbar wesentlich nur von der
Natur und dem Erregbarkeitszustand der betreffenden Substanz ab.
Nachdem wir die Abhängigkeit der Erregung von der Intensität
des Stromes, sowie von der Dauer und Art des Ansteigens des letz-
teren im Allgemeinen kennen gelernt haben, erübrigt es noch, den
Einfluss der Stromesrichtung näher ins Auge zu fassen. Es
scheint von vornherein klar, dass dieselbe bei reiner Längsdurch-
strömung eines parallelfaserigen Muskels kaum eine Rolle spielen
kann, wenn dieser wirklich geometrisch regelmässig gebaut und ins-
besondere an beiden Enden gleich dick wäre, so dass die Dichte des
Stromes allerorts gleich sein würde. Derartige Präparate stehen aber
kaum zur Verfügung, und gerade der am meisten benützte, verhältniss-
niässig regelmässige Frosch-Sartorius bietet, wie wir sehen werden,
ein sehr abweichendes Verhalten. Ehe aber hierauf näher eingegangen
werden kann, muss des ausserordentlich auffallenden Einflusses gedacht
werden , welchen der D u r c h s t r ö m u n g s w i n k e 1 , d. i. der Winkel
zwischen Strom- und Faserrichtung, in Bezug auf die Erregung spielt.
Frühere Beobachter waren bei ihren diesbezüglichen Versuchen
zu sehr widersprechenden Resultaten gelangt, und speciell Sachs (15)
vertrat die Ansicht, dass der Muskel gleiche Erregbarkeit für quere
wie für longitudinale Durchströmung besitze; doch giebt die von ihm
angewendete Versuchsmethode begründeten Zweifeln Raum, ob ein
den Muskel wirklich in rein querer Richtung durchfliessender elektrischer
Strom wirksam zu erregen vermag. Zwei Nadelspitzen dienten in
diesen Versuchen als Elektroden und wurden so mit dem Muskel in
Berührung gebracht, dass ihre Verbindungslinie in genau querer Rich-
tung die Muskelfasern schnitt, also auch ein durch dieses Nadelpaar
gehender Strom in einer im Wesentlichen queren Richtung die
Muskelfasern durchfliessen musste. Dass aber unter diesen Umständen
selbst bei genauester Querdurchströmung longitudinale Stromfäden
auftreten müssen, ist fast selbstverständlich. Es kommt dann
nur auf die Stärke des Reizstromes an, ob dieselben auch ihrerseits
Erregungen auszulösen vermögen. Sachs war nun der Ansicht, dass
172 Elektrische Reizung der Muskeln.
die Stromstärke, welche bei seiner Versuchsanordnung eben wirksam
ist, allein durch den elektrischen Verbindungsfaden der beiden Elek-
trodenspitzen wirke, was, wie Lei eher (16) richtig bemerkt, nur
unter gewissen, nicht zutreffenden Voraussetzungen gelten könnte.
Ein besseres Verfahren, das schon 1838 Matteucci angegeben
hat und welches dann auf Hermann's Anregung zuerst von
Luchsinger (17) für den Nerven angewendet wurde, besteht darin,
das zu durchströmende Object (Nerv oder Muskel) in eine leitende,
möglichst indifferente Flüssigkeit zu versenken, in welche auch die
stromzuführenden Elektroden eintauchen. In diesem Falle wird der
senkrecht zur Verbindungslinie der Elektroden liegende Muskel ent-
weder nur oder doch ganz vorwiegend von senkrechten Strom-
fäden getroffen, das erstere, wenn die Elektroden linear bezw.
flächenhaft, das letztere, Avenn sie punktfijrmig sind. Tschirj ew (18),
M^elcher sich dieser Methode bediente, fand nun zwar, dass zur Er-
regung des Muskels bei querer Durchströmung eine grössere Strom-
stärke erforderlich ist, als bei longitudinaler, glaubte jedoch, dem-
ungeachtet mit Rücksicht darauf, dass nach Hermann der Leitungs-
widerstand des Muskels in der Querrichtung sehr viel grösser ist, als
in der Längsrichtung (4 — 9 mal so gross), so dass bei longitudinaler
Durchströmung ein grösserer Stromantheil durch denselben geht, als
bei querer, annehmen zu müssen, dass der Muskel für quere
Durchströmung sogar noch erregbarer sei, als für lon-
gitudinale. Indessen müssen sowohl diesen Versuchen gegenüber,
wie auch gegen jene, Avelche G i u f f r e , A 1 b r e c h t und Meyer (19 )
unter Hermann's Leitung anstellten, schwerwiegende methodische
Bedenken geltend gemacht werden, die übrigens schon von Hermann
selbst hervorgehoben wurden. Tschirjew band an beide Enden des
ausgeschnittenen , in den Reiztrog versenkten Muskels Seidenfäden,
durch welche dieser mit einem Muskelzeiger verbunden werden konnte,
oder benützte gar kleine quadratische Muskelstückchen; in ähnlicher
Weise suchte Giuffre die Schwierigkeiten, welche durch die un-
regelmässige Form der Enden des benützten Muskels (Sartorius) be-
dingt werden, dadurch zu umgehen, dass er nur den dui'ch künstliche
Querschnitte begrenzten parallelfaserigen Theil des Sartorius in die
Flüssigkeit versenkte. Da nun, wie später gezeigt werden soll, die
erregende Wirkung eines Stromes ganz ausserordentlich vermindert
wird, wenn derselbe durch künstliche Schnittflächen oder anderweitig
verletzte Faserstellen ein- und austritt, so ist klar, dass bei allen den
zuletzt erwähnten Versuchen das Erregbarkeitsverhältniss unter Um-
ständen sogar zu Gunsten der Querdurchströmung verändert erscheinen
kann. Wenn nichtsdestoweniger thatsächlich eine viel geringere Erreg-
barkeit des Muskels bei reiner Querdurchströmung gefunden wurde, so
kann man dies nur als einen Beweis a fortiori ansehen, dass die letztere
als ein schwächerer Reiz wirkt wie die Längsdurchströmung.
Eine experimentelle Entscheidung in diesem Sinne brachten die
Untersuchungen von D. Leicher. Derselbe bediente sich eines
Apparates, welcher im Wesentlichen mit einer von Hering zu dem-
selben Zwecke schon viel früher benützten Vorriclitung übereinstimmt
(Fig. 84). Der Muskel (curarisirter Sartorius) wird mittels der beiden
daran gelassenen Knochen in ganz ähnlicher Weise zwischen zwei
Klemmen fixirt wie bei dem He ring 'sehen Doppelmyographen •, die
eine Klemme ist fix, die andere, frei bewegliche, überträgt die Bewegung
Elektrische Reizung der Muskeln.
173
des Muskels auf einen Schreibhebel. Der „Reiztrog" besteht aus
einem parallelepipedischen Hartgummikästchen, dessen beiden kürzeren
Wände mit amalgamirten Zinkplutten verkleidet sind, die den Strom
zuführen. In einiger Entfernung von diesen befinden sich noch zwei
Scheidewände aus gebranntem porösen Thon, so dass jederseits eine
Rinne entsteht, welche den etwa quadratischen Innenraum des Troges
abgrenzt. Während dieser letztere 0,6 ^/o NaCl-Lösung enthält, werden
die beiden Rinnen mit concentrirter Zinksulphatlösung gefüllt. Der
Muskel wird nun , durch ein Gewicht gehörig gespannt, in völlig un-
Fig. 84. Apparat zur Querdurchströmung des Muskels (Sartorius) nach Hering
(Catalog physiologischer Apparate von E. Rotlie, Universitätsmechaniker in Prag).
Versehrtem Zustande in den mittleren Raum versenkt, so dass sich,
wie man ohne Weiteres sieht, der Winkel der Durchströmung einfach
durch Drehen des Troges beliebig ändern lässt.
Wie zu erwarten war, tritt bei reiner Längsdurchströmung
(Winkel 0) gerade wie ausserhalb der Flüssigkeit, Schliessungszuckung
bezw. eine Schliessungsdauercontraction hervor, dagegen beobachtete
Lei eher bei den benützten Stromstärken (9 Daniell) niemals eine
wirksame Oeffnungserregung. Trifft ein Strom den Muskel unter
einem Winkel von 45 ° , so zeigt sich derselbe zwar wirksam , aber
viel schwächer, als bei reiner Längsdurchströmung. „Lässt man
endlich den Strom genau quer unter einem Winkel von 90 ° den Muskel
durchfliessen , so bleibt er in der Regel ganz in Ruhe. Selten findet
bei querer Durchströmung eine schwache Erregung statt, die trotz
174 Elektrische Eeizung der Muskeln.
ihrer geringen Grösse einen Unterschied bemerken lässt, sobald die
Stromesrichtung verändert wird." Die gänzliche Unerregbar-
keit des quergestreiften Muskels für genau senkrecht
zurFaseraxe gerichtete elektrische Ströme dürfte nach
diesen leicht zu bestätigenden Versuchen wohl als eine
hinlänglich gesicherte Thatsache gelten. Es ist selbstver-
ständlich, dass sich die Versuche in reiner Form nur an einem mög-
lichst regelmässig gebauten, parallelfaserigen Muskel anstellen lassen,
und dass alle Präparate mit complicirterem Faserverlauf von vornherein
ausgeschlossen sind. Für glattmuskelige Theile liegen entsprechende
Versuche bisher nicht vor, doch darf man wohl annehmen, dass auch
hier, sofern nur die contractilen Fibrillen parallel verlaufen, quere
Durchströmung unwirksam bleibt. Es ist klar, dass die Thatsache
der Abhängigkeit der Erregung von der Grösse des Winkels, unter
welchem die in einer Richtung gestreckten, contractilen Theile von den
Stromfäden getroffen werden, für die theoretische Auffassung der
Wirkungsweise des Stromes von der grössten Bedeutung ist. Ehe
jedoch hierauf näher eingegangen werden kann, muss noch ein anderes
Fundamentalgesetz der elektrischen Erregung erörtert werden, die
Frage betreffend, an welchen Punkten der unmittelbar
durchflossenen Muskelstrecke der Strom bei seinem
Entstehen oder Verschwinden, sowie während der Dauer
seines Fliessens den Erregungsvorgang auslöst. Die
nächstliegende Annahme, welche auch wenigstens für den inducirten
Strom lange Zeit ausschliessliche Geltung hatte, scheint offenbar die
zu sein, dass Erregung gleichmässig an jedem Punkte der durch-
flossenen Strecke stattfindet, so dass bei Längsdurchströmung alle
Querschnitte des Muskels gleichzeitig und sofern die Erregbarkeit über-
all gleich ist, auch gleich stark in Contraction gerathen. Die blosse
Betrachtung eines durch Schliessung oder Oeffnung eines Stromes ge-
reizten quergestreiften Muskels giebt hierüber keinen sicheren Auf-
schluss, da man stets und zwar auch in solchen Fällen eine scheinbar
gleichzeitige Verkürzung des ganzen Muskels beobachtet, wo es sich
sicher um ein wellenförmiges Fortschi-eiten der Contraction handelt,
wie beispielsweise bei partieller Reizung eines parallelfaserigen
Muskels. Man muss daher zur Entscheidung der vorliegenden Frage
entweder feinere, zeitmessende Methoden, wie bei der Bestimmung der
Leitungsgeschwindigkeit, zu Hülfe nehmen oder Versuche an Muskeln
anstellen, bei welchen, wie an glatten Faserzellen, der Contractions-
und Leitungsvorgang überhaupt träger verläuft. Beides führt in der
That zum Ziele.
Wenn bei totaler Längsdurchströmung eines parallelfaserigen, quer-
gestreiften Muskels, wie etwa des Sartorius, die Erregung (bezw. Con-
traction) von dem einen oder anderen Pole aus sich wellenförmig
fortpflanzt, so müsste es offenbar möglich sein, durch Auflegen von
zwei Fühlhebeln, welche an verschiedenen Stellen des Muskels durch
die unter ihnen weglaufende Contractionswelle zu verschiedenen Zeiten
nach einander gehoben werden, zwei Verdickungscurven zu erhalten,
welche, wenn die Zeichenspitzen genau vertical über einander liegen,
leicht erkennen lassen müssen, ob beide Fühlhebel gleichzeitig stiegen
oder nicht; letzterenfalls Hesse sich noch aus der Richtung der
Verschiebung erkennen, von woher die Welle kam. Nach diesem
Princip hat es Aeby versucht (20), die vorliegende Frage experi-
Elektrische Eeizung der Muskeln. 175
mentell zu entscheiden. Er legte im Verlauf des horizontal gelagerten
curarisirten Muskels zwei Hebel auf in einem gegenseitigen Abstand
von 17 mm, welche die bei der Thätigkeit eintretende Verdickung des
Muskels auf einer rasch rotirenden Trommel verzeichneten und fand,
dass beide Hebel vom Muskel gleichzeitig gehoben wurden, wenn
derselbe durch Schliessung oder Oeffnung eines ihn durchfliessenden
Kettenstromes erregt wurde. Dies hätte, so scheint es, unmöglich der
Fall sein können, wenn die Erregung wirklich nur von dem einen
Muskel ende ausgegangen wäre. Das Ergebniss dieser Versuche steht
also in directem Widerspruch mit der oben geäusserten Vermuthung
einer polaren Erregung des Muskels.
In anderer Weise als Aeby versuchte v. Bezold (10) die schwe-
bende Frage zu lösen. Er bediente sich der gewöhnlichen myogra-
phischen Methoden, wobei die Längenänderung eines Muskels oder
Muskelstückes verzeichnet wird und benutzte das Latenzstadium der
Schliessungs- und Oeffnungszuckung als Kriterium. Der curarisirte
M. sartorius wurde mit seinem oberen Theile in einer für seine Ge-
stalt passenden Korkrinne derart befestigt, dass zwei Kupferdrähte
den Muskel senkrecht auf seine Längsrichtung kreuzten und einen
bestimmten Theil der Länge desselben, beiläufig 4 mm, zwischen sich
fassend, an zwei Stellen dieser Rinne festklemmten. Diese beiden
Drahtenden bildeten zu gleicher Zeit die Befestigung des Muskels am
Kork und stellten die Elektroden des Stromes dar. Der zwischen
diesen beiden Drähten befindliche Theil des Muskels war also die
vom Strom durchflossene Strecke des Muskels. Trat der Strom durch
die dem schreibenden Muskelende nähere untere Elektrode in den
Muskel ein, war also, wie v. Bezold sagt, der Strom im Muskel
aufsteigend, so zeigte die erhaltene Curve, dass zwischen dem Momente
der Schliessung und dem Beginn der Zuckung eine längere Zeit ver-
fliesst, als wenn der Strom durch die untere Elektrode austrat (ab-
steigend war). Ersterenfalls hatte nach seiner Auffassung die an der
oberen (negativen) Elektrode entstandene Erregungswelle erst die
beiderseits fixirte intrapolare Strecke zu durchlaufen, ehe sie unter
der unteren (positiven) Elektrode hindurch auf das bewegliche Muskel-
stück übertreten konnte ; im anderen Falle ging die Erregung von der
unteren (jetzt negativen) Elektrode selbst aus und konnte unmittelbar
auf das bewegliche Muskelstück übergehen. Die Differenz der beiden
Zeiten, welche vom Moment der Stromschliessung bis zum Beginn der
Zuckung vergingen, entsprach der Zeit, welche die Erregung brauchte,
um die intrapolare Strecke von 4 mm Länge zu durchlaufen. In
analoger Weise führte v. Bezold den Beweis, dass bei der Oeffnung
die Erregung von der positiven Elektrode ausgehe. Aeby hat Be-
zold's Versuchen die Beweiskraft abgesprochen, doch lässt sich, wie
Hering (1, p. 248) bemerkt, nicht denken, wie anders die von Be-
zold gefundenen und in immer gleichem Sinne auftretenden Zeit-
differenzen bedingt sein sollten, als durch die verschiedene Richtung
der Durchströmung. Die auffallenden Schwankungen in der Grösse
der in Rede stehenden Zeitdifferenz, welche zwischen 0,005 und 0,025
(im Mittel 0,012) Sek. betrug, erldärt Hering vielleicht aus dem
Umstände, dass das Leitungsvermögen des Muskels an der geklemm-
ten Stelle je nach der Stärke des hier stattfindenden Druckes in ver-
schiedenem Grade gestört war, Muss man also zugeben, dass wirklich
die Zeit vom Momente der Schliessung oder Oeffnung bis zum Beginn
176
Elektrische Reizung der Muskeln.
der Zuckung eine längere Avar, wenn der obere Draht bei der
Schliessung die Kathode, bei der Oeffnung die Anode bildete, so kann
sich nur noch fragen, inwiefern die verschiedene Richtung des Stromes
zu dieser Verschiedenheit Anlass geben kann. Diese Frage aber wird
auf die einfachste Weise durch die Bezold'sche Hypothese beantwortet.
Als nächste und einfachste Consequenz dieser Versuche würde sich
daher die Folgerung ergeben:
„Dass der (quergestreifte) Muskel bei der Schlies-
sung eines constanten Stromes durch ihn zunächst er-
regt werde in der Gegend der negativen Elektrode und
nicht in der Gregend der positiven Elektrode, während
bei der Oeffnung der im Muskel fliessenden Ströme die
unmittelbare Erregung am positiven Pole und nicht am
negativen stattfindet."
Diese Versuchsergebnisse v. Bezold's und die daraus abgeleiteten
Schlussfolgerungen erhalten eine wesentliche Stütze durch die bereits
Fiff. 85.
länger bekannte Thatsache, dass die Contractionser seh einungen
bei Reizung mit dem Ketten ströme unter Umständen (bei
gesunkenem Leitungsvermögen) auf die Gegend der Austritts-
stelle (Kathode) des Stromes beschränkt bleiben und
dass dies ausnahmslos für die Schliessungsdauercon-
t r a c t i 0 n b e i A n w e n d u n g nicht allzu s t a r k e r S t r ö m e gilt.
In ersterer Beziehung hat v. B e z o 1 d auf eine ältere Beobachtung
von Schiff (21) hingewiesen, welcher fand, dass, wenn ein ab-
sterbender Muskel bereits aufgehört hat, eine Schliessungszuckung zu
geben, an dem negativen Pole eines constanten Stromes noch „eine
schwach ausgesprochene, sehr beschränkte und der
durch mechanische Reize hervorgerufenen sehr an Deut-
lichkeit nachstehende idiomuskuläre Contraction auf-
tritt, die so lange gleich massig anhält wie der Strom,
um sich dann wieder zu lösen". Es ist nicht schwer, zu zeigen,
dass diese „idiomuskuläre" kathodische Dauercontraction mit der oben
beschriebenen Schliessungs dauercontraction vollkommen iden-
tisch ist, sofern man zur Reizung nicht sehr starke Ströme verwendet.
Schon Engel mann (5) lieferte den directen, experimentellen Beweis,
Elektrisclie Reizung der Muskeln. 177
dass auch am völligfrischen Muskel dieder Schliessungs-
zuckung folgende Dauer contraction auf die Gegend der
Kathode beschränkt bleibt. Die Anordnung seines Versuches
ist aus der nebenstehenden Abbildung ersichtlich (Fig. 85). Engel-
mann durchströmte den ganzen S a r t o r i u s und machte den oberen
Abschnitt durch eine Klemme unbeweglich, welche sich 7 mm oder
auch mehr unterhalb der oberen Drahtelektrode befand, während die
untere Elektrode ein in den Muskel eingeführtes Drahthäkchen war.
Der unterhalb der Klemme befindliche Muskelabschnitt war also
allein beweglich und verzeichnete seine Contraction auf einer langsam
bewegten Fläche. War nun der Strom im Muskel absteigend, so
blieb der Stift nach Ablauf der Schliessungszuckung während der Dauer
der Schliessung über der Abscisse, war dagegen der Strom aufsteigend,
so kehrte er nach dieser Zuckung ganz zur Abscisse zurück. Mittels
derselben Versuchsanordnung gelingt es übrigens auch leicht, die
B e z o 1 d ' sehen Ergebnisse zu bestätigen. Engel mann fand in zwei
Versuchen, dass die Schliessungszuckung bei aufsteigendem Strom
0,006 und 0,009 Sek. später begann, als bei absteigendem, welche
Differenz also darauf zu beziehen ist, dass bei aufsteigendem Strom
die am oberen Muskelende ausgelöste Contraction sich erst durch eine
7 mm lange Muskelstrecke fortpflanzen musste, ehe sie auf den unteren
beweglichen Muskelabschnitt wirken konnte. Sehr schön lässt sich
die Thatsache der localen Beschränkung der Schliessungsdauer-
contraction, sowie auch der Oeffnungsdauer contraction
mittels der folgenden, der E n g e 1 m a n n ' sehen nachgebildeten Versuchs-
anordnung zeigen. Der curarisirte M. sartorius wird im He ring' sehen
Doppelmyographen mit unpolarisirbaren Elektroden eingespannt, welche
letztere in diesem Falle beide beweglich bleiben. Um die Gestalt-
veränderungen der beiden Muskelhälften unabhängig von einander beob-
achten zu können, wird die Mitte des Muskels durch eine geeignete
Klemme fixirt. Dieselbe besteht aus zwei nur 5 mm langen, von einer
Säule getragenen Halbrinnen, welche mit einer Schichte öligen Modellir-
thones ausgekleidet sind (Fig. 71). Dieser schmiegt sich der Form des
Muskels innig an und hält ihn auch ohne erhebliche Pressung durch
blosse Reibung genügend fest, um eine directe Uebertragung der Ge-
staltveränderungen einer Muskelhälfte auf die andere zu verhindern,
ohne zugleich die Fortleitung des Erregungsvorganges zu hemmen. Die
unpolarisirbaren Elektroden ermöglichen es, die Durchströmung des
Muskels beliebig lange fortzusetzen, ohne befürchten zu müssen, dass
während des Versuches die Intensität des Stromes in merklich störendem
Grade abnimmt, was insbesondere das Studium der Oeffnungs-
dauercontraction wesentlich erleichtert. Man überzeugt sich zu-
nächst, dass je nach der Richtung des den Muskel durchfliessenden
Stromes abwechselnd bald die eine und bald die andere Hälfte in den
Zustand dauernder Verkürzung geräth (Fig. 88), und dass bei Verstärkung
des Stromes die Dauercontraction erheblich wächst (Fig. 78), ohne das
ein Uebergreifen derselben auf die andere (anodische) Muskelhälfte erfolgt.
Beobachtet man den nicht zu stark gespannten Muskel mit blossem Auge
oder mit der Lupe, so erkennt man schon bei Anwendung ganz schwacher,
nur eben wirksamer Ströme nach Ablauf der Schliessungszuckung
deutlich die locale Wulstung der Faserenden auf Seite der Kathode,
wie dies auch schon Engel mann beschrieben hat. Es macht fast
den Eindruck, als strömte gewissermaassen plötzlich die contractile
Biedermann, Elektrophysiologie. 12
178 Elektrische Reizung' der Muskeln.
Substanz im Augenblick der Schliessung aus der Umgebung der Ka-
thode nach dieser hin, um sich da anzuhäufen. An stark abgekühlten
Muskeln, deren Leitungsvermögen durch die Kälte gelitten hat, kann
man, wie Hermann gezeigt hat, ohne Weiteres erkennen, Avie der
Muskel sich bei der Schliessung nach der Kathode, bei der Oeffnung
nach der Anode verzieht. Stets betrifft die Wulstung nur die äusser-
sten Faserenden, unmittelbar vor dem Uebergang in die Sehne. Selbst
noch bei ziemlich starker Spannung des Muskels sieht man hier eine
schmale, wulstige Verdickung entstehen, welche während der ganzen
Dauer einer auch länger anhaltenden Durchströmung unverändert be-
stehen bleibt. Bei Verstärkung des Reizstromes nimmt auch die
Schliessungsdauercontraction an Stärke und Ausdehnung erheblich zu,
ohne jedoch selbst bei hoher Strom Intensität den Cha-
rakter der localen Beschränktheit zu verlieren. Es
kommt niemals vor, dass von der Kathode aus sämmt-
liche Querschnitte des Muskels bis zur Mitte desselben
während der Durch Strömung im Zustand dauernd er Ver-
kürzung verharren. Man muss sich bei Beurtheilung der räum-
lichen Ausdehnung einer Contractionserscheinung am Muskel bei directer
Betrachtung sehr hüten, die wirkliche Verkürzung mit der nur passiv
bewirkten Verziehung der angrenzenden Theile zu verwechseln Ein
sehr einfaches Hülfsmittel der Beobachtung besteht darin, an der Ober-
fläche des Muskels feste Merkzeichen anzubringen, deren gegenseitige
Lageänderung bei der Verkürzung die räumliche Ausdehnung der-
selben zu beurtheilen gestattet. Am geeignetsten fand ich es, den
Muskel seiner ganzen Länge nach senkrecht zur Faserrichtung mit
Tusche quer zu bändern, so dass der Abstand zwischen je zwei mit einer
feinen Borste auf der trockenen Aussenfläche des Sartorius gezogenen
Querlinien etwa ^12 mm beträgt. Jede noch so beschränkte Contrac-
tion verräth sich dann sofort durch eine mehr oder minder erhebliche
Verschmälerung eines oder mehrerer Querbänder bezw. der sie trennen-
den ungefärbten Zwischenräume. Lmerhalb der nur passiv bethei-
ligten Muskelstrecken erscheinen dagegen die farbigen Querbänder
zwar mannigfach verzogen, ohne jedoch schmäler zu werden. An be-
sonders stark gedehnten Stellen verbreitern sie sich sogar oft erheb-
lich, Avie später noch gezeigt werden wird (22).
Bei graphischer Verzeichnung sieht man in Uebereinstimmung mit
der directen Betrachtung die Schliessungsdauercontraction
stets nur an der der kathodischen Hälfte des Muskels entsprechenden
Curve hervortreten, wenn nicht allzu starke Ströme benutzt werden
(Fig. 77 und 78), dagegen macht sich die Schliessungszuckung beider-
seits in ziemlich gleicher Weise geltend. Kur bei den schwäch-
sten eben wirksamen Strömen erscheint dieselbe auf Seite der
Kathode merklich höher als auf Seite der Anode und kann hier
bisweilen sogar nur als kleiner Höcker angedeutet sein. Dieser
Grössenunterschied, der bei Anwendung der schwächsten Ströme sehr
deutlich ausgesprochen ist, erhält sich zuweilen ziemlich lange, ver-
schwindet aber in der Regel, wenn anders die Erregbarkeit und das
Leitungsvermögen des Muskels nicht gelitten haben , bei einer noch
immer als gering zu bezeichnenden Stromesintensität, um völliger
Gleichheit der Zuckungen beider Muskelhälften Platz zu machen. Die
Vermuthung, dass die mechanischen Bedingungen der Verkürzung der
einen Hälfte ungünstigere seien als die der anderen , lässt sich leicht
Elektrische Keiznng der Muskeln. 179
durch besondere Controlversuche als unzutreffend erweisen , so dass
das geschilderte Verhalten des Sartorius gegen die schwächsten , eben
wirksamen Schliessungsreize nicht minder geeignet ist, die Bezold'-
sche Ansicht über den Ort der directen Reizung durch den Strom zu
bestätigen, wie bei Anwendung stärkerer Ströme die Thatsache der
Localisirung der S chli es sungsdaue reo n tr actio n. Aus den er-
wähnten Versuchen geht übrigens auch hervor, dass die Erregungs-
respective Contractionswelle auf ihrem Wege durch die intrapolare
Strecke erlöschen kann, wenn der auslösende ßeiz sehr schwach ist,
und dass sie sich auch bei etwas stärkeren Reizen in abnehmendem
Grade (mit Decrement) auf die Anoden- (bei Oeffnungserregung dagegen
Kathoden-) Hälfte fortpflanzt. Dies lässt sich auch sehr deutlich im
Verlaufe einer grösseren Serie von Zuckungen erkennen, welche durch
wiederholte SchHessung bei gleichbleibender Stärke und Richtung des
Stromes gewonnen wurden. Man sieht dann die Höhe der Zuckungs-
curven rascher abnehmen als die Grösse der D a u e r c o n t r a c t i o n , die
auch nach dem völligen Ausbleiben der Schliessungszuckung auf der
Kathodenseite bei jeder neuen Schliessung hervortritt; andererseits
macht sich aber auch im Verlauf der fortschreitenden „Ermüdung"
sehr deutlich die ungleichmässige Abnahme der Höhe der
Schliessungszuckung auf Seite der Kathode und Anode
geltend; während beide Curven Anfangs fast gleich hoch sind, er-
scheint später die Zuckung der Anodenhälfte kaum halb so hoch als die
der Kathodenhälfte und bleibt schliesslich ganz aus, wenn die letztere
noch immer deutlich zuckt (Fig. 77). Wächst die Stromstärke über
eine gewisse Grenze hinaus, so flndet regelmässig ein scheinbares
Uebergreifen der zuerst immer nur an dem Kathoden-
ende auftretenden Schliessungsdauercontraction über
die fixirte Muskel mitte hinaus statt; es macht sich diese Er-
scheinung meist schon bei Strömen geltend, welche noch nicht einmal
genügen, um nach der gewöhnlichen Schliessungszeit wirksame
Oeffnungserregung auszulösen. Dabei ist besonders bemerkenswerth,
dass nicht, wie man vielleicht von vornherein erwarten könnte, der
Grad der Dauerverkürzung auf Seite der Kathode stets und unter
allen Umständen ein höherer bleibt, als auf Seite der Anode, sondern
das Verhältniss kehrt sich bei Strömen von einer gewissen
Stärke in der Regel um. Hinsichtlich der Schliessungszuckung
hat schon Aeby (20) auf ein analoges Verhältniss aufmerksam ge-
macht, indem er fand, dass das Verhältniss der Zuckungsgrösse beider
Muskelhälften bei Anwendung starker Ströme und unter dem Ein-
flüsse fortschreitender Ermüdung sich umkehrt, indem die Zuckungen
der Anodenhälfte, welche Anfangs gleich oder gar kleiner als die der
Kathodenhälfte waren, allmählich diese letzteren an Grösse übertreffen ;
ja es kann dann sogar der Fall eintreten, dass gerade umgekehrt wie
bei Strömen von mittlerer Intensität die Kathodenhälfte nur mehr eine
schwache Dauercontraction zeigt, während die Anödenhälfte noch
deutlich bei jeder neuen Schliessung zuckt.
Bei allen derartigen Versuchen ist die Assymetrie des Sartorius
sehr störend, da, wie später noch genauer zu erörtern sein wird, von
vornherein eine Ungleichheit der Reizerfolge an beiden Muskelhälften
bei wechselnder Stromesrichtung bedingt wird. Damit steht es auch
in Zusammenhang, dass die vorhin erwähnte Ausbreitung dei-
Schliessungsdauercontraction über beide Muskelhälften sich bei auf-
12*
280 Elektrische Reizung der Muskeln.
steigender (d. i, vom Knieende nach dem Beckenende gerichteter)
Durchströmung stets früher und in einem viel höheren Grade bemerk-
bar macht, als bei absteigender. Es ist dieser Umstand auch insofern
noch besonders bemerkenswerth, als in Folge der zunehmenden Dichte
am schmal zulaufenden unteren Muskelende und der dadurch be-
dingten stärkeren Schliessungserregung bei absteigender Durchströmung
eher ein gegentheiliges Verhalten hätte erwartet werden können, wenn
bei Steigerung der Stromstärke die Grösse der Schliessungszuckung
und der Grad der Ausbreitung der Schliessungsdauercontraction wirk-
lich in erster Linie von der Stärke der Erregung an der Kathode
abhinge. Wir werden aber später sehen, dass in Wirklichkeit die
unter den genannten Umständen auftretende Dauerverkürzung der
anodischen Muskelhälfte eine Erscheinung sui generis darstellt und
mit der normalen kathodischen Schliessungsdaue reo ntraction
an den Faserenden in gar keinem ursächlichen Zusammenhang steht.
In Bezug auf dieLocalisation der Oeffnungs erregung er-
übrigt noch die Bemerkung, dass sie in ganz derselben Weise wie die
Schliessungserregung an der Kathode zunächst nur an der
Anode merklich wird, indem Anfangs nur die entsprechende Muskel-
hälfte zuckt und erst wenn die Erregung an der Anode eine gewisse
Grösse erreicht hat, pflanzt sich die Contractionswelle durch den
ganzen Muskel, wenngleich mit einem merklichen, sich in der ver-
schiedenen Zuckungshöhe beider Hälften ausprägenden Decrement
fort. In gleicher Weise erscheint auch die Oeffnungsdauer-
contraction auf die nächste Umgebung der Eintrittsstelle des
Stromes beschränkt.
Sieht man ab von der eben erwähnten, nur unter gewissen Um-
ständen zu beobachtenden Schliessungsdauercontraction auf Seite
der Anode, so ist nicht zu verkennen , dass die vorstehend erörterten
Thatsachen sämmtlich sehr zu Gunsten der von B ez o Id vertretenen An-
nahme einer polaren Erregung des Muskels durch den Strom sprechen.
Dem ungeachtet kann aber die Localisation der Schliessungs- und (3eff-
nungsdauercontraction an sich noch nicht als ein strenger Beweis
hierfür gelten. Denn wenn auch die Schliessungsdauercontraction nur
auf die Umgebung der Austrittsstelle des Stromes beschränkt
erscheint, so kann man doch die Annahme machen, und sie wurde
thatsächlich gemacht (Brücke 23), dass der Strom auf der ganzen
Strecke erregend wirkt, wenn man weiter annimmt, dass diese directe
Erregung in der Gegend der Anode wegen einer von derselben etwa
ausgehenden Depression der Erregbarkeit sehr bald wirkungslos wird.
Dagegen spricht freilich wieder die ausserordentlich beschränkte Aus-
dehnung der kathodischen Schliessungsdauercontraction, die sich schon
bei blosser Inspection stets leicht constatiren lässt. Immerhin erscheint
es wünschenswerth, noch weitere Beweise beizubringen und insbesondere
die Thatsache über jeden Zweifel sicherzustellen, dass bei jeder
Schliessungszuckung eine Contractionswelle von der Kathode, bei jeder
OefFnungszuckung dagegen eine solche von der Anode abläuft. Auch
hierzu bietet die zuletzt besprochene Versuchsanordnung an einem in
der Mitte geklemmten Muskel erwünschte Gelegenheit.
Ehe jedoch hierauf näher eingegangen wird, erscheint es erforder-
lich, die für alle folgenden Erörterungen wichtige Frage zu be-
sprechen, was man bei elektrischer Reizung eines Muskels
unter Kathode und Anode zu verstehen hat. Bei der Mehr-
Elektrische Eeizung der Muskeln. 181
zahl der älteren Versuchen , wo der Strom durch metallische, dem
Muskel direct anliegende Drähte zugeführt wurde, kann natürlich über
die Bedeutung des Ausdruckes Anode und Kathode kein Zweifel
bestehen. So ist auch bei den Bezold ' sehen Versuchen der Ausdruck
„die Schliessungserregung geht von der Kathode , die OefFnungs-
erregung von der Anode aus" kaum misszuverstehen. Anders verhält
sich dies aber schon, wenn man den Strom zwar auch durch metallische
Leiter, aber unter Vermittelung der Knochen und Sehnen dem Muskel
zufuhrt. Dann erhält der obige Ausdruck eine wesentlich andere
Bedeutung. Denn es ist klar, dass die Erregung diesfalls nicht von
den Stellen ausgehen kann , wo die metallischen Elektroden den
thierischen Theilen anliegen, also den Knochen beziehungsweise Sehnen,
sondern hier bilden offenbar die sehnigen Enden der Muskelfasern
selbst die für ihn wesentlichen Elektroden, und wenn bei solcher
Anordnung von Elektroden gesprochen wird, so kann darunter nur
verstanden werden, dass der Strom an den Stellen eine besondere Wir-
kung entfaltet, wo er in dieMuskel fasern ein- oder aus den-
selben austritt. Wie leicht so Missverständnisse entstehen können,
ergiebt sich besonders klar aus der Betrachtung gewisser von Aeby
(20) und Brücke (23) angestellten Versuche, welche die Bezold '-
sehen Anschauungen widerlegen sollten. Der Erstere durchströmte
die beiden noch durch das Becken vereinten Schenkel eines Frosches
der Art, dass er die als Elektroden dienenden Drähte mit den
unteren Enden der beiden Schenkel verband. Da jederseits ein Stück
des Oberschenkelknochens subcutan herausgeschnitten worden war, so
verkürzten sich bei Schliessung des Stromes die Muskeln beider Ober-
schenkel, aber am absteigend durchströmten stärker als am aufsteigend
durchströmten. Indem Aeby dies daraus erklärte, dass der erstere
dem negativen, als dem seiner Meinung nach stärker wirkenden Pole
näher lag, verwechselte er, wie schon Engelmann hervorhob, die
wesentlichen oder natürlichen Elektroden der Muskeln mit den für sie
unwesentlichen künstlichen Elektroden des Gesammtpräparates. Denn
offenbar lag im aufsteigend durchströmten Oberschenkel die eigent-
liche Anode am Knie , die Kathode am Becken , während für den
anderen das Gegentheil der Fall war. Brücke benützte ein analoges
Präparat, nur entfernte er die ganze Haut und ausser den Diaphysen
der Oberschenkelknochen auch noch die Streckmuskeln. Fasste er die
beiden Waden mit Pincetten, die mit einer Kette von 6 — 10 kleinen
Daniell'schen Elementen verbunden waren, so contrahirten sich beider-
seits die Muskeln der Oberschenkel und der Wade. „Hier hatten,"
sagt Brücke, „von der Kathode keine Contractionswellen auf die
Beuger der Oberschenkel ablaufen können. Man muss deshalb zu-
geben, dass sie sich unabhängig von jeder Kathodenwirkung contra-
hirten und lediglich, weil der Strom durch sie hindurchging ; oder man
müsste sich dann vorstellen , dass für die Oberschenkelmuskeln der
Kathodenseite das Kniegelenk, für die Anodenseite der Rest des Beckens
als Kathode wirkt." Diese Auffassung ist aber, wie Hering bemerkt,
eben die, welche Engelmann längst ausdrücklich vertreten hatte,
denn für ihn ist Anode der Ort, wo der Strom in die Muskelfaser
eintritt, Kathode der Ort, wo er dieselbe wieder verlässt. Hering
(1. p. 241) drückt dies noch genauer so aus: die für den Mus-
kel wesentliche physiologische Anode ist die Ge-
woder Strom in die contractile
182 Elektrische Eeizung der Muskeln.
Substanz eintritt, die physiologische Kathode die Ge-
sammtheit der Stellen, wo er aus jener austritt.
Dieser Satz führt zu einer Ueberlegung, welche am besten mit
Hering's (1) eigenen Worten wiedergegeben wird. „Denken wir
uns den ganzen, den Muskel längs durchziehenden Strom in einzelne
Stromfäden zerlegt, so werden diese zwar in einem parallelfaserigen
Muskel im Allgemeinen der Richtung und den Grenzen der einzelnen
Muskelfasern parallel sein, und die Gesammtheit der anodischen Stellen
wird im Allgemeinen an einem, die der kathodischen am andern Muskel-
ende liegen, im Besonderen aber wird es hiervon zahlreiche Ausnahmen
geben. Zunächst ist, ganz abgesehen von etwaigen sehnigen Inscrip-
tionen, des Falles zu gedenken, in welchem einzelne Muskelfasern an
verschiedenen Stellen im Verlaufe des Muskels endigen, wenn auch
die Hauptmasse derselben nachweisbar annähernd so lang ist wie der
Muskel selbst. Sobald es aber solche Muskelfasern giebt, sind auch
die Ein- oder Austrittsstellen des Stromes nicht mehr ausschliesslich
an den Muskelenden zu suchen, und ausser den hier gelegenen Haupt-
angriffspunkten der polaren Stromwirkung sind noch andere Angriffs-
punkte im Muskel zerstreut.
Ferner ist ein absoluter Parallelismus zwischen dem Verlaufe der
Stromfäden und dem der Muskelfasern überhaupt nicht anzunehmen
insbesondere dann nicht, wenn der Muskel nicht gespannt, oder wenn
er an irgend einer Stelle gedrückt, oder wenn seine Oberfläche nicht
ganz von Resten anhängender fester oder flüssiger Leiter gesäubert ist.
In Muskeln, welche schlaff auf einer Platte liegen , verlaufen be-
kanntlich die Fasern oft keineswegs geradlinig, sondern wellenförmig,
besonders nach einer vorausgegangenen Zuckung des Muskels, weil die
Fasern wegen der Reibung auf der Unterlage sich nicht wieder
strecken konnten. An den Rändern jeder einzelnen Muskelfaser findet
dann ein den Muskel längsdurchfliessender Strom zahllose Ein- und
Austrittsstelleu, und es ist ganz falsch, hier die physiologische Anode
und Kathode ausschliesslich an den Muskelenden zu suchen. Klemmt
man den Muskel an irgend einer Stelle seines Verlaufes ein, so
sind starke Einbiegungen eines Theiles der Muskelfasern unvermeid-
lich, besonders dann, wenn der Muskel dabei zwischen zwei Branchen
mit convexer Oberfläche zusammengedrückt wird. Das Gleiche ist
der Fall, wenn man Hebel oder Pelotten auf den Muskel setzt, die
ihn an den berührten Stellen eindrücken. In allen diesen Fällen muss
nothwendig ein Theil der Stromfäden in zahlreichen Muskelfasern an
den gedrückten Stellen aus der contractilen Substanz aus- und wieder
in dieselbe eintreten."
Diese Erörterungen zeigen nun auch, weshalb die negativen Re-
sultate der oben erwähnten Versuche von Aeby, bei welchen durch
aufgelegte Fühlhebel die Fortpflanzung einer Contractionswelle bei
totaler Durchströmung eines parallelfaserigen Muskels nachgewiesen
werden sollte , den positiven Ergebnissen v. B e z o 1 d ' s gegenüber
nicht als beweisend gelten können. Bei den Versuchen Aeby 's fand
eine sehr beträchtliche Einbiegung der Fasern an den beiden Stellen
statt, wo die Hebel auf den Muskel aufgesetzt waren. Aeby sagt
selbst, dass „der Hebel in die Oberfäche des Muskels etwas hinein-
gepresst war". So konnte daher der Strom an der Einbiegungsstelle
der Fasern sehr wohl aus der contractilen Substanz an verschiedenen
Stellen aus- und eintreten und daher direct erregend wirken.
Elektrische Reizuno: der Muskeln.
183
Bei dieser Sachlage waren neue Versuche über die Polwirkung
des elektrischen Stromes durchaus erforderlich. Der schon früher
erwähnte Engelman n'sche Klemmversuch am Sartorius des Frosches,
wobei zwar die Erregung ungehindert die fixirte Stelle zu passiren vermag,
die Möglichkeit einer directen Uebertragung der Contraction der einen Mus-
kelhälfte auf die andere jedoch unmöglich gemacht ist, giebt ein einfaches
Mittel an die Hand, den Verlauf der Contractionswelle graphisch zu
verzeichnen und so der Messung zugänglich zu machen ; denn geht
die Erregung bei Schliessung eines Stromes von der Kathode aus, so
muss nothwendig an einem der Art fixirten, seiner ganzen Länge nach
durchströmten Muskel die der Kathode entsprechende Hälfte früher
zucken , als die der Anode entsprechende. Die letztere wird sich
erst dann verkürzen, wenn die von der Kathode ausgehende Con-
tractionswelle die geldemmte Strecke passirt hat. Die Grösse der
Zeitunterschiedes im Beginn
der Contraction beider Hälf-
ten entspricht dann offenbar
der Fortpflanzungsgeschwin-
digkeit der Erreg ungs- resp.
Contractionswelle vom Ka-
thodenende bis zu dem ersten,
jenseits der Klemme ge-
legenen Querschnitt.
Die Versuchsanordnung
war folgende : AlsChronoskop
diente eine mit einer Schreib-
feder versehene Stimmgabel,
welche 353 Schwingungen in
der Sekunde machte. Diese
wurde nebst dem Doppel-
myograph mit unpolarisir-
baren beweglichen Elektroden
vor einem vertical stehenden
Cylinder, der mittels einer
Kurbel gedreht wurde und
auf dessen berusster Fläche die Zuckungen beider Muskelhälften
verzeichnet werden sollten, der Art angebracht, dass die Spitze der
Stimmgabelschreibfeder mit den zwei in entgegengesetzter Richtung
(nach oben und unten) sich bewegenden Muskelschreibstiften in einer
Verticallinie lag; es ist auf diese Weise ermöglicht, unabhängig von
der Umdrehungsgeschwindigkeit des Cylinders, den Zeitunterschied
im Beginn der beiden Zuckungen , sowie auch das Stadium der
latenten Reizung zu messen, wenn man den Versuch so einrichtet,
dass genau im Momente der Schliessung oder Oeffnung des Reiz-
stromes die Stimmgabel zu schwingen beginnt, was sich leicht durch
Herausziehen eines zwischen die Branchen geschobenen leitenden
Keiles bewerkstelligen lässt (Fig. 86).
Man erhält so bei Schliessung eines Kettenstromes von hinreichen-
der Intensität zwei Zuckungscurven , die eine nach oben, die andere
nach unten gezeichnet, die nun jedesmal der Art gegenein-
ander verschoben sind, dass die derKathodenhälfte des
Muskels entsprechende merklich früher von der Ab-
scisse sich erhebt als die andere (Fig. 87 « und />).
Fig. 86.
brechnng
Kegistrirende Stimmgabel zur Unter-
(resp. Schliessung) eines Stromes ein-
gerichtet. (Nach Hering.)
184
Elektrische Reizung der Muskeln.
Errichtet man auf jeder der beiden Abscissen in dem Punkte,
wo sich die betreffende Curve abhebt, je eine Senkrechte, so ergiebt
die Zahl der zwischen den beiden Senkrechten eingeschlossenen Stimm-
gabelschwingungen unmittelbar die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
Contractionswelle, gemessen von dem Orte ihres Entstehens an der Ka-
thode bis zu dem ersten jenseits der fixirten Stelle gelegenen Muskel-
querschnitt. Die Länge dieser Strecke beträgt je nach der Grösse
des Frosches 20 — 27 mm; darauf entfallen 4 — 6 Stimmgabelschwin-
gungen, und es berechnet sich somit die Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der Schliessungserregung in der Sekunde zu 1 — 2 m.
Genau dasselbe Verfahren, wie es eben geschildert wurde, kann
auch dazu dienen, den zeitlichen Verlauf der Oeffnungserregung
Fig. 87. a Schliessungszuckuug. Aufsteigende Stromesrichtung (die Kathode liegt
am Beckenende des Sartorius). Die untere Linie entspricht der Kathodenhälfte;
b Schliessungszuckung. Absteigende Stromesrichtung. Die obere Linie entspricht der
Kathodenhälfte des Muskels.
zu untersuchen. Da der entnervte Muskel schwerer auf den Oeffnungs-
reiz reagirt, so muss dann die Stromstärke beträchtlich höher gewählt
werden; ausserdem kommt es, wie bereits früher auseinandergesetzt
wurde, sehr auf die Dauer der Durchströmung an; ausnahmslos
beginnt bei der Oeffnungserregung die Anoden half te
des Muskels früher zu zucken, als die Kathodenhälfte,
und es erscheinen die beiden Zuckungscurven in diesem
Sinne gegeneinander verschoben (24).
Kettenströme von sehr kurzer Dauer (Stromstösse), sowie einzelne
Inductionsschläge wirken im Allgemeinen nur bei ihrem Ent-
stehen, nicht aber beim Verschwinden erregend. Schon Chauveau
beobachtete an den Muskeln lebender Warmblüter, dass schwache
Inductionsströme und Flaschenentladungsströme vorzugsweise in der
Elektrische Reizung der Muskeln. 185
Kathodengegend erregen, und Engelmann betonte mit Nachdruck
die völlige Uebereinstimmung in der Wirkungsweise sehr kurz dauern-
der Kettenströme und einzelner Inductionsschläge, indem er zeigte,
dass ein durch ein längeres Stück des Kaninchenureter geschickter
Inductionsschlag zumeist bloss an der Stelle eine Contractionswelle
auslöst, wo sich die Kathode befindet, und dass nur bei sehr hoher
Erregbarkeit und Strömen von bedeutender Intensität
bisweilen scheinbar gleichzeitig an beiden Polen die
Contraction beginnt. Ein analoges Verhalten des quergestreiften
Muskels bei gleicher Reizung lässt sich ohne Schwierigkeit erweisen.
Bedient man sich als Versuchsobject wieder des curarisirten Sartorius
vom Frosch und reizt man mit einem einzelnen Oeffnungsinductions-
schlag, so erhebt sich an dem im Doppelmyographen ein-
gespannten, in der Mitte geklemmten Muskel die der Ka-
thodenhälfte entsprechende Zuckungscurve nach einem
sehr kurzen Stadium der latenten Reizung stets
früher von der Abscisse, als die der Anodenhälfte
entsprechende (24).
Bei hoher Intensität der Inductionsströme scheint jedoch auch der
anodische OefFnungsreiz wirksam werden zu können, was nach Engel-
m a n n's Erfahrungen am Ureter nicht überraschen kann . R e g e c z y (25)
befestigte den Sartorius ähnlich wie Engelmann der Art, dass
die Mitte desselben durch eine Elfenbeinzange schwach aber sicher
fixirt war, während das obere Ende durch eine andere Zange un-
beweglich befestigt wurde; das untere Ende stand mit dem Zeichen-
hebel des Myographen in Verbindung. Die untere Elektrode war in
der den Muskel in der Mitte befestigenden Zange, die obere dagegen
an dem oberen Muskelende befestigt (vergl. Fig. 85). Die Richtung
des Inductionsstromes (übergeschobene Rollen) konnte durch einen
Stromwender verändert werden. Es ergab sich kein Unterschied in
der Grösse des Latenzstadiums bei Anwendung des aufsteigenden oder
absteigenden Stromes, wie es nach Bezold's, Engelmann's und
meinen eigenen Versuchen mit Kettenströmen hätte erwartet werden
dürfen. Während daher bei schwachen Inductionsströmen die Erregung
nur an der Kathode entsteht, ist die Möglichkeit einer bipolaren
Reizung bei starken inducirten Strömen durch die erwähnten Versuche
nahe gelegt. Selbstverständlich würde die Erregung an der Kathode als
Schliessungs-, die an der Anode als Oeffnungsreizung aufzufassen sein.
Es wurde schon oben erwähnt, dass rein theoretisch betrachtet die
Stromesrichtung bei reiner Längsdurchströmung eines parallelfaserigen
Muskels ohne jede Bedeutung für den Erfolg der Reizung sein würde,
dass aber gerade der Sartorius in dieser Beziehung ein sehr abweichen-
des Verhalten darbietet, welches, wie sich leicht zeigen lässt, im Wesent-
lichen in seinem assymetrischen Bau und der dadurch bedingten Ver-
schiedenheit der Stromdichte an beiden Enden begründet ist. Bei
sorgfältiger Abstufung der Stromesintensität mit dem Rheochord be-
merkt man in allen Fällen, dass an dem seiner ganzen Länge
nach durchströmten Sartorius regelmässig zuerst die
Schliessung des absteigenden Stromes zuckungerregend
wirkt; erst bei weiterer Steigerung der Stroraesintensität beginnt
auch die Schliessung des aufsteigenden Stromes zu wirken; ein mehr
oder weniger deutlicher Unterschied zu Gunsten der absteigenden
Strom esrichtuns: bleibt in vielen Fällen auch weiterhin noch bemerk-
\QQ Elektrische, Eeizung der Muskeln.
bar. In der Kegel aber verwischt sich die Anfangs äusserst auffallende
Differenz immer mehr und mehr, um endlich bei stärkeren Strömen
unmerklich zu werden. Umgekehrt wie die Schliessungserregung ver-
hält sich die Oeffnungserregung, deren Entstehen durch die aufsteigende
Stromesrichtung begünstigt wird. Die Stelle der grössten Stromdichte
befindet sich bei Längsdurchströmung des Sartorius am unteren Ende
des Muskels und fällt daher bei absteigender Stromesrichtung mit der
Austrittsstelle, bei aufsteigendem Strome mit der Eintrittsstelle des-
selben in die Muskelsubstanz zusammen. Da im ersteren Falle die
Schliessungszuckung, im andern die Oeffnungszuckung früher eintritt,
so gestattet schon diese Thatsache allein, allerdings nur für Ströme
von nicht zu grosser Intensität, den Wahrscheinlichkeitsschluss, dass
die Schliessungserregung von der Kathode, die Oeff-
nungserregung von der Anode ausgeht (24).
Auch in Bezug auf die Grösse des Stadiums der latenten
Reizung macht sich die verschiedene Stromdichte an
den beiden Enden des längsdurchströmten Sartorius
in sehr auffälliger Weise geltend. Dies gilt ebenso-
wohl für die Schliessungs- wie für die Oeffnungs-
erregung, und zwar ist das Latenzstadium immer dann
kleiner, wenn die Erregung an dem unteren (Knie-) Ende
des Muskels entsteht, vorausgesetzt, dass die Strom-
stärke in beiden Fällen gleich ist (Fig. 87 a und h). Zu dem-
selben Resultate gelangte in der Folge auch Tigerstedt (2, p. 185 flF.).
Bei der fundamentalen Wichtigkeit des polaren Erregungsgesetzes
erscheint es wünschenswerth, dasselbe in möglichst umfassender und
eindringlicher Weise durch experimentelle Thatsachen zu stützen. Ob-
schon nun die bisher mitgetheilten Erfahrungen wohl als genügende
Beweise angesehen werden können, so darf doch das Verhalten
partiell verletzter Muskeln bei elektrischer Durch-
strömung ganz besonderes Interesse beanspruchen, da es nicht nur
einen unmittelbar anschaulichen Beweis für die polare Erregung im
Sinne v. Bezold's liefert, sondern auch für die Theorie der Wir-
kungsweise des Stromes von grosser Bedeutung ist.
Präparirt man mit möglichster Sorgfolt den M. sartorius eines stark
mit Curare vergifteten Frosches und spannt denselben im Hering' sehen
Doppelmyographen ein, so bleibt nachAbquetschen des einen
oder andern Muskel en des mit der Pincette die vorher
bei beiden Stromes richtungen in annähernd gleicher
Stärke eintretende Schliessungserregung entweder
ganz aus oder erscheint doch bedeutend ge-
schwächt, wenn der Reizstrom den Muskel in der
Richtung vom unverletzten zum verletzten Ende
durchfliesst, während der Erfolg der Schliessungs-
reizung nach Wendung des Stromes, wobei die Kathode
an das unversehrte Muskelende zu liegen kommt, un-
verändert bleibt. Oeffnungserregung lässt sich auch
nach lange andauernder Durchströmung nur äusserst
selten erzielen, wenn die Anode an der verletzten Seite
liegt (26) (Fig. 88). In einer noch viel schlagenderen Weise
als bei mechanischer Verletzung macht sich der Einfluss partieller
Abtödtung durch Wärme geltend, indem nach Anlegung eines
„thermischen Querschnittes" die Erregbarkeit des Muskels für Ströme
Elektrisclie Reizung der Muskeln.
187
mittlerer Intensität jedesmal ganz oder nahezu aufgehoben erscheint,
wenn die wirksame Elektrode an dem wärmestarren Ende sich be-
findet. Da sowohl durch mechanische Verletzung wie durch ther-
mische Abtödtung eine Wulstung des Muskelendes, sowie andere
Störungen des regelmässigen Faserverlaufes bedingt werden, so er-
scheint es wünschenswerth, eine Methode der Abtödtung anzuwenden,
bei welcher dieser Uebelstand sich möglichst wenig geltend macht.
Als solche empfiehlt sich nach dem Vorgange K ü h n e ' s das locale
Gefrierenlassen, wobei die Form des Muskelendes kaum merklich ge-
ändert wird. Bedient man sich dabei noch ausserdem des Vortheiles,
den das Versenken des Muskels in eine indifi'erente, von parallelen
Stromfäden durchzogene Flüssigkeit gewährt, so lassen sich nach dem
B
Fig. 88. Zuckungscurve des in der Mitte fixirten, im Dopi^elmyograplien eingespannten
Sartorius (U entspricht der unteren, 0 der oberen Muskelhälfte). Einfluss der Ver-
letzung (Abtödtung) des einen (unteren) Muskelendes. Das Zuckungspaar A vor, B
nach der Verletzung gezeichnet.
Vorgange Engelmann's (27) und Bernstein' s (16) die betreffen-
den Versuche noch wesentlich exacter gestalten, da hierbei der Ein-
fluss der assymetrischen Gestalt des Muskels ausgeschaltet ist.
Durch die oben erwähnten zeitmessenden Versuche ist der Nach-
weis geliefert, dass inducirte Ströme auf den quergestreiften Muskel
ganz ebenso einwirken, wie Kettenströme von sehr kurzer Dauer, und
dass demnach der Erregungsvorgang in der Regel nur an Stelle der
Kathode ausgelöst wird. Wenn man die weitere Thatsache berück-
sichtigt, dass der Oefi'nungsschlag stärker erregend wirkt als der
Schliessungsschlag, so ist es leicht, die Reihenfolge der Erscheinungen
zu begreifen, welche man beobachtet, wenn ein durch Curare ent
nervter Sartorius mit allmählich an Stärke zunehmenden Schliessungs-
und Oeffnungsschlägen gereizt wird, so dass diese den Muskel der
ganzen Länge nach durchsetzen.
Es wurde oben gezeigt, dass der durch die Gestalt des Muskels
bedingte Unterschied der Dichte des Stromes an der Ein- und Aus-
\QQ Elektrische Eeizung der Muskeln.
trittssteile den ungleichen Erfolg der Erregung durch den absteigenden
und aufsteigenden Kettenstrom bedingt; dies gilt nun auch ebenso für
inducirte Ströme, so dass die polare Wirkung derselben auch hier-
durch festgestellt erscheint. Fast noch beweisender zeigen dies Ver-
suche an einseitig verletzten Muskeln. Sowohl Oeffnungs- wie
Schliessungsinductionsströme, deren Intensität aus-
reichend ist, um den unversehrten Sartorius maximal
zu erregen, falls die Kathode an dem tibialen Ende sich
befindet, wirken nach mechanischer, thermischer oder
c hemischer Zerstörung des letzteren erst dann wieder
erregend, wenn die Stromesintensität durch weitere
Annäherung der Rollen bedeutend verstärkt wird (26).
Wird die Verletzung eines parallelfaserigen Muskels nicht allein auf
das eine Ende beschränkt, sondern werden beide in gleicher Weise
abgetödtet, so bleibt die Erregung sowohl bei aufsteigender wie ab-
steigender Stromrichtung aus, so dass also eine von zwei künst-
lichen Querschnitten begrenzte Muskelfaser, welche in
ihrer ganzen Ausdehnung von parallelen Strom fä den
gleicher Dichtigkeit durchflössen wird, stets unerregt
bleibt, ob nun die Stromfäden der Länge nach oder rechtwinkelig
zur Faseraxe hindurchgehen. Unter gewissen Umständen, wenn irgend
zur Entstehung von wirksamen Längscomponenten Anlass ge-
geben ist, kann letzterenfalls sogar eher Erregung eintreten als bei
reiner Längsdurchströmung. Mittels der früher beschriebenen Vor-
richtung zur queren Durchströmung des Muskels lassen sich diese
Thatsachen leicht feststellen und bieten nun auch sofort eine Er-
klärung dafür, dass mehrfach die Ansicht ausgesprochen wurde, die
Quererregbarkeit des Muskels sei geringer als die Längserregbarkeit.
Dies gilt vor Allem bezüglich der schon früher erwähnten Versuche
Giuffre's, bei welchen Muskelstücke verwendet wurden, die beider-
seits von einem künstlichen Querschnitt begrenzt waren.
Für die Deutung des eigenthümlichen Einflusses, welchen örtliche
Verletzung (Abtödtung) der Faserenden auf die Erregbarkeit des
Muskels bei Längsdurchströmung ausübt, erscheint die Thatsache von
besonderer Bedeutung, dass zur Erreichung des genannten Zweckes
das völlige Abgestorbensein der Faserenden gar nicht erforderlich ist,
sondern gewisse chemische Veränderungen der Muskelsubstanz be-
reits genügen, um die so auffallenden Erscheinungen bei elektrischer
Erregung herbeizuführen. Bekanntlich sind die meisten Kalisalze als
heftige Muskelgifte zu bezeichnen, indem sie in grösserer Menge in
den Kreislauf gebracht oder auch local applicirt die Erregbarkeit des
quergestreiften Stammesmuskels und des Herzens wesentlich herab-
setzen, bezw. aufheben-, kaum minder schädlich erweisen sich für die
Muskelsubstanz auch die verschiedensten Säuren selbst schon in hohen
Verdünnungsgraden. Es lässt sich nun leicht zeigen, dass locale Be-
handlung des einen oder anderen Sartoriusendes mit derartigen, die
Erregbarkeit am Orte der Einwirkung schädigenden Substanzen ein
ganz analoges Verhalten des Muskels dem Strome gegenüber erzeugt,
wie örtliche Abtödtung. Die Versuche wurden ganz ebenso angestellt
wie die früher beschriebenen. Die zu untersuchenden chemischen
Substanzen wurden in wechselndem Grade verdünnt angewendet,
indem etwa das dünnere Knieende des Sartorius durch Auf-
legen eines kleinen, mit der zu prüfenden Flüssigkeit getränkten
Elektrische Eeizung der Muskeln. 189
Baumwollbausches, oder durch Eintauchen des vertical hängenden
Muskels benetzt wird. Am auffallendsten sind die Wirkungen bei
Anwendung stark verdünnter (1 — 2*^/0) Lösungen von saurem Kalium-
phosphat oder einer daran reichen Lösung von Fleischextract; aus-
nahmslos findet man nach 5 — 10 Minuten dauernder
Einwirkung auf das tibiale Muskelende die Erregbar-
keit für Schliessung des absteigenden und Oeffnung
des aufsteigenden Stromes mehr oder weniger ge-
schwächt, so dass die Contractionsersch einungen aus-
bleiben oder doch nur in geringerem Grade eintreten,
wenn die wirksame Elektrode an dem chemisch ver-
änderten Muskelende sich befindet (26). Es muss bemerkt
werden, dass es sich auch hier, wie in den oben erwähnten Versuchen,
nicht um eine völlige Aufhebung, sondern nur um eine durch locale
„Ermüdung" bedingte Verminderung der Erregbarkeit für die eine
Stromesrichtung handelt, so dass starke absteigende Ströme einen in
der geschilderten Weise behandelten Sartorius allerdings wirksam zu
erregen vermögen, obschon nicht die kleinste wahrnehmbare Bewegung
desselben Muskels den Moment verräth, in welehem ein schwächerer
absteigender Strom einbricht, wenngleich die Intensität desselben
völlig ausreicht, um bei aufsteigender Richtung maximale Schliessungs-
erregungen auszulösen. Lässt sich schon aus diesem Resultate der
Schluss ziehen, dass es in allen erwähnten Fällen nicht so-
wohl von dem wirklichen Abgestorbenseinder contrac-
tilen Substanz an irgend einer beschränkten Stelle,
sondern vielmehr von einer durch den Eingriff be-
dingten chemischen Ve ränderung derselben abhängt,
ob und in welchem Grade der Seh Hess ungs- oder
Oeff nungsreiz an der betreffenden Stelle wirksam
wird, so geht dies doch noch überzeugender aus dem Umstände
hervor, dass nach örtlicher Einwirkung verdünnter K a 1 i -
Salzlösungen die normale Erregbarkeit für beide Stromes-
richtungen durch Auslaugen mit 0,6 ''/o NaCl -Lösung schon
nach kurzer Zeit (10 — 15 Minuten) vollständig wieder her-
gestelltwerdenkann. Es braucht kaum besonders hervorgehoben
zu werden, dass dies bei Anwendung von Substanzen, welche tiefer-
greifende chemische und physikalische Veränderungen der contractilen
Substanz bewirken, wie z. B. Sublimat, starke Säuren, Alkohol etc.,
ebensowenig möglich ist, wie nach mechanischer oder thermischer
Abtödtung (26).
In einem interessanten Gegensatze zu den Kalisalzen stehen hin-
sichtlich ihrer physiologischen Wirkung auf quergestreifte Muskeln
die entsprechenden, chemisch so nahe stehenden Na- Salze. Es
Avurde schon an anderer Stelle hervorgehoben, dass insbesondere
durch NagCOg, wenn es in verdünnter Lösung angewendet wird, die
Erregbarkeit gewisser contractiler Substanzen (Saamenfäden, Flimmer-
zellen) sehr erheblich gesteigert wird, und als von der Möglichkeit
rhythmischer Erregung quergestreifter Muskeln durch den dauernd ge-
schlossenen Kettenstrom die Rede war, wurde erwähnt, in wie hohem
Grade diese Wirkungen begünstigt werden, wenn vor der elektrischen
Reizung die Erregbarkeit des kathodischen Muskelendes durch Be-
handlung mit NaäCOa gesteigert wird. Taucht man das Beckenende
eines curarisirten unverletzten Sortorius in eine 0,5 — 1 "^/o Lösung des
190
Elektrische Reizung der Muskeln.
genannten Salzes, so zeigt sich schon nach kurzer Zeit die
Erregbarkeit des Muskels für Schliessung schwacher,
aufsteigender Ströme ganz ausserordentlich gesteigert,
während der absteigende Strom noch in völlig nor-
maler Weise erregend wirkt, jedoch Oeffnungserre-
gungen bereits bei einer so geringen Stromstärke und
nach so kurzer Schliessungsdauer auslöst, wie esan
einem normalen Muskel niemals beobachtet wird (26).
(Fig. 89.) Bisweilen
tritt unter diesen Um-
ständen bei Anwendung
schwacher absteigender
Ströme die OefFnungs-
zuckung sehr bedeutend
verspätet ein, so dass
das an sich ziemlich
lange Latenzstadium der
Oeffnungserregung hier
ohne alle weiteren
Hülfsmittel direct
zu beobachten ist. Wir
werden später einer
analogen Erscheinung
auch bei indirecter Mus-
kelreizung wieder be-
gegnen. Die Bedeutung,
welche die eben erörter-
ten Thatsachen für die
Theorie der Stromes-
wirkung und insbeson-
dere für das Gesetz der
polaren Erregung be-
sitzen , ist unmittelbar
klar und bedarf kaum
noch einer eingehenden
Besprechung. Sie lie-
fern zunächst ein Mittel,
den Satz, dass die elek-
trische Erregung des
Muskels eine polare Wirkung des Stromes ist, ebenso schlagend zu
beweisen, wie es durch zeitmessende Versuche früher geschehen ist;
denn würden wirklich alle Querschnitte der intrapolaren Strecke gleich-
zeitig erregt, so könnte niemals eine so ausserordentliche Verschieden-
heit in der erregenden Wirkung beider Stromesrichtungen vorhanden
sein, wie es der Fall ist, wenn ein einseitig verletzter oder chemisch
veränderter Sartorius seiner ganzen Länge nach durchströmt wird. Es
zeigte sich, dass die Erregung nur dann unverändert bleibt, wenn die
wirksame Elektrode an dem unversehrten Muskelende sich befindet; sie
kann anderenfalls im positiven oder negativen Sinne verändert werden,
wenn die Erregbarkeit local gesteigert oder herabgesetzt wird. Man
kann, wenn die Richtigkeit des Satzes zugegeben wird, dass die elek-
trische Erregung eines Muskels eine polare Wirkung des Stromes ist,
nicht bezweifeln, dass die Grösse sowohl der Schliessungserregung wie
Fig. 89. Zuckungscurven des in der Mitte fixirten, im
Doppelmyographen befindlichen Sartorius; a, b normal,
c, d nach einseitiger Behandlung mit NagClß (am oberen
Muskelende). Enorme Verstärkung der aufsteigenden
Schliessungszuckung; Oeffnungszuckung bei schwachem
absteigenden Strom.
Elektrische Reizung der Muskeln. 191
auch der Oeffnungserregung ab- oder zunehmen muss, wenn die Er-
regbarkeit der contractilen Substanz an der Aus- bezw. Eintrittsstelle
ab oder zunimmt. Ob die Erregbarkeit in allen übrigen Querschnitten
des Muskels dabei unverändert geblieben oder im positiven oder nega-
tiven Sinne verändert ist, ist zwar für die Fortleitung des Erre-
gungsprocesses von dem Orte seiner Entstehung aus von wesentlicher
Bedeutung, beeinflusst jedoch nicht im Geringsten die Intensität des
an der Kathode oder Anode ausgelösten Erregungs Vorganges. Man
kann sich einen an beiden Enden gleich dicken parallelfaserigen
Muskel vorstellen, dessen sämmtliche Querschnitte normal und hoch-
gradig erregbar sind mit alleiniger Ausnahme der Faserenden auf der
einen Seite, an welcher Stelle die Erregbarkeit der contractilen Sub-
stanz durch irgend ein Mittel vermindert worden wäre; wir sind dann
theoretisch zu der Erwartung berechtigt, dass bei Längsdurchströmung
eines solchen Muskels der Erfolg des Schliessungs- wie auch des
Oeffnungsreizes sich in hohem Grade von der Stromesrichtung
abhängig zeigen würde, da ein und derselbe Reiz im einen Falle auf
normal erregbare, im anderen auf „ermüdete" Substanz einwirken
würde. Je hochgradiger die örtliche Herabsetzung der Erregbarkeit
an dem einen Muskelende ist, desto deutlicher wird natürlich auch
die Differenz in der erregenden Wirkung der beiden Stromesrich-
tungen hervortreten müssen. Es dürfte aber auch die Ausd ehnung
der „localen Ermüdung" nicht ohne Einfluss auf den Reizeffect
sein, wie aus der folgenden Betrachtung hervorgeht. Wenn man sich
die eine Muskelhälfte in gleich grosse Zonen getheilt denkt und an-
nimmt, dass nur die Erregbarkeit der Endzone herabgesetzt, die der
übrigen aber normal geblieben ist, so wird es offenbar gelingen, einen
Reiz zu finden, dessen Stärke eben ausreichend ist, um in der ersteren
einen Erregungsvorgang auszulösen, der sich durch Leitung von hier
aus noch fortzupflanzen vermag und auf diese Weise zu einer merk-
lichen Gestaltveränderung entweder des ganzen Muskels oder doch
zum mindesten der betreffenden Muskelhälfte führt. Derselbe Minimal-
reiz wii'd aber dann unvermögend sein, diesen Effect hervorzubringen,
wenn auch die Erregbarkeit der unmittelbar an den Endquerschnitt
grenzenden Zonen in demselben Maasse herabgesetzt ist. Denn es
wird dann die in derselben Stärke, wie vorhin, ausgelöste Erregung
sclion innerhalb einer ganz kurzen Strecke erlöschen oder doch nur
zur Entstehung einer schwachen Dauercontraction Veranlassung geben.
Ein Muskel, wie er bei den vorstehenden Betrachtungen voraus-
gesetzt wurde, lässt sich nun in der That künstlich darstellen. Es
gelingt in schonendster Weise durch Behandlung des einen oder anderen
Sartoriusendes mit schwachen Lösungen gewisser Salze (insbesondere
des sauren Kaliumphosphates und Fleischsaftes, dessen Wirkung höchst-
wahrscheinlich dem Gehalte an dem genannten Salze zuzuschreiben
ist), welche die Structur des eingetauchten Muskelabschnittes nicht
wesentlich alteriren, die Erregbarkeit partiell herabzusetzen, und man
hat dann Gelegenheit, sich von der Uebereinstimmung der beobachteten
Thatsachen mit den theoretischen Folgerungen zu überzeugen.
In noch viel vollkommener Weise lässt sich aber durch den
elektrischen Strom selbst und zwar durch oft wiederholte
.Schliessung bei unveränderter Stromesrichtung ein Zustand des Mus-
kels herbeiführen, in welchem derselbe bloss bei einer und zwar
der entgegengesetzten Stromesrichtung auf den Schliessungsreiz
192 Elektrische Reizung der Muskeln.
reagirt, ohne dass äusserlich wahrnehmbare Veränderungen vorhanden
sind. Es ist kaum zu bezweifeln , dass auch dieser Zustand
durch eine auf die Austrittsstelle des Stromes aus
der contractilen Substanz beschränkte locale Er-
müdung erklärt werden niuss, indem zur Zeit kein Grund
vorhanden ist, Erregbarkeitsänderungen der intrapolaren Muskel-
strecke, weder im positiven, noch im negativen Sinne anzunehmen,
während es andererseits zweifellos sichersteht, dass an der („physio-
logischen") Kathode der Vorgang der Erregung nicht nur im Augen-
blicke der Schliessung erfolgt, sondern continuirlich, wenn auch in
abnehmender Stärke, andauert, solange der Strom geschlossen bleibt;
es muss daher als feststehend betrachtet werden, dass zum minde-
sten jene Muskelstrecke, über welche sich die Schlies-
sungsdauercontraction erstreckte, in höherem Grade
ermüdet sein wird, als der Rest des Muskels, an dem man
während einer länger andauernden, nicht allzu starken Durchströmung
keinerlei Erregungserscheinungen wahrzunehmen vermag.
Der Unterschied zwischen localer und allgemeiner Ermüdung eines
Muskels tritt besonders deutlich hervor, Avenn man das Verhalten eines
durch Tetanus ermüdeten Muskels mit dem eines durch den Ketten-
strom polarisirten vergleicht, indem man gleich starke Reize (am besten
einzelne Inductionsschläge), von deren Wirksamkeit am normalen Mus-
kel man sich vorher überzeugt hat, auf verschiedene Stellen einwirken
lässt, und den Unterschied der Zuckungsgrösse vor und nach der Er-
müdung bestimmt; man findet im ersteren Falle die Erregbai'keit des
ganzen Muskels sehr vermindert, für schwächere (vorher jedoch wirk-
same) Reize sogar ganz aufgehoben, Avähreud ein polarisirter Muskel
auf Reize, die in der Continuität desselben einwirken, ebenso gut
reagirt, wie vor der Durchströmung, obgleich die Schliessung des dem
„polarisirenden" gleich gerichteten Stromes keine Spur einer Contraction
bewirkt, falls derselbe wieder dieselben Austrittsstellen hat Avie zuvor.
Daraus geht hervor, dass die Ursache des Ausbleibens der Erregung
in diesem Falle nur in Veränderungen gesucht werden kann, die eben
an den Austi^ittsstellen des Stromes aus der Muskelsubstanz, beziehungs-
weise in der nächsten Umgebung derselben, localisirt sind. Dasselbe
beweist ferner auch der Reizerfolg bei Schliessung eines dem polari-
sirenden entgegengesetzt gerichteten Stromes, wobei die Erregung an
jener Stelle ausgelöst wird, wo sich vorher die Anode befand. Die
dann zu beobachtende Schliessungszuckung des polarisirten Muskels
ist sogar beträchtlich grösser als vor der Durchströmung (Volta'sche
Alternative). Ist dies richtig, so muss auch der Erfolg einer Reizung
durch den Inductionsstrom verschieden ausfsillen, wenn man ihn das
eine Mal durch die ganze Länge eines normalen Muskels, das andere
Mal aber nach Polarisirung desselben hindurchgehen lässt, wobei da-
für zu sorgen ist, dass im einen wie im anderen Falle die Aus- be-
ziehungsweise Eintrittsstellen des Stromes nicht gändert werden. Denn
da durch zeitmessende Versuche festgestellt ist, dass schwächere Induc-
tionsschläge ausschliesslich an der Kathode den Erregungsvorgang aus-
lösen, so kann man sich mit Vortheil derselben bedienen, um die Er-
regbarkeit des Kathodenendes eines polarisirten Muskels zu untersuchen,
indem man sie durch die ganze Länge desselben hindurchschickt.
Es stellte sich auch bei diesen Versuchen eine vollständige Ueber-
einstimmung in dem Verhalten eines Sartorius, dessen eines Ende durch
Elektrische Reizung der Muskeln. 193
die Einwirkung gewisser chemischer Substanzen in einen Zustand
herabgesetzter Erregbarkeit versetzt wurde und eines solchen heraus,
der durch andauernde Durchströmung in unveränderter Richtung
polarisirt worden war ; um nicht bereits Gesagtes zu wiederholen, ver-
weise ich auf das, was bereits oben hierüber mitgetheilt wurde.
Wenn man endlich noch berücksichtigt, dass auch die Reihenfolge
der Ermüdungserscheinungen nach Einwirkung eines constanten Stromes
genau dieselbe ist, wie nach einseitiger Verletzung, Erwärmung oder
chemischer Abtödtung eines Muskels, indem vor dem gänzlichen Weg-
fall der Schliessungszuckung in beiden Fällen eine verschiedengradige
Abnahme der Zuckungsgrösse beobachtet wird, während die Schliessungs-
dauercontraction sich am längsten erhält, so dürfte es wohl kaum
mehr einem Zweifel unterliegen, dass die locale Erregbarkeits-
herabsetzung, welche in dem einen Falle durch die an
der Austrittsstelle des Stromes erfolgende Dauererre-
gung, im anderen aber durch eine in verschiedenerWeise
zu bewerkstelligende chemische Veränderung der Mus-
kelsubstanz bedingt wird, die einzige Ursache dafür ist,
dass der Muskel gar nicht oder nur in geringerem Grade
erregt wird, wenn der Strom an dem derartig veränder-
ten Muskelende aus- oder eintritt, während andernfalls
sowohl Seh Hess ungs- Avie auch Oeffnungserr egung in
normaler Weise erfolgt.
Als interessanten Beweis für die Richtigkeit des vorstehenden
Satzes sei schliesslich noch folgende Thatsache angeführt: es kommt
bei Präparation des Sartorius bisweilen, wenn auch selten, vor, dass
sich die Fasern an ganz umschriebenen Stellen bleibend contrahiren,
so dass ein „idiomuskulärer" Wulst entsteht, der bald in der Mitte,
bald an dem einen oder anderen Ende des Muskels auftritt; besonders
häufig ist das erstere der Fall; es muss dahingestellt bleiben, ob dies
mit der von Kühne seiner Zeit behaupteten grösseren Erregbarkeit
des Sartorius an der Eintrittsstelle seiner Nerven zusammenhängt. Ist
nun die Wulstbildung auf das untere Sartoriusende beschränkt, so be-
obachtet man bei Längsdurchströmung des Muskels das interessante
Verhalten, dass nur der aufsteigende Strom in normaler
Weise Schliess ungserr egung auslöst, während der sonst
stärker wirksame absteigende Strom entweder gar nicht
(bei mittelstarken Strömen) erregend wirkt oder doch
in viel geringerem Grade, als der aufsteigende. Durch
Versuche an stark abgekühlten Muskeln ist es Hermann (28) gelungen,
diese Thatsache des „polaren Versagens" am idiomuskulären Wulste
noch sicherer festzustellen.
Dies ist auch dann noch der Fall, wenn bereits keine Spur localer
Contraction mehr vorhanden ist; denn diese verschwindet bisweilen
nach einiger Zeit von selbst, besonders aber dann, wenn man den
Muskel in 0,6 °/o Kochsalzlösung badet.
Es muss demnach hier in ganz ähnlicher Weise wie durch die
Schliessungsdauercontraction bei Einwirkung des constanten Stromes,
durch die einer mechanischen Reizung (vielleicht Dehnung?) unter
Umständen folgende partielle Dauererregung ein Zustand herabgesetzter
Erregbarkeit an dem Orte der idiomuskulären Contraction zu Stande
gekommen sein, was ja im Grunde eine nothwendige Folge des Um-
standes ist, dass jede Erregung mit StoflPverbrauch einhergeht.
Biedermann, Elektiophysiologie. 13
194 Elektrische Reizung der Muskeln.
Es wurde bereits zu wiederholten Malen hervorgehoben, dass auch
das Verhalten, welches ein Sartorius, dessen eines Ende mechanisch
oder durch Wärme abgetödtet wurde, dem elektrischen Strome
gegenüber darbietet, sich durch die Annahme einer auf den Ort des
Eingriffes beschränkten Erregbarkeitsverminderung befriedigend er-
klären lasse, und es obliegt mir jetzt noch, diese Anschauung näher
zu begründen.
Da es als eine wohlbegründete Thatsache angesehen werden kann,
dass eine unversehrte, allseitig vom Sarkolemm umhüllte Muskelfaser
jedesmal dann erregt wird, wenn ein elektrischer Strom an irgend
einem Punkte ihrer Oberfläche austritt, und da ferner die Beschaö^en-
heit des Leiters, durch welchen der Aus- oder Eintritt des Stromes
erfolgt, erfahrungsgemäss gleichgültig ist, wenn man von der unver-
meidlichen Polarisation metallischer Elektroden absieht, so scheint auf
den ersten Blick das Verhalten eines einseitig verletzten Muskels eine
Ausnahme von der allgemeinen Regel zu bilden, indem sich heraus-
stellt, dass sowohl die Schliessungs- wie auch die Oeffnungserregung
ausbleibt oder doch nur in geschwächtem Maasse eintritt, wenn der
Strom aus lebender, unversehrter Muskelsubstanz in abgestorbene über-
tritt oder umgekehrt.
Es lässt sich leicht zeigen, dass die todte contractile Substanz
als solche dem Strome gegenüber sich ganz ebenso verhält, wie irgend
ein anderes als indifferenter Leiter dienendes thierisches Gewebe
(Sehne, Knochen etc.); man kann die Thonspitzen unpolarisirbarer
Elektroden mit abgestorbenem Muskelfleisch umhüllen und mittels
derselben den Strom der unversehrten Oberfläche eines Muskels zu-
führen, ohne das Zustandekommen des Erregungsvorganges zu hindern
oder zu erschweren.
Es müssen demnach an der Orenze zwischen abgestorbenem
und lebendem Faserinhalt in der Continuität eines Muskels
noch ganz besondere Verhältnisse in Betracht kommen, welche die
Erregung zu hemmen im Stande sind.
Dass die Gesammterregbarkeit des Muskels durch ein-
seitige Abtödtung nicht geschädigt wird, lehrt der einfache Versuch
der Stromwendung; allein es muss bemerkt werden, dass allerdings
hinreichender Grund zu der Annahme vorliegt, dass in nächster
Nähe einer verletzten Stelle die Erregbarkeit mehr
oder minder herabgesetzt ist. Dem scheint zwar der Ver-
such zu Avidersprechen , dass , Avenn man eine Brücke aus Koch-
salzthon bildet, welche die Epiphyse der tibia (oder des Becken-
knochens, wenn das obere Sartoriusende verletzt wurde) mit einem
jenseits der verletzten Stelle gelegenen Punkte der Muskeloberfläche
in leitende Verbindung setzt, der Muskel bei Schliessung eines ab-
steigenden (beziehungsweise eines aufsteigenden) Stromes fast ebenso
stark zuckt, wie vor der Verletzung, allein es ist zu bedenken, dass
aller Wahrscheinlichkeit nach der Zustand hochgradiger Erregbar-
keitsherabsetzung auf die nächste Umgebung der verletzten Stelle
beschränkt ist; Avenigstens dürfte dies in der ersten Zeit nach dem
einfachen Zerdrücken der Faserenden auf der einen Seite zutreffend
sein. Dass aber überhaupt die Erregbarkeit an der Grenze abgestorbenen
und lebenden Faserinhaltes vermindert sein muss, geht schon
aus dem Umstände hervor, dass ja der Process des Absterbens unauf-
haltsam durch die ganze Länge einer Faser hindurch fortkriecht, wenn
Elektrische Reizung der Muskeln. 195
er einmal an irgend einer Stelle eingeleitet wurde, und dass demnach
abgestorbener und lebender Faserinhalt niemals unvermittelt an-
einandergrenzen, sondern dass ausgehend von jenem Querschnitte des
Muskels, dessen Structur durch den gesetzten Eingriff zerstört wurde
und der völlig abgestorben ist, in den darauf folgenden Querschnitten
nahe zusammengedrängt alle nur möglichen Stadien des Ab-
sterbens und dem entsprechend auch der Erregbarkeitauf-
einander folgen, wie dies bereits Hermann*) hervorgehoben hat.
Wenn es richtig ist, dass, wie oben schon erwähnt wurde, auch
die Ausdehnung der „localen Ermüdung" von Einfluss darauf ist,
ob ein elektrischer Reiz von gegebener Grösse eine Gestaltveränderung
des Muskels zur Folge hat oder nicht, so kann man wohl voraussetzen,
dass die langsame Abtödtung des einen oder anderen Sartoriusendes
durch Eintauchen in erwärmtes Wasser die Erregbarkeit des Muskels
für die eine Stromesrichtung in vollkommenerer Weise herabzusetzen
vermöchte als die einfache mechanische Verletzung; denn es dürfte
nicht zu bezweifeln sein, dass gerade hier durch die locale, nur lang-
sam sich steigernde Einwirkung erhöhter Temperatur eine möglichst
vollkommene Abstufung der Erregbarkeit der dem wärmestarren Ab-
schnitte des Muskels zunächst gelegenen Querschnitte erreicht werden
kann. Das Versuchergebniss bestätigt denn auch in der That, wie
oben gezeigt wurde, diese Voraussetzung.
Nachdem für den quergestreiften Skeletmuskel die ausnahmslose
Gültigkeit des polaren Erregungsgesetzes über jeden Zweifel sicher-
gestellt erscheint, kann von vornherein kaum bezweifelt werden, dass
dasselbe auch auf den Herzmuskel, sowie auf glatte Muskeln Anwendung
findet. Mit Rücksicht auf die Zusammensetzung des Herzmuskels, sowie
aller glattmuskeligen Theile aus zahllosen, dicht an einander grenzenden
ZelUndividuen, welche unter einander durch eine Kittsubstanz ver-
bunden sind, erscheint jedoch die Frage gerechtfertigt, was man in
Hinblick auf die früher gegebenen Definitionen in diesem Falle unter
„physiologischer Anode oder Kathode" zu verstehen hat. Stellt man
sich, um an einen einfachen Fall anzuknüpfen, ein aus parallel zu ein-
ander verlaufenden Faserzellen gebildetes Band vor, wie es annähernd
ein Präparat des Muschelschliessmuskels darstellt, so würde von vorn-
herein zu erwarten sein, dass ein derartiges Präparat bei Längsdurch-
strömung sich ähnlich verhielte, wie etwa ein polymerer, quergestreifter
Muskel, dessen einzelne Theilstücke nicht nur im anatomischen, son-
dern auch im physiologischen Sinne als selbstständige Individuen zu be-
trachten sind. In sehr anschaulicher Weise lässt sich dies an dem
Musculus rectus abdominis des Frosches zeigen. Wird derselbe frei
präparirt und zwischen Kork massig gespannt durchströmt , so
zeigt sich, wie zu erwarten war, bei und während der Schliessung an
der der Anode zugewendeten Seite jeder sehnigen Inscription eine
namentlich im durchfallenden Lichte, bei Lupenvergrösserung sehr
deutliche und scharf begrenzte Wulstung der Faserenden, entsprechend
der kathodischen Schliessungsdauercontraction. Dieselbe verschwindet
sofort im Momente der Oeffnung des Stromkreises, um eventuell einer
anodischen Oeffnungsdauercontraction an der anderen Seite der In-
scription Platz zu machen. Es ist selbstverständlich, dass auch die
Hermann, Weitere Unters, z. Phys. cl. Nerven u. Mu.skeln. Berlin 1867. p. 5 f.
13*
J96 Elektrische Reizung der Muskeln.
Schliessungs- und Oeffnungszuckung jedes Theilstückes von denselben
Stellen ausgeht.
Das ganze gegliederte Muskelband wird also an so
vielen Stellen in der Continuität erregt, als Theil-
stücke vorhanden sind, indem jedes Glied der Muskel-
kette seine zugehörige Kathode und Anode besitzt.
Würden nun benachbarte Zellindidduen des Herzens oder irgend
eines glattmuskeligen Theiles sich ähnlich verhalten, wie die Glieder
eines polymeren Muskels , und spielte demnach die Zwischen- oder
Kittsubstanz dieselbe Rolle, wie die sehnigen Inscriptionen, so müsste
man erwarten, dass der elektrische Strom in der Continuität der
Theile an so vielen Stellen bei der Schliessung (bezw. Oeffnung) er-
regend wirkt, als einzelne Zellen vorhanden sind. Denn offenbar
Avürde dann jede der letzteren ihre eigene Kathode und Anode haben,
so dass bei der geringen Länge der betreffenden zelligen Elemente
die Erregung (Contraction) thatsächlich auf der ganzen durchflossenen
Strecke an zahllosen Punkten gleichzeitig beginnen würde. Dieser
theoretischen Folgerung entspricht nun aber das Verhalten derartiger,
aus einkernigen Zellen aufgebauter Muskeln in keiner Weise. Durch
Engelmann 's classische Untersuchungen (5) wissen wir , dass der
Ureter sowohl wie das Herz sich nicht nur in Bezug auf die Leitung
des Erregungsvorganges, sondern auch hinsichtlich der polaren
Erregung durch den elektrischen Strom „wie eine einzige,
kolossale hohle Muskelfaser" verhalten. Es beweist dies aufs Neue,
dass die Kittsubstanz nicht eine Trennung der Zellen im Sinne in-
differenter Scheidewände bedingt, sondern sozusagen die Continuität
der Substanz vermittelt. Denkt man sich daher eine Reihe mit den
Enden an einander stossender Muskelzellen der Länge nach durch-
strömt, so verhalten sie sich dem Strom gegenüber wie eine einzige
Muskelfaser, und die Kittleisten bilden ebenso wenig secundäre Ka-
thoden und Anoden, wie etwa die Zwischenscheiben innerhalb der
quergestreiften Fibrillen. Im einen wie im andern Falle be-
steht im physiologischen Sinne Continuität der Sub-
stanz, Dies lässt sich in sehr anschaulicher Weise sowohl am Herz-
muskel wie an verschiedenen glattmuskeligen Theilen beweisen. Be-
dient man sich des vom Vorhof getrennten Ventrikels des Frosch-
herzens (der „Herzspitze") als Untersuchungsobject, so befindet man
sich in Folge der assymetrischen Form des Präparates in ähnlicher
Lage wie beim Sartorius, indem die Stromdichte bei directem Anlegen
der Elektroden an beiden Enden (Spitze und Basis) sehr ungleich
ausfallen würde. Es erscheint daher zweckmässig, die Herzspitze
nach dem Vorgange Engel mann 's (27, p. 101) in ein mit indiffe-
renter Flüssigkeit gefülltes Reizkästchen zu versenken , wobei dann
während der Dauer der Durchströmung annähernd gleiche Strom-
dichte an allen Stellen des Präparates herrscht. Engelmann
benutzt ein 13 cm langes, 4 cm breites und 3 cm hohes Glasgefäss,
das etwa V/2 cm hoch mit einer wässerigen Lösung von NaCl (0,5 °/o)
und arabischen Gummi (2 ^lo) gefüllt wird und in welches die Elek-
troden tauchen. Schliesst man nun einen Kettenstrom oder schickt
einen einzelnen Inductionsschlag hindurch , so zeigt sich , dass , wenn
die Längsaxe des Ventrikels parallel der Stromesrichtung liegt, die
Schnittfläche daher senkrecht zu dieser steht, aufsteigend (d. h. von
der Herzspitze nach der Basis hin) gerichtete Ströme unmittelbar und
Elektrische Reizung der Muskeln. 197
kurze Zeit nach Anlegung des Schnittes unwirksam sind oder doch
schwächer erregend wirken als absteigend gerichtete. Nach wenigen
Minuten wird jedoch die Erregbarkeit für aufsteigende Ströme wieder
merklich und nimmt nun rasch zu, um bei Anfrischung der Wund-
fläche wieder auf Null zu sinken u. s. w. Die gleiche Abhängigkeit
des Reizerfolges von der Richtung des Stromes tritt auch hervor nach
Verletzung der einen oder der andern Seitenfläche des Präparates,
sofern dasselbe so gelagert wird, dass die Wundfläche lotrecht zur
Richtung des Stromes steht.
Um einen kurzen Ausdruck einzuführen, soll nach dem Vorschlag
Hermann's diejenige Richtung des Reizstromes, bei welcher derselbe
nach der Wundfläche hin gerichtet ist, als „at terminal" („ad-
mortal") und die andere als „abterminal" („abmortal")
bezeichnet werden. Dann lässt sich das beobachtete Verhalten
kurz so ausdrücken : Unmittelbar nach der Verletzung
der Herzspitze ist die Schliessung atterminaler Ströme
wirkungslos, wogegen unter gleichen Verhältnissen
die Schliessung abterminaler erregend wirkt. Es be-
steht hier off'enbar eine vollkommene Analogie mit dem Verhalten
des einseitig verletzten (oder sonstwie chemisch veränderten) Sar-
torius, und dieselben Schlussfolgerungen werden in beiden Fällen zu
ziehen sein. Zunächst beweisen die Vei'suche schlagend, dass die
Contractionen des Herzens bei elektrischer Reizung ausschliesslich von
dem Orte ausgehen, wo der Strom aus dem lebenden Muskelgewebe
in das angrenzende fremde Medium austritt, sei dies nun Salzlösung
oder abgestorbene Muskelsubstanz. Hier liegt die physiologi-
sche Kathode der Präparate, und hier allein entsteht die
Schliessungserregung. Nur unter dieser Voraussetzung ist der Ein-
fluss örtlicher Verletzung auf die Erregbarkeit für Schliessung atter-
minaler Ströme bei fehlendem Einfluss auf die Erregbarkeit für ab-
terminale Schliessung verständlich. Es gilt aber für die aus zahllosen
unregelmässig durcheinander geflochtenen Zellen gebildete Herzspitze
ganz dasselbe wie für den annähernd parallelfaserigen, monomeren
Sartorius. Wie hier, pflanzt sich auch die Erregung bei der Schliessung
von ihrem Ausgangspunkte stets auf die ganze übrige Muskelmasse
durch Leitung (von Zelle zu Zelle) fort, wobei die Lage der Kathode
an der Oberfläche des Präparates vollkommen gleichgültig erscheint,
während dagegen die Erregbarkeit der betreffenden Stelle von wesent-
lichem Einfluss auf den Reizerfolg ist. Tritt der Strom an einer ver-
letzten Stelle aus, so findet die Erregung an einer minder erregbaren
Stelle statt, und es erklärt sich der Erfolg ganz ebenso, wie unter
gleichen Umständen beim Sartorius. Als bemerkenswerther Unter-
schied bleibt nur die rasche Wiederherstellung des nor-
malen Verhaltens bestehen. Nach Engelmann ergiebt sich die
Erklärung dieses Verhaltens ungezwungen unter der Voraussetzung,
dass die einzelnen Zellen, obschon im Leben mit ihren
Nachbarn leitend verbunden, doch jede für sich ab-
sterben; mit anderen Worten, dass der Process des Ab-
sterbens nicht wie der der Erregung von Zelle auf Zelle
üb ergreift. Sind die oberflächlich gelegenen Zellen ganz abge-
storben, so wird die Kathode nicht mehr an der Grenze von ab-
sterbender, also weniger reizbarer Muskelsubstanz einerseits, und um-
gebender Flüssigkeit oder abgestorbener Zellsubstanz anderseits liegen,
198 Elektrische Reizung der Muskeln.
sondern tiefer: an der Grenze lebender und abgestorbener Zellen,
d. h. an der Demarcations fläche. Ein analoges Verhalten
würde, wie leicht zu ersehen, auch jeder polymere quergestreifte
Stammesmuskel darbieten. Eine weitere Bestätigung dieser Anschau-
ung werden wir später bei Betrachtung der elektromotorischen Wir-
kungen des Herzens kennen lernen.
Um am gänzlich unversehrten, in diastolischer Erschlaffung ver-
harrenden Herzmuskel das Gesetz der polaren Erregung zu demon-
striren , bietet sich noch eine andere Versuchsmethode dar, nämlich
die sogenannte monopolare Reizung. Da die Erregung durch
den elektrischen Strom in erster Linie von der Dichte desselben an
der Ein- resp. Austrittsstelle abhängt, so ist ohne Weiteres klar, dass
man durch Herabminderung derselben am einen Pole bei gleichzeitiger
möglichster Steigerung am anderen sich über die Gesetze der polaren
Stromwirkungen ebenfalls Aufschluss zu verschaffen vermag. Ja, es
gelingt auf diesem Wege, wie Kühne (28) gezeigt hat, eine so
localisirte elektrische Erregung zu bewirken, wie sonst höchstens
durch mechanische Reizung. Denkt man sich an der Oberfläche eines
irgendwie gestalteten Leiters zwei punktförmige, stromzuführende Elek-
troden angelegt, so wird bekanntlich das ganze Innere desselben von
Stromfaden durchflössen, deren Dichte an den Berührungsstellen am
grössten ist und von da aus sehr rasch abnimmt. Sorgt man nun
durch Anwendung einer flächenhaft ausgedehnten Elektrode dafür,
dass entweder an der Ein- oder Austrittsstelle des Stromes die Dichte
desselben und damit auch die erregende Wirkung möglichst gering
oder gänzlich unzureichend ist, so bleibt schliesslich unmittelbar an der
Berührungsstelle nur die Wirkung der anderen Elektrode übrig, die man
nun durch möglichste Begrenzung der Berührungsfläche so zu sagen
localisiren kann. Enthäutet man beispielsM'eise an einem mit Curare ver-
gifteten Frosch die ventrale Fläche eines Oberschenkels, und legt die
eine (indifferente) Elektrode mit breiter Fläche an die Kehlhaut, wäh-
rend die andere, möglichst fein zugespitzte Pinselelektrode irgend einen
Punkt der feuchten Muskeloberfläche berührt, so treten sehr charakte-
ristische Reizerfolge hervor, welche durchaus verschieden sind,
je nachdem die Berührung mit der Kathode oder Anode
erfolgt. Ersterenfalls beobachtet man bei Anwendung schwacher
Ströme, wie im Momente der Schliessung des Kreises die unmittelbar
unter der Pinselspitze verlaufenden Faserbündel zusammenzucken, wo-
durch sich für einen kurzen Augenblick eine schmale Längsfurche an der
ebenen glatten Muskeloberfläche bildet, während sich an der Berüh-
rungsstelle selbst ein kleiner, aber scharf begrenzter
Querwulst erhebt, der nun, vorausgesetzt dass die Berührung eine
stetige ist, während der ganzen Schliessungsdauer unverändert bleibt.
Dass es sich hier um die kathodische Schliessungsdauercontraction
handelt, kann nicht bezweifelt werden. Wird die Intensität des Reiz-
stromes verstärkt, so nimmt sowohl die Zuckung, wie auch die Dauer-
contraction an Stärke zu, ohne dass jedoch die letztere auch bei dieser
Reizraethode den Charakter der localen Beschränktheit verlieren würde.
Dies lässt sich besonders klar erkennen, wenn man, wie oben bereits
erwähnt wurde, an der Oberfläche des Muskels feste Merkzeichen an-
bringt, deren gegenseitige Lageänderung bei der Verkürzung die
räumliche Ausdehnung derselben zu beurtheilen gestattet. So kann
man den zu untersuchenden Muskel senkrecht zur Faserrichtung mit
Elektrische Reizung der Muskeln. 199
Tusche quer bändern, so dass der Abstand zwischen je zwei mit einer
feinen Borste gezogenen Querlinien etwa ^',2 mm beträgt. Jede auch
noch so beschränkte Contraction verräth sich dann sofort durch eine
mehr oder minder erhebliche Verschmälerung eines oder mehrerer
Querbänder, bezw. der sie trennenden ungefärbten Zwischenräume.
Innerhalb nur passiv betheiligter Muskelstrecken erscheinen dagegen
die farbigen Querbänder zwar mannigfach verzogen, ohne jedoch
schmäler zu werden. Es ist nicht zu verkennen, dass bei der ge-
schilderten monopolaren Reizraethode, wo die Stromfäden im Allge-
meinen nicht durch die natürlichen Enden des Muskels ein- oder aus-
treten, sondern die Fasern in der verschiedensten Richtung, quer und
schräg durchsetzen, wodurch ihre Wirkung theilweise beeinträchtigt
wird, die Versuchsbedingungen gegenüber der gewöhnlichen bipolaren
Methode weniger übersichtlich und die Resultate namentlich in Hin-
blick auf die Möglichkeit des Wirksamwerdens secundärer, kathodischer
oder anodischer Stellen in der Umgebung der Reizelektrode oft schwer
zu deuten sind. Dem ungeachtet bietet das Verfahren in manchen
Fällen, wo sich die bipolare Methode nicht gut anwenden lässt, gewisse
Vortheile. Dies gilt in erster Linie von zahlreichen glattmuskeligen
Theilen, nicht minder aber auch vom Herzmuskel, dessen coraplicirter
und verwickelter Faserverlauf es von vornherein unmöglich macht,
alle einzelnen Elemente der Länge nach zu durchströmen. Vielmehr
werden die in den verschiedensten Richtungen durch einander gefilzten
Zellen unter allen Umständen auch in den verschiedensten Richtungen
und unter den verschiedensten Winkeln von Stromfäden getroffen.
Nach dem oben Mitgetheilten ist dies aber auch für den schliesslichen
Erfolg ziemlich belanglos. Versetzt man nach dem Vorgange Bern-
stein ' s den Ventrikel eines Froschherzens dadurch in dauernden
diastolischen Stillstand, dass man ihn vom Vorhof durch Abquetschen
trennt, so erscheint er prall mit Blut gefüllt und reagirt auf jeden
mechanischen Reiz mit einer kräftigen Totalcontraction. Legt man
nun wieder, wie in dem schon erwähnten Falle, die eine Elektrode
eines Kettenstromes mit breiter Fläche an irgend einer indifferenten
Stelle des Froschkörpers an und berührt mit der Spitze der andern
die Oberfläche des Ventrikels, so zeigt sich ausnahmslos, dass bei
Anwendung eben wirksamer Ströme die Schliessung des
Stromkreises nur dann erregend wirkt, wenn die Be-
rührung des Herzens mit der Kathode erfolgt, niemals
aber im andern Falle bei Berührung mit derAnode; bis-
weilen findet man dann aber die Oeffnung (wenigstens
nach längerer Schliessungsdauer) wirksam. Wenn so die
Gültigkeit des polaren Erregungsgesetzes für den Herzmuskel nicht
bezweifelt werden kann, so lässt sich dasselbe an geeigneten Objecten
auch für glatte Muskeln constatiren.
Als solches erweist sich unter anderem der Schaalenschliess-
muskel von Anodonta, dessen Verhalten dem Strome gegenüber
bereits mehrfach Erwähnung fand, und der wegen seines im Allge-
meinen sehr regelmässigen, parallelfaserigen Baues am ehesten eine Ver-
gleichung mit dem Sartorius des Frosches gestattet. Es wurde schon
oben hervorgehoben, dass ein möglichst tonusfreies Präparat des
Schliessmuskels während der ganzen Dauer der Durchströmung
verkürzt bleibt. Es ist nun nicht schwer, sich schon durch die blosse
Inspection von der Thatsache zu überzeugen, dass weder bei der
200
Elektrische Reizung der Muskeln.
Schliessung" des Stromes, noch bei der Oeffnung (falls diese letztere
von Erfolg begleitet ist) die ganze intrapolare Strecke gleichmässig
dauernd contrahirt ist, sondern ersterenfalls vorwiegend die kathodische,
anderenfalls die anodische Hälfte desselben. Man hat es hier zweifel-
los mit einer ganz analogen Erscheinung zu thun, wie bei dem quer-
gestreiften M. sartorius des Frosches, wo die entsprechende Localisirung
der Schliessungs- beziehungsAveise OefFnungsdauercontraction bereits
seit lange bekannt ist und immer als wesentliche Stütze für den Satz
von der polaren Erregung durch den elektrischen Strom angesehen
wurde. Genaueren Aufschluss giebt noch die Anwendung der graphi-
schen Methode bei gesonderter Verzeichnung der Contraction jeder
der beiden Muskelhälften, welche sich hier in ähnlicher Weise wie
beim Sartorius ermöglichen lässt, indem man die Muskelmitte fixirt.
Während sich aber beim quergestreiften Muskel in der Regel im
Augenblick der Schliessung, Avie auch eventuell bei Oeffnung des
Fig. 90. Localisation der Schliessungsdauercontraction an der Kathode (K) hei
Reizung des in der Mitte fixirten Muschelschliessmuskels. {S = Schliessung;
0 = Oeffnung.)
Stromes eine Contractionswelle von der Kathode, beziehungsweise
Anode aus mit grosser Geschwindigkeit durch die ganze Länge des
Muskels fortpflanzt und zur Entstehung einer zu beiden Seiten der
fixirten Mitte annähernd gleich starken Schliessungs- oder Oeffnungs-
Zuckung führt, tritt beim Muschelmuskel nur eine mehr
oder minder beschränkte örtliche Dauercontraction
auf, welche der Schliessungs- und Oeffnungsdauer-
contraction des quergestreiften Muskels entspricht,
und wie diese ausbleibt, wenn der Aus- oder Eintritt
des Stromes durch eine Schicht abgestorbener, con-
tractiler Substanz erfolgt (3). Ein Blick auf die beistehenden
Curven (Fig. 90) beweist dies zur Genüge. Wie beim Herzmuskel,
gleicht sich auch hier der unmittelbar nach der Verletzung höchst
auffallende Unterschied der Wirkungsweise beider Stromesrichtungen
allmählich aus und wird schliesslich unmerklich. Die Erklärung muss
wohl ebenfalls in dem isolirten Absterben der einzelnen Faserzellen
gesucht werden.
Wenn die vorstehend erörterten Befunde am Schliessmuskel von
Anodonta noch in fast vollkommener Uebereinstimmung mit den Er-
Elektrische Keizixng- der Muskeln. 201
fahrungen über die polaren Stromes Wirkungen am quergestreiften
Stammesmuskel und am Herzen stehen, so gilt dies schon nicht in
gleichem Maasse hinsichtlich anderer, aus glatten Spindelzellen be-
stehender Theile, bei deren Reizung mit Kettenströmen eine Reihe
von Erscheinungen auftreten, welche in mancher Beziehung, wenigstens
auf den ersten Blick, viel Abweichendes zeigen und sogar den Ge-
danken aufkommen lassen, es möchte das polare Erregungsgesetz
nicht für alle Muskelarten strenge Geltung haben (31).
An der Innenseite des Integumentes der H o 1 o t h u r i e n verlaufen
durch die ganze Länge des Körpers schöne parallelfaserige Längsmuskel-
züge in Form von fünf platten Bändern, welche aus einzelnen, beider-
seits zugespitzten Spindelzellen bestehen und nach Eröffnung des
Thieres (bei Holoth uria Poli) als weissliche oder röthlich gefärbte,
durchscheinende Streifen hervortreten. Zwischen je zwei Längsmuskel-
bändern sieht man viel dünnere und zartere Ringmuskelzüge verlaufen,
Avelche rechtwinkelig zu jenen eine vollständige Umhüllung des Körpers
bilden und aus ähnlichen Spindelzellen bestehen wie jene. An dem
der Länge nach aufgeschnittenen und gehörig ausgespannten Haut-
muskelschlauch lassen sich übrigens die Längsmuskelbänder in ihrem
ganzen Verlauf oder doch streckenweise leicht isoliren, indem man
eine Sonde am einen Ende unter dem Muskel hindurchführt und die-
selbe dann gegen die Unterlage drückend, stetig längs des Muskel-
streifens vorschiebt. Man kann dann, wie beim Muschelmuskel, auch
an dem ganz isolirten, frei ausgespannten Muskelbande Reizversuche
anstellen. In allen Fällen erscheint die lang anhaltende tonische
Contraction, in welche diese Muskeln namentlich nach mechani-
schen Insulten gewöhnlich verfallen, recht störend; doch nach einiger
Ruhe unter Seewasser tritt stets wieder soweit Erschlaffung ein, dass
Reizversuche möglich sind; ein gewisser Grad von „Tonus"
bleibt aber (und es ist dies wesentlich mit zu berücksichtigen)
immer bestehen. Setzt man nun zAvei fein zugespitzte Pinselelek-
troden gleichzeitig an zwei nicht zu nahe bei einander liegenden
Punkten eines entweder noch in situ befindlichen oder frei zwischen
Kork ausgespannten Längsmuskelbandes auf oder legt man die
eine Elektrode an irgend eine indifferente Stelle des Präparates,
während nur die andere mit dem Muskel in Berührung gebracht wird,
so beobachtet man in beiden Fällen an der Aus- bezw. Eintrittsstelle
des Stromes überaus charakteristische Gestaltveränderungen des Mus-
kels, welche an den beiden Polen durchaus verschieden sind (29).
An der Kathode entsteht sofort bei Schliessung des Kreises, genau
unter der berührenden Pinselspitze und von dieser aus senkrecht zur
Faserrichtung sich erstreckend, ein schmaler Querwulst, welcher unter
Umständen (bei nicht zu schwachen Strömen) die ganze Breite des
Muskelbandes durchsetzt und sich ziemlich scharf von der Umgebung
abhebt. Dieser „idiomusculäre" kathodische Wulst bleibt während der
Schliessungsdauer bestehen und pflanzt sich, was besonders hervor-
zuheben ist, niemals vom Orte seiner Entstehung aus fort. Die Ge-
sammtverkürzung des Muskelbandes, welche durch diese örtliche
Zusammenziehung bewirkt wird, ist immer sehr unerheblich, in-
dem im Wesentlichen nur die der Reizelektrode zunächst gelegenen
Theile des Muskels zur Bildung der localen Verdickung beitragen.
Es hängt dies natürlich auch mit von der Stärke des zur Reizung
benützten Stromes ab, so dass innerhalb gewisser Grenzen der katho-
202 Elektrische Eeizung der Muskeln.
dische Wulst, der ja ohne Zweifel der Schliessungsdauercontraction bei
quergestreiften Muskeln entspricht, mit der Stromstärke an Grösse
zunimmt und dann auch eine grössere Muskelstrecke umfasst. Bei
Anwendung der schwächsten, eben wirksamen Ströme contrahiren sich
örtlich nur die obersten Faserschichten, so dass der kathodische Wulst
nicht die ganze Dicke des Muskels durchsetzt.
Sehr bemerkenswerth ist in allen Fällen die scharfe Begrenzung
der kathodischen Dauercontraction , die sich kammförmig mit beider-
seits steil abfallenden Bändern über die Muskeloberfläche erhebt.
Ganz wesentlich verschieden gestaltet sich der unter gleichen
Verhältnissen zu beobachtende Reizerfolg an der Eintrittsstelle des
Stromes. Hier sieht man an der Stelle, wo die anodische Pinselspitze
die glatte ebene Muskeloberfläche berührt, bei Schliessung des Stromes
eine mehr oder weniger tiefe Rinne oder Furche entstehen, welche
quer über den Muskel verläuft und in Bezug auf Länge und Breite
etwa dem Querwulste entspricht, Avelcher unter gleichen Umständen
an der Kathode entsteht oder (bei monopolarer Reizung) entstanden sein
würde. Man sieht sehr deutlich, wie im Augenblick der Schliessung
die Muskelmasse von der anodischen Stelle verdrängt wnrd und so zu
sagen abfliesst, während sich zu beiden Seiten der vertieften Rinne
je ein Wulst erhebt, von ähnlichem Aussehen, wie die kathodische
Dauercontraction. Die Gestaltveränderung des Muskels, welche sich
daraus ergiebt, lässt sich demgemäss charakterisiren als eine unter
der Elektrode entstehende vertiefte Rinne, die beider-
seits von einem Querwulste begrenzt wird.
Unter gewissen, noch näher zu bezeichnenden Umständen gewinnt
es den Anschein, als seien die beiden Wülste lediglich durch die von
der Anode weggedrängte Muskelsubstanz gebildet. Macht man aber
den Versuch an frischen , gut erregbaren Präparaten , so rindet man
ausnahmslos, dass beiderseits von der Anode eine sehr deut-
liche und über verhältnissmässig weite Strecken aus-
gedehnte Contraction des Muskels eintritt, die in unmittel-
barer Nähe der vertieften Rinne am stärksten ausgeprägt, nach beiden
Seiten hin allmählich an Stärke abnimmt. Es verlängert sich mit
anderen Worten bei Schliessung des Stromes der Muskel unmittelbar
an der Anode, indem er daselbst erschlafft, während in Folge der in
der Umgebung sich geltend machenden Erregung ein Hindrängen der
Muskelsubstanz nach der erschlafften Stelle erfolgt. Für den Ge-
sa m m t m u s k e 1 ergiebt sich daraus e i n e o f t s e h r b e t r ä c h t -
liehe und jedenfalls immer viel bedeutendere Verkür-
zung, als bei kathodischer Reizung.
Da die flachen Längsmuskelbänder der Holothurien eine ziemliche
Breite besitzen, so machen sich, wenn die Pinselspitze etwa auf die
Mitte des Muskels aufgesetzt wird , die geschilderten Reizerfolge nur
an einem Theil der Faserzüge geltend. Viel aufftillender und selbst
aus grösserer Entfernung bemerkbar werden aber die Gestaltverände-
rungen, wenn man mit der Spitze des Pinsels senkrecht zur Faser-
richtung leicht über den Muskel hinstreift.
Dieselben Erscheinungen wie bei elektrischer Reizung der Längs-
muskelbänder treten , wenn auch entsprechend der grösseren Zart-
heit minder augenfällig, an den dünnen Bündeln der Ringmuskeln
hervor. Berührt man eine ganz ebene Stelle derselben mit der Kathode,
so sieht man, wie sich unter der Pinselspitze sofort bei Schliessung
Elektrische Reizung der Muskeln. 203
des Stromes ein kleiner länglicher Wulst erhebt, dessen Längsaxe
senkrecht zum Faser verlauf des gereizten Muskelbündels steht. Die
ganze Erscheinung ist unverkennbar nur im verkleinerten Maassstabe
dieselbe wie die kathodische Dauercontraction bei Reizung eines
Längsmuskelbandes.
Hier wie dort fällt die scharfe Begrenzung des Wulstes, sowie die
geringe Gesammtverkürzung des Muskels auf, welche durch die locale
Erregung bedingt wird. Im Gegensatze hierzu ist die Gesammt-
verkürzung der Ringmuskeln eine sehr beträchtliche, wenn monopolar
mit der Anode gereizt wird. Um sich von der völligen Uebereinstim-
mung des Reizerfolges an Ring- und Längsmuskeln auch in diesem
Falle zu überzeugen, bedarf es vorsichtiger Abstufung der Stromstärke
und einer sehr fein zugespitzten Pinselelektrode. Berührt man nur ein
einzelnes Ringfaserbündel etwa in der Mitte zwischen je zwei Längs-
muskelbändern, so ist die auffallendste Erscheinung bei Schliessung des
Stromes die Bildung einer parallel der Faserrichtung verlaufenden
Furche, deren Entstehung sich leicht durch die starke Contraction
des gereizten Faserzuges erklärt. Wendet man Lupenvergrösserung
an, so kann man sich leicht überzeugen, dass die Muskelfasern un-
mittelbar unter der anodischen Pinselspitze an der Contraction nicht
theilnehmen, sondern dass ganz wie unter gleichen Umständen an den
Längsmuskeln, daselbst eine mehr oder weniger deutliche, quer zur
Faserung verlaufende Rinne entsteht, zu deren beiden Seiten das
Muskelbündel sich verkürzt. Bisweilen erscheinen auch die diese
Furche beiderseits begrenzenden Querwülste ganz deutlich ausgeprägt.
Immerhin bedarf es besonderer Aufmerksamkeit, um eine Erscheinung
wahrzunehmen, welche bei Reizung der Längsmuskeln sich so zu sagen
unmittelbar aufdrängt. Während hier bei anodischer Reizung in Folge
der grossen Länge der Muskelbänder die Gesammtverkürzung der-
selben gegenüber der localen Gestaltveränderungen zurücktritt, verhält
sich dies gerade umgekehrt bei den schmalen, kurzen Ringfaserzügen,
bei welchen der Totaleffect mehr auffällt, als die localen Veränderungen.
In besonders instructiver Weise macht sich dies an Stellen bemerkbar,
wo, sei es durch Contraction umliegender Theile und dadurch be-
wirkte Faltung der Haut oder durch locale stärkere ErschlaiFung,
einzelne Partien sich blasig hervorwölben. Berührt man eine solche
Stelle, wo die Ringfasern nach aussen convex gekrümmt erscheinen,
mit der Anode, so bildet sich bei der Schliessung sofort parallel der
Faserrichtung eine segmentale Einschnürung, welche unmittelbar an
die ganz ähnliche Erscheinung erinnert, welche man unter analogen
Verhältnissen am Darm, insbesondere am Dickdarm der Pflanzenfresser
beobachtet. Dadurch wird aber, wie leicht ersichtlich, eine genauere
Untersuchung der an der Berührungsstelle selbst entstehenden localen
Veränderungen so gut wie unmöglich gemacht. Dagegen treten die-
selben bei kathodischer Reizung auch in diesem Falle überaus deutlich
hervor, indem bei kaum merklicher Gesammtverkürzung an der Aus-
trittsstelle des Stromes ein kleiner, aber scharf begrenzter Querwulst
sich erhebt.
Ein nicht minder bemerkenswerthes und charakteristisches Verhalten
zeigen bei elektrischer Reizung mit dem Kettenstrome die glatten Mus-
keln des Kauapparates von Echinus esculentus, die sich ausser-
dem noch durch eine viel raschere Reaction vor den Holothurienmuskeln
auszeichnen (29). Bekanntlich besteht das Kalkskelet der sogenannten
204 Elektrische Keizung der Muskeln.
Laterne des Aristoteles aus 5 gleichartigen Theilen, von denen jeder wieder
aus mehreren Stücken zusammengesetzt ist. Diese Theile sind unter ein-
ander theils durch Bänder, theils durch mächtig entwickelte Muskeln von
zum Theil sehr regelmässigem Bau verbunden. Dies gilt in erster Linie
von den 5 zwar kurzen, aber ganz parallelfaserigen Muskeln, welche
an der nach innen gekehrten Basalfläche der Laterne 5 längliche, be-
wegliche Kalkbügel mit einander verketten, die von der centralen
Schlundhöhle aus in radialer Richtung gegen die Peripherie verlaufen,
wo sie sich auf den Seitenflächen der Laterne nach unten krümmen.
Nebst diesen, einen vollkommen geschlossenen Ring bildenden 5 Mus-
keln, deren jeder bei grossen Exemplaren eine Länge von etwa 1,5 cm
und eine Breite von beiläufig 4 mm erreicht, bieten auch noch die
anderen grösseren Muskeln, welche sich theils an den Kiefern inseriren
und die darin steckenden Zähne bewegen, theils die Zwischenräume
zwischen jenen ausfüllen, sehr geeignete Versuchsobjecte. Einer eigent-
lichen Präparation bedarf es für die ersten orientirenden Versuche
gar nicht. Es genügt, den Seeigel mit der Scheere in eine obere und
untere Hälfte zu zerschneiden und* hierauf an dem ovalen, die Laterne
enthaltenden Theilstück noch soviel von der Schaale abzubrechen, um
mit den Elektroden bequem heranzukommen. Entfernt man nach
Ausziehen der Zähne mittels einer Pincette noch die die Muskeln
theils umhüllenden, theils verbindenden Membranen, so ist das Prä-
parat für den Versuch genügend vorbereitet. Taucht man dasselbe in
ein Gefäss mit Seewasser, welches sich für diese Muskeln als ebenso
indifferent erweist, wie für jene der Holothurien, so dass nur die Basis
der Kalkpyramide mit dem Muskelringe frei herausragt, und berührt
nun monopolar mit der fein zugespitzten Kathode irgend einen Punkt
in der Continuität eines der 5 Muskeln, während die andere unpolari-
sirbare Elektrode in das Wasser des Gefässes taucht, so lässt sich die
Bildung eines idiomuskulären localen Wulstes hier noch viel schöner
beobachten, als an den Längsmuskeln der Holothurien. Bei gehöriger
Abstufung der Stromstärke bietet sich die Erscheinung in den ver-
schiedensten Graden der Entwicklung dar. Die durchscheinende Be-
schaffenheit der platten, dünnen Muskeln, sowie die Raschheit der
Reaction sind hierbei sehr günstig, und es dürfte kaum ein
anderes Object geben, das auch nur annähernd so schön die ört-
lichen Erregungserscheinungen an der Kathode zu demonstriren ge-
stattete. Ausserordentlich scharf und so zu sagen plastisch hebt sich
die contrahirte Stelle von der Umgebung als ein weisslicher, undurch-
sichtiger Wulst von eigenthümlich mattem Glänze ab, der bei Schlies-
sung des Stromes rasch entsteht und während der Schliessungsdauer
unverändert bestehen bleibt, um sich erst nach Oeffnung des Kreises
allmählich auszugleichen. Reizt man mit einem eben nur wirksamen
Strom, so erscheint die Contraction immer nur auf die nächste Um-
gebung der Austrittsstelle beschränkt, gewinnt aber bei Steigerung der
Stromesintensität an Stärke und Ausdehnung, bis endlich der katho-
dische Wulst an Stelle der Elektrode die ganze Dicke des Muskels in
Form einer knotigen Anschwellung durchsetzt. Da die Muskelsubstanz
zur Bildung der letzteren sozusagen von beiden Seiten herangezogen
wird, so ergiebt sich daraus eine nicht unerhebliche Gesammtverkür-
zung des Muskels. Doch ist dieselbe niemals so stark, wie bei mono-
polarer anodischer Reizung.
Elektrische Reizung der Muskeln. 205
Hier tritt bei Schliessung des Stromes sofort eine sehr kräftige
Zusamraenziehung des ganzen Muskels ein, wobei sich die beweglichen
Insertionsstellen nach Möglichkeit nähern. Der Muskel erscheint straff
gespannt und wie es zunächst den Anschein hat, in allen seinen Theilen
gleichmässig verkürzt. Gerade dieser letztere Umstand ist mit Rücksicht
auf das früher geschilderte Verhalten bei kathodischer Reizung in hohem
Grade auffallend. Dazu kommt noch, dass sich an der Anode selbst nicht
nur keine stärkere locale Contraction entwickelt, sondern dass daselbst
beiAnwendungnureinigermaassen stärkererStröme so-
gar eine C ontinuitätstrennung des Muskels erfolgt. Legt
man die Elektrode (Anode) an irgend eine Stelle des freien scharfen
Randes eines Muskels, so spannt sich derselbe bei der Schliessung so-
fort sehr stark an, und bald darauf sieht man bei Lupenvergrösserung
an der Pinselspitze eine verdünnte, durchsichtige Stelle entstehen,
worauf alsbald zunächst die unmittelbar berührten Fasern daselbst
reissen und sich nach beiden Seiten zurückziehen. Folgt man mit der
Pinselspitze, so lässt sich unter Umständen der ganze Muskel der
Quere nach durchtrennen, indem die Fasern in dem Maasse, als man
immer tiefere Schichten trifft, an der berührten Stelle einreissen.
Für die richtige Beurtheilung dieser auf den ersten Blick sehr
auffallenden Thatsache scheint nun der Schlüssel in dem oben ge-
schilderten Verhalten der Holothurienmuskeln gegeben zu sein. Dar-
über, dass bezüglich der kathodischen Reizerfolge in beiden Fällen
eine fast vollkommene Uebereinstimmung besteht, kann wohl kaum ein
Zweifel obwalten. Aber auch das scheinbar ganz abweichende Er-
gebniss monopolarer, anodischer Reizung der Echinusmuskeln ist
im Grunde auf analoge Veränderungen zurückzuführen, wie sie
in so klarer Weise an den Längsmuskeln der Holothurien hervor-
treten. Hier sahen wir an der Eintrittsstelle des Stromes selbst eine
locale Erschlaffung entstehen, welche sich durch die Bildung einer
verdünnten Stelle markirte, von der aus nach beiden Seiten hin eine
bei frischen Präparaten sehr starke Contraction sich entwickelte und
so zu einer sehr beträchtlichen Gesammtverkürzung des Muskels
fiihrte. Denkt man sich nun einen kurzen, zarten Muskel von gleichen
oder ähnlichen Eigenschaften zwischen zwei Insertionsstellen ausgespannt,
welche bei der Contraction nur bis zu einem gewissen Grade einander
genähert werden können, so wird offenbar der Erfolg der kathodischen
Schliessungsreizung sich hier ganz ebenso zu äussern vermögen, wie
bei den auf einer nachgiebigen Unterlage ausgespannten Holothurien-
mukeln. Ganz anders aber wird sich dies bei monopolarer anodischer
Reizung verhalten. Tritt dann der Strom irgendwo in der Continuität
des Muskels ein, und erfolgt bei der Schliessung eine örtliche Er-
schlaffung oder bleibt die betreffende Stelle auch nur unerregt, während
beiderseits davon eine kräftige Contraction erfolgt, so muss offenbar,
wenn die Insertionspunkte nicht weiter genähert werden können, an
der Stelle des geringsten Widerstandes eine Continuitätstrennung er-
folgen.
Das Zerreissen an der Anode würde demnach darauf zu beziehen
sein, dass bei monopolarer anodischer Reizung in der Continuität an
der Elektrode selbst eine Erschlaffung, beiderseits aber ein starker
Spannungszustand entsteht, wenn sich ' der Muskel, den gegebenen
mechanischen Bedingungen zufolge, nicht weiter zu verkürzen ver-
mag. Auf diesem Umstände beruht es wohl auch, dass es bei den
206 Elektrische Reizung der Muskeln.
in situ gereizten Echinusmuskeln nicht wie bei denen der Holothurien
an der Anode zur Entstehung einer vertieften Rinne mit wallartig auf-
geworfenen Rändern kommt, sondern dass nur eine scheinbar an allen
Punkten gleichmässige Spannung sich bemerkbar macht.
Die beiden im Vorstehenden ausführlich besprochenen Fälle er-
öffnen nun auch das Verständniss für jene complicirteren Fälle, wo,
wie beispielsweise im Hautmuskelsehlauch vieler Würmer, sowie im
Darm von Wirbelthieren , zwei flächenhaft angeordnete Systeme von
glatten Muskelzellen unmittelbar über einander liegen, wobei die Rich-
tung der Faserung in beiden rechtwinklig auf einander steht (30). Bringt
man einen am besten durch verdünnten Alkohol (5 — 7 **/o) gelähmten,
möglichst grossen Regenwurm auf eine leitende Unterlage aus mehrfach
zusammengelegtem Filtrirpapier oder Kochsalzthon, welche mit der
einen (indifferenten) Elektrode in Verbindung steht, und berührt man
mit der andern, fein zugespitzten Pinselelektrode die Mitte der dor-
salen Fläche eines der breiten Segmente am Vorderende des Wurmes,
so sieht man bei genügender Stromstärke und unter Voraussetzung
einer möglichst vollständigen Lähmung der Willkürbewegungen und
Reflexe das direct berührte Segment, und zwar nur dieses allein, sich
ringförmig einschnüren und in diesem Zustand verharren, so lange
der Strom geschlossen bleibt. War der Strom stark und die Erreg-
barkeit der Muskeln eine hohe , so kann diese durch Contraction der
Ringmuskeln bewirkte Einschnürung fast bis zum Verschwinden des
Lumens der Körperhöhle gehen, wodurch dann natürlich die umgeben-
den Theile, insbesondere die nächst angrenzenden Segmente passiv
mehr oder weniger verzogen werden. Immer jedoch bleibt der Reiz-
erfolg auf das direct berührte Segment beschränkt, und es findet keine
Fortpflanzung der Contraction etwa in Form einer peristaltischen
Welle statt. Nebst der erwähnten passiven Verziehung der angrenzen-
den Theile des Hautmuskelschlauchs fehlt aber kaum jemals eine
zweifelsohne activ durch Contraction der Längsmuskeln bewirkte Ab-
nahme der Höhe der benachbarten Segmente, die, am stärksten in
unmittelbarer Nähe der Einschnürung, weiterhin allmählich abnimmt
und sich auch niemals an der ganzen Peripherie der betreffenden Seg-
mente, sondern nur an der der Reizstelle entsprechenden Seite geltend
macht. Es handelt sich daher um eine wohl zum grössten Theil activ,
theilweise aber auch passiv bewirkte einseitige Verziehung der dem
anodisch gereizten Segment benachbarten Körperringe. Dass hier nun
wirklich eine Verkürzung der Längsmuskeln vorliegt, geht — ab-
gesehen von der oft sehr beträchtlichen räumlichen Ausbreitung der
betreffenden Veränderungen zu beiden Seiten der Ringmuskelcontrac-
tion — ganz unzweifelhaft aus der schon erwähnten, meist sehr be-
deutenden Abnahme der Höhendimension der betreffenden Segmente
hervor, und es bleibt nur fraglich, wie sich in dieser Beziehung das
direct gereizte Segment selbst verhält. Es scheint nun, dass
hier zwar — wie ohne weiteres ersichtlich — eine oft maximale
Erregung der Ringmuskeln vorhanden ist, dass da-
gegen eine merkliche Verkürzung der Längsmuskeln
durchaus fehlt. Dies lässt sich allerdings vielleicht nicht
mit voller Bestimmtheit aus dem Umstand allein erschliessen, dass
keine Abnahme der Höhe des betreffenden Segmentes eintritt, da
ja beide Muskelschichten antagonistisch sowohl in Bezug auf
Veränderungen der Länge (Höhe) des Segmentes, als der Breite
Elektrische Reizung der Muskeln. 207
wirken, doch scheint anf der anderen Seite der Umstand aus-
schlaggebend zu sein, dass Fälle beobachtet werden, wo die Contrac-
tion der Ringmuskeln vergleichsweise schwächer entwickelt ist, als die
Zusammenziehung der Längsmuskeln beiderseits von dem mit der
Anode berührten Ringe, so dass dieser letztere sich nur in geringem
Maasse zusammenschnürt; gleichwohl nimmt die Höhe dieses Segmentes
nicht ab, während dies bei den Nachbarsegmenten in hohem Grade
der Fall ist. Jedes Mal aber lässt sich hier auch noch eine andere
Thatsache feststellen, welche für die Auffassung der anodischen Reiz-
erfolge von Bedeutung zu sein scheint.
Ist die Contraction der Ringmuskeln eine starke, so gewinnt es
den Anschein, als sei die Erregung an allen Stellen des Muskelringes
in annähernd gleicher Weise entwickelt, als habe sich, von der Anode
ausgehend, der Erregungs- beziehungsweise Contractionsvorgang nach
beiden Seiten hin von Querschnitt zu Querschnitt fortgepflanzt. Diese
Vorstellung scheint aus einer unbefangenen Betrachtung des Reiz-
erfolges sich unmittelbar zu ergeben. Ist jedoch die ringförmige Ein-
ziehung nicht eine maximale, so dass die von der Anode berührte
Stelle des Segmentes stets deutlich sichtbar bleibt, so lässt sich meist
ohne Schwierigkeit (besonders bei Lupenvergrösserung) erkennen, dass
an der Eintrittsstelle des Stromes selbst, sowie in deren
allernächster Umgebung nicht nur die Contraction der
Längs muskeln fehlt, sondern dass daselbst auch keine
irgend merkliche Zusammenziehung der Ring muskeln
erfolgt. Besonders deutlich lässt sich dieses erkennen, wenn durch
Verdunstung die Oberfläche des Wurmes etwas trocken und in Folge
davon auch minder elastisch geworden ist. Dann sieht man sehr
schön, wie durch Faltung der Epidermis an der Oberfläche des con-
trahirten Ringes zarte Querrunzeln entstehen, welche sich beiderseits
von der Elektrode sehr deutlich ausprägen, in der nächsten Umgebung
der anodischen Pinselspitze aber durchaus fehlen. Die letztere muSs
bei diesem Versuch nur eben feucht sein, um eine Benetzung der
Reizstelle zu vermeiden. Man kann sogar in jedem solchen
Falle eine direct erschlaffende (hemmende) Wirkung
der Anode nachweisen, Avenn man die Pinselspitze, während der
Strom geschlossen bleibt, nach einer Stelle desselben gereizten Seg-
mentes verschiebt, wo in Folge der Contraction bereits deutliche Quer-
runzeln ausgebildet sind. Sobald eine solche Stelle mit der Anode
berührt wird, sieht man, wie sich dieselbe sofort glättet, und hat ganz
den Eindruck, als ob ungeachtet der Contraction benachbarte Theile
des Muskelringes an der berührten Stelle selbst eine Erschlaffung
und Verlängerung einträte.
Gar nicht selten hat man Gelegenheit, dieses Ausbleiben der Con-
traction sowohl der Längs- wie der Ringmuskeln an der Anode selbst
dadurch noch deutlicher markirt zu sehen, dass sich um die Pinsel-
spitze herum eine kleine flache Delle oder Vertiefung bildet, deren
Entstehung sich leicht erklären lässt. Offenbar wird , wenn an zwei
sich rechtwinklig kreuzenden, etwa gleich breiten Muskelfaserzügen
an der Kreuzungsstelle keine Erregung erfolgt, während sich dagegen
die jenseits der Deckfläche gelegenen Arme des Kreuzes, und zwar
um so stärker verkürzen, je näher der betreffende Querschnitt der
Kreuzungsfläche liegt, eine von vier gleich grossen Wülsten umgrenzte
Vertiefung von quadratischer Form entstehen. Ohne dass nun die
208 Elekti'ische Reizung der Muskeln.
Erscheinung an dem gereizten Wurmsegmente wirklich in dieser
schmatischen Form sich zeigte, was ja schon durch die anatomischen
Verhältnisse ausgeschlossen ist, kann man doch oft genug sehen, dass
das mit der Anode berührte Segment an dieser Stelle eingezogen und
von etwas gewulsteten Rändern umgeben erscheint, welche letztere
theils auf die sich contrahirenden Theile des Ringmuskels an dem-
selben Segmente, theils auf die ebenfalls verkürzten Längsmuskeln der
nächst benachbarten Segmente zu beziehen sind.
Noch deutlicher lässt sich die ganze Erscheinung oft machen,
wenn man bei geschlossenem Strom mit der Pinselspitze wiederholt
leicht über zwei benachbarte Segmente senkrecht zur Faserrichtung
der Ringmuskeln hinstreift, da dann sowohl der unerregt bleibende
Flächenraum, wie auch das Gebiet der Contraction grösser werden
und sich daher schärfer von einander abheben.
Am überzeugendsten tritt übrigens die erwähnte local hemmende
Wirkung der Anode an solchen Stellen hervor, wo entweder die Längs-
oder die Ringmuskeln oder beide aus irgend welchem Grunde dauernd
contrahirt erscheinen. An dem direct berührten Segmente lässt sich
die örtliche Erschlaffung beider Fasersysteme dann immer sehr deut-
lich und in ganz unverkennbarer Weise wahrnehmen.
Nicht minder charakteristisch als an der Anode erscheinen bei
elektrischer Reizung des Hautmuskelschlauchs von Lumbricus auch
die an der Kathode bei der Schliessung hervortretenden Veränderungen.
Man könnte sich eigentlich begnügen, zu sagen, dass sie sich in gerade
gegentheiliger Weise äussern, doch dürfte es immerhin nicht über-
flüssig sein, etwas näher darauf einzugehen.
Richtet man seine Aufmerksamkeit bloss auf das mit der Elektrode
berührte Segment, so tritt der Gegensatz des anodischen und des
kathodischen Reizerfolges in auffallendster Weise hervor, und man
könnte sich — wenigstens bei nicht sehr aufmerksamer Untersuchung —
veranlasst sehen, den Sachverhalt einfach so auszudrücken, dass bei
Schliessung des Stromes an der Anode ausschliesslich die Ringmuskeln,
an der Kathode ausschliesslich die Längsmuskeln erregt werden.
Es wurde jedoch bereits gezeigt, dass die Verhältnisse bei ano-
discher Reizung keineswegs so einfache sind , und ebenso wenig ist
dies bei kathodischer Erregung der Fall. Darüber, dass die Längs-
muskeln des direct gereizten Segmentes erregt werden, kann aller-
dings nicht der geringste Zweifel bestehen, fraglich bleibt aber
aus gleich zu erörternden Gründen doch , ob nicht auch die Ring-
muskeln, wenigstens örtlich, an der Berührungsstelle selbst miterregt
werden. ,
Für eine genauere Untersuchung empfiehlt es sich zunächst, nicht
allzu starke Ströme zu verwenden, da die Beurtheilung sonst nicht
unwesentlich erschwert wird. Es sei auch hier wieder bemerkt, dass
die Resultate der bipolaren Reizung genau mit denen der monopolaren
übereinstimmen. Die auffälligste Veränderung ist, wie schon erwähnt,
die Verkürzung (Abnahme der Höhe) des betreffenden Körperringes.
Dieselbe macht sich jedoch in der Regel nicht in der ganzen Peripherie
gleichmässig geltend, sondern erscheint im Wesentlichen auf die nächste
Umgebung der Kathode beschränkt. Hier erscheint in Folge der Längs-
muskelcontraction das betreffende Segment wulstförmig gewölbt und
reliefartig zwischen den benachbarten Theilen hervortretend. Diese
Elektrische Keizung der Muskeln. 209
letzteren nehmen bei AnAvendung stärkerer Ströme ebenfalls und in
gleicher Weise an der Erregung Theil , so dass dann bei Schliessung
des Stromes durch die über mehrere Segmente sich erstreckende Längs-
muskelcontraction ein mehr oder weniger stark hervorspringender, im
Wesentlichen auf die direct gereizte Stelle beschränkter Wulst ent-
steht, der sich unter der Kathode selbst am steilsten erhebt und
beiderseits ziemlich rasch abfällt. Untersucht man bei geeigneter
Stromstärke das kathodische Erregungsgebiet mit der Lupe und achtet
besonders auf das Entstehen der Reizwirkung im Momente der Schliessung
an dem direct mit der Elektrode berührten Segmente, so ist es in der
Regel nicht schwer, sich mit voller Bestimmtheit davon zu überzeugen,
dass daselbst auch eine örtlich auf die kathodische
Stelle beschränkte Contraction der Ringmuskeln er-
folgt, die bei minder aufmerksamer Beobachtung nur deshalb un-
bemerkt bleibt, weil sie ihrer räumlichen Beschränktheit wegen zu
keiner merklichen Verkleinerung des Durchmessers des Muskelringes
führt. Diese Wirkung ist bei Anwendung nicht übermässig starker
Ströme auf das direct gereizte Segment beschränkt, und man sieht
in Folge dessen an der Berührungsstelle oft ganz deutlich eine stärkere
höckerförmige Hervorragung entstehen, welche ohne Zweifel auf die
sich deckende locale Contraction der Längs- und Ringmuskeln zurück-
zuführen ist. Für den sicheren Nachweis der letzteren ist der Um-
stand von wesentlicher Bedeutung, dass am Hautmuskelschlauch die
Ringmuskelschicht umgekehrt wie am Darme der Wlrbelthiere nach
aussen gelegen und daher der Beobachtung direct zugänglich ist.
Andernfalls würde es schwer sein, über die Veränderungen der Ring-
muskeln, insbesondere bei kathodischer Reizung, sicheren Aufschluss
zu erhalten (Fürst, 30).
Im Vorstehenden wurden bisher nur die Erscheinungen der
Schliessungserregung näher berücksichtigt. Es erübrigt, nun noch
einige Worte über die bei Oeffnung des Stromkreises hervortretenden
polaren Veränderungen zu sagen. Wie fast immer, so lässt sich auch
hier constatiren, dass zur Auslösung wirksamer Oeffnungserregung im
Allgemeinen stärkere Ströme und eine längere Schliessungsdauer er-
forderlich sind. Dass auch individuelle Verschiedenheiten der Erreg-
barkeit der Präparate wesentlich mit in Betracht kommen, bedarf
kaum besonderer Erwähnung. Im Allgemeinen sind jedoch die Oeff-
nungsreizerfolge — wenigstens bei Lumbricus — niemals so scharf
ausgeprägt wie die Folgewirkungen der Schliessung des Stromes.
Am sichersten lässt sich noch das Auftreten einer der ano-
dischen Schliessungswirkung ähnlichen Ringmuskel-
contraction an dem vorher kathodisch gereizten Seg-
ment bei Oeffnung des Kreises feststellen; doch gelingt es
kaum, mit W)ller Sicherheit zu entscheiden, ob sich auch in diesem
Falle wie bei der anodischen Schliessungsreizung die Contraction zu
beiden Seiten einer erschlafften Stelle ausbreitet. Noch schwieriger
lässt sich über die Art der Betheiligung der Längsmuskeln bei der
Oeffnungswirkung Aufschluss erlangen, welche unter Umständen nach
starker anodischer Reizung eines Segmentes eintritt. Es ist dies hier
zum Theil mit bedingt durch die verhältnissmässig langsame Aus-
gleichung des Schliessungsreizerfolges, wodurch — wenigstens zeit-
weise — so zu sagen eine Uebereinanderlagerung der, wie man wohl
annehmen darf, antagonistischen Folgewirkungen der Schliessung und
Biedermann, Elektrophysiologie. 14
210 Elektrische Reizung der Muskeln.
Oeffnung des Stromes eintritt, was wieder die Beurtlieilung des Sach-
verhaltes Avesentlich erschwert.
Ebenso charakteristisch, wie am Hautmuskelschlauch des Regen-
wurmes, gestalten sich die Erfolge der elektrischen Reizung auch am
Blutegel und besonders schön bei Aren icola (29). Auch hier sind
die am meisten hervortretenden Erscheinungen bei der Schliessung des
Stromes einerseits (an der Anode) die Contraction der Ringmuskeln
des direct mit der Elektrode berührten Segmentes, andererseits (an
der Kathode) die starke Verkürzung desselben in Folge der Contraction
der Längsmuskeln. Der geringe Abstand der den Wurmkörper um-
greifenden Querfurchen bedingt es, dass beim Egel insbesondere der
kathodische Reizerfolg sich über eine grössere Anzahl von Segmenten
erstreckt, während an einem langen Körperring, wie beispielsweise
gerade am Vorderende von Lumbricus die kathodische Contraction
der Längsmuskeln, wenigstens bei schwacher Reizung, oft nur seg-
mental entwickelt erscheint. Die platte Körperform des Egels lässt
ferner die locale Beschränktheit des kathodisehen Reizerfolges auf die
gereizte Rückenfläche des Wurmes besonders deutlich hervortreten.
Niemals sieht man auch hier eine wellenförmige Fortpflanzung der
Contraction über grössere Abschnitte des Wurmleibes. Vielmehr bleibt
dieselbe in der bei der Schliessung vorhandenen Ausdehnung während
der ganzen Schliessungsdauer bestehen, und es gilt dies in gleicher
Weise für die anodische Ring- wie für die kathodische Längsmuskel-
contraction. Dass die letztere auch bei dem Egel nicht allein vor-
handen, sondern von einer gleichzeitigen örtlichen Verkürzung der
Ringniuskeln an der Berührungsstelle der Elektrode begleitet ist, lässt
sich in jedem Falle mit Sicherheit erkennen. Es entsteht in Folge der-
selben gerade unter der Pinselspitze ein kleiner, aber deutlicher, quer
zur Faserung der Ringmuskeln verlaufender Wulst, welcher der durch
die Contraction der Längsmuskeln erzeugten Verdickung gewisser-
maassen aufgesetzt erscheint. Zu beiden Seiten des kleinen, ziemlich
scharf begrenzten Ringmuskelwulstes lässt sich an demselben Ring-
faserzuge keine Spur von Erregungserscheinungen erkennen. Wenn
bereits vor der Schliessung eine merkliche („tonische") Contraction
daselbst bestand, so sieht man dieselbe allerdings an der Austi-ittsstelle
selbst zu jenem localen Wulst sich steigern. Zu beiden Seiten des-
selben macht sich dann jedoch ganz deutlich eine Erschlaffung der
Ringmuskeln geltend, so dass bisweilen die seitlichen Theile des be-
treffenden Segmentes sich convex fast blasenförmig nach aussen wölben,
wodurch eine ganz eigenthümliche , ziemlich complicirte Gestaltsver-
änderung des Hautmuskelschlauchs in der Umgebung der Elektrode
herbeigeführt wird. Auch der durch die örtliche Zusammenziehung
der Längsmuskeln bedingte Wulst erscheint, obschon er sich, wie er-
wähnt, stets über mehrere Körpersegmente erstreckt, nach beiden
Seiten hin ziemlich scharf begrenzt (Fürst, 1. c).
Bei Oeffnung des Stromkreises gleichen sich die geschilderten
Veränderungen entweder einfach aus, oder es macht sich (bei stärkeren
Strömen und längerer Schliessungsdauer) eine Oeffnungserregung in
ähnlicher Weise geltend wie beim Regenwurm , indem eine über
grössere Abschnitte des vorher gereizten Segmentes sich erstreckende
Verkürzung der Ringmuskeln zu einer mehr oder weniger starken
segmentalen Einschnürung führt, eine Veränderung, deren Aehnlich-
keit mit dem Erfolg der anodischen Schliessungsreizung sofort in die
Elektrische Eeizung der Muskeln. 211
Augen springt, obschon es schwer ist, eine vollkommene Ueberein-
stimmung in beiden Fällen nachzuweisen. Während bei Berührung-
beliebiger Punkte der Oberfläche des Hautmuskelschlauchs von Hirudo
mit der Kathode in Folge der gleichzeitigen Verkürzung der Längs-
und Ringmuskeln so zu sagen ein Herandrängen der Muskelsubstanz
nach der Austrittsstelle des Stromes von allen Seiten her erfolgt,
beobachtet man bei der anodischen Reizung ein gerade gegentheiliges
Verhalten. Fast deutlicher noch als bei Lumbricus sieht man bei
Hirudo im Momente der Schliessung das mit der Anode berührte Seg-
ment an der Berührungsstelle selbst unerregt bleiben oder, wenn ein
merklicher Tonus vorhanden war, erschlaffen. Für die Contraction
beziehungsweise Erschlaffung der Ringmuskeln hat man in diesem
Falle ein gutes Merkzeichen in dem gegenseitigen Abstände der zarten
Querlinien der Haut, durch welche jedes Segment senkrecht zur Faser-
richtung der Ringmuskeln parallel gestreift erscheint. Bei jeder Ver-
kürzung der Ringmuskeln nähern sich an den verkürzten Stellen diese
Querstreifen, bei jeder Verlängerung wird ihr Abstand grösser. Das
letztere ist nun in ganz unverkennbarer Weise bei Schliessung des
Stromes in der nächsten Umgebung der anodischen Pinselspitze der
Fall, während weiterhin eine starke Contraction und in Folge dessen
eine ringförmige Einziehung des betreffenden Segmentes erfolgt.
Dasselbe gilt nun an gleicher Stelle auch von den Längsmuskeln.
Auch diese bleiben an der Elektrode selbst unverkürzt, die Höhe des
Segmentes ändert sich nicht. Dagegen macht sich, wie am Regen-
wurm, beiderseits von der ringförmigen Einschnürung eine je nach
der Stromstärke mehr oder weniger ausgebreitete Contraction der
Längsmuskeln an den betreffenden Segmenten geltend, welche am
stärksten in unmittelbarer Nähe des mit der Anode berührten Körper-
ringes entwickelt nach aussen hin allmählich abnimmt.
Alle im Vorstehenden mitgetheilten Thatsachen weisen überein-
stimmend darauf hin, dass sogenannte glatte Muskeln sehr verschiede-
ner wirbelloser Thiere in Bezug auf ihr Verhalten bei elektrischer Rei-
zung eine sehr weitgehende, man könnte wohl sagen vollständige Ueber-
einstimmung darbieten. Im Allgemeinen erweist sicli auch hier das
polare Erregungsgesetz als geltend, obschon gewisse Erscheinungen
hervortreten, für welche, wie es zunächst scheint, am quergestreiften
Muskel alle Analogien fehlen. Als durchgreifende Regel gilt vor Allem
wieder der Satz , dass bei Schliessung eines genügend
starken Stromes an der physiologischen Kathode Er-
regung und Contraction erfolgt. Dort, wo es zunächst
den Anschein hatte, als handle es sich um eine Ausnahme von dieser
Regel (wie insbesondere an den Ringfasern des Hautmuskelschlauches
der Würmer), lässt sich nichtsdestoweniger bei genauerer Prüfung die
Geltung des erwähnten Gesetzes nachweisen. Als besonders bemerkens-
werth muss hierbei der Umstand erwähnt werden, dass die katho-
dische Schliessungserregung in allen Fällen nur auf die
Austrittsstelle des Stromes und deren nächste Umgebung
in Form eines localen „idiomuskulären" Wulstes
(Schliessungsdauercontraction) beschränkt bleibt. Nie-
mals ist eine wellenförmige Fortpflanzung der Contraction zu be-
merken.
In Uebereinstimmung mit dem polaren Erregungsgesetz steht
ferner auch die weitere Thatsache, dass bei Schliessung des
14*
212 Elektrische Reizung der Muskeln.
Stromes Örtlich an der Anode keine Erregung, wohl
aber Hemmung eines bereits bestehenden Erregungs-
zustandes eintritt, während dagegen an gleicher Stelle
unter Umständen Oeffnungserregung erfolgt. Wenn dem
ungeachtet bei monopolarer anodischer Reizung fast stets eine oft sehr
starke Gesammtverkürzung der Muskelzüge eintritt, so konnte nach-
gewiesen werden, dass die zu Grunde Hegende Erregung bei Schlies-
sung des Stromes nicht von der Anode selbst ausgeht, sondern viel-
mehr in der Umgebung derselben in einer noch näher zu er-
örternden Weise entsteht. Hierauf muss bei elektrischer Reizung des
Hautmuskelschlauches der Würmer die auf den ersten Blick so auf-
fallende Thatsache bezogen werden, dass bei Schliessung des Stromes
an der Anode eine unter Umständen maximale Einschnürung des direct
berührten Segmentes erfolgt, und in gleicher Weise erklärt sich die
starke Verkürzung der E c h i n u s - und H o 1 o t h u r i e n m u s k e 1 n bei
monopolarer anodischer Reizung, sowie das nicht minder auffallende
Zerreissen der ersteren an der Eintrittsstelle des Stromes.
Von dem gewonnenen Standpunkte aus lassen sich nun auch die
auf den ersten Blick so sehr überraschenden und scheinbar sehr ab-
weichenden Reizerfolge am Darm der Wirbelthiere leicht und be-
friedigend erklären (31). Berührt man bei genügender Intensität des
Reizstromes eine beliebige Stelle der Oberfläche einer ruhig daliegenden
Dünndarmschlinge irgend eines Säugethieres mit der anodischen Pinsel-
spitze, während sich die Kathode wieder an einer indifferenten Körper-
steile (Leber, Magen etc.) befindet, so sieht man ganz ähnlich wie beim
Hautmuskelschlauch der Würmer sofort eine ringförmige Einschnürung
entstehen, welche unter Umständen zum völligen Verschluss des Darm-
rohres an der betreffenden Stelle führen kann. Diese Contraction
bleibt während der Dauer der Schliessung bestehen, vorausgesetzt,
dass sich die letztere nicht über eine allzu lange Zeit erstreckt, und
gleicht sich nach Oeffnung des Stromes ziemlich rasch wieder aus.
Besonders schön lässt sich dieser Erfolg der Reizung an Darmschlingen
beobachten, welche entweder durch flüssigen oder gasförmigen Inhalt
massig ausgedeKnt sind. Solange der blossgelegte Darm noch wenig
abgekühlt und daher noch sehr erregbar ist, pflegen bei Schliessung
des Stromes neben der localen Contraction der Ringmuskeln an der
Anode auch mehr oder minder deutliche peristaltische, beziehungsweise
antiperistaltische Bewegungen in der Umgebung der direct gereizten
Stelle aufzutreten, von denen sich in diesem Falle kaum mit Sicher-
heit sagen lässt, ob sie direct durch Stromzweige verursacht oder von
dem primären Reizorte aus fortgeleitet sind. Es wird später noch zu er-
wähnen sein, dass die Anode unter Umständen in der That der Ausgangs-
punkt peristaltisch nach beiden Seiten hin fortschreitender Contractionen
werden kann, während in anderen Fällen eine bloss locale Einschnürung
hervortritt. Verschiedene Abschnitte des Darmes verhalten sich in
dieser Beziehung ganz gleichartig und machen sich höchstens grad-
weise Unterschiede bemerkbar, die durch die verschiedene Entwicklung
der Ringmuskelschicht bedingt sind. So kommt es an den dünn-
wandigen und gewöhnlich stark gefüllten Colon der Pflanzenfresser
meist nicht zu einer die ganze Peripherie umgreifenden Einschnürung,
sondern nur zur Bildung mehr oder weniger tiefer segmentaler Furchen.
Ganz wesentlich verschieden gestaltet sich der Erfolg nach Wen-
dung des Stromes bei kathodischer Reizung des Darmes. Wenn
Elektrische Reizung der Muskelu. 213
Schillbach, Avelcher zuerst die Folgeerscheinungen der elektrischen
Reizung des Darmes näher untersuchte, in diesem Falle kurzweg von
einer localen Contraction spricht und den Unterschied in der Wirkungs-
weise beider Elektroden im Wesentlichen nur darin erblickt, dass „an
der Anode peristaltische Wellen besonders in aufsteigender Richtung",
an der Kathode dagegen meist locale Contractionen hervortreten, so
kann man dem nicht ganz beistimmen. Denn einerseits ist das
Auftreten einer nur auf den Ort der directen Reizung be-
schränkten Contraction auch an der Anode ein überaus häufiger
Befund, und auf der anderen Seite muss hervorgehoben werden,
dass die sichtbaren Erregungserscheinungen an Stelle
der Kathode immer einen von dem Reizerfolg an der
Anode ganz wesentlich verschiedenen Charakter zeigen.
Während die ganz typische, ringförmige Einschnürung an der Anode
niemals fehlt und sowohl am Dünndarm wie auch am Colon oder
Rectum in gleicher Weise hervortritt, sind die Erregungserschei-
nungen an der Kathode sowohl bei verschiedenen Thierspecies,
wie auch an verschiedenen Darmabschnitten eines und desselben
Thieres in sehr wechselndem Grade entwickelt. Bei Kaninchen,
Meerschweinchen, Mäusen sieht man bei Schliessung eines Stromes,
der an der Anode eine vollkommene Zuschnürung des Darmrohres
bewirkt, an der Berührungsstelle der Kathode eine kaum merkliche
Veränderung eintreten, und nur bei genauerem Zusehen erkennt man,
dass sich daselbst eine schmale leistenförmige Verdickung bildet, welcher
zugleich in der nächsten Umgebung eine flache, dellenartige Einziehung
der Oberfläche entspricht. Diese an der Austrittsstelle des Stromes
am Dünndarm von Kaninchen oder Meerschweinchen nur angedeutete
Längsleiste tritt am Katzen- oder Hundedarm stets als eine kamm-
artig hervorspringende, der Längsaxe des Darmrohres parallel laufende
Verdickung hervor, welche nach Art einer Narbe zu einer Verziehung
der nächsten Umgebung führt, wodurch an der betreff'enden Seite der
Darmwand eine flache, dellenförmige Vertiefung entsteht, aus deren
Mitte sich die erwähnte Leiste erhebt. Auch diese Veränderungen
bleiben während der Schliessungsdauer des Stromes bestehen und
gleichen sich erst nach der Oefiiiung des Kreises mehr oder weniger
rasch aus. Sehr interessant gestalten sich ferner die polaren Erregungs-
erscheinungen an den verschiedenen Abschnitten des Colon der Pflanzen-
fresser, wo die anatomische Anordnung der Muskelschichten in unver-
kennbarer Weise an die bei den Holothurien gegebenen Verhält-
nisse erinnert. In beiden Fällen bilden die beim Darm aussen ge-
legenen Längsmuskeln keine zusammenhängende Schichte, sondern sind
ausschliesslich (Holothurien) oder doch vorwiegend (Dickdarm) auf ein-
zelne bandförmige Streifen (Tänien) zusammengedrängt, zwischen denen
die Ringmuskulatur zu Tage tritt. Tritt nun ein elektrischer Strom
an irgend einem Punkte einer solchen Tänie aus, so entsteht eine
sehr deutliche locale Dauercontraction, welche ausbleibt, wenn der
Strom an gleicher Stelle eintritt; dagegen erfolgt dann in der Regel
eine segmentale Einschnürung der Darmwand, die auf eine Erregung
der Ringmuskeln zu beziehen ist. Befindet sich die Anode an irgend
einer Stelle der Oberfläche eines Haustrums selber, so tritt die zuletzt
erwähnte Folgewirkung der Reizung nur um so deutlicher hervor.
Tritt dagegen der Strom an der Oberfläche eines Haustrums aus, so
entsteht daselbst ein narbenähnlicher, senkrecht zur Faserrichtung ver-
214 Elektrische Eeizung der Muskeln.
laufender, schmaler Wulst, der auf die nächste Umgebung
der Kathode beschränkt bleibt und, wie sich besonders
bei Lupenvergrösserung erkennen lässt, im Wesent-
lichen nur durch eine localeDauercontraction der Ring-
muskelfasern bedingt wird. Die Erscheinung ist sonach durch-
aus analog dem kleinen, scharf begrenzten Querwulst bei kathodischer
Reizung der Holothurienringmuskeln. Minder klar tritt be-
greiflicher Weise diese locale Erregung der Ringmuskeln des Darmes
an der Kathode in allen jenen Fällen hervor, wo eine Längsmuskel-
schicht von erheblicher Dicke vorhanden ist. Doch darf man wohl
die eigenthümliche, dellenförmige Einziehung der Oberfläche des Dünn-
darmes, aus deren Mitte sich der narbenähnliche Wulst erhebt, zum
Theil mit auf eine locale kathodische Erregung der durch die Längs-
fasern gedeckten Ringmuskeln beziehen. Und ebenso scheint das sehnen-
artige Vorspringen einer Dickdarmtänie bei kathodischer Reizung
durch die Entstehung eines localen Ringmuskelwulstes mitbedingt zu
sein. Erinnert man sich jenes eigenthümlichen und ganz charak-
teristischen Verhaltens der Ringmuskeln der Holothurien bei
anodischer Reizung, sowie der entsprechenden Erregungserschei-
nungen am Hautmuskelschlauch der Würmer, so dürfte kaum ein
Zweifel bestehen können, dass auch die ringförmige oder segmentale
Einschnürung der Darmwand an der Anode in gleicher Weise zu
Stande kommt. Freilich sind die Verhältnisse hier bei Weitem
nicht so klar und leicht zu erkennen wie dort, am allerwenigsten
aber wieder am Dünndarm, Viel eher erscheint hierzu noch
der stark gefüllte Dickdarm der Pflanzenfresser geeignet. Hier ist
bei schwächeren Strömen die Contraction an der Anode keine voll-
ständig umgreifende, und man sieht dann unter Umständen sehr deut-
lich, besonders wenn die Oberfläche des Darmes etwas trocken ge-
worden ist, wie bei Schliessung des Kreises die nächste Umgebung
der Anode glatt bleibt, während sich beiderseits davon in Folge der
Zusammenziehung der Ringmuskeln zahlreiche Runzeln bilden. Auch
die Längsmuskelzüge der Tänien bleiben keineswegs unerregt, wenn
die Anode irgendwo im Verlauf derselben angelegt wird; doch sind
die Folgewirkungen hier leichter zu übersehen. Wieder bleibt die
nächste Umgebung der Anode unen-egt, während in der Umgebung
Contraction erfolgt. Am Dünndarm, wo die anatomischen Verhältnisse in
Bezug auf die elektrische Reizung noch ungünstiger sind, als am Haut-
muskelschlauch der Würmer, sind dem entsprechend die eben geschil-
derten Erregungserscheinungen sehr schwer im Einzelnen zu analysiren,
und bleiben als deutlich hervortretende Erfolge eigentlich nur die
starke und ausgebreitete Schliessungscontraction der Ringmuskeln an
der Anode, sowie die locale Verkürzung der Längsfasern an der Ka-
thode erkennbar. Es kann aber nicht bezweifelt werden, dass ersteren-
falls auch die Längsmuskeln, letzteren falls (wenigstens bei stärkeren
Strömen) auch die Ringmuskeln gleichzeitig und in gleicher Weise
miterregt werden (29).
An die zuletzt besprochenen Erfahrungen am Danne der Warm-
blüter reihen sich naturgemäss die Resultate einer ausgedehnten Ex-
perimentaluntersuchung von Engelmann über die elektrische Er-
regung des Ureter an (5). Es ist begreiflich, dass mit Rücksicht
auf die geringe Grösse dieses, Ring- und Längsmuskeln in analoger
Anordnung wie der Darm enthaltenden Rohres, feinere Details der
Elektrische Eeizung der Muskeln. 215
Gestaltveränderungen beider Muskelhäute an den Polen das Reiz-
stromes sieh hier viel schwerer werden erkennen lassen , als in den
bisher besprochenen Fällen. Dazu kommt noch, dass eine Erscheinung,
welche beim Darm nur ausnahmsweise beobachtet wird, beim Ureter
beherrschend in den Vordergrund tritt, nämlich die peristaltische Fort-
leitung des Erregungs- beziehungsweise Contractionsvorganges vom
Orte der Entstehung aus. Schon Schillbach (32) giebt an, dass
bei Reizung des Darmes mit dem Kettenstrome „an der Kathode nur
eine an dem Ort der Reizung beschränkt bleibende Contraction sich
bildete", während an der Anode eine locale Contraction auftrat, die
sich wenige Sekunden später in eine intensive peristaltische Contraction
nach auf- und abwärts umwandelte. An ausgeschnittenen, überleben-
den (erwärmten) Darmstücken habe ich selbst ebenfalls oft das
peristaltische resp. antiperistaltische Fortschreiten der an der Anode
ausgelösten Contraction der Ringmuskeln beobachtet. Wie aber
überhaupt die Fortleitung einer örtlich gesetzten Erregung in der
Darmmuscularis von verschiedenen, vorläufig nicht genauer festgestell-
ten Momenten abhängt, so gilt dasselbe auch hinsichtlich der polaren
Reizwirkungen. Es scheint einerseits eine hohe Erregbarkeit der reiz-
baren Theile erforderlich zu sein, w^ährend andererseits wieder der im
Darm selbst gelegene Nervenmechanismus bei dem Zustandekommen
fortschreitender Contraction eine ganz wesentliche Rolle spielen dürfte.
Die Mehrzahl der Autoren neigt sich überhaupt der Ansicht zu, dass
sowohl die normale, wie jede durch künstliche Reizung auszulösende
Peristaltik stets und nur durch das Darmnervensystem vermittelt wird
(Nothnagel, L ü d e r i t z 33). Ohne in dieser Frage, welche bereits
früher berührt wurde, bestimmte Stellung zu nehmen, sollte hier nur
auf die Möglichkeit der Fortleitung der an den Polen des Ketten-
stromes ausgelösten Erregungswirkungen hingewiesen werden. Bei
Anwendung starker Ströme beobachtete dies Lüderitz sowohl vom
positiven wie vom negativen Pole aus; doch schien die Kathode
stärker zu wirken als die Anode. „Beim Kaninchen und Meerschwein-
chen stellt diese Wirkung in ausgeprägten Fällen sich dar als eine,
mehrere Centimeter weit je auf- und abwärts von der Elektrode ein-
tretende Contraction der Längsmuskellage des Darmes, der eine aus-
schliesslich oder vorwiegend pyloruswärts verlaufende Contraction der
Ringmuskellage sich anschliesst: bei der Katze tritt eine entweder
auf- und abwärts gleichweit oder pyloruswärts weiter sich erstreckende
Contraction der Ringmuskeln auf" (33. p. 14).
Diesen sehr wechselnden und in ihrer Deutung noch unsicheren
Befunden gegenüber zeichnen sich die Folgewirkungen der elek-
trischen Reizung des Ureter ebenso sehr durch die Sicherheit ihres
Eintretens, wie durch ihre grosse Regelmässigkeit aus. Die grund-
legenden Untersuchungen von Engelmann haben ergeben, dass, ab-
gesehen von der Langsamkeit aller Reactionen, hinsichtlich der polaren
Erregungserscheinungen eine vollkommene Uebereinstimmung zwischen
dem Ureter und quergestreiften Stammesmuskeln besteht, so dass diese
Beobachtungen geradezu mit die wichtigste Stütze für die Annahme
der unumschränkten Gültigkeit des polaren Erregungsgesetzes bilden.
Um so mehr muss auf den ersten Blick die Thatsache überraschen,
dass, so lange sich nur der Ureter in situ befindet, der Erfolg der
elektrischen Reizung mit dem Kettenstrome sich gerade entgegen-
gesetzt gestaltet, als es nach Engelmann's Untersuchungen zu er-
216 Elektrische Reizung der Muskeln.
warten war. Legte Engelmann unpolarisirbare Elektroden an zwei
Punkten in der Continuität des mit möglichster Schonung und unter
Vermeidung erheblicher Abkühlung völlig frei p r ä p a r i r t e n Ureter
vom Kaninchen an, so schnürte sich bei Schliessung eines Ketten-
stromes nach einem kürzeren oder längeren, immer jedoch unmittelbar
merklichen Latenzstadium das Muskelrohr an der von der Kathode
berührten Stelle zusammen, während zur selben Zeit noch innerhalb
der ganzen intrapolaren Strecke, sowie an der Anode Ruhe herrscht.
Unmittelbar darauf sieht man dann eine Contractions welle ganz
wie nach örtlicher mechanischer Reizung von der Kathode ablaufen,
und zwar ebensowohl in peristaltischer wie antiperistaltischer Richtung.
Wie die Schliessungserregung von der Kathode, so sah Engelmann
die Oeffnungserregung ausschliesslich von der Anode ausgehen; die
Zusammenziehung fängt stets genau an der Stelle an, wo vorher der
Strom aus der Elektrode in den Ureter eintrat, nie gleichzeitig in einem
grösseren Stück der durchflossenen Strecke. Wie beim quergestreiften
Muskel bildet auch hier die Oeffnung eines Kettenstromes im Allge-
meinen einen schwächeren Reiz als die Schliessung, so dass es einer
grösseren Stromesintensität und insbesondere einer längeren
Schliessungsdauer bedarf, um einen sichtbaren Erfolg zu er-
zielen. Inducirte Ströme wirken nach Engelmann genau so wie
Kettenströme von sehr kurzer Dauer (Stromstösse), d. h. im Allge-
meinen nur als Schliessungsreize, wobei die Erregung von der Ka-
thode ausgeht. Nur bei sehr hoher Erregbarkeit und Strömen von
bedeutender Intensität scheint die Contraction unter Umständen an
beiden Polen gleichzeitig zu beginnen.
Legt man jedoch bei einem Meerschweinchen oder Kaninchen die
beiden Elektroden nach Beiseiteschieben der Eingeweide an zwei ver-
schiedenen Stellen in der Continuität des in situ befindlichen Ureter
an oder berührt nur mit der einen Elektrode nach einander beliebige
Stellen desselben, während die andere an irgend einen indifferenten
Punkt des Thieres angelegt wird, so sieht man die Schliessungserre-
gung stets von der Anode ausgehen. Niemals lässt sich
unter diesen Umständen kathodische Schliessungs-
oder anodische Oeffnungserregung wahrnehmen.
Von den schwächsten, wirksamen Strömen angefangen bis zu den
stärksten, die man berechtigter Weise anwenden kann, sowie im All-
gemeinen auch unabhängig von der Lage der Elektroden und der
Richtung des Stromes schnürt sich der Ureter bei Schliessung des
Kreises stets zuerst an der Anode zusammen, worauf sich die Welle
ganz in der von Engelmann geschilderten Weise in der Regel nach
beiden Seiten hin fortpflanzt. Dasselbe gilt bezüglich der Oeffnungs-
erregung, welche bei Anwendung genügend starker Ströme nach längerer
Schliessungsdauer an der Kathode entsteht. Die Art der Con-
traction lässt es nicht zweifelhaft erscheinen, dass es sich in beiden
Fällen um eine gleichzeitige Erregung der Ring- und Längsmuskeln
handelt. Die Kleinheit des Objectes macht es dagegen schwierig, mit
Sicherheit zu entscheiden, ob die Schliessungscontraction wirklich
von der Berührungsstelle der anodischen Pinselspitze mit dem
Ureter ausgeht und ob andererseits eine locale Dauercontraction an
der Kathode vorhanden ist. Das letztere lässt sich nun in der That
mittels der Lupe feststellen , so dass es kaum zu bezweifeln sein
dürfte, dass man es bei den polaren Reizerfolgen an dem in situ
Elektrische Reizung der Muskeln. 217
befindlichen Ureter mit Erscheinungen zu thun hat, welche eine
vollkommene Analogie bilden zu den entsprechenden Reizerfolgen
am Darm.
Der auffallende Gegensatz der Befunde Engelmann's und der
Erfahrungen an dem in situ befindlichen Organ legt sofort den Ge-
danken nahe, dass die scheinbare Umkehr der Polwirkungen im Wesent-
lichen nur auf der Verschiedenheit der physikalischen Bedingungen,
insbesondere der Stromvertheilung beruht. Versuche, welche in
dieser Richtung angestellt wurden, haben die Richtigkeit dieser Ver-
muthung durchaus bestätigt und sind zugleich geeignet, den Schlüssel
zu liefern zur Erklärung der in der Umgebung der Anode an vielen
anderen glattmuskeligen Theilen auftretenden Erregungserscheinungen,
von denen oben ausführlich die Rede war.
Da der ausgeschnittene Ureter von Säugethieren selbst nach
Stunden wieder vollkommen reizbar wird, wenn man ihn auf Körper-
temperatur erwärmt, so lassen sich an demselben unter verschiedenen
Bedingungen leicht Reizversuche anstellen. Bringt man ein solches
Präparat auf eine mit physiologischer Kochsalzlösung benetzte, oder
noch besser mit einem schmalen Streifen feuchten Fliesspapiers be-
legte, von unten her auf etwa 38 — 40*^ erwärmte Glasplatte, so
Fig. 91.
stimmen, wenn die Elektroden irgendwo in der Continuität angelegt
werden, die Erregungserscheinungen in Bezug auf ihre Localisation
stets mit den Befunden Engelmann's am freipräparirten Ureter
des lebenden Thieres überein. Mit aller nur wünschenswerthen Deut-
lichkeit sieht man, wie immer auch die Elektroden angelegt werden,
den schlaft^ auf der Unterlage liegenden Ureter im Augenblick der
Schliessung an Stelle der Kathode sich zusammenschnüren, wor-
auf die Contraction wellenförmig entweder nur in einer oder in
beiden Richtungen fortschreitet. Genau dasselbe erfolgt bei An-
Avendung stärkerer Ströme und längerer Schliessungsdauer an der
Anode im Momente der Oeffnung des Reizkreises. Bettet man nun,
ohne an der sonstigen Versuchsanordnung etwas zu ändern, den aus-
geschnittenen Ureter auf einen dicken Bausch aus mehrfach zusammen-
gelegtem Fliesspapier oder auf einen entsprechend erwärmten Block
aus Kochsalzthon, so zeigt sich sowohl bei bipolarer wie bei mono-
polarer Reizung ebenso regelmässig ein entgegengesetztes Verhalten,
indem, wie an dem frischen in situ befindlichen Organ, die Schliessungs-
erregung an der Anode, die Oeffnungserregung an der Kathode zu er-
folgen scheint. Es ist klar, dass dies nur aus der Verschiedenheit der
Stromvertheilung erklärt werden kann. Befindet sich das dünne Muskel-
rohr des Ureter frei in der Luft ausgespannt oder auf einer nichtleiten-
den Unterlage, so wird sich die Stromvertheilung etwa in der Weise
gestalten, wie dies in der beistehenden Figur (Fig. 91) nach Engel-
218 Elektrische Reizung der Muskeln.
mann dargestellt ist. Man sieht, dass auch, wenn die Schliessungs-
erregung nur an den Austrittsstellen des Stromes aus der Muskelhaut
zu Stande kommt (die letztere ist in der Figur schrafürt), dasselbe
doch auch in der Nähe der positiven Elektrode der Fall sein könnte
und eigentlich müsste, „Verfolgt man die in der Figur gezeichneten,
von E+ (der Anode) ausgehenden Stromzweige, so bemerkt man,
dass ein Theil derselben an den Punkten E'^, E^, E^ etc. aus der
Muskelhaut austritt. Diese Punkte (secundäre Kathodenstellen) liegen
in unmittelbarer Nähe der positiven Elektrode, sind aber natürlich in
Bezug auf die Muskelsubstanz als negative Pole (physiologische Kathode)
aufzufassen. An ihnen müsste also Schliessungserregung eintreten." Dass
dies thatsächlich nicht geschieht, bezieht Engel mann theils auf die
Verschiedenheit der Stromdichte an der der Elektrode zugewendeten und
der davon abgekehrten Seite, anderntheils auf die Herabsetzung der Er-
i'egbarkeit und des Leitungsvermögens der contractilen Substanz in der
Gegend der positiven Elektrode, von der später noch näher zu handeln
Fig. 92.
sein wird. Eine viel weitere Ausbreitung der Stromfäden und daher
eine viel reichere Entwicklung secundärer Kathodenstellen in der Um-
gebung der Anode und umgekehrt secundär anodischer Stellen in
der Umgebung der Kathode wird aber immer dann gegeben sein,
wenn sich der Ureter noch in situ befindet oder auf einer massigen
leitenden Unterlage liegt (Fig. 92). Es wird dann unter sonst gün-
stigen Bedingungen bei Schliessung des Stromkreises an zahllosen
Stellen in der Umgebung der Anode (nicht an dieser selbst)
Erregung (Contraction) erfolgen, die sich entweder wellenförmig fort-
pflanzt (Ureter) oder als Dauercontraction localisirt bleibt. Umgekehrt
wird durch die Nachbarschaft secundär anodischer Stellen jede weitere
Ausbreitung der an der eigentlichen Kathode ausgelösten Schliessungs-
erregung verhindert.
Es bedarf kaum noch des besonderen Hinweises, dass dieselben
Betrachtungen auch in allen andern früher schon erwähnten Fällen
Berechtigung und Geltung haben müssen, wo, wie bei den Muskeln
der Holothurien und Echiniden, sowie am Hautmuskelschlauch
der Würmer und am Darm der Wirbelthiere, von vornherein und un-
vermeidlich die Bedingungen für eine weitere Ausbreitung der Strom-
fäden in der Umffebunff der berührenden Elektroden und daher auch
Elektrische Reizung der Muskeln. 219
für das Wirksam werden secundärer Elektrodenstellen gegeben sind.
Die beträchtliche Dicke aller dieser Theile bedingt es, dass die
Stromfäden auch bei bipolarer Reizung nicht, wie etwa beim frei-
präparirten Nerven oder Ureter, sich vorwiegend parallel der Längsaxe
des Organes zwischen den beiden von den Elektroden berührten Stellen
abgleichen, sondern es muss unter allen Umständen eine weitere Aus-
breitung und so zu sagen ein Ausstrahlen der Stromfäden in der Um-
gebung der Eintrittsstelle sowohl, wie der Austrittsstelle erfolgen.
Als wichtigstes und wesentliches Ergebniss der vorstehend be-
schriebenen Versuche an verschiedenen glattmuskeligen Theilen
stellt sich vor Allem die Thatsache heraus, dass in Ueberein-
stimmung mit dem polaren Erregungsgesetz, wie
es sich für den quergestreiften Muskel als geltend
zeigte, die Schliessungserregung ausnahmslos nur an
der physiologischen Kathode, d. i. den wirklichen Aus-
trittsstellen des Stromes aus der contractilen Sub-
stanz des Gesammtmuskels, ausgelöst wird, von wo sie
sich nur ausnahmsweise über weitere Strecken fort-
pflanzt; an der physiologischen Anode selbst tritt
dagegen niemals bei Schliessung des Stromkreises
Erregung ein, wohl aber macht sich im Falle des
Bestehens eines tonischen Contractionszu Standes an
der genannten Stelle eine locale Hemmung des be-
stehenden Erregungszustandes als eine mehr oder
weniger deutliche örtliche Erschla f f u ng des Muskel-
gewebes bemerkbar, worauf unter Umständen nach
Oeffnung des Stromes eine Contraction folgt, die in
Bezug auf Ausdehnung und Charakter vollkommen der
kathodischen Schliessungsdauer contraction gleicht.
Während nun diese letztere fast immer als ein ziem-
lich scharf begrenzter Wulst auftritt, macht sich zu
beiden Seiten der Anode eine oft über grössere
Strecken ausgedehnte Schliessungsdauer contraction
von ganz anderem Charakter bemerkbar, welche in
einzelnen Fällen (Darm, Hautmuskelschlauch der
Würmer, Ureter) den Anschein erweckt, als ob hier
die Schliessungserregung überhaupt nur oder doch
ganz vorwiegend von der Anode ausginge, eine An-
sicht, die in der That von Jofe hinsichtlich des Darmes
geäussert wurde (34).
Es fragt sich, ob etwas diesem Verhalten Analoges sich auch am
quergestreiften Stammesmuskel beobachten lässt. Es wird sich jedoch
empfehlen , vor Erörterung dieser Frage die hiermit in nahem Zu-
sammenhang stehenden und in vieler Beziehung sehr interessanten
polaren Reizwirkungen am Herzmuskel noch etwas näher, als es
bisher schon geschehen ist, ins Auge zu fassen (35). Da sich das
Herz in rhythmisch wechselnden Zuständen der Contraction und Er-
schlaffung befindet, so ist man hier in die Lage versetzt, die Wirkung
des Stromes in beiden Phasen vergleichend zu prüfen. Man bedient
sich hierbei am besten des möglichst langsam schlagenden Herzens
eines Kaltblüters, etwa eines recht stark abgekühlten grossen Frosches.
Setzt man dann zwei ganz fein zugespitzte Pinsel elektroden auf die
Oberfläche des Ventrikels an zwei möglichst von einander entfernten
220 Elektrische Eeizung der Muskelu.
Punkten und schliesst nun einen hinreichend starken Kettenstrom
dauernd, so beobachtet man eine höchst auffallende Erscheinung:
Bei jeder neuen systolischen Zusammenziehung entsteht während der
Schliessungsdauer des Stromes an der Anode eine locale Erschlaffung
des Ventrikels in Form einer dunkelrothen, blasenartigen Vorwölbung,
während an der Kathode keinerlei merkliche Veränderungen auftreten;
dagegen erschlafft nach Oeffnung des Stromkreises die kathodische
Stelle während einer oder mehrerer Systolen immer zuerst, und bietet
daher ein ganz ähnliches Bild dar, wie die Anode während der
Schliessungsdauer. Noch besser lassen sich diese Erscheinungen bei
Anwendung der monopolaren Reizmethode untersuchen, indem man die
eine unpolarisirbare Pinselelektrode an einer indifferenten Stelle (etwa
der Kehlhaut) ansetzt, während die andere fein zugespitzt einen be-
liebigen Punkt des Ventrikels der Art berührt, dass ohne starken Druck
die leitende Verbindung auch während der Bewegungen des Herzens in
keinem Augenblicke aufgehoben ist. Je nach Stärke und Richtung des
Stromes, und je nach dem Zustande, in welchem sich das Herzmuskel
im Momente der Reizung befindet, beobachtet man dann verschiedene
Wirkungen.
Tritt der Strom durch die den Ventrikel berührende
Elektrode ein und schliesstman im Beginne der Systole,
so sieht man als erste Wirkung schwacher Reizung
(1 Dan., Rheochordwider stand 20 und mehr) regel-
mässig eine Erschlaffung an der Berührungsstelle und
in deren nächster Umgebung eintreten, die sich bei jeder
neuen systolischen Zusammenziehung wiederholt, so lange der Strom
geschlossen bleibt. Mit wachsender Stromesintensität nimmt auch der
Grad und die Ausdehnung der Anfangs streng localen, sich dann nur
als kleiner rother Fleck von kaum 1 mm Durchmesser von der con-
trahirten , blassen Umgebung abhebenden Erschlaffung zu. Dieselbe
tritt immer deutlicher als bluterfüllte Ausbauchung der Muskelwand
des Ventrikels hervor und breitet sich nun verhältnissmässig rasch nach
allen Seiten über den Umfang der primär erschlafften Stelle aus. Wie
Schiff mit Rücksicht auf die ganz analogen Folgeerscheinungen
localer mechanischer Reizung richtig beschreibt, scheint es bisweilen,
als bliebe die diastolische Erschlaffung, wenn sie erst eine gewisse
Ausdehnung erreicht hat, „einen kurzen Moment" stehen, um sich
dann langsamer über die ganze Kammer zu verbreiten. P]benso deut-
lich habe ich jedoch in anderen Fällen, besonders an sehr stark ab-
gekühlten, langsam schlagenden Herzen, deren man sich überhaupt
mit Vortheil bei allen diesen Versuchen bedient, beobachten können,
dass von der primär erschlafften Stelle an der Anode die diastolische
Welle sich mit gleichmässiger Geschwindigkeit über den ganzen Ven-
trikel ausbreitet.
Genau dieselben Erscheinungen, welche man an dem
contrahirten Ventrikel bei Schliessung eines Ketten-
stromes an Stelle der Anode beobachtet, treten unmittel-
bar nach Oeffnung des Kreises an Stelle der Kathode
hervor.
Wenn man demnach bei derselben Versuchsanordnung wie vorher
den Strom wendet, ohne die Elektroden zu verschieben, so sieht man
bei genügender Intensität und Schliessungsdauer nach der Oeffnung
im Momente der stärksten systolischen Zusammenziehung die vorher
Elektrische Keizung der Muskeln. 221
anodische, nunmehr kathodische Stelle des Ventrikels immer zuerst
erschlaffen. Wieder wächst die Ausbreitung der ursprünglich localen
Diastole mit der Stromstärke, aber es kommt hier noch ein zweites,
nicht minder wichtiges Moment in Betracht, nämlich die Schliessungs-
dauer des Reizstromes. Bis zu einem gewissen Grade kann man daher
die Wirkung stärkerer Ströme durch ein längeres Geschlossenbleiben
schwächerer ersetzen. Immer jedoch bedarf es von vornherein stär-
kerer Ströme, um die kathodische Oeffnungserschlaffung mit gleicher
Deutlichkeit hervortreten zu sehen, wie die anodische Schliessungs-
erschlaffung.
Man kann die vorstehend geschilderten polaren Erschlaffungs-
erscheinungen an dem systolisch contrahirten Ventrikel des Frosch-
herzens in sehr zierlicher und instructiver Weise zur Anschauung
bringen, wenn man beide, fein zugespitzte Faden- oder Pinselelek-
troden an zwei von einander möglichst entfernten Punkten der Ven-
trikeloberfläche in Längs- oder Querrichtung aufsetzt und einen nicht
zu schwachen Strom während einiger Zeit geschlossen lässt. Wäh-
rend der Seh lies sungsdauer entsteht dann bei jeder
neuen, systolischen Zusammenziehung eine locale Dia-
stole an der Anode. Nach Oeffnung des Stromes kehrt
sich dagegen das Verhältniss um, indem jetzt während
zwei oder selbst mehrerer auf einander folgender Sy-
stolen die kathodische Stelle zuerst erschlafft.
Wenn es gelänge, das Froschherz in einer länger dauernden sy-
stolischen Zusammenziehung zu erhalten, so würde in diesem Zustande
offenbar die einzige sichtbare Wirkung der elektrischen Reizung mit
dem Kettenstrome eine bei der Schliessung an der Anode, bei der
Oeffnung aber an der Kathode auftretende locale Erschlaffung der
Muskelwand des Ventrikels sein, also so zu sagen ein Gegenstück zu
dem Verhalten des diastolisch erschlafften Muskels. Es ist schwer und
mehr oder weniger Sache des Zufalls, am Froschherzen eine lang an-
haltende systolische Zusammenziehung zu erreichen, dagegen gelingt
dies ausserordentlich leicht an dem Herzmuskel mancher wirbellosen
Thiere , wie beispielsweise am Schneckenherzen (35). Es wurde
schon früher erwähnt, dass der auf einer Canüle aufgebundene Ven-
trikel desselben in Folge plötzlicher Füllung mit Flüssigkeit (Schnecken-
blut, 0,6^/0 Na Gl) nach Ablauf einer grösseren oder kleineren Zahl
regelmässiger Zusammenziehungen sehr oft in einen lang anhaltenden,
gleichmässigen Contractionszustand geräth. Leitet man nun während
dieser Zeit den Strom von 1 — 2 D aniell'schen Elementen mittels un-
polarisirbarer- Elektroden hindurch, indem man das gehörig durch-
feuchtete Fadenende der unteren, um die Herzspitze gelegten Ligatur
in ein Gefäss mit Kochsalzlösung tauchen lässt, in welche zugleich
die eine Elektrode eintaucht, während die andere fein zugespitzte
Pinselelektrode oberhalb der an der Grenze zwischen Vorkammer und
Ventrikel befindlichen Ligatur anliegt, so beobachtet man bei
Schliessung des Stromkreises in allen Fällen eine so-
fortige Erschlaffung des Ventrikels, die jedoch bemer-
kenswerther Weise niemals gleichzeitig an allenPunkten
der durch flossenen Strecke erfolgt, sondern ausnahms-
los an dem Ende beginnt, wo der Strom eintritt, also an
der Anode. In Form einer mehr oder weniger rasch sich fort-
pflanzenden, immer jedoch mit dem Auge leicht zu verfolgenden Welle
222 Elektrische Reizung der Muskeln.
schreitet die Erschlaffung stets in der Richtung des Stromes vom positiven
zum negativen Pole fort Hält man nur so lange geschlossen, bis die „Er-
schlaffungswelle" an dem kathodischen Ende des Präparates angelangt
ist und öffnet man dann den Strom, so kehrt in der Regel, wenigstens
in allen Fällen, wo der Tonus von vornherein stärker entwickelt war,
der Ventrikel in seinen ursprünglichen, andauernden Contractions-
zustand zurück. Nur dann, wenn bereits bei Beginn des Versuches
ein wenig ausgeprägter Tonus herrschte oder wenn man zu einer
Zeit reizt, wo voraussichtlich die Pulsationen auch spontan bald be-
gonnen haben würden, schliesst sich an eine einmalige kurzdauernde
Schliessung des Kettenstromes eine ununterbrochene Reihe regel-
mässiger, rhythmischer Contractionen an, wobei dieselben entweder
unbegrenzt fortdauern oder nach einiger Zeit einer abermaligen tonischen
Contraction weichen. In vielen Fällen verharrt der Ventrikel während
der Schliessungsdauer des Stromes einige Sekunden lang in diastolisch
erschlaft'tem Zustand, worauf dann erst rhythmisch peristaltische Con-
tractionen beginnen. Oft bemerkt man, dass die anodische Erschlaffung
leichter an dem einen als an dem anderen Ende des Präparates ein-
tritt, und in der Regel erscheint die Basis des Ventrikels in dieser
Beziehung begünstigt. Es dürfte dies damit zusammenhängen, dass,
wie ich schon oben erwähnte, gerade an der Herzspitze der mecha-
nische Reiz der Ligatur oft zu einer localen, stärkeren Contraction
Anlass giebt, die, wie sich auch anderweitig zeigen lässt, der Ein-
wirkung der Anode einen viel bedeutenderen Widerstand entgegen-
setzt, als die durch den Spannungszustand der Wand bedingte, tonische
Zusammenziehung.
Legt man die Elektroden einander gegenüber an die Endpunkte
der Queraxe des Ventrikels, so beginnt auch dann bei Schliessung des
Stromes die Erschlaffung auf Seite der Anode, und es tritt dem ent-
sprechend eine Ausbauchung des Herzens auf dieser Seite ein.
Was die Intensität der Ströme betrifft, bei welcher die geschil-
derten Erscheinungen hervortreten, so hängt dies wesentlich von der
Stärke des bestehenden „Tonus" ab. Ich habe oft noch deutliche
Wirkungen bei Anwendung eines Dani eil' sehen Elementes mit Ein-
schaltung eines Rheochordwiderstandes von kaum 5 cm Drahtlänge
beobachtet, und man kann es im Allgemeinen als Regel gelten lassen,
dass unter den erwähnten Versuchsbedingungen die anodische Er-
schlaffung bei einem Widerstand von 100 cm Drahtlänge selten aus-
bleibt.
Beschränkt man sich auf dieAn Wendung der schwäch-
sten, e b e n Av i r k s a m e n S t r ö m e , s o b 1 e i b t d i e E r s c h 1 a f f u n g
immer nur a u f d i e n ä c h s t e U m g e b u n g d e r E i n t r i 1 1 s s t e 1 1 e
beschränkt. Sie tritt dann bei der Schliessung hervor und ver-
schwindet allmählich wieder, auch wenn der Reizstrom geschlossen
bleibt. In anderen Fällen verbreitet sie sich je nach der Richtung
des Stromes nur über die eine oder andere Hälfte des Ventrikels,
Bei Anwendung nicht zu starker Ströme und hoher Reizbarkeit des
Präparates ist die Fortpflanzung der anodischen Erschlaffungswelle
über den ganzen Ventrikel unabhängig davon, ob der Strom un-
mittelbar nach Beginn der Wirkung geöffnet wird oder ob derselbe
weiterhin geschlossen bleibt. Letzterenfalls dauern jedoch rhythmische
Contractionen während der ganzen Schliessungsdauer fort, wobei zu
bemerken ist, dass fortdauernd bei jeder neuen Diastole
Elektrische Reizung der Muskeln. 223
die Erschlaffung- stets an der Anode beginnt und peri-
staltisch von hier aus fortschreitet. Man kann daher bei
blosser Betrachtung eines unter dem Einflüsse des constanten Stromes
pulsirenden Schneckenherzens sofort mit grösster Sicherheit die Stromes-
richtung' bestimmen.
Da die systolische Zusammenziehung des Ventrikels viel rascher
erfolgt, so lässt sich durch blosse Inspection nicht mit Sicherheit er-
mitteln, ob sie unter den in Rede stehenden Verhältnissen auch peri-
staltisch (von der Kathode ausgehend) erfolgt oder nicht.
Wie schon erwähnt, ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
anodischen ErschlafFungswelle eine so geringe, dass ihr Fortschreiten
sich mit dem Auge stets bequem verfolgen lässt. Im Uebrigen er-
scheint dieselbe jedoch ausserordentlich wechselnd. Während in dem
einen Falle die Welle mehrere Sekunden braucht, um die kurze zur
Verfügung stehende Strecke von durchschnittlich 5 — 7 mm zu durch-
laufen, genügen anderenfalls Bruchtheile einer Sekunde. Es hängt
dies hauptsächlich wieder von dem Grade des jeweiligen Tonus ab,
und man kann sagen, dass je stärker dieser ausgeprägt ist, desto lang-
samer auch die Erschlaffung sich vom Orte ihrer Entstehung aus ver-
breitet. Wenn man wiederholt bei unveränderter Stromesrichtung
reizt oder den Strom dauernd geschlossen lässt, so bemerkt man leicht,
dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der anodischen Welle mit der
Zeit bis zu einem gewissen, übrigens bald erreichten Grenzwerth zu-
nimmt, bei darauffolgender Wendung des Stromes dagegen wieder ver-
mindert erscheint.
Ein analoges Verhalten zeigt im Allgemeinen auch das Stadium
der latenten Reizung. Die Erschlaffung an der Anode beginnt, wie
man ohne Weiteres erkennt, niemals genau im Momente der Schlies-
sung des Stromes, sondern immer merklich und oft bedeutend ver-
spätet, so dass ein Latenzstadium von einer Sekunde Dauer und mehr
keineswegs zu den seltenen Fällen gehört. Oft ist es allerdings viel
kürzer, kaum jemals aber so kurz, dass man es nicht noch unmittelbar
mit dem Auge wahrnehmen könnte.
Wenn man mit Präparaten experimentirt , welche von vornherein
in einem beträchtlichen Grade tonisch contrahirt waren, so scheint die
von der Anode ausgehende Erschlaffung die einzige sichtbare Wir-
kung des Stromes zu sein, eine vorgängige Zunahme der Contraction
ist unter solchen Verhältnissen wenigstens nicht merklich. Dass eine
solche jedoch unter Umständen der Erschlaffung thatsächlich voraus-
geht, lässt sich mit aller Sicherheit in Fällen constatiren, wo Anfangs
nur ein mittlerer Grad tonischer Zusammenziehung besteht. Dann
sieht man bei Schliessung eines Stromes von genügender Stärke den
Ventrikel sich zunächst, wie es scheint, gleichzeitig in allen seinen
Theilen, contrahiren, worauf dann erst die peristaltische Erschlaffung
von der Anode aus beginnt.
Wenn hier, Avie ich auf Grund später mitzutheilender Versuche
behaupten darf, die Contraction von der Kathode ausgeht, so lässt
sich aus diesem Verhalten jedenfalls der Schluss ziehen, dass das
Latenzstadium der kathodischen Schliessungserregung kleiner, die Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit derselben aber grösser ist, als bei der ano-
dischen Schliessungswirkung. Dagegen scheint die letztere schon bei
einer geringeren Stromesintensität wirksam zu werden, als jene, denn
ich sah mehrmals bei schwachem Tonus eine (locale) Erschlaffung an
224 Elektrische Reizung der Muskeln.
der Anode früher, d. i. bei geringerem Rheochordwiderstand, eintreten,
als die erwähnte Schliessungscontraction.
Engelmann zeigte bekanntlich, dass jede kleine Muskelbrücke,
welche zwei sonst völlig von einander getrennte Theile des Froschherz-
ventrikels mit einander verbindet, den physiologischen Leitungsvorgang
zwischen beiden noch zu vermitteln vermag, indem die vom Vorhof kom-
mende Erregung durch die Brücke hindurch auf den unteren Theil des
Ventrikels übertragen wird. Er schliesst hieraus auf eine Leitung des
Erregungsprocesses von Zelle zu Zelle ohne Vermittlung nervöser
Elemente. In ganz analoger Weise lässt sich nun auch zeigen, dass
die anodische Erschlaffungswelle von einer Ventrikelhälfte auf die an-
dere übertragen wird, wenn nur ein kleiner Rest normaler Muskel-
wand die Verbindung herstellt. Man kann durch vorsichtiges Quetschen
des anodisch erschlafften Ventrikels eines möglichst grossen Schnecken-
herzens von der Seite her mittels einer kleinen, schmalen Pincette
sehr leicht den grössten Theil seiner Wand im mittleren Umfange
leitungsunfähig machen. Gleichwohl sieht man bei darauffolgender
Durchströmung die Erschlaffung sich durch die schmale, leitungs-
fähige Brücke hindurch, allerdings wesentlich langsamer als unter
normalen Verhältnissen, fortpflanzen.
Eine Quetschung, Avelche sich über den ganzen mittleren Umfang
des Ventrikels erstreckt und denselben in zwei erregbare, durch eine
schmale, unerregbare Zone getrennte Hälften theilt, bietet übrigens
ein Mittel, um die Erscheinungen, welche bei Reizung mit Ketten-
strömen auftreten , noch genauer zu untersuchen , als dies an dem
ganzen, unversehrten Herzen möglich ist. Es bietet der Versuch
allerdings einige Schwierigkeiten insofern dar, als wegen der grossen
Empfindlichkeit des Präparates für mechanische Reizung die beiden
Ventrikelhälften nicht selten ungleich anspruchsfähig sind, indem die
eine oder andere stärker contrahirt bleibt oder überhaupt nicht mehr
in den erschlafften Zustand zurückkehrt, indessen gelangt man, wenn
nur möglichst grosse Thiere zur Verfügung stehen, bei einiger Uebung
doch oft genug zum Ziele. Schickt man durch ein derartiges, ent-
sprechend vorbereitetes Präparat einen nicht zu schwachen Ketten-
strom hindurch , so sieht man, wie zu erwarten war, stets
nur die anodische Hälfte erschlaffen, die kathodische
lässt entweder keinerlei Veränderungen erkennen, oder
sie contrahirt sich deutlich bei Schliessung des Stromes,
wenn ihr Tonus nur wenig ausgeprägt war. Bei Oeff-
nung des Kreises kehrt sich günstigen Falles dieses
Verhalten geradezu um: jetzt erschlafft der kathodische
Ventrikelabschnitt, während der anodische sich zu-
sammenzieht. Es ist hier zu bemerken, dass allerdings jede Ven-
trikelhälfte ihre physiologische Anode und Kathode besitzt. Der
Grund, weshalb dem ungeachtet nur einseitige Wirkungen beobachtet
werden, kann lediglich darin gesucht werden, dass an der Quetschungs-
stelle einerseits die Stromdichte eine geringere ist (wegen des grösseren
Querschnittes), während andererseits wohl auch die durch den mecha-
nischen Eingriff bedingte Schädigung der Muskelsubstanz in gleichem
Sinne wirkt.
Besonders bemerkenswerth ist bei dieser Versuchsweise die Er-
schlaffung, welche an Stelle der wirksamen Kathode unmittelbar nach
Oeffnung des Stromes erfolgt, indem sie sich in keiner Weise von der
Elektrische Eeizung der Muskeln. 225
anodischen Schliessungserschlaffung unterscheidet und, wie die noch
mitzutheilenden Thatsachen zeigen Averden, auch wahrscheinlich als ein
gleichwerthiger Vorgang aufzufassen sein dürfte.
Die zeitliche Reihenfolge der Erscheinungen ist immer die, dass
bei der Schliessung zunächst die kathodische Hälfte sich contrahirt,
worauf erst die anodische erschlafft. Ebenso folgt bei der Oeffnung
der anodischen O effnungserregung, die sich durch eine rasche,
stärkere Zusammenziehung des betreffenden Ventrikelabschnittes ver-
räth, die kathodische O effnungs Wirkung, die ganz wie die ano-
dischc Schliessungswirkung zu einer Erschlaffung vorher contrahirter
Theile führt. Es stimmen demnach hinsichtlich des Erfolges die ka-
thodische Schliessungs- und die anodische Oeffnungserregung einerseits
und die anodische Schliessungs- und kathodische Oeffnungswirkung
andererseits mit einander überein.
Es ist für die Deutung der kathodischen Oeffnungserschlaffung
wichtig, dass dieselbe mit voller Deutlichkeit nur an frischen, gut
erregbaren Präparaten und auch dann nur bei wenigen, auf einander
folgenden Schliessungen, beziehungsweise Oeffnungen beobachtet wird.
Je länger man den Strom geschlossen lässt oder je öfter man die Rei-
zungen bei gleicher Richtung und Stärke des Stromes wiederholt,
desto schwächer und undeutlicher wird die Erscheinung, die schliess-
lich durch kein Mittel wieder hervorzurufen ist.
In besonders überzeugender Weise habe ich dies in einigen
Fällen beobachten können , wo in Folge doppelter Unterbindung der
Herzspitze und dadurch bewirkter, sehr starker Contraction der
Umgebung bei der darauf folgenden Durchströmung immer nur
einseitige Wirkungen auftraten. Der volle absteigend gerichtete
Strom eines D an i eil ' sehen Elementes bewirkte hier bei der
Schliessung an dem im Uebrigen ganz unversehrten Ventrikel an der
Basis eine starke (anodische) Erschlaffung, die sich nur über einen
kleinen Theil desselben verbreitete. Die Schliessung des aufsteigend
gerichteten Stromes blieb wirkungslos oder hatte höchstens eine
schwache Contraction des vorher erschlafften oberen Abschnittes zur
Folge, dagegen trat jetzt nach etwa vier Sekunden langer Schlies-
sungsdauer die kathodische Oeffnungserschlaffung an der Basis mit
grösster Deutlichkeit hervor, jedoch immer nur in wenigen, unmittel-
bar auf einander folgenden Versuchen. Auf das Vorhandensein dieser
Erscheinung einmal aufmerksam geworden, ist es mir in der Folge
wiederholt gelungen, dieselbe auch an ganz normalen Herzen unmittel-
bar nach dem Einbinden der Canüle und nach Entwicklung der
tonischen Contraction zu beobachten. Zwei Bedingungen sind hier
wesentlich: Erstens muss das Präparat frisch und möglichst erregbar
sein, und zweitens darf man sich nicht zu schwacher Ströme bedienen
und dieselben nicht zu kurz geschlossen lassen. Im Allgemeinen fand
ich den vollen Strom eines Dan i eil ' sehen Elementes bei 2 — 3 Se-
kunden Schliessungsdauer genügend. Nachdem die erste anodische
Erschlaffungswelle abgelaufen ist, zieht sich der Ventrikel systolisch
zusammen, es beginnt neuerdings eine peristaltische Diastole u. s. w.
Wenn man kurz nach Beginn der zweiten oder dritten Systole den
Strom öffnet, so sieht man häufig eine an der Kathodenseite
beginnende diastolische Welle über den ganzen Ventrikel
ablaufen , also in einer der früheren gerade entgegengesetzten Rich-
Biedermann, Elektrophysiologie. 15
226 Elektrische Reizung der Muskeln.
tung. Bisweilen lässt sich dieselbe Erscheinung auch noch bei der
zweiten und selbst dritten, der Oeffnung des Stromes folgenden Dia-
stole wahrnehmen, worauf jedoch, wenn die Pulsationen überhaupt
fortdauern, an Stelle der peristaltischen Erschlaffung normale, wie es
scheint an allen Punkten des Ventrikels gleichzeitig beginnende Dia-
stolen folgen. Aus der eben angeführten Thatsache scheint hervor-
zugehen, dass die ka thodi sehe Oeffnungs er schlaf fung sich
ganz ebenso wie die anodische Schliessungserschlaffung
vom Orte ihrer ersten Entstehung durch Leitung von
Zelle zu Zelle fortzupflanzen vermag, wodurch bei gleich-
zeitiger Berücksichtigung des Umstandes , dass die erstere Erschei-
nung überhaupt nur unter den allergünstigsten Verhältnissen deutlich
hervortritt, die naheliegende Auffassung derselben als einer durch
die kathodische Dauererregung bedingten Ermüdungserscheinung
ausgeschlossen erscheint. Es spricht vielmehr Alles dafür, dass man es
hier mit einer eigenthümlichen , der anodischen Schliessungswirkung
gleich werthigen, activen Reaction des tonisch contrahirten Herzmuskels
zu thun hat.
Die mitgetheilten Thatsachen betreffend die Wirkungen des elek-
trischen Stromes auf den Hei-zmuskel von wirbellosen und Wirbel-
thieren sind nun nicht minder geeignet, die Aufmerksamkeit zu
fesseln, wie die früher geschilderten Keizerfolge an glatten Muskeln,
indem unsere Kenntnisse über die Wirkungsweise des elektrischen
Stromes durch dieselben wesentlich erweitert werden. Eis zeigt sich
vor Allem, dass die kathodische Schliessungs- und anodische Oeffnungs-
erregung keineswegs die einzigen sichtbaren Folgewirkungen der elek-
trischen Reizung darstellen, sondern dass während eines bestehenden
Erregungszustandes unter Umständen auch antagonistische Hem-
mungswirkungen auftreten, die sich demgemäss als Er-
schlaffung vorher contrahirter Theile zeigen. Da in der
grossen Mehrzahl der Fälle, wo es sich um elektrische Reizung con-
tractiler Gebilde handelt, dieselben sich zur Zeit der Reizung im Zu-
stande relativer Ruhe befinden, so ist es leicht erklärlich, dass fast
sämmtliche Untersuchungen sich nur auf jene Thätigkeitsäusserungen
beziehen, welche man gewölmlicli allein als Reizerscheinungen zu be-
zeichnen pflegt. Nun zeigt aber die Untersuchung geeigneter Objecte,
dass der elektrische Strom, der bei directer Einwirkung den er-
schlafften „ruhenden" Muskel in gesetzmässiger Weise zur Contraction
anregt, eine schon bestehende Erregung in nicht minder gesetzmässiger
Weise zu hemmen und eine a c t i v e Erschlaffung des contrahirten
Muskels herbeizuführen vermag. Es lässt sich ferner nachweisen, dass
diese „Hemmungswirkungen" des Stromes ganz ebenso wie die erre-
genden Processe reine „ Pol Wirkungen " darstellen, und wie man
von diesen zwei hinsichtlich des Ortes und der Zeit der Auslösung ver-
schiedene, wenn auch im Uebrigen gleichwerthige „Erregungen" als
Schliessungs- und Oeffnungserregung unterscheidet, so erscheint es
gerechtfertigt, in den besprochenen Fällen auch von zwei in gleicher
Weise verschiedenen „Hemmungen", einer Schliessungs- und
(Jeffnungshemraung, oder richtiger einer anodischen und kathodischen
Hemmung zu sprechen, da jene an der Eintrittsstelle, diese dagegen
an der Austrittsstelle des Stromes entsteht. Bei der sonstigen weit-
gehenden Uebereinstimmung der physiologischen Eigenschaften der
Herz- und Skeletmuskelfasern war von vornherein zu erwarten, dass
Elektrische Reizuuo' der Muskeln.
227
unter günstigen Umständen polare Hemmungserscheinungen auch an
den letzteren hervortreten würden.
Es ist ohne Weiteres klar, dass man, um diese Frage zu ent-
scheiden, einen geeigneten Muskel zunächst in einen dauernden Erre-
gungszustand versetzen muss, jenem vergleichbar, in welchem sich der
Herzmuskel während einer systolischen Zusammenziehung, oder
während jenes eigenthümlichen, am Schneckenherzen so auffallenden
„Tonus" befindet. Am besten kommt man zum Ziele, wenn man sich
der Wirkung desVeratrins bedient, welches, wie früher besprochen
wurde, die Muskelsubstanz in der Weise verändert, dass es nach einem
kurzen Reizanstoss nicht, wie unter normalen Verhältnissen, zu einer
rasch verlaufenden Zuckung, sondern zu einer lang, oft mehrere
Sekunden in gleicher Stärke anlialtenden, tonischen Zusammenziehung
kommt, während deren Dauer man bequem die Folgen einer elek-
trischen Durchströmung unter-
suchen kann (36). Ich fand es
am zweckmässigsten, 6 — 7 Tro-
pfen einer
Lösung von
Veratrinacetat in den Rücken
lymphsack eines Frosches zu
bringen und diesen nach
etwa 10 Minuten zu tödten.
Der charakteristische Verlauf
der Contraction eines der Art
vergifteten Muskels ( Sartorius )
wurde schon früher besprochen.
Hier soll nur des Erfolges ge-
dacht werden, welchen man
beobachtet, wenn der in be-
kannter Weise in der Mitte
fixirte, iniHering'scheuDoppel-
myographen eingespannte und
durch einen einmaligen Induc-
tionsschlag gereizte Muskel,
nachdem das Maximum der
Contraction erreicht ist, von
einem am besten aufsteigend
gerichteten Kettenstrom durch-
flössen wird. Man sieht dann
im Momente der Schliessung die anodische Muskelhälfte sich sofort
beträchtlich verlängern, die derselben entsprechende Curve daher
plötzlich steil absinken, während in der Regel gleichzeitig die katho-
dische Hälfte sich noch etwas mehr verkürzt oder aber keinerlei
Längenänderungen erkennen lässt. Oeffnet man hierauf den Strom
nach kurzer Schliessungsdauer, so zeigen sich günstigen Falls gerade
entgegengesetzte Gestaltveränderungen beider Muskelhälften. Die
anodische verkürzt sich nun in oft nicht unerheblichem Grade, welche
Contraction offenbar als Ausdruck der Oeffnungserregung gedeutet
werden muss, während zugleich die der Kathode entsprechende Hälfte
deutlich stärker erschlafft, als es ohne Hinzukommen der Reizung vor-
aussichtlich der Fall gewesen sein würde. Bei rascher Wiederholung
der Reizungen mit gleichgerichtetem Strome treten, wenngleich in
abnehmendem Maasse, dieselben Erscheinungen Avie zu Anfang des
15*
Fig. 93. Sartorius iji (kr Mitte fixirt (Doppel-
myograph). "N'eratriiidauercoutraction. Bei «
Schlie.ssung, bei o Oetinuu^- ciues Kettenstromes.
Erschlaffung- der anddisclicn (./), Contraction
der kathodisclien Muskelliälfte {K).
228 Elektrische Reizung der Muskeln.
Versuches hervor, so lange sieh überhaupt der Muskel noch in be-
trächtlichem Grade verkürzt zeigt (Fig. 93). Es ergiebt sich hieraus,
dass es sich hier im Wesentlichen um locale, auf die nächste Um-
gebung der physiologischen Anode bezw, Kathode beschränkte Ver-
änderungen des Muskels handelt, die sich nicht wie beim Herzmuskel
über grössere Strecken desselben zu verbreiten scheinen. Man darf
wohl in den beschriebenen Gestaltveränderungen des durch Veratrin
künstlich in einen „tonusähnlichen" Zustand versetzten Sartorius ein
vollkommenes Analogon zu den oben erörterten Folgeerscheinungen
der elektrischen Reizung des systolisch contrahirten Herzmuskels er-
blicken. Hier wie dort lassen sich neben den gewöhnlichen polaren
Erregungserscheinungen, die allerdings minder deutlich als während
des Ruhezustandes hervortreten und unter Umständen gar nicht zum
Ausdruck kommen, auch polare Hemmungsvorgänge direct nachweisen,
die sich durch Aufhebung, bezw. Verminderung eines schon bestehenden
Erregungszustandes und eine dadurch bedingte, zunächst locale Er-
schlaffung des Muskels äussern. Als eine hierher gehörige Erscheinung
ist sicher auch die seit lange bekannte Verlängerung eines in Oeffnungs-
dauercontraction befindlichen Muskels bei Schliessung des gleich-
gerichteten Stromes zu betrachten, die sich nur insoweit unterscheidet,
als es sich dabei um Hemmung eines durch die Nachwirkung der
vorhergehenden Durchströmung an der physiologischen Anode er-
zeugten Erregungszustandes handelt. Da sich wenigstens andeutungs-
weise auch eine kathodische Oeffnungshemmung am Veratrinmuskel
constatiren lässt, indem die betreffende Curve plötzlich steiler absinkt,
so scheint die Annahme zweier, den polaren Erregungsprocessen
antagonistischer Hemmungsvorgänge, die sich am quergestreiften
Stammesmuskel für gewöhnlich nur nicht sichtbar zu äussern ver-
mögen, bei vielen glatten Muskeln, sowie am Herzmuskel während
der systolischen Zusammenziehung aber immer leicht nachweisbar
sind, durchaus gerechtfertigt.
Es bleiben jetzt nur noch einige Erscheinungen zu erörtern,
welche unter gewissen Umständen bei elektrischer Reizung quer-
gestreifter Muskeln Avährend der Schliessung hervortreten und offen-
bar den bei so vielen glattmuskeligen Theilen in der Umgebung der
Anode auftretenden Ei-regungserscheinungen analog sind. Wie hier
handelt es sich dabei wohl lediglich um das Wirksamwerden secundär
kathodischer Stellen. Es wurde schon früher bemerkt, dass sich bei
Längsdurchströmung des (in der Mitte fixirten) Sartorius, namentlich
bei Anwendung starker aufsteigender Ströme, eine oft sehr starke
Schliessungsdauerconti'action auch an der anodischen Hälfte des
Präparates bemerkbar macht, die durchaus nicht auf ein Uebergreifen
der kathodischen Schliessungsdauercontraction bezogen werden kann.
Am überzeugendsten lässt sich dies nach einseitiger Verletzung (Ab-
tödtung) des Kathodenendes zeigen. Selbst sehr starke, ad-
mortal (d. h. zur D emarcatio nsf lache hin) gerichtete
Ströme bewirken dann, o b s c h on der Muskel bei
Schliessung des Kreises kräftig zuckt, keine Spur
von Dauerverkürzung an der Demarcationsgrenze; da-
gegen macht sich regelmässig am anodischen Muskel-
ende eine Dauercontracti on bemerkbar, die um so
stärker hervortritt, je stärker der Strom ist. Wenn
diese Thatsache schon bei Betrachtung mit blossem Auge oder mit
Elektrische Eeizung der Muskeln.
229
der Lupe unzweifelhaft hervortritt, so lassen sich doch manche Details
mittels der graphischen Methode noch besser erkennen. Reizt man
einen im Doppelmyographen eingespannten, am Beckenende abge-
tödteten und in der Mitte geklemmten Sartorius mit Strömen von zu-
nehmender Stärke (4— 8 Daniell mit Rheochord), so zeigt sich Anfangs
nur jenes hinreichend bekannte Verhalten einseitig verletzter Muskeln,
welches oben schon beschrieben wurde. Bei absteigender Durch-
strömung erfolgt eine kräftige und an beiden Muskelhälften etwa in
gleicher Weise sich aus-
prägende Schliessungszuck-
ung mit darauf folgender
Dauercontraction , welche
ausschliesslich an der Ka-
thodenhälfte zur Geltung
kommt. Die Schliessung
des aufsteigenden Stromes
bleibt zunächst ganz wir-
kungslos, und es ist dies
auch noch bei einer Strom-
stärke der Fall, bei welcher
voraussichtlich am unver-
sehrten Muskel unter sonst
gleichen Bedingungen maxi-
male Schliessungszuckun-
gen ausgelöst worden wären.
Jenseits einer gewissen In-
tensitätsgrenze beginnt jedoch auch der aufsteigende (admortale) Strom
bei der Schliessung wieder erregend zu wirken, oft, ehe noch bei
gleicher Stromesrichtung eine wirksame Oeffnungserregung hervortritt,
für deren Auslösung die Bedingungen günstig sind, da der Strom mit
grösster Dichte am unteren schmalen Muskelende austritt.
Die Schliessungserregung äussert sich dann immer zunächst als
eine auf Seite der Anode stärker entwickelte Zuckung ohne erheb-
liche Dauercontraction. Bei weiterer Verstärkung des Stromes tritt
aber auch die letztere bald hervor, und zwar ausschliesslich an
der Anodenhälfte des Muskels: die kathodische Hälfte
Fig. 94. Sartorius, in der Mitte fixirt, am Becken-
ende (0) abgetödtet. 8 Dan. Anodische Schlies-
sungsdauercontraction. Nach einer Pause von
12 Min. hat (bei b) der absteigende Schliessungs-
reizerfolg stark abgenommen, während die auf-
steigende Eeizung gleich stark wirkt.
kommen (Fig. 94).
Diese letztere übertrifft bei einer gewissen Stromstärke an Höhe
fast immer die Zuckung bei Schliessung des absteigenden („abmortalen")
Stromes. Mit Avachsender Stromesintensität nimmt auch die anodische
zu und übertrifft nun ihrerseits ebenfalls bald die kathodische
Schliessungsdauercontraction bei absteigender Stromesrichtung an Grösse
und Ausdehnung (Fig. 94).
Abgesehen hiervon ist besonders nach mehrmaliger Wiederholung
der Reizung auch das allmähliche Anschwellen der anodischen Schlies-
sungsdauercontraction bemerkenswerth. Dass auch die Zuckung
eines einseitig abgetödteten , parallelfaserigen Muskels bei Schliessung
eines hinreichend starken, admortal gerichteten Stromes innerhalb der
anodischen Muskelhälfte ausgelöst wird und sich von da aus weiter-
verbreitet, dürfte kaum zu bezweifeln sein und Hesse sich leicht durch
zeitmessende Versuche entscheiden. Dafür spricht unter Anderem
230 Elektrische Reizung der Muskeln.
auch schon der Umstand, dass unter diesen Verhältnissen die Zuckungs-
curve der anodischen Hälfte jene der kathodischen fast immer an
Grösse erheblich übertrifft, während in allen Fällen, wo die Erregung
von der Kathode allein ausgeht, auch die entsprechende Muskelhälfte
sich stärker contrahirt.
Directe Betrachtung des anodischen Muskelendes, am besten bei
Lupenvergrösserung nach vorhergehender Querbänderung mit Tusche,
zeigt nun, dass die bei Schliessung stärkerer Ströme auftretende anodi-
sche Dauercontraction ganz im Gegensatz zu der streng begrenzten
kathodischen Schliessungsdauercontraction sich über ein ziemlich grosses
Gebiet erstreckt , niemals aber wie dort zu einer Wulst ung
der äussersten Faser enden führt, welche letztere viel-
mehr deutlich gedehnt werden, also jedenfalls unerregt
bleiben. Man sieht die zwei oder drei äussersten Tuschebänder, sowie
ihre ungefärbten Zwischenräume sich nicht merklich verschmälern oder
zusammenrücken (was am Kathodenende so charakteristisch ist), wo-
gegen die weiter nach der Mitte hin folgenden unter Verschmälerung
zusammenrücken und sich nach der Anode hin convex krümmen. Dabei
entsteht ein Contractionswulst, der eigentlich in der Continuität
des Muskels, aber sehr nahe dem anodischen Ende, beginnt und
sich nach der Mitte hin allmählich verliert. Wird die eine Elektrode
(Kathode) an einen der beiden Knochenstümpfe des Sai'torius angelegt,
während die Anode mit möglichst feiner Spitze irgend einen Punkt
der Oberfläche des massig gespannten Muskels berührt, so zeigt sich
schon bei schwachen Strömen (2 — 3 Daniell) sehr deutlich, dass an der
Eintrittsstelle selbst keine Spur von Contraction erfolgt, und hat man
mit Tusche Querlinien gezogen, so ist leicht zu erkennen, dass an
gleicher Stelle sogar eine nicht unbeträchtliche Dehnung der Fasern
bewirkt wird, die sich sehr deutlich durch eine entsprechende Ver-
breiterung des mit der Elektrodenspitze berührten Querbandes, sowie
der nächst angrenzenden Fasersegmente verräth. Diese passive Dehnung
an der Eintrittsstelle des Stromes wird bewirkt durch eine mehr oder
minder starke Contraction, Avelche beiderseits von der Anode sofort
bei der Schliessung entsteht und während der Schliessungsdauer be-
stehen bleibt. Diese Versuchsanordnung gestattet auch, die locale
anodische Hemmung (Erschlaffung) am veratrinisirten Muskel noch
leichter und deutlicher zu beobachten , als es mittels der oben be-
schriebenen graphischen Methode möglich ist. Man braucht dann
nur zweimal hinter einander den Stromkreis bei unveränderter Lage
der Elektroden zu schliessen, das eine Mal kurz zur Auslösung der an-
haltenden Contraction des veratrinisirten Sartorius und hierauf länger,
um die locale Erschlaffung an der Anode zu beobachten.
Reizt man einen noch in situ befindlichen normalen Muskel
monopolar, so tritt schon bei den schwächsten Strömen der Unter-
schied zwischen kathodischen und anodischen Reizerfolgen auf
das schärfste hervor. Während bei punktförmiger Berührung der
Muskeloberfläche mit der Kathode, nach Ablauf der Schliessungs-
zuckung, nur an der Berührungsstelle selbst eine ganz locale
Dauercontraction entsteht, die übrige Fläche aber vollkommen glatt
bleibt, bildet sich bei anodischer Reizung in Folge der zu beiden
Seiten der Eintrittsstelle des Stromes auftretenden Dauererregung der
betreffenden Faserbündel an der Oberfläche des Muskels eine ver-
tiefte, bleibende Längsfurche, während die berührte Stelle selbst und
Elcktriselie Heizung der Muskeln. 231
deren nächste Umgebung unerregt ist und daher mehr oder weniger
gedehnt wird, wodurch eine flache, dellenförmige Einziehung entsteht.
Sehr deutlich tritt bei dieser Art der Reizung die Oefl'nungserregung
in Gestalt eines kleinen Wulstes hervor, der sich sofort nach Oeffnung
des Kreises an der Eintrittsstelle des Stromes erhebt und längere Zeit
sichtbar bleibt. Die Aehnlichkeit, welche zwischen den geschilderten
Befunden an quergestreiften Stammesmuskeln und den früher be-
sprochenen Folgeerscheinungen der elektrischen Reizung glattmuskeliger
Theile besteht, ist wohl kaum zu verkennen, so dass die Annahme
einer principiellen Uebereinstimmung in dem Verhalten beider
Muskelarten, sowäe des Herzmuskels gegenüber dem elektrischen
Strome kaum ernstlichem Widerspruch begegnen dürfte. Es gilt
dies ebensowohl hinsichtlich der polaren Erregungserscheinungen wie
bezüglich der ebenfalls polaren Hemmungswirkungen. Erwägt man,
dass die Erregungserscheinungen in der Umgebung der Anode bei
Anwendung schwacher Ströme nur dann auftreten, wenn „mono-
polar" gereizt wird, dass dieselben, wie mich neuere Versuche lehrten,
ganz fehlen, wenn der Muskel (Sartorius) in Flüssigkeit versenkt, der
Länge nach durchströmt wird und erst bei hoher Stromesintensität
und ganz vorwiegend bei aufsteigender Richtung hervortreten, wenn
das Präparat im Hering' sehen Doppelmyographen eingespannt wird,
so dürfte es kaum einem Zweifel unterworfen sein, dass es sich auch
hier nur um Erregungswirkvmgen an secundär kathodischen Stellen
handelt, deren Entstehung bei monopolarer Reizung ohne Weiteres
zuzugeben ist, die aber auch insbesondere am Knieende des Sartorius
bei Durchströmung von den Knochenstümpfen aus vorhanden sein
müssen. Dies lässt sich schon aus der eigenthümlich abgestuften
Endigung der Fasern an dem betreffenden Ende folgern, wodurch
vielfach Gelegenheit zum Austritt von Stromfäden in benachbarte Fasern
in der Continuität des Muskels gegeben ist,
Obschon daher die betreffenden Erregungserscheinungen kein
eigentlich physiologisches Interesse darbieten, so verdienen sie doch
eingehend Berücksichtigung, einmal in Hinblick auf die so auffallen-
den, der gleichen Ursache zuzuschreibenden, polaren Reizerfolge an
verschiedenen glattmuskeligen Theilen, die leicht zu der irrthümlichen
Auffassung einer Umkehr des Pflüger'schen Erregungsgesetzes führen
können. Andererseits dürfte hier aber auch der Schlüssel zum Verständ-
niss einer Reihe von älteren Erfahrungen an quergestreiften Muskeln
gegeben sein. Schon aus der älteren Literatur Hegen, wiewohl nur sehr
vereinzelt, Angaben vor, welche darauf hinzudeuten schienen, dass
quergestreifte Muskeln, wenn auch nicht immer, so doch unter ge-
wissen Umständen bei elektrischer Reizung ein von dem normalen ab-
weichendes Verhalten erkennen lassen, indem angeblich bei Schliessung
des Stromes auch auf Seite der Anode Erregung entsteht. Hierher ge-
hören vor Allem Beobachtungen von Aeby (20) aus dem Jahre 1867,
die ihn im Gegensatze zu Bezold und Engelmann zu der An-
nahme einer bipolaren, jedoch ungleich starken Erregung des
Muskels durch den Kettenstrom führten. Ausserdem glaubt sich
Aeby überzeugt zu haben, dass unter gewissen Bedingungen, ins-
besondere bei vorgeschrittener Ermüdung der Präparate, das normale
Verhalten, wobei die erregende Wirkung der Kathode jene der Anode
immer bedeutend überwiegt, sich geradezu umkehrt. Die Ver-
suche Aeby 's sind jedoch keineswegs einwandfrei, worauf so-
232 Elektrische Reizung der Muskeln.
wohl Engelmann wie auch später Hering (1) hingewiesen haben.
Es gilt dies insbesondere von einem Versuche, bei welchem die beiden
Schenkel eines Frosches, die noch durch das Becken vereint und
mittels desselben aufgehängt waren, durchströmt wurden, indem die
beiden als Elektroden dienenden Drähte mit den unteren Enden der
beiden Schenkel verbunden Avurden. Die Knochen der Oberschenkel
waren vorher herausgelöst worden, und es verkürzte sich nun bei der
Reizung der absteigend durchströmte Schenkel stärker als der auf-
steigend durchflossene, woraus Aeby auf ein Ueberwiegen der
Wirkungen des negativen Poles schliesst. Es ist dabei einerseits der
von Engelmann und Hering betonte Unterschied zwischen physi-
kalischen und physiologischen Elektrodenstellen, andererseits aber auch
der Unterschied der Stromdichte am Knie und Beckenende jedes der
beiden Schenkel nicht berücksichtigt. Immerhin bleibt aber doch die
auch in diesem Falle beobachtete Umkehr der Wirkungen nach längerer
Versuchsdauer bemerkenswerth. Aeby zieht daraus den Schluss, dass
der ermüdete absterbende Muskel andere Eigenschaften besitzt, als
der frische; „ihn regt nicht mehr der negative, sondern der positive
Pol zur höheren Thätigkeit an". Engel mann kam später auch
zu der Anschauung, dass eine solche völlige Umkehr der Er-
scheinung (d. h. des polaren Erregungsgesetzes) vorkommen könnte.
So lange dies jedoch nicht durch ganz unzweideutige Versuche sicher
gestellt erscheint, wird man allen derartigen Angaben gegenüber im
äussersten Maasse skeptisch sein müssen.
Aeby stellte auch Versuche an, wobei ein einzelner Muskel
(Sartorius, Adductor niagnus) in der Mitte durch eine Klemme der Art
fixirt wurde, dass beide Hälften frei beweglich blieben. Bei wechseln-
der Richtung der Durchströmung wurde nur die Zuckung der einen
(unteren) Hälfte graphisch verzeichnet. „Bei der Schliessungszuckung
entwickelte im frischen Muskel der negative Pol ausnahmslos eine
viel grössere Energie als der positive"; bei sehr schwachen Strömen
zuckte überhaupt nur die kathodische Hälfte. Die Oeffnungszuckung
verhielt sich umgekehrt wie die Schliessungszuckung. Engelmann
ist geneigt, dies Resultat auf Störungen des Leitungsvermögens an
der geklemmten Stelle zu beziehen, wodurch bewirkt wurde, dass z. B.
bei der Schliessung die von der Kathode ausgehende Erregung sich
nicht ungeschwächt auf die anodische Hälfte fortpflanzen konnte. Doch
scheint auch hier wieder die Behauptung Aeby 's beachtenswerth,
„dass die negative Zuckung durch Ermüdung weit mehr leidet, als die
positive", und dass bei starker Ermüdung das für den frischen Muskel
geltende Verhalten sich umkehren könne. Die oben erwähnten Be-
obachtungen am geklemmten Satorius könnte man leicht geneigt sein
als eine weitere Bestätigung der Angaben von Aeby anzusehen (vergl.
Fig. 94) ; doch treten die betreffenden Erscheinungen in charak-
teristisch ausgeprägter Weise nur bei Anwendung so starker Ströme
hervor, dass das Wirksamwerden secundär kathodischer resp. anodi-
scher Stellen dabei nicht ausgeschlossen werden kann und wohl auch
bei den Versuchen Aeby 's eine Rolle gespielt hat.
Es dürfen schliesslich auch die viel besprochenen, bisher aber
fast nur von Pathologen untersuchten Veränderungen nicht unerwähnt
bleiben, welche im Gefolge peripherer Lähmungen quergestreifter
(Warmblüter-) Muskeln in Bezug auf die elektrische Reaction der-
selben eintreten. Dieselben machen sich, wie früher schon erwähnt
Elektrische Reizung der Muskeln. 233
ur
wurde, theils durch quantitative Veränderungen der Erregbarkeit fü
inducirte und constante Ströme geltend, theils aber, wie angegeben
wird, auch durch eine qualitative Aenderung der polaren Reizerfolge,
und zwar ganz im Sinne der oben erwähnten Befunde Aeby's an
ermüdeten Muskeln. Während unter normalen Verhältnissen bei
directer monopolarer Reizung eines Muskels mit einem Kettenstrom
der kathodische Reizerfolg (die sogenannte „Kathodenschliessungs-
zuckung") stets beträchtlich überwiegt, soll sich dies Verhältniss an
gelähmten Muskeln in einem gewissen Stadium der Degeneration una-
kehren („Entartungsreaction"). Um ein abschliessendes Urtheil
zu gewinnen, sind hier wie bei ermüdeten Muskeln weitere Unter-
suchungen nach einwandfreien Methoden dringend erforderlich; denn
die Bedingungen, unter Avelchen die betreffenden Versuche an
Menschen allein angestellt werden können oder an Thieren an-
gestellt worden sind, entsprechen in keiner Weise den Anforderungen
exacter physiologischer Methodik. Auf der anderen Seite stehen
zudem so zahlreiche, durch einwandfreie Versuche an verschie-
denen Muskeln und Nerven gewonnene Resultate der Annahme einer
Umkehr der Polwirkungen entgegen, dass die Behauptung irgend
eines Ausnahmefalles von vornherein einem gewissen Misstrauen be-
gegnen musste und nur dann auf Anerkennung rechnen kann, wenn
die Bedingungen der Versuche und alle begleitenden Nebenumstände
möglichst einfache und übersichtliche sind.
Zu den unter dem Einfluss des elektrischen Stromes am (quer-
gestreiften) Muskel hervortretenden sichtbaren Erregungserscheinungen
muss auch das sogenannte P o r r e t ' sehe Phänomen oder galva-
nische Wogen des Muskels gezählt werden. Im Jahre 1860
beschrieb Kühne (37) zuerst die merkwürdige Erscheinung, dass ein
von einem starken Strom durchflossener, parallelfciseriger Muskel in
eine eigenthümlich wogende oder fliessende Bewegung geräth, welche
im Sinn des positiven Stromes abläuft und auf die intrapolare Strecke
beschränkt bleibt. Nur vermuthungsweise deutete K ü h n e auf einen
möglichen Zusammenhang dieser Erscheinung mit dem Reuss-Porret'-
schen Phänomen der Elektrotransfusion hin, betonte aber andererseits
auch ausdrücklich die „tiefe innere Beziehung zu dem , was wir
Zuckung auf elektrischen Reiz nennen". Auch Du Bois Rey-
mond (38) fasste das Wogen als eine Erregungserscheinung auf, als
den Ausdruck local beschränkter Contractionen, welche von der Anode
zur Kathode laufen. In der That erinnert die ganze Erscheinung
ganz ausserordentlich an jenes zarte Wogen und Rieseln, welches man
im Sartorius des Frosches unter gewissen Umständen auch bei mecha-
nischer Reizung beobachtet, und wodurch ohne Weiteres bewiesen ist,
dass „das Wogen eine Bewegungsform des Muskels ist, welche ohne
alle Durchströmung eintreten kann". Man sieht zweifellos Con-
tractionswellen ablaufen , deren Höhe sehr verschieden sein kann ;
„bald sind sie ungemein dick, bald so fein, dass sie mit blossem Auge
eben noch als ein zartes Rieseln erkennbar sind; bald verlaufen sie
in den einzelnen Bündeln sehr unabhängig von einander, so dass man
neben einander viele Wülste in verschiedener Lage ablaufen sieht,
bald erstreckt sich ein mehr einheitlicher Wulst über einen grösseren
Theil der Muskelbreite" (Hermann 39, p. 603). Die Geschwindig-
keit des Wogens ist sehr wechselnd, im Uebrigen aber stets gering.
Hermann (I.e.) schätzt sie bei frischen, lebhaft wogenden Präparaten
234 Elektrische Heizung der Muskeln.
auf 4 — 5 mm iu der Sekunde. Es wurde schon erwähnt, dass ziemlich
starke Ströme erforderlich sind, um die Erscheinung deutlich hervor-
treten zu lassen. Für die Auffassung des Wogens als einer Erregungs-
erscheinung ist es wesentlich, dass dasselbe ganz ausschliesslich
dem quergestreiften lebenden Muskel eigenthümlich ist,
bei anderen feuchten Geweben aber niemals vorkommt*); es lässt sich
ferner, wie Hermann (1. c.) gezeigt hat, auch ein Einfluss der Er-
müdung und Erholung des Muskels nachweisen, indem die Energie
und Geschwindigkeit des Wogens allmählich abnimmt, um nach einer
längeren Ruhepause wieder zu wachsen. Vor Allem aber ist zu
beachten, dass, wie es für die Muskelerregung überhaupt gilt, die
jeweils herrschende Temperatur auch das galvanische
Wogen in auffallendster Weise beeinflusst. Wenn Her-
mann (1. c.) frische Muskeln (Sartorien) in erwärmtem Oel durch-
strömte, so trat die Erscheinung in einer überraschenden Schönheit
hervor, „von der man nach den gewöhnlichen Versuchen keine Vor-
stellung hatte." Sowohl die Ausbreitung wie die Wellenhöhe und Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit des Wogens werden bei höherer Temperatur
ausserordentlich verstärkt; dagegen beseitigt schon massige Abkühlung
des Muskels dasselbe vollkommen. Sehr auffallend ist ferner der
Einfluss der Spannung des Muskels. Stets zeigt sich, dass
das Wogen bei einem gewöhnlichen mittleren Spann ungsgrade am leb-
haftesten ist und sowohl bei zu starker Spannung wie bei völliger
Entspannung aufhört, sichtbar zu sein. Wenn man sich erinnert,
welche Bedeutung der jeweilige Spannungsgrad auf die Erregung des
Muskels, sowie auf den gesammten Stoflfurasatz besitzt, so kann auch
das erwähnte Verhalten kaum befremden.
Es wurde schon bemerkt, dass das Wogen stets von der Anode
nach der Kathode hin gerichtet ist, doch bildet dieAnode selbst
keineswegs den Ausgangspunkt der Contr actio nswellen.
Bedient man sich zur Reizung eines Stromes von solcher Intensität,
dass das Wogen eben deutlich hervortritt, so erscheint dasselbe in
der Regel in derjenigen Muskelstrecke am deutlichsten und stärksten
entwickelt, welche während der Schliessung in dauernder Contraction
verharrt. Es kommt dann sehr häufig vor, dass sowohl die äussersten
Faserenden auf Seite der Anode, wie auch die ganze kathodische
Muskelhälfte keine Spur des Wogens erkennen lassen, während der
grösste Theil der anodischen Hälfte in lebhaftestem Wogen begriffen
erscheint. Unter allen Umständen aber beginnt dasselbe in näch-
ster Nähe des anodischen Muskelendes und verbreitet sich von hier
aus erst bei sehr viel stärkeren Strömen über den ganzen Muskel. Es
weist dies auf eine sehr nahe Beziehung zwischen der oben erwähnten
anodischen Schliessungsdauercontraction und dem „galvanischen Wogen"
hin, und man wird kaum fehl gehen, beide Erscheinungen nur als zwei
verschiedene Symptome einer und derselben Veränderung des Muskels
zu betrachten. In dieser Beziehung erscheint es sehr beachtenswerth,
dass Hermann (1. c. p. 602) bisweilen den Eindruck gewann, als ob
*) Bei Anwendung starker Ströme sah Neiimann (12) bisweilen am Herzmuskel
(vom Frosch) ein Phänomen, welches dem galvanischen Wogen analog erschien, indem
peristaltische Wellen während der Schliessungsdauer in der Richtung des Stromes ab-
liefen, deren Aufeinanderfolge oft so regelmässig ist, „dass das Herz schwache zierliche
Pulsatiouen aufzuzeichnen scheint".
Elektrische Kcizung der Muskeln. 235
nach OefFnung de« Stromkreises „ein ganz kurzes wirkliches Rieseln
oder Wogen n a c h d e r A n o d e hin, also dem eigentlichen Phänomen
entgegengesetzt", stattfände. Abtödtung oder chemische Veränderung
der Muskelenden hat auf das galvanische Wogen ebensowenig Einfluss,
wie auf die anodische Schliessungsdauercontraction. Giebt man die
Berechtigung zu, diese letztere als eine Erregungserscheinung auf-
zufassen, welche auf dem Wii'ksamwerden secundärer Elektroden-
stellen in der Continuität des durchströmten Muskels beruht, so wird
man auch das galvanische Wogen kaum anders deuten können. Mit
Rücksicht auf alle mitgetheilten Erfahrungen darf man die insbesondere
von Jendrässik (40) und Regeczy (41) vertretene Ansicht, der
zu Folge als Hauptursache des galvanischen Wogens jene Form- und
Lageveränderungen anzusehen wären, „welche die Blut und Lymphe
enthaltenden Canalräume eines ganzen Muskels oder einer aus meh-
reren Bündeln bestehenden Partie desselben in Folge der durch den
Kettenstrom in ihnen bewirkten endosmotischen Ueberführung flüssiger
Bestandtheile erleiden", als genügend widerlegt ansehen, zumal an der
activen Betheiligung der lebenden und erregbaren Muskelfasern seit
Hermann 's Untersuchungen absolut nicht mehr zu zweifeln ist.
Dagegen lässt sich gegen die von Hermann (1. c.) gegebene Er-
klärung des galvanischen Wogens kaum ein Bedenken geltend machen.
Hermann geht von der unzweifelhaft richtigen Annahme aus, dass
auch bei möglichst reiner Längsdurchströmung eines parallelfaserigen
Muskels „die Mehrzahl der Fasern nicht bloss eine Anoden- und eine
Kathodenstelle haben wird, nvelche den Elektroden des Gesammtmuskels
entsprechen , sondern eine grössere Anzahl von Ein- und Austritts-
stellen wegen schrägen oder queren Verlaufes der Strömungslinien zu
den einzelnen Stellen der Fasern, ganz besonders wo die letzteren zu-
fällig gekrümmt liegen". Starke Ströme setzen nun an jeder der
secundären Kathodenstellen eine Erregung, durch welche ein Contrac-
tionswulst bedingt wird , welcher sich langsam nach der Kathode hin
fortpflanzt. „Die Entstehung und Fortbewegung der Wülste macht neue
Veränderungen und neue Unregelmässigkeiten im Verlaufe der Strö-
mungslinien zur Faserung und giebt so zu immer neuen Erregun-
gen Anlass. So entsteht das merkwürdige Wogen." Besonders hervor-
zuheben ist jedoch einerseits der Ausgangspunkt des Phänomen, sowie
anderseits die auch von Hermann betonte Schwierigkeit, dass gerade
dann, wenn, wie es scheint, die Bedingungen für die Entstehung von
secundären Kathoden durch Faserknickungen die allergünstigsten sind,
nämlich im gänzlich erschlafften Muskel, das Wogen ausbleibt.
Wenn man auch zugeben will, dass, wie Hermann hervorhebt, unter
Umständen bei zickzackförmiger Krümmung der Muskelfasern der
physiologische Eß'ect der Längsdurchströmung dem der reinen Quer-
durchströmung gleich kommen kann, indem sich hier wie dort Anoden
und Kathoden von derselben Faser gerade gegenüber liegen, so muss
doch betont werden, dass in vielen Fällen das Wogen nachweislich
ausbleibt, wo am entspannten Muskel die Faserkrümmungen kaum
merklich angedeutet sind. Um die langsame Fortpflanzung der Con-
tractionswellen (in nur einer Richtung) zu erklären, nimmt Hermann
eine Schädigung des Leitungsvermögens innerhalb der ganzen intra-
polaren Strecke als Folge der starken Durchströmung an; doch scheint
dies fraglich, wenn man berücksichtigt, dass ein ganz ähnliches
Wogen auch unabhängig von jeder Durchströmung an ganz
236 Elektrische Reizung der Muskeln.
frischen Muskeln beobachtet werden kann, wenn dieselben in einer
bestimmten Weise (mechanisch) gereizt w^erden. Es wurde schon früher
erwähnt, dass ein und derselbe Muskel langsame und schnelle Con-
tractionswellen fortzupflanzen vermag, ohne dass eine irgend erheb-
liche Zustandsänderung zu Grunde liegt. Es kommt also wohl mehr
auf die Qualität des Reizes an.
Für die ganze Auffassung dieser in der Continuität der
Muskelfasern hervortretenden Erregungserscheinungen, an denen noch
viel aufzuklären bleibt, ist es nun offenbar sehr wesentlich, zu wissen,
ob überhaupt der elektrische Strom ausser den ge-
schilderten Polwirkungen nicht doch noch andersartige
Veränderungen innerhalb der durchf loss enen Muskel-
strecke erzeugt, oder ob dieselbe, wie bisher stillschweigend voraus-
gesetzt wurde, nur indirect durch die von den physiologisch vor Allem
wichtigen Stellen, der Anode und Kathode her, sich fortpflanzenden
Wirkungen beeinflusst wird. Dabei ist natürlich von vornherein abzu-
sehen von dem etwaigen Wirksamwerden secundärer Elektrodenstellen.
Schon V. Bezold (10), dem wir ja überhaupt die ersten eingehen-
den Untersuchungen über die elektrische Erregung entnervter Muskeln
verdanken, zog jene Frage in das Bereich seiner experimentellen
Untersuchungen und beantwortete dieselbe dahin, dass, während der
Strom in constanter Stärke einen Muskel durchfliesst, fortwährend
physiologische Aenderungen in der ganzen durchflossenen
Strecke geschehen, wodurch einerseits die Erregbarkeit und anderer-
seits das Leitungsvermögen der intrapolaren Strecke wesentlich be-
einflusst Averde. Da sich Veränderungen der Erregbarkeit oder des
Leitungsvermögens irgend eines Muskelabschnittes nur indirect durch
entsprechende Veränderungen der Contractionsgrösse, welche man bei
immer gleicher Reizung derselben Stelle beobachtet, erschliessen lassen,
so kommt es im vorliegenden Falle vor Allem darauf an, gleiche Reize
auf beliebige Punkte der intrapolaren Strecke vor, während und nach
der Durchströmung einwirken lassen zu können und die Zuckungs-
höhe mittels graphischer Methoden zu messen. Es ist von vornherein
klar, dass hier nur der elektrische Reiz anwendbar ist, da er allein
eine genaue Abstufung der Stärke zulässt und ausserdem die gereizte
Stelle nicht unmittelbar schädigt. Allein die Anwendung des elek-
trischen Stromes als Prüfungsreiz für Untersuchung der Erregbarkeit
einer bereits durchströmten Muskelstrecke begegnet erheblichen metho-
dischen Schwierigkeiten wegen der kaum oder doch nur schwer zu
vermeidenden Interferenz der beiden Ströme. Bezeichnet man den
dauernd geschlossenen Kettenstrom, durch dessen Wirkungen die Er-
regbarkeit und das Leitungsvermögen der durchflossenen Muskel-
strecke verändert werden soll, als den „polari sirend en", den als
Prüfungsreiz verwendeten Inductionsstrom dagegen als „Reiz ström",
so ist klar, dass, wenn man etwa die Elektroden des letzteren direct
an den vom Kettenstrom durchflossenen Muskel anlegen wollte, noth-
wendig der Strom aus einem Kreise in den andern sich ergiessen
müsste, und zwar nach Maassgabe der Widerstände in beiden Kreisen.
Wenn aber der polarisirende, dauernd geschlossene Kettenstrom zum
Theil in den Kreis des Reizstromes abzweigt, so wird nothwendig an
der einen Reizelektrode eine physiologisclie Kathode gebildet und
daher ein dauernder Erregungszustand bedingt, welcher seinerseits
die Wirkungen des Prüfungsreizes complicirt, so dass etwaige Ver-
Elektrische Reizung der Muskeln. 237
änderungen in der Höhe der durch den Priifungsreiz ausgelösten
Zuckung vor und während der Schliessung des polarisirenden Stromes
nicht wohl auf eine Veränderung der Erregbarkeit der betreffenden
Stelle bezogen werden können, die unabhängig von einer directen
Erregung durch den polarisirenden Strom sein würde. Dabei ist
auch noch Folgendes zu bedenken. Nach dem polaren Erregungs-
gesetze findet bei Schliessung des Heizstromes je nach seiner Richtung
die Erregung bald am einen, bald am anderen Ende der durchflossenen
Strecke statt, Avobei allerdings wegen des schrägen, durch die seitliche
Anlagerung der Elektroden bedingten Verlaufes der Stromfäden die
physiologische Kathode beziehungsweise Anode immer eine beträcht-
liche Ausdehnung besitzt. Im einen Falle fällt daher, wenn ein Zweig
des polarisirenden Stromes sich in den Reizkreis ergiesst, die physio-
logische Kathode des Reizstromes auf bereits kathodische Faserstellen,
anderenfjills aber geschieht das Gegentheil, indem dann die Kathode
des Reizstromes mit anodischen Stellen sich deckt. Dadurch wird
natürlich der Effect des Reizstromes auch noch von dessen Richtung
abhängig gemacht. Da jedoch die Vertheilung des Stromes in beiden
Kreisen lediglich von dem Verhältniss der Widerstände abhängt, so
lässt sich, wenn man im gegebenen Falle in den Reizkreis einen so
grossen Widerstand einschaltet, dass dagegen der Widerstand des zwischen
den zugehörigen Elektroden befindlichen kurzen Muskelstückes ver-
schwindet, eine Verzweigung des Kettenstromes in den Reizkreis ver-
meiden (Hermann, Handb. H. 1. p. 44).
Das Versuchsverfahren gestaltet sich demnach in folgender Weise:
Zwei an einem verschiebbaren Träger angebrachte unpolarisirbare Elek-
troden werden an verschiedenen Stellen des im Hering' sehen Doppel-
myographen in gewöhnlicher Weise eingespannten Sartorius angelegt.
Die Zuführung des als Prüfungsreiz ausschliesslich benützten
Schliessungsinductionsstromes wird , um die Gestaltveränderungen des
Muskels möglichst wenig zu behindern, durch Fäden, welche mit phy-
siologischer NaCl-Lösung befeuchtet sind , vermittelt. Die Länge
der intrapolaren Strecke beträgt etwa 3 — 4 mm, und es kann daher
deren Widerstand gegenüber dem einer in den Kreis der primären
Spirale eingeschalteten 2 m langen, 0,5 cm im Durchmesser haltenden
und mit sehr verdünnter CuSOi-Lösung gefüllten Glasröhre kaum
in Betracht kommen. Die Zuckungen werden auf einer berussten Fläche
verzeichnet, indem die eine Elektrode des Doppelmyographen dauernd
fixirt, die andere dagegen mit einem Schreibstift in Verbindung gesetzt
wird. Die Intensität des polarisirenden Kettenstromes wird durch
ein Rheochord beliebig abgestuft. Die OefFnung und Schliessung
des Kettenkreises besorgt ein zwischen Rheochord und Stromquelle
(2 Dan.) eingeschalteter Quecksilberschlüssel. Hat der polarisirende
und der Reizstrom gleiche Richtung (beide absteigend), so ist zu-
nächst der Fall denkbar, dass die Austrittsstellen beider zusammen-
fallen , indem die negative Reizelektrode an den Knochenstumpf
der Tibia angelegt wird, während die andere das untere Sartorius-
ende berührt. In diesem Falle treten sehr ausgeprägte Verände-
rungen der Erregbarkeit hervor, deren nähere Besprechung später
folgen soll. Ganz anders gestaltet sich jedoch das Resultat, wenn
beide Reizelektroden in der Continuität des Muskels liegen. Nach
V. B e z 0 1 d wäre zu erwarten gewesen, dass während der Schliessungs-
dauer eines sehr schwachen Stromes von dem kathodischen Muskel-
238 Elektrische Reizung der Muskeln.
ende aus ein Zustand gesteigerter Erregbarkeit sich über einen gewissen,
nach Umständen grösseren oder kleineren Theil der intrapohiren
Strecke verbreitet. Dem scheint auch in der That auf den ersten
Blick die Beobachtung zu entsprechen , dass , wenn beide Reizelek-
troden an das untere Muskelende so angelegt werden, dass die eine
(Kathode) etwa 2 — 3 mm von dem Sehnenende entfernt ist, während
die andere 4 mm höher oben sich befindet, die Höhe der durch einen
absteigenden Schliessungsinductionsstrom ausgelösten Minimalzuckung
während der Polarisation mit einem ganz schwachen absteigenden
Kettenstrom grösser ist als vorher. Indessen zeigt eine nähere Ueber-
legung, dass eine derartige Schlussfolgerung dennoch nicht gerecht-
fertigt sein würde, indem das genannte Versuchsresultat nur durch
den Bau des Muskels bedingt wird. Da nämlich die Fasern des-
selben nicht alle von gleicher Länge sind und sich am unteren Ende
in einer schrägen Fläche inseriren, so erstreckt sich nothAvendig die
physiologische Kathode des der Länge nach in absteigender Richtung
durchströmten Muskels über einen messbaren und zwar ziemlich be-
trächtlichen Theil der unteren Muskelhälfte. So lange daher bei der
oben beschriebenen Versuchsanordnung noch eine genügende Zahl von
Faserenden in das Bereich der Kathode des Reizsti'omes fallen , er-
scheint eine merklich veränderte Reizwirkung während der Polarisation
durchaus verständlich, die sich je nach Umständen entweder als eine
Erhöhung oder Herabsetzung der Erregbarkeit geltend macht. Das
Letztere, d. h. scheinbare Ausbreitung einer Erregbarkeitsherabsetzung
über die intrapolare Muskelstrecke lässt sich bei derselben Versuchs-
anordnung beobachten, wenn entweder bei absteigender Richtung
des polarisirenden und des Reizstromes die Intensität des ersteren
zunimmt oder wenn bei aufsteigender Richtung des polarisirenden
Stromes die in geringer Distanz von einander befindlichen Reizelek-
troden dem unteren Muskelende soweit genähert werden , dass die
Erregung zum Theil noch innerhalb der anodischen Strecke ausgelöst
wird. Werden jedoch die Reizelektroden nach und nach entlang dem
Muskel bis an dessen oberes Ende verschoben, so lässt sich leicht
constatiren, dass bei der angewendeten Stärke des polari-
sirenden Kettenstromes an keiner anderen Stelle der
intrapolaren Strecke ein merklicher Unterschied der
Z u c k u n g s h ö h e vor und während der D u r c h s t r ö m u n g
nachweisbar ist. Es ist also lediglich die durch den nicht ganz
regelmässigen Bau des Sartori us bedingte räumliche Vertheilung der
Aus- beziehungsweise Eintrittsstellen des Stromes am unteren Ende
des Muskels, welche unter Umständen eine weitere Ausbreitung der,
wie noch zu zeigen sein wird, auf die physiologische Kathode und
Anode beschränkten Erregbarkeitsänderungen vortäuscht. Befindet
sich die negative Reizelektrode ausserhalb des Be-
reiches der physiologischen Kathode beziehungsweise
Anode eines parallel faserigen, längsdurchströmten Mus-
kels, so lassen sich bei Anwendung nicht zu starker, po-
larisirender Kettenströme keinerlei Erregbarkeits Ver-
änderungen der intrapolaren Strecke weder im nega-
tiven noch im positiven Sinne nachweisen. Ebensowenig
ist dies natürlich nach Oeffnung des polarisirenden Stromes der Fall.
Es scheint hiernach, dass der elektrische Strom den Muskel
in d e r T ha t durchsetzen kann, ohne (mit a 1 1 e i n i g e r A u s -
Elektrische Reizuns: der Muskeln.
239
nähme der polaren Stellen) eine ri a c h w e i s b a r e V e r ä n d e -
rung der Substanz direct hervorzubringen. Ganz anders
verhält es sich nun aber, wie schon angedeutet wurde, an der phy-
siologischen Kathode und Anode selbst. Hier lassen sich stets mit
Leichtigkeit sehr ausgeprägte Erregbarkeitsveränderungen im positiven
oder negativen Sinne nachweisen , die entweder im Gefolge einer be-
stehenden Dauererregung, beziehungsweise als Nach^virkung einer
solchen auftreten, oder aber durch polare Heramungsvorgänge bedingt
sind. Auf diesen Umstand sind daher auch die Angaben v. Bezold's
über Erregbarkeitsveränderungen der durchflossenen Muskelstrecke
zurückzuführen, da die von ihm angewendete Methode lediglich die
Erregbarkeit der kathodischen und anodischen Faserstellen zu prüfen
Fig. 95.
gestattete. Von der Voraussetzung ausgehend, dass ein inducirter
nicht wie ein Kettenstrom nur polar erregend wirkt, sondern alle
Punkte der durchflossenen Strecke gleichzeitig und gleich stark erregt,
versuchte v. Bezold die sogenannte „Totalerregbarkeit" der
von dem polarisirenden Kettenstrom durchflossenen Muskelstrecke zu
prüfen, indem er sich als Prüfungsreiz eines Schliessungsinductions-
stromes bediente, welcher dem IMuskel durch dieselben Elektroden zu-
geleitet wurde, die auch den polarisirenden Strom zuführten. Die Ver-
suchsanordnung V. Bezold's wird durch beistehende Zeichnung ver-
sinnlicht (Fig. 95). In dem Kreis des Kettenstromes, dessen Intensität
durch ein Rheochord abgestuft werden kann , betindet sich auch zu-
gleich die secundäre Spirale eines Inductionsapparates (^S'^) eingeschaltet.
Ist der Kettenstrom bei (a) geöffnet, so durchsetzt im Momente der
Schliessung oder Oeff'nung des Kreises der primären Spirale ein Induc-
tionsstrom den Muskel in der einen oder andern Richtung und löst
240 Elektrische Reizung der Muskeln.
eine Zuckung aus. Wird nun der Kettenkreis bei (a) geschlossen, so
durchfliesst ein Stromzweig von beliebiger, durch ckas ßheochord ab-
zustufender Intensität dauernd den Muskel. Oeffnet oder schliesst
man jetzt wieder den Kreis der primären Spirale, so durchsetzt
abermals ein inducirter Strom von gleicher Stärke wie vorher in be-
stimmter Richtung den nunmehr polarisirten Muskel, und die Ver-
hältnisse sind offenbar nur insoweit andere, als der Reizstrom jetzt
nicht wie früher von der Dichtigkeit Null ausgeht und wieder zu
ihr zurückkehrt, sondern von einer je nach der Stärke des polari-
sirenden Stromes verschiedenen Dichtigkeit. Die zweite Zuckung
wurde nun wie die erste graphisch verzeichnet, und beide lieferten so
ein vergleichbares Bild von dem zeitlichen Verlauf und der Stärke
der Zuckung des durchströmten (polarisirten) und nicht durchströmten
Muskels. Wäre nun die Voraussetzung v. Bezold's, dass der In-
ductionsstrom alle Punkte der durchflossenen Strecke gleichzeitig und
gleich stark erregt, richtig, so würde man durch die Vei'gleichung der
Zuckungshöhen in beiden erwähnten Fällen zwar nicht die Erregbar-
keitsveränderungen bestimmter Stellen der intrapolaren Strecke er-
kennen, da sich ja die verschiedenen Elemente derselben natürlich
sämmtlich daran betheiligen würden, und zwar jedes nach Maassgabe
des ihm zukommenden Zustandes; wohl aber Avürde man sozusagen
die resultirende Erregbarkeit oder, wie sich v. Bezold ausdrückte,
die „T 0 1 a 1 e r r e g b a r k e i t" der durchflossenen Muskelstrecke kennen
lernen. Da jedoch seither der Beweis geliefert wurde, dass auch
inducirte wie Kettenströme nur polare Wirkungen entfalten, so kann
natürlich durch das beschriebene Versuchsverfahren
nichts weiter ermittelt werden, als Erregbarkeitsver-
änderungen a n d e r p h y s i 0 1 0 g i s c h e n Kathode o d e r A n o d e.
Es ist daher klar, dass die v. Bezold'sche Methode nur über die
E r r e g b a r k e i t s V e r ä n d e r u n g e n der F a s e r e n d e n eines
längs durchströmten Muskels Aufschluss zu geben ver-
mag und über dieErregbarkeitderintrapolaren Strecke
gar nichts aussagt. Nebst diesem principiellen Fehler leiden die
V. Bezold 'sehen Versuche auch noch an dem Mangel, dass der Strom
durch metallische Elektroden zugeführt wurde, wobei natürlich der
Einfluss der Polarisation das Resultat sehr complicirt.
Um nun mit möglichster Vermeidung aller Fehlerquellen die
polare Erregbarkeit eines von einem Kettenstrom durchflossenen,
durch Curare entnervten, parallelfaserigen Muskel mittels der be-
schriebenen Methode untersuchen zu können, und zwar zunächst
während der Durch Strömungsdauer, wird der gänzlich un-
versehrte, beiderseits mit Knochenstümpfen in Verbindung stehende
Sartorius im Doppelmyographen mit unpolarisirbaren Elektroden be-
festigt, deren eine dauernd fixirt wird, während die andere, beweg-
lich, mit einem Schreibhebel verbunden ist. Die Anordnung ist
zunächst eine solche, dass der polarisirende Kettenstrom und der
Schliessungsinductionsstrom in gleicher Richtung aufsteigend oder
absteigend den Muskel durchsetzen.
Der Uebersichtlichkeit halber und zum besseren Vergleich mit
V. Bezold 's Resultaten mögen zwei Versuchsreihen aus vielen hier
Platz finden , bei denen im Allgemeinen derselbe Gang befolgt er-
scheint, wie in v. Bezold's analogen Versuchen.
Elektrische Reizung dei' Muskeln. 241
I. Zuckungshölle
1. Zuckung. Muskel unpolarisirt 4 mm
^' n » )) .* * ' ■* »
3. „ Unmittelbar nach Schliessung eines sehr schwa-
chen absteigenden *) Stromes (2 Dan. RW
= 1) \ 29 „
4. „ Sofort nach Oeffnung dieses Stromes ... 4 „
5. „ Muskel unpolarisirt 4 „
6. „ Unmittelbar nach Schliessung eines stärkeren
absteigenden Stromes (RW = 4) ... 32 „
7. „ Nach Oeffnung dieses Stromes 3 „
8. „ Der polarisirende Strom abermals verstärkt
(RW = 8); sofort nach der Schliessung
desselben 26 „
9. „ 3 Sekunden später 0 „
10. „ Unmittelbar nach der Oeffnung ^ n
11. „ 1 Minute später Spur.
II.
1. Zuckung. Muskel unpolarisirt 6 mm
2. „ ,, „ ; • ■ ; " )i
3. „ Unmittelbar nach Schliessung eines schwachen
absteigenden Stromes (2 Dan. RW = 5) 26 „
4. „ Nach 5 Sekunden 26 „
5. „ Nach weiteren 7 Sekunden 21 „
6. „ „ „ 4 „ 18 „
7. „ „ „ 4 „ 16 „
8. „ „ „ 4 „ 14 „ ■
9. „ „ .,5 „ 8 „
10. „ „ „ 5 „ 5 „
11. „ „ „ 5 „ 0 „
12. „ Nach Oeffnung des Stromes 0 „
13. „ ,, 40 Sekunden 0 „
14. „ „50 „ 3 „
15. „ „62 „ .5 „
16. „ Unmittelbar nach Schliessung desselben polari-
sirenden Stromes 25 „
17. „ 5 Sekunden später 21 „
18. „ 5 „ „ 17 „
19. „ 5 „ „ . 12 „
20. „ 5 „ „ 4 „
21. „ 5 „ „ . 0 „
Aus den vorstehenden Versuchsreihen ist nun ohne Weiteres er-
sichtlich, dass, wie v. Bezold gefunden hat, sehr schwache Ketten-
ströme in der That die Reizwirkung einzelner, die ganze intrapolare
Strecke durchsetzender Inductionsströme wesentlich erhöhen, wenn
sie mit diesen gleiche Richtung haben. Die angeführten Zahlenwerthe
zeigen übrigens, dass die Zunahme der Zuckungshöhen eine viel
bedeutendere ist, als es v. Bezold in seinen Versuchen jemals beob-
*) Absteigende und aufsteigende Ströme wirken wegen der assymetrischen Form
des Sartorius verschieden.
Biedermann, Klektrophysiologie. 16
242 Elektrische Reizung dei' Muskeln.
sein dürfte, dass durch die Anwendung unpolarisirbarer Elektroden
der sonst nicht zu vermeidenden , raschen Inteusitätsabnahme des an
sich schwachen polarisirenden Stromes vorgebeugt war.
Eine wesentliche Differenz zwischen diesen Versuchsresultaten
und denen v. Bezold's ergiebt sich jedoch, wenn man den Ein-
fluss der Durchströmungsdauer auf den Erfolg des Prüfungs-
reizes in Betracht zieht. Während nämlich v. B e z o 1 d bei Anwendung
eines polarisirenden Stromes die Höhe der durch einen Inductionsschlag
ausgelösten Zuckung mit der Länge der Schliessungsdauer des ersteren
(ungeachtet des eben erwähnten Uebelstandes der fortschreitenden
Polarisation der metallischen Elektroden) merklich zunehmen sah, war
dies bei meinen Versuchen niemals der Fall. Es zeigte sich vielmehr,
dass, wenn der Kettenstrom zunächst nur sehr geringe Intensität
besass, so dass keine wahrnehmbare Spur sichtbarer Erregungs-
erscheinungen den Moment seines Einbrechens in den Muskel ver-
rieth, die Höhe der durch einen gleichgerichteten Inductionsstrom aus-
gelösten, verstärkten Zuckungen sich nicht merklich ändert, wenn der
polarisirende Strom nicht sehr lange geschlossen bleibt. Dagegen be-
obachtete ich im letzteren Falle unter sonst gleichen Umständen stets
eine mehr oder weniger ausgesprochene Abnahme der Zuckungs-
höhe. Uebrigens hängt es in unverkennbarer Weise von dem je-
weiligen Erregbarkeitszustande des Präparates vor Beginn der Polari-
sation alj, innerhalb welcher Zeit nach Schliessung eines Ketten-
stromes von sehr geringer Intensität sich der erregbarkeits m i n d e r n d e
Einfluss desselben geltend macht. Im Allgemeinen kann man sagen,
dass dem Stadium erhöhter A n s p r u c h s f ä h i g k e i t der
k a t h 0 d i s c h e n F a s e r s t e 1 1 e n eines s c h av a c h p o 1 a r i s i r t e n
Muskels um so rascher eine Herabsetzung derselben
folgt, je mehr durch irgendAV eiche Einflüsse die Erreg-
barkeit des Muskels von A^ornherein, sei es local oder
allgemein, gesunken AAar.
Man bemerkt dies ebensoAvohl an Präparaten , AA-elche Avenig
lebenskräftigen Fröschen entnommen Avurden, wie auch an solchen,
deren Erregbarkeit nur örtlich (an der Kathode) durch eine etwa
A^orhergegangene Durchströmung herabgesetzt ist. Der letztere Ein-
fluss lässt sich auch an der unter IL mitgetheilten Versuchsreihe er-
kennen. Innerhalb 34 Sekunden nach Schliessung des schAvachen,
polarisirenden Stromes wurde der Anfangs ausserordentlich gesteigerte
Erfolg des als Prüfungsreiz dienenden, gleichgerichteten Schliessungs-
inductionsstromes gleich Null. Sobald sich nun nach Oeffnung des
Kettenstromes der Muskel AAÜeder soAA^eit erholt hatte, dass der gleiche
Prüfungsreiz, Avie vor der ersten Durchströmung, deutliche Zuckungen
auslöste, wurde der polarisirende Strom abermals geschlossen. Un-
mittelbar nachher erreichte die Höhe der ausgelösten Zuckung nahezu
denselben Werth, wie in der ersten Reihe ^ dagegen nahm jetzt die
Ansprachsfähigkeit der kathodischen Faserstellen ungleich rascher ab
als A'orher, indem schon die Durchströmungsdauer von 20 Sekunden
genügte, um den Erfolg des gleichen Prüfungsreizes aufzuheben.
Je grösser die Intensität des den Muskel durch-
fliessenden Kettenstromes ist, um so rascher folgt dem
Stadium erhöhter Reizwirkung eines gleichgerichteten
Elektrische Reizung der Muskeln. 243
Inductionsstromes die Herabsetzung und schliessliche
Aufhebung derselben.
Wenn man mit den allerschwächsten , polarisirenden Strömen be-
ginnt und deren Intensität durch Verschiebung des Reochordschlittens
nach und nach steigert, während man dem Muskel zwischen je zwei
Versuchen immer hinreichend Zeit zur Erholung lässt, kann man sich
leicht von der Richtigkeit des eben ausgesprochenen Satzes über-
zeugen. Bei einem gewissen, nach dem jeweiligen Erregbarkeits-
zustande des Präparates wechselnden Intensitätsgrad des Stromes tritt
die erhöhte Anspruchsfähigkeit an der Kathode nur in den der
Schliessung unmittelbar folgenden Zeitmomenten deutlich hervor und
lässt sich bei weiterer Steigerung der Stromesintensität gar nicht mehr
nachweisen. Es ist dies jedoch nicht, wie man vielleicht im Hinblick
auf die oben erwähnten Beobachtungen von E n g e 1 m a n n am Kanin-
chenureter glauben könnte, erst dann der Fall, wenn durch den Ketten-
strom bereits eine deutliche Schliessungsdauercontraction an der Kathode
bewirkt wird; vielmehr entgeht, der äusserst kurzen Dauer wegen,
das Stadium erhöhter Anspruchsfähigkeit in den meisten Fällen bereits
der Beobachtung, wenn die Intensität des polarisirenden Stromes nicht
einmal ausreicht, eine maximale Schliessungszuckung des Muskels aus-
zulösen. Es muss daher als Regel gelten, sich nur der allerschwäch-
sten Kettenströme zu bedienen, wenn es darauf ankommt, die in einem
gewissen Stadium der Polarisation hochgradig gesteigerte Anspruchs-
fähigkeit kathodischer Faserstellen nachzuweisen , da sie andernfalls
leicht ganz übersehen werden könnte. In Uebereinstimmung mit
älteren Befunden von P f 1 ü g e r und Nasse fand auch H e r m a n n (42),
dass „sowohl am Nerven als am Muskel die Wirkung eines gegebenen
Inductionsstromes durch gleichgerichtete Bestandströme erhöht, durch
entgegengesetzte herabgesetzt wird (bis zur Annullirung)". Bei den
schwächsten Bestandströmen beginnend, macht die Steigerung des
Reizerfolges gleichsinniger Stromesschwankungen einer Herabsetzung
Platz, wenn die Stärke des Bestandstromes eine gewisse Grenze über-
schreitet; Hermann erhielt dasselbe Resultat in noch einwandfreierer
W^eise, wenn auch zur Reizung Kettenströme verwendet wurden.
In den beiden oben mitgetheilten .Versuchsreihen (I und II) waren
die durch den Prüfungsreiz unmittelbar nach Schliessung des Ketten-
stromes ausgelösten Zuckungen nahezu maximale. Es lässt sich jedoch
von vornherein mit Wahrscheinlichkeit annehmen, und der Versuch
bestätigt die Voraussetzung, dass die Anspruchsfähigkei t der
kathodischen Faserstellen eines durchströmten Mus-
kels bis zu einer gewissen Grenze mit der Intensität
des polarisirenden Stromes zunimmt. Diese Grenze liegt
jedoch ausserordentlich niedrig; sie wurde in meinen Versuchen bei
Anwendung von zwei Danieirschen Elementen als Stromquelle in der
Regel schon bei 1—2 cm Draht Nebenschliessung erreicht. Jenseits
derselben nimmt, wie schon erwähnt, die Erregbarkeit mit der Dauer
des Geschlossenseins um so rascher ab, je stärker der polarisirende
Strom ist.
Gerade in dem Falle, avo die Intensität des letzteren so gering
ist, dass jede Steigerung derselben eine entsprechende Verstärkung
der Reizwirkung eines gleichgerichteten Inductionsstromes zur Folge
hat, hätte sich die von v. Bezold beobachtete Zunahme der Zuckungs-
16*
244 Elekti-isclie Reizung der Muskeln.
höhe mit wachsender Sehliessungsdauer des Kettenstromes zeigen
müssen, was jedoch niemals zu beobachten war.
Welche Schlussfolgerungen dürfen Avir nun aus diesen Versuchen
ziehen? Da es bekannt ist, dass der als Prüfungsreiz benutzte In-
ductionsstrom im Allgemeinen nur an der Kathode sichtbar erregend
wirkt, also an Faserstellen, welche während der Schliessungsdauer des
polarisirenden Stromes sich bereits im Zustande dauernder Erregung
befinden, so können die beobachteten, mit der Stärke und Dauer der
Durchströmung wechselnden Zustände der Erregbarkeit an der Kathode
nur als Folgen der örtlichen Dauererregung daselbst betrachtet werden,
und es fragt sich nur, wie es dann bald zu einer Erregbarkeitserhöhung,
bald zu einer Herabsetzung derselben kommt.
Es darf als sicher gelten, dass der einen Muskel durchfliessende
elektrische Strom nicht nur im Augenblick der Schliessung, sondern
während der ganzen Dauer des Geschlossenseins als Er-
regungsursache wirkt. Es ist ferner experimentell festgestellt, dass
die dem Erregungsvorgang zu Grunde liegenden Veränderungen der
contractilen Substanz auf jene Faserstellen beschränkt sind, durch
welche der Strom austritt. Jeder Reizversuch zeigt aber auch sofort,
dass das Zustandekommen einer Schliessungszuckung, d. i. die
Auslösung einer Erregungs- beziehungsweise Contractions welle am
Orte der Reizung, in der Regel an die Bedingung geknüpft ist, dass
die Stromesschwankung von Null oder einem endlichen Werthe aus mit
einer gewissen Raschheit erfolgt-, dem wäre noch hinzuzufügen, dass
auch die absolute Intensität des Reizstromes einen gewissen Grenz-
werth übersteigen muss, wenn sichtbare Erregungserscheinungen aus-
gelöst werden sollen. Gesetzt nun, es werde ein Muskel dauernd
von einem Kettenstrom durchflössen, dessen Intensität so gering ist,
dass keine Spur sichtbarer Erregungserscheinungen dessen Vorhanden-
sein verräth, so werden wir nichtsdestoweniger anzunehmen berechtigt
sein, dass ein so zu sagen „latenter Erregungszustand" aller jener
Faserstellen, deren Gesammtheit die „physiologische Kathode" reprä-
sentirt, während der Dauer der Durchströmung vorhanden ist; denn
jener veränderte Zustand der contractilen Muskelsubstanz, dessen
rasches Entstehen an der Austrittsstelle des Stromes eine Contractions-
welle auslöst, wenn die Stromesintensität einen gewissen unteren Grenz-
werth überschreitet, und dessen Fortbestehen während der Schlussdauer
stärkerer Ströme die Schliessungsdauercontraction beweist, muss offenbar
auch nach Schliessung der schwächsten Sti'öme, wenn auch nur in
geringem Grade vorhanden sein. Dann wird es aber auch nur eines
geringen, je nach Umständen grösseren oder kleineren plötzlichen
Zuwachses zu dem dauernd vorhandenen, an sich unzureichenden
Reize bedürfen, um an der Kathode eine Erregungswelle auszulösen.
Es wird, mit anderen Worten, eine rasche, positive
Schwankung eines den Muskel durch fliessenden, sehr
schwachen Stromes als auslösender Reiz wirken können,
auch wenn die gleiche Schwankung, von demAbscissen-
wertheNull ausgehend, keine oder nur eine minimale
Erregung des Muskels bewirkte. Der unter Umständen zu
beobachtende verstärkte Reizerfolg eines Inductionsstromes, dessen
Richtung mit der des polarisirenden Kettenstromes übereinstimmt,
lässt sich daher durch Summation zweier an sich unzureichender
Reize erklären, und es erscheint die erhöhte Anspruchsfähigkeit an
Elektrische Reizung dei* Muskeln. 245
der Kathode nicht sowohl als eine besondere, den Erregungsvorgang
einleitende Strom Wirkung, sondern sie ist durch diesen selbst bedingt.
Mit dieser Auffassung steht das entgegengesetzte Verhalten eines
Muskels während und unmittelbar nach einer länger anhaltenden,
schwachen Polarisation oder bei Anwendung stärkerer Ströme in
völliger Uebereinstimmung.
Die im letzteren Falle zu beobachtenden Nachwirkungen
wurden bereits oben auf eine locale, durch den Strom bedingte
„Ermüdung" der kathodischen Faserstellen bezogen (25). Aus den
hier mitgetheilten Thatsachen geht hervor, dass fast unmittelbar nach
Schliessung eines mittelstarken Stromes eine während der Dauer der
Durchströmung zunehmende Verminderung, beziehungsweise völlige
Aufhebung der Anspruchsfähigkeit für Inductionsströme an der Kathode
vorhanden ist. Die directe Abhängigkeit, in welcher bei geringerer
Intensität des polarisirenden Stromes die Herabsetzung der Erregbar-
keit während der Durchströmung von der Dauer dieser letzteren steht,
macht es sehr wahrscheinlich, dass in diesem Falle der Erregungs-
vorgang selbst, oder richtiger die durch denselben bedingte Er-
müdung am Orte der directen Reizung, als Ursache der verminderten
Anspruchsfähigkeit der kathodischen Faserstellen anzusehen ist.
Der während längerer Zeit anhaltende schwache Erregungszustand
an der Kathode hat hier allmähli ch Veränderungen der contractilen
Muskelsubstanz bewirkt, welche sich nicht nur während der Schliessungs-
dauer des Stromes, sondern in der Regel auch nach der Oeffnung
desselben noch einige Zeit durch eine verminderte Erregbarkeit ver-
rathen und daher in herkömmlicher Weise als Ermüdungserscheinung
erklärt werden dürfen. Es fragt sich jedoch: wie haben wir die Herab-
setzung der Anspruchsfähigkeit an der Kathode unmittelbar nach
Schliessung stärkerer Ströme aufzufassen und zu erklären ? Hier
kann von einer „Ermüdung" in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes
schon darum eigentlich nicht die Rede sein, weil sich eine den Reiz
länger überdauernde, beträchtliche Nachwirkung in der Regel
nicht nachweisen lässt, sofern die Schliessungsdauer des Stromes nur
kurz war. Allerdings fehlt sie auch dann nicht ganz, wie schon aus
dem Umstände hervorgeht, dass in einer Zuckungsreihe, welche durch
in kurzen Pausen auf einander folgende Schliessungen eines Ketten-
stromes bei unveränderter Richtung desselben erhalten wurde, die
Höhe jeder Zuckung merklich hinter der der nächst vorhergehenden
zurückbleibt; allein diese geringfügige Nachwirkung nach einmaliger
kurzer Schliessung würde nicht hinreichen, um die sofortige, sehr be-
trächtliche Herabsetzung der Anspruchsfähigkeit während der
Schliessungsdauer desselben Stromes zu erklären. Ist doch ein
Inductionsstrom, welcher maximale Zuckungen des nicht durchströmten
Muskels auslöste, während der Schliessungsdauer eines gleichgerichteten
Kettenstromes von mittlerer Intensität vollkommen unwirksam, während
er sofort nach Oeffnung des letzteren seine volle frühere Wirksam-
keit entfaltet.
Allein es ist nicht zu vergessen, dass auch dem ausgeschnittenen
Muskel in hohem Grade die Fähigkeit der Restitution zukommt, ver-
möge deren er die durch den Erregungsvorgang bewirkten Substanz-
veränderungen um so rascher und vollkommener wieder auszugleichen
vermag, je kürzere Zeit der Reiz einwirkte und je lebenskräftiger
andererseits das Präparat ist. Aus Engelmann 's Versuchen am
246 Elektrische Reizung der Muskeln.
Ureter geht hervor, dass nach jeder Contraction, also schon nach einer
relativ sehr kurzen Dauer der Erregung, nicht nur die Erregbarkeit,
sondern auch das Leitungsvermögen geschädigt erscheinen und sich erst
während der folgenden Ruhepause, und zwar um so rascher wieder
herstellen, je grösser die Erregbarkeit an dem betreffenden Präparate
von vornherein war. Auch darf an die „refractäre" Periode des sich
contrahirenden Herzmuskels erinnert werden. Es ist aber klar, dass,
wenn in demselben Maasse als die Erregbarkeit des quergestreiften
Muskels, die der glatten Muskelfasern übertrifft, auch die Restitutions-
fähigkeit des ersteren grösser ist, eine durch den Erregungsvorgang
bedingte Herabsetzung der Anspruchsfähigkeit an der Kathode un-
mittelbar nach Schliessung eines stärkeren Stromes einen hohen Grad
erreicht haben kann, ohne dass sich eine merkliche Nachwirkung bei
der Oeffnung geltend zu machen brauchte, vorausgesetzt, dass die
Schliessungsdauer nur wenige Sekunden betrug. Immerhin wird aber
ein etwaiger Einfluss der absoluten Stromdichte der Art, dass bei einem
schon bestehenden Strom von gewisser Stärke eine superponirte posi-
tive Schwankung auch unabhängig von den durch ersteren bewirkten Er-
müdungserscheinungen in geringerem Grade erregend wirkt als vorher,
nicht ganz auszuschliessen sein. Es steht daher, wie ich glaube, nichts
im Wege , anzunehmen , dass nicht nur die während und nach
einer andauernden Polarisation auftretende Erregbar-
keitsherabsetzung, sondern auch die unmittelbar nach
Schliessung eines stärkeren Stromes vorhandene Herab-
setzung der Anspruchs fähigkeit der kathodischen Faser-
stellen eines Muskels im Wesentlichen auf ei nemlocalen
„Ermüdungszustande" beruhen, wobei unter „Ermüdung" die
Gesammtheit aller am Orte der Reizung durch den Erregungsprocess
bewirkten Veränderungen der contractilen Muskelsubstanz verstanden
wird, welche während ihres Bestehens das Zustandekommen einer
abermaligen Erregung hindern oder doch erschweren.
Wir können demnach als Resultat aller vorstehenden Erörterungen
den Satz aufstellen, dass die im positiven oder negativen
Sinne veränderte Anspruchs fähigkeit an der Kathode
eines durchströmten Muskels im Wesentlichen beruht
auf dem je nach der Stärke des polarisirenden Stromes
wechselnden Zustand der latenten Dauer er regung und
deren Folgen.
Nicht so leicht ist es, sich über das Verhalten der Erregbarkeit
an der „physiologischen Anode" eines Muskels während der
Dauer der Durchströmung Aufschluss zu verschaffen. Die Versuche,
durch dem polarisirenden Strom entgegengesetzt gerichtete,
die ganze intrapolare Strecke durchsetzende Inductionsströme der Lö-
sung dieser Frage näher zu treten, sind nicht eindeutig genug, um
unmittelbar entscheidende Folgerungen zu gestatten, v. Bezold,
welcher derartige Versuche, wenn auch von einem anderen Gesichts-
punkte aus, anstellte, giebt (10) an, dass „sowohl der aufsteigend als
absteigend gerichtete Kettenstrom, den Muskel durchfliessend, die Er-
regbarkeit des letzteren für aufsteigende Schliessungsinductionsströme,
wenn sie eine gewisse Dichtigkeit nicht überschreiten, anfänglich er-
höhen, bei einer gewissen Dichtigkeit aber und über dieselbe hinaus
dagegen herabsetzen". Ausserdem sollte „der Wendepunkt der Curve
der Erregbarkeitszunahme, bezogen auf die Dichtigkeit des Polari-
Elektrische Reizung der Muskeln. 247
sationsstroraes als Abscisse, bei dem erregenden Strom entgegen-
gesetzt gerichteten Polarisationsströmen früher eintreten, als bei gleich-
gerichteten".
Hat der inducirte Heizstrom gleiche Richtung mit dem Polari-
sationsstrom, so kommt die Erregung des Muskels offenbar nur da-
durch zu Stande, dass der stetig fliessende Strom im Augenblicke der
Schliessung des Kreises der primären Spirale eine plötzliche, äusserst
rasch vorübergehende, positive Schwankung erleidet*) (Fig. 96 a).
Das Umgekehrte gilt natürlich in dem Falle, wo die Richtung des
Reizstromes der des polarisirenden Kettenstromes entgegengesetzt ist
(Fig. 96 0).
Es hängt dann in erster
Linie von der Grösse der
Intensitätsschwankung des
ersteren ab, ob eine Zuckung
des Muskels ausgelöst wird
oder nicht. Wenn man die
Intensitätslinie des der Vor-
aussetzung zu Folge sehr Fig. 96.
schwachen , polarisirenden
Stromes durch eine über der
Abscisse und derselben parallel verlaufende Gerade darstellt, so ist
ersichtlich, dass, während bei gleicher Richtung des Reizstromes und
des polarisirenden Kettenstromes ausschliesslich der ansteigende Theil
der superponirten Schwankungscurve für die Erregung des Muskels
in Betracht kommt, dies keineswegs der Fall sein wird bei entgegen-
gesetzter Richtung beider interferirenden Ströme. Hier kann unter
Umständen, sowohl der absteigende, wie auch der aufsteigende Theil
der Schwankungscurve erregend wirken (vergl. Grützner, Pflüger's
Arch. 28. p. 146); im ersteren Falle würde es sich um eine Oeflfnungs-
erregung, andernfalls um eine Schliessungserregung handeln.^ Bei
geringer Intensität des polarisirenden Kettenstromes kommt jedoch
die erstere Wirkung gewiss nicht in Betracht. Aber auch die andere
wird voraussichtlich erfolglos bleiben , wenn der Kettenstrom so
schwach ist, dass dessen Schliessung an sich keine deutliche Zuckung
bewirkte. So lange dann der tiefste Punkt der Schwankungscurve
die Abscisse nicht erreicht oder wenn dies nur eben der Fall ist,
wird auch das plötzliche Wiederansteigen des für einen Moment ge-
schwächten oder unterbrochenen Kettenstromes nicht erregend wirken.
Erst dann, wenn der tiefste Punkt der Schwankungscurve unter die
Abscissenlinie herabreicht, d. i. wenn die Intensität des Reizstromes
so gross ist, dass nicht nur der polarisirende Bestandstrom durch den-
selben unterbrochen wird, sondern dass auch noch ein gewisser Antheil
des ersteren in einer dem Kettenstrom entgegengesetzten Richtung den
Muskel durchsetzt, wird möglicherweise eine Zuckung des letzteren
erfolgen, wobei noch zu berücksichtigen ist, dass der Erregungsvor-
gang diesfalls an vorher anodischen Faserstellen ausgelöst wird. Es
handelt sich daher dann nicht sowohl um eine Reizung der Eintritts-
*) Da wegen der äusserst kurzen Dauer inducirter Ströme deren Verschwinden
in der Regel nicht zu einer Oeffnungerregung Anlass giebt, so kann man unbedenklich
im vorliegenden Falle die Wirkung eines gleichgerichteten Inductionsstroms als die
einer einmaligen, rasch verlaufenden positiven Schwankung des Kettenstromes be-
trachten.
248 Elektrische Reizung der Muskeln.
stellen des Kettenstromes während des Bestehens des letzteren,
sondern in einer allerdings unmessbar kurzen Zeit nach Oeffnung des-
selben. Das unmittelbar darauf erfolgende Ansteigen des polarisirenden
Stromes zu seiner ursprünglichen Höhe wird der Voraussetzung zu
Folge nicht erregen, da dessen Intensität zu gering ist. Man sieht
leicht, dass die Verhältnisse bei grösserer Stärke des Kettenstromes
noch complicirter werden, indem dann sowohl dessen negative Inten-
sitätsschwankung, wie auch das Wiederansteigen nach vorhergehender
Schwächung oder Unterbrechung erregend zu wirken vermag.
Es geht aus dem Gesagten hervor, dass die Möglichkeit, mit
Hülfe eines dem polarisirenden Strom entgegengesetzt gerichteten In-
ductionsstromes eine Erregbarkeitsveränderung der anodischen Faser-
stellen zu erschliessen, an ganz besondere Bedingungen geknüpft ist.
Vor Allem ei-scheint hierzu erforderlich, dass die Intensität des
Reizstromes jene des polarisirenden in beträchtlichem Grade überwiegt,
denn nur dann wird man mit Wahrscheinlichkeit voraussetzen dürfen,
dass während der Schliessungsdauer des letzteren der zur Erregung
des Muskels übrigbleibende Antheil des inducirten Stromes hinreichend
gross ist, um eine Zuckung auszulösen, falls die Erregbarkeit an der
Anode normal geblieben wäre. Würde aber in einem solchen Falle
die Erregung ausbleiben, so Aväre man wohl berechtigt, auf eine ver-
minderte Anspruchsfähigkeit der anodischen Faserstellen zu schliessen.
Ob nun in einem gegebenen Falle dieser theoretischen Forderung ge-
nügend Rechnung getragen ist, lässt sich um so schwieriger be-
urtheilen, als der Reizstrom von dem polarisirenden Kettenstrom sich
ausser durch eine verschiedene Intensität auch noch durch die Span-
nung sehr wesentlich unterscheidet, ein Umstand, der ja für den Erfolg
der Reizung bekanntlich von grosser Bedeutung ist. Nun ist aller-
dings durch Brücke's Untersuchungen festgestellt, dass es wegen
der äusserst kurzen Dauer inducirter Ströme einer relativ viel grösseren
Intensität derselben bedarf, um einen durch Curare entnervten Muskel
in gleichem Grade zu erregen, als unter denselben Umständen bei
Anwendung eines Kettenstromes. Da sich nun durchwegs heraus-
stellte, dass schon ein sehr schwacher Kettenstrom (2 Dan.RW= 1 — 3 cm)
den Reizerfolg eines entgegengesetzt gerichteten, eine maximale Zuckung
auslösenden Inductionsstromes aufzuheben vermag, so dass selbst bei
weiterer Verstärkung des Reizstromes während der Schliessungsdauer
des Kettenstromes kein Erfolg beobachtet wird, so dürfte der Schluss
wohl gerechtfertigt sein, dass die Anspruchsfähigkeit der
anodischenFaserstellen während derPolarisation herab-
gesetztist.
Fassen wir nochmals kurz die Resultate der vorstehenden Er-
örterungen zusammen, so lässt sich sagen: Wird ein Muskel dauernd
von einem Kettenstrom durchflössen, so findet man während der
Schliessungsdauer die Erregbarkeit der kathodischen Faserstellen ent-
weder erhöht oder erniedrigt. Das Erstere ist der Fall bei geringer
Intensität des polarisirten Stromes, das Letztere bei grösserer Stärke
oder bei längerer Schliessungsdauer schwacher Ströme. Soweit sich
dies auf Grund elektrischer Reizversuche darthun lässt, ist die Erreg-
barkeit anodischer Faserstellen während der Schliessungsdauer des
polarisirenden Stromes stets vermindert oder gänzlich aufgehoben.
Wie verhält es sich nun mit der Erregbarkeit an den
polaren Stellen nach Oeffnung eines polarisirenden
Elektrische Eeizung der Muskeln. 249
Stromes? Diese „Nachwirkungen" sind noch in Kürze zu be-
sprechen.
Es war bei-eits davon die Rede, dass sich nach nicht allzu lange
dauernder Schlusszeit eines sehr schwachen elektrischen Stromes
keinerlei Nachwirkung an der Kathode constatiren lässt, indem die
während der Polarisationsdauer bedeutend gesteigerte Reizwirkung
einzelner, gleichgerichteter Inductionsschläge unmittelbar nach OefF-
nung des Kettenstromes ihre ursprüngliche Grösse wieder erreicht.
War dagegen ein Kettenstrom von mittlerer Intensität hinreichend
lange geschlossen (es genügen in der Regel schon 1 — 2 Minuten), dann
lässt sich immer, wie aus den oben mitgetheilten Versuchsbeispielen
I und II hervorgeht, eine Verminderung der Anspruchsfähigkeit an
der Kathode nicht nur während der Dauer der Durchströmung, sondern
auch nach OefFnung des polarisirenden Stromes nachweisen. Dieselbe
ist um so andauernder, je grösser die Intensität und je länger die
Schlussdauer des Stromes war. Nach längerer Ruhe , bisweilen erst
nach mehreren Minuten, erholt sich ein solcher Muskel wieder soweit,
dass ein Inductionsstrom von entsprechender Richtung, der vor der
Polarisation deutliche Zuckungen auslöste, neuei'dings erregend wirkt.
Um vieles rascher jedoch und selbst dann, wenn in Folge weit vor-
geschrittener localer Ermüdung eine spontane Erholung nicht mehr
erfolgt, kann man die normale Erregbarkeit an der Kathode wieder
herstellen, wenn man den polarisirenden Strom für kurze Zeit wendet.
Mit dieser Erfahrung steht die Thatsache in engstem Zusammenhang,
dass nach nicht allzu kurzer Polarisation eines curari-
sirten Muskels die Erregbarkeit der anodischen Faser-
stellen in der Regel bedeutend erhöht gefunden wird,
fallsdieIntensitätdesKettenstromesnichtzugering war.
Obschon die hierher gehörigen Erscheinungen der sogenannten
„Volta' sehen Alternative" seit lange bekannt sind, hat man
sich doch nicht genau darüber Rechenschaft gegeben, dass es sich
hier ganz ebenso um eine polare, also rein örtliche Wirkung des
Stromes handelt, wie bei dem Erregungsvorgang an der Kathode.
Nachdem bereits Heidenhain (43) gefunden hatte, dass Muskeln,
deren Erregbarkeit durch irgendwelche schädliche Einflüsse (Tetani-
siren, andauernde Durchströmung, Erwärmen etc.) soweit heralDgesetzt
war, dass sie selbst auf Schliessung sehr kräftiger Ströme nicht merk-
lich reagirten, ihre Leistungsfähigkeit wenigstens zum Theil wieder-
erlangen, wenn sie einige Zeit der Einwirkung eines starken, in auf-
oder absteigender Richtung fliessenden Stromes ausgesetzt waren, indem
dann in höherem oder geringerem Grade wieder Erregung erfolgt bei
Oeffnung des polarisirenden, sowie bei Schliessung eines entgegengesetzt
gerichteten Stromes, hat Rosenthal (44) auf die Uebereinstimmung
hingewiesen, in welcher sich diese Thatsachen mit den von ihm zuerst
näher untersuchten Erscheinungen der Volta'schen Abwechselungen
am frischen, nicht erschöpften Muskel befinden.
Nach Rosenthal's leicht zu bestätigenden Beobachtungen sinkt
bei jedem Muskel durch anhaltende Durchströmung in einer und der-
selben Richtung die Anspruchsfähigkeit für die Schliessung eben
dieses Stromes, wird dagegen beträchtlich gesteigert für dessen Oefi^-
nung, sowie für die Schliessung eines Stromes von entgegengesetzter
Richtung. Die erstere Wirkung beruht, wie oben gezeigt wurde, auf
250 Elektrische Reizung der Muskeln.
einem ausschliesslich den kathodischen Faserstellen eigenthümlichen
Ermüdungszustand,
Das gleiche Versuchsverfahren , welches zu dieser Ueberzeugung
führte, gestattet aber auch den Beweis zu liefern, dass die, nach dem
Oeffnen eines polarisirenden Stromes von genügender Stärke nach-
weisbare Steigerung der Anspruchsfähigkeit für Schliessung eines ent-
gegengesetzt gerichteten Stromes lediglich eine den anodischen Faser-
stellen zukommende Eigenthümlichkeit ist.
Da es als feststehende Thatsache gelten darf, dass bei Schliessung
eines Stromes Erregung nur an den Austrittsstellen desselben aus der
Muskelsubstanz erfolgt, so liegt der Beweis, dass nach der Polari-
sation die Erregbarkeit an der Anode gesteigert ist, eigentlich schon
in dem Umstände, dass der Reizerfolg bei Schliessung eines dem
polarisirenden entgegengesetzten Stromes verstärkt gefunden wird. Es
wäre jedoch denkbar gewesen , dass die in Rede stehende Erregbar-
keitsveränderung sich über einen grösseren oder kleineren Theil der
durchströmt gewesenen Muskelstrecke ausbreitet, obzwar das voll-
ständige Fehlen elektrotonischer Erregbarkeitsveränderungeu der intra-
polaren Strecke während der Durchströmung dies von vornherein
sehr unwahrscheinlich macht. Durch directe elektrische Reizung ver-
schiedener Stellen in der Continuität eines vorher polarisirten Muskels
lässt sich aber auch leicht zeigen, dass ebensowenig, als die negative
Nachwirkung der Polarisation die physiologische Kathode überschreitet,
die positive Nachwirkung über die Grenzen der physiologischen Anode
hinausgeht, sofern nur der polarisirende Strom nicht zu stark ge-
wählt wird, da sonst durch das Wirksamwerden secundärer Elektroden-
stellen mannigfache Störungen entstehen können.
Es ist nicht zu verkennen, dass die bisher erörterten Erregbar-
keitsveränderungen während und nach der Durchströmung eines Mus-
kels offenbar in nächster Beziehung stehen zu den früher besprochenen
polaren Erregungs- und Hemmungserscheinungen und eigentlich nur
einen anderen Ausdruck derselben Thatsachen darstellen. Wenn, wie
wir gesehen haben, der elektrische Strom an der Kathode dauernd als
Erregungsursache wirkt, so sind, wie früher auseinandergesetzt wurde,
die beobachteten Veränderungen der Ei-regbarkeit oder Anspruchs-
fähigkeit hiervon die nothwendige Folge, und ebenso muss unter allen
Umständen eine Erregbarkeitsherabsetzung an der Anode vorausgesetzt
werden, wenn daselbst während der Schliessungsdauer eine bestehende
Erregung gehemmt wird. Dass aber nach der Oeffnung des polari-
sirenden Stromes sich Alles umkehrt, ergiebt sich ebenso nothwendig aus
der Umkehr der polaren Erregungs- und Hemmungserscheinungen. Da
innerhalb der intrapolaren Strecke weder Erregungs- noch Hem-
mungserscheinungen durch den Strom direct bewirkt werden und sich
daselbst nur als von den Polen fortgeleitete Veränderungen oder durch
Wirksamwerden secundärer Elektrodenstellen geltend machen können,
so ist von vornherein klar, dass auch direct durch den Strom erzeugte
Erregbarkeitsveränderungen der intrapolaren Strecke im Sinne
V. Bezold's nicht vorhanden sein können und, wie gezeigt wurde,
auch thatsächlich nicht vorhanden sind.
Ebensowenig haben wir auch Grund, Veränderungen des
Lei tungs Vermögens der intrapolaren Strecke anzunehmen,
und können die Versuche v. Bezold's für ein gegentheiliges Ver-
halten nicht als strenge beweisend gelten.
Elektrische Keizung der Muskeln. 25l
V. Bezold untersuchte den Einfluss, den die Polarisation einer
Muskelsti-ecke von 3 mm Länge auf die Leitung einer ausserhalb der-
selben ausgelösten Erregungswelle ausübt. Er fand, dass die Leitungs-
fähigkeit des polarisirten Muskelabschnittes abnimmt, und zwar um so
mehr, je stärker der Strom ist und je länger die Durchströmung an-
dauerte. Bei einem gewissen Grade der Polarisation erscheint das
Leitungsvermögen angeblich vollständig aufgehoben. (Dies war z. B.
der Fall nach 40 Sekunden langer Durchleitung eines Stromes von
4 Dan. Elem., bei einem Rheochordwiderstand = 100 durch eine
3 mm lange Muskelstrecke.) Die Muskel- wie auch die Nerven-
substanz wird daher nach v. Bezold 's Meinung durch den Strom
„gelähmt". Diese Lähmung beruht dem genannten Forscher zu Folge
im Wesentlichen auf einer Leitungs Verzögerung, beziehungsweise Hem-
mung , während doch die angeblich gelähmte Muskel-
strecke durch ä u s s e r c E i n w i r k u n g e n n o c h m i t d e r s e 1 b e n
Geschwindigkeit an Ort und Stelle in den Zustand, der
Erregung versetzt werden kann.
Wie die verschiedenen Abschnitte der intrapolaren Strecke sich
hinsichtlich der Veränderungen ihres Leitungsvermögens verhalten, hat
V. Bezold nicht untersucht, neigt sich jedoch der Ansicht zu, „dass
die Curve der Verzögerungen in der intrapolaren Muskelstrecke, ebenso
wie beim Nerven, von beiden Polen aus nach der Mitte sinkt".
Da sich so vielfache Analogien im Verhalten der glatten Mus-
kulatur des Ureter und des quergestreiften Muskels hinsichtlich des
Verhaltens gegen den elektrischen Strom herausstellten, dürfte es um-
somehr geboten sein, an dieser Stelle auch Engelmann' s Angaben
über den Einfluss der Polarisation auf das Leitungsvermögen des
ersteren zu berücksichtigen, als, wie es scheint (gerade hier), eine
wesentliche Differenz zwischen meinen Befunden am quergestreiften
Muskel und Engel mann 's Beobachtungen am Ureter besteht.
Diesen letzteren zu Folge nimmt das Leitungsvermögen einer polari-
sirten Ureterstrecke in dem auf Seite der Anode gelegenen Theil ab
und in dem auf Seite der Kathode gelegenen zu. Die Grösse der
Aenderungen soll ein Maximum an den Polen sein. Mit der Strom-
stärke und Stromdauer soll die Länge der Strecke herabgesetzten
Leitungsvermögens zunehmen und schliesslich soll dieses in der ganzen
intrapolaren Strecke aufgehoben sein. Wenn von einem oberhalb eines
aufsteigend polarisirten Ureterabschnittes gelegenen Punkte eine Con-
tractionswelle ausging, sah sie Engel mann, wenn der polarisirende
Strom sehr schwach war, die ganze intrapolare Strecke durchlaufen,
jedoch mit einer merklichen Verzögerung an der Anode. Bei stär-
keren Strömen erlischt hier die Welle ganz und bei noch stärkeren
(wenn an der Kathode Dauercontraction eintrat) erlosch die Welle
schon an der Kathode.
Was nun zunächst v. Bezold' s Versuche anbelangt, so geht aus
denselben keinesfalls hervor, dass die Leitungsfähigkeit der ganzen
intrapolaren Strecke vermindert oder aufgehoben ist, da die-
selbe viel zu kurz war. Es konnte die Hemmung der Fortpflanzung
der Contractions welle ebensowohl an der Anode ihren Sitz haben, wenn
es, wie allerdings aus E n g e 1 m a n n ' s Ureterversuchen hervorzugehen
scheint, richtig ist, dass daselbst das Leitungs vermögen der Muskel-
substanz sehr herabgesetzt ist, wie auch an der Kathode, da bei der
Stärke des angewendeten polarisirenden Stromes daselbst jedenfalls
252 Elektrische Reizung der Muskeln.
■eine Dauercontraction vorhanden sein musste, und da, wie man eben-
falls nach Eng-elmann's Beobachtungen zu schliessen berechtigt war,
eine contrahirte Stelle unter Umständen die Erregungsleitung zu unter-
brechen vermag.
Es erwächst daher zunächst die Aufgabe, die Leitungsfähigkeit
der Muskelsubstanz sowohl an Stelle der Anode wie auch an der
Kathode zu prüfen und deren Abhängigkeit von Stärke und Dauer
des Stromes festzustellen.
Ich brachte zu diesem Zweck einen stark mit Curare vergifteten
M. sartorius in gewöhnlicher Weise mit den unpolarisirbaren Elek-
troden des Her ing'schen Doppelmyographen in Verbindung, fixirte die
Mitte des Muskels zwischen Oelthon und Hess die Gestaltveränderungen
beider Hälften auf einer berussten Papierfläche verzeichnen. In der
Regel wurde das untere Sartoriusende mit einzelnen, absteigend ge-
richteten Schliessungsinductionsschlägen gereizt. Der Reizstrom trat
durch die eine Elektrode des Doppelmyographen aus; der Eintritt
desselben wurde durch eine mit 0,5 *^/o NaCl-Lösung getränkte, in die
Thonspitze einer gewöhnlichen, unpolarisirbaren Elektrode eingeknetete
Fadenschlinge vermittelt, um die Gestaltveränderungen der betreffen-
den Muskelhälfte bei der Reizung möglichst wenig zu hindern. Un-
mittelbar neben der fixirten Stelle, etwa der Mitte des Muskels ent-
sprechend, erfolgte durch eine Elektrode von ganz gleicher Beschaffenheit
der Aus- beziehungsweise Eintritt des polarisirenden Kettenstromes,
welcher demnach stets die ganze obere Muskelhälfte durchfloss. Eine
am untern Sartoriusende ausgelöste Contractionswelle pflanzt sich un-
geliindert durch die fixirte Stelle hindurch fort, und beide Muskel-
hälften verkürzen sich in der Regel annähernd gleich stark, so lange
der polarisirende Strom nicht geschlossen ist. Auch wenn ein schwacher
Kettenstrom (sei es in auf- oder absteigender Richtung) die obere
Muskelhälfte dauernd durchfliesst, übt dies keinen merkliehen Einfluss
auf die Zuckungsgrösse beider Hälften aus. Wird jedoch die Inten-
sität des polarisirenden Stromes gesteigert (etwa 2 Dan. =^ 100 RW)
und befindet sich die Kathode in der Mitte des Muskels, so entwickelt
sich in allen Fällen während der Dauer der Durchströmung und mit
derselben zunehmend, eine immer deutlicher hervortretende Hemmung
für die Fortpflanzung der im nicht polarisirten Muskelabschnitt aus-
gelösten Contractionswelle. Zunächst bemerkt man, dass die beiden
Muskelhälften sich nicht, wie vorher, gleich stark verkürzen, indem
die Zuckungscurven der polarisirten Hälfte mit der Dauer der Durch-
strömung immer kleiner und kleiner Averden, während die der direct
erregten Hälfte ihre anfängliche Höhe unverändert beibehalten. Schliess-
lich bleibt bei erneuter Reizung der nicht polarisirten Muskelhälfte
die Gestaltveränderung jenseits der fixirten Stelle vollständig aus, die
Contractionswelle vermag die kathodischen Faser-
stellen nicht mehr zu passiren.
V. Bezold's Annahme zu Folge müsste man nun erwarten, dass
zu dieser Zeit bereits die ganze intrapolare Strecke leitungsunfähig ge-
worden ist. Dem widerspricht jedoch auf das Entschiedenste die That-
sache, dass, wenn der polarisirende Strom in der Mitte
des Muskels eintritt, wenn sich also daselbst die Anode
befindet, niemals, selbst bei Anwendung sehr starker
K e 1 1 e n s t r ö m e und bei beliebiger Dauer der Durch-
strömung, eine merkliche Behinderung d er Fortpflan-
Elektrische Reizung der Muskeln. 253-
zung einer Contractionswelle wahrnehmbar ist, ja unter
Umständen beobachtet man, Avie unten näher zu erörtern sein wird,
das gerade Gegentheil. Es kann demnach kein Zweifel darüber be-
stehen, dass Faserstellen, welche einige Zeit hindurch
den Austritt eines genügend starken, elektrischen
Stromes vermittelten, in einen Zustand gerathen, in
welchem sie sich als ungeeignet erweisen, eine dies-
seits ausgelöste Er regungs welle auf jenseits derselben
befindliche Querschnitte zu übertragen. Auch für den
Nerven ist diese Undurchdringlichkeit der Kathode von Hermann
und Werigo festgestellt worden und wird später darauf zurück-
zukommen sein. Die Bedingungen ihrer Entwicklung sind hier ganz
dieselben wie beim Muskel.
Dass nicht etwa die an der Kathode localisirte Schliessungsdauer-
contraction als solche das die Fortpflanzung hemmende Moment
bildet, geht, abgesehen von dem Umstand, dass oft genug unmittelbar
nach Schliessung des polarisirenden Stromes beide Muskelhälften gleich-
stark sich verkürzen, obschon an der Kathode, in der Mitte des Mus-
kels, eine deutlich ausgesprochene Dauercontraction vorhanden ist,
auch daraus hervor, dass die Hemmung gerade dann am stärksten
ausgebildet ist, wenn durch anhaltende absteigende Durchströmung
der oberen Muskelhälfte die Anfangs vorhandene Schliessungsdauer-
contraction zum Verschwinden gebracht wurde. Es dürfte demnach
die Annahme wohl gerechtfertigt erscheinen, dass die locale, durch
den Strom bewirkte Ermüdung der Muskelsubstanz an der Kathode
die wesentlichste Ursache der daselbst nachweisbaren Leitungshem-
mung ist. Mit Rücksicht auf die oben mitgetheilten Beobachtungen
über die rasche Abnahme der Anspruchsfähigkeit kathodischer Faser-
stellen während der Polarisation könnte es auffallend erscheinen,
dass, unter den obengenannten Versuchsbedingungen, die Leitungs-
hemmung an der Kathode erst verhältnissmässig spät nach Schliessung
relativ starker Ströme beobachtet wird. Der Grund des abweichen-
den Verhaltens ist, wie ich glaube, wesentlich in der Verschiedenheit
der Art des Stromaustrittes in beiden Fällen zu suchen. Denn
während im ersteren Falle die Faserenden denselben vermitteln,
befindet sich die „physiologische Kathode" andernfalls in der Mitte
des Muskels, wo einmal schon wegen des grösseren Querschnittes
die Stromdichte geringer sein muss, andererseits aber der schief
nach einer schmalen Zone der Muskeloberfläche hingerichtete Ver-
lauf der einzelnen Stromfäden es bedingt, dass die im Innern ge-
legenen Fasern schwächer erregt werden, als die an der Peripherie
befindlichen, da der Strom die ersteren mit geringerer Dichte verlässt,
als die letzteren. Dem entsprechend findet man auch stets, dass, wenn
der Austritt des Stromes in der eben beschriebenen Weise in der
Mitte des Muskels erfolgt, zur Auslösung einer Schliessungszuckung
in der Regel viel stärkere Ströme nothwendig sind, als im umgekehrten
Falle. So lange also nicht durch anhaltende Durchströmung der Ge-
sammtquerschnitt des Muskels an der Austrittsstelle des Stromes er-
müdet ist, wird jede ankommende Erregungswelle den kathodischen
Muskelquerschnitt zu passiren vermögen, indem wie so zu sagen unter
der am stärksten erregten peripheren Zone hinweggleiten kann und
erst dann vollständig gehemmt wird, wenn der Muskel durch die
Fortdauer des localen Erregungszustandes, um mich so auszudrücken,.
254 Elektrische Reizung der Muskeln.
functionell durchtrennt, d. i. in zwei erregbare, durch eine schmale
unerregbare Zone getrennte Abschnitte zerlegt wurde. Die eben ge-
raachte Auseinandersetzung lässt es daher begreiflich erscheinen,
warum es im Allgemeinen einer ziemlich anhaltenden Polarisation mit
verhältnissmässig starken Strömen bedarf, um an irgend einer Stelle
in der Continuität des Muskels das Leitungsvermögen soweit herab-
zusetzen, dass eine ankommende Erregungswelle in ihrem Fortschreiten
gehindert wird. War die obere Muskelhälfte, wie bisher vorausgesetzt
wurde, absteigend polarisirt und wendet man hierauf plötzlich den
Strom, so kann die kräftige Schliessungserregung, welche dann an dem
vorher anodischen Muskelende ausgelöst wird, den durch die dauernde
Erregung an der Kathode leitungsunfähig gewordenen Querschnitt nicht
passiren, und es zuckt daher im Momente der Schliessung nur die
direct erregte, vorher polarisirte ]\Iuskelhälfte, während die andere
jenseits der fixirten Stelle in Ruhe bleibt.
Das Leitungsvermögen kehrt unter Umständen nach Oeifnung des
Stromes Avieder zurück; war jedoch die Intensität des letzteren zu
gross und wurde die Polarisation zu lange fortgesetzt, so kann
es geschehen, dass der kathodische Abschnitt dauernd leitungsunfähig
bleibt.
Im Vorhergehenden war bereits davon die Rede, dass, im Gegen-
satz zu dem von Engel mann beobachteten Verhalten der Ureter-
muskulatur, das Le i tungs ve rm ögen des quergestreiften
M u s k e 1 s ( S a r t o r i u s) unter d e m E i n f 1 u s s d e r A n o d e keine
merkliche Verminderung erkennen lässt. Es ist dies um
so auffallender, als hinsichtlich der directen Erregbarkeit in beiden
Fällen völlige Uebereinstimmung herrscht. An eine wirkliche Ver-
schiedenheit des Verhaltens in beiden Fällen wird man umsoweniger
denken können, als auch am Nerven die anodische Leitungshemmung
sehr ausgeprägt hervortritt. Es dürfte daher das auffallende Verhalten
lediglich in äusseren Umständen begründet sein , unter welchen wohl
die Dicke des Muskels und der quere Verlauf der Stromfäden in erster
Linie stehen.
Die früher besprochene Erfahrung, dass kathodische, unerregbare
Faserstellen unter dem Einfluss der Anode der Art modificirt werden,
dass sie fähig sind, abermals in den Zustand der Erregung zu gerathen,
sobald der elektrische Strom den Muskel an den betreffenden Stellen ver-
lässt, beweist zunächst nur, dass dieselben für den directen elektrischen
Reiz wieder empfänglich geworden sind. Da sich jedoch herausstellte,
dass Veränderungen der muskulären Erregbarkeit keineswegs immer
gleichsinnige Veränderungen des Leitungsvermögens im Gefolge haben,
so wäre es denkbar gewesen, dass, ungeachtet der Wiederherstellung der
directen Erregbarkeit, das Leitungsvermögen, d. i. die Fähigkeit, in-
direct durch eine von andern Faserstellen ausgehende Contractions-
welle in den Zustand der Erregung versetzt zu werden, an der Kathode
unter Umständen dauernd vernichtet bleibt. Die Versuche mit halb-
seitiger Durchströmung des curarisirten Sartorius haben jedoch zu
einem gegentheiligen Resultat geführt, indem sich herausstellte, dass
selbst in Fällen, wo die Polarisation so lange fortgesetzt
wurde, d a s s a n eine spontane Erholung des 1 e i t u n g s -
u n f ä h i g g e w 0 r d e n e n M u s k e 1 a b s c h n i 1 1 e s nicht zudenken
war, die Fähigkeit, den Erregungsvorgang weiter zu
leiten, unter dem Einfluss der Anode stets, und zwar
Elektrische Reizung der Muskeln. 255
dauernd, wiederhergestellt wird, falls der angewendete
Strom nicht allzu schwach ist.
Man hat es auf diese Weise in seiner Gewalt, einen und denselben
Querschnitt eines parallelfaserigen Muskels nach Belieben für eine
von aussen kommende Contractionswelle durchgängig oder undurch-
gängig zu machen, je nachdem man den die eine Hälfte durchfliessen-
den Strom in der Mitte des Muskels ein- oder austreten lässt.
Hinsichtlich der Erregbarkeitsveränderungen eines polarisirten
Muskels Hess sich der directe Beweis liefern, dass dieselben weder
extra- noch intrapolar über die physiologische Kathode, beziehungs-
weise Anode hinausreichen, und es liegt kein Grund vor, bezüglich
der Leitungsveränderungen ein gegentheiliges Verhalten anzunehmen.
Vielmehr spricht Alles dafür, dass sie ebenso wie jene als rein polare
Wirkungen des Stromes aufzufassen sind.
Die elektrische Reizung des iiiclit flhrillär (lifferenzirten
Plasmas.
Während die Wirkungen des elektrischen Stromes auf Muskeln
seit lange die Aufmerksamkeit der Physiologen auf sich gezogen haben,
blieben die in theoretischer Beziehung höchst interessanten Folge-
erscheinungen der Durchströmung nicht tibrillär differenzirter plasma-
tischer Gebilde bis in die neueste Zeit fast gänzlich unbeachtet, und
nur wenige vereinzelte Beobachtungen wiesen darauf hin, dass es sich
hier um Thatsachen von weitreichender Bedeutung handelt.
Mit Rücksicht auf gewisse theoretische Vorstellungen über die
Ursache der Plasmabewegung, speciell der Strömungserscheinungen
in Pilanzenzellen, hatte schon Bequerel den Einfluss eines starken
Stromes untersucht, welcher durch einen schraubenförmig um eine
entrindete Zelle von Ohara herumgelegten Draht floss. Es zeigte sich
keine Wirkung, gleichviel ob die Axe der Drahtwindungen der Zell-
axe parallel war oder zu ihr senkrecht stand. Ebensowenig Erfolg
hatten alle späteren Versuche, eine Fern Wirkung des Stromes auf
irgend welches reizbare Plasma nachzuweisen, so dass es als sicher
gelten darf, dass eine solche überhaupt nicht existirt.
Bei directer Einwirkung schwacher Inductionsströme sahen
Kühne und Engel m a n n die Bewegung von Amoeben nach einem
kurzen Latenzstadium zunächst stocken , nach einiger Zeit aber
wieder beginnen. Sind die Inductionsschläge stärker, so kommt es
zur Annahme der Kugelgestalt durch Einziehen aller l^seudopodien,
wobei immer zunächst die Körnchenströmung stockt. Schliesslich
kann bei sehr starker Reizung die Plasmakugel platzen unter Austritt
des Entoplasmas. was einer endgültigen Zerstörung des Thieres gleich-
kommt (45).
Rhizopoden mit zahlreichen langen und feinen Pseudopodien
ziehen dieselben bei elektrischer Reizung ebenfalls ein, wobei es vor
Allem bemerkenswerth ist, dass d i e r e c h t w i n k e 1 i g z u r S t r o m e s -
r i c h t u n g gelagerten Pseudopodien entweder gar nicht
beeinflusst werden oder doch viel stärkere Ströme er-
fordern, als die parallel verlaufenden, eine Thatsache, die
sofort an das gleiche Verhalten der Muskeln unter denselben Um-
ständen erinnert. So sah K ü h n e (46), wenn er A c t i n o s p h a e r i u m
256
Elektrische Reizung der Muskeln.
mit den Wechselströmen des Inductionsapparates tetanisirte, dass
die Pseudopodien, welche nach beiden Elektroden hin
gerichtet waren, bald varicös wurden, indem das Körnerplasma
auf den Axenstrahlen sich zu kleinen Kügelchen und Spindeln sam-
melte , die allmählich nach dem Körper flössen , während das ganze
Pseudopodium langsam eingezogen wurde. Da diese zu elektrischen
Reizversuchen ausserordentlich geeignete Rhizopodenform auch im
Folgenden noch mehrfach zu erwähnen sein wird, so mögen hier noch
einige Bemerkungen über deren Bau folgen. Der ziemlich grosse
kugelige Körper des Actinosphaerium lässt deutlich zwei Schichten
erkennen, eine dunklere centrale, mit reichlichen Kernen versehene
Masse (Entoplasma) und eine hellere, von Flüssigkeitsvacuolen reichlich
durchsetzte Rindenschicht (Fig. 97). Die Wand jeder Vacuole ist aus
+■
Fig. 97. Actinosphaerum Eichhorni, polare Reizerscheinungen bei Durch-
leitung eines constanten elektrischen Stromes. (Nach Verworn.)
gleichmässig feinkörnigem Plasma gebildet, aus welchem zum Theil
auch die allseitig ausstrahlenden, stachelförmigen Pseudopodien be-
stehen, die im Uebrigen eine eigenthümliche DifFerenzirung erkennen
lassen, indem ein aus festerer Substanz bestehender „Axenstrahl"
von dem ziemlich flüssigen Körnerplasma wie von einer Rinde über-
zogen wird.
Die schon von Kühne beschriebenen Contractionserscheinungen
äussern sich bei beliebiger Art der Reizung immer in gleicher Weise.
„Das den Axenstrahl eines Pseudopodiums im ungei'eizten Zustande
ziemlich gleichmässig umhüllende Protoplasma sammelt sich in Folge
des Reizes, während es langsam dem Körper zuströmt, auf dem Axen-
strahl zu einzelnen kleinen, spindel- oder kugelförmigen Varicositäten
an, zwischen denen der Axenstrahl vom Protoplasma theilweise ganz
entblösst wird. Die Spindeln und Kugeln gleiten auf dem Axenstrahl,
der sich gleichzeitig ebenfalls in den Körper zurückzieht, langsam in
centripetaler Richtung, verschmelzen bisweilen unter einander und
Elektrische Reizung- der Muskeln. 257
fliessen schliesslich ganz in das Protoplasma der Rindenschicht hinein,"
„Ist der Reiz stärker gewesen oder dauert er an, so beginnen, nach-
dem die Pseudopodien an der gereizten Stelle, resp. am ganzen Körper
eingezogen sind, die Flüssigkeitsvacuolen der Rindenschicht an der
Oberfläche zu platzen, indem das Protoplasma ihrer Wände sich mehr
und mehr nach innen zurückzieht. Dadurch erhält der Körper eine un-
regelmässig contourirte, höckerige Oberfläche. Bei noch stärkeren Reizen
endlich fängt das Protoplasma an, körnig zu zerfallen, ein Process, der,
an der Oberfläche beginnend, ganz langsam nach innen fortschreitet,
später auch die Centralmasse ergreift und, wenn der Reiz nicht früher
aufhört, schliesslich den Zerfall des ganzen Körpers herbeiführt. Ist
es noch nicht soweit gekommen , so kann sich der unzerstörte Rest
wieder zu einem (allerdings entsprechend kleineren) vollständigen
Actinosphaerium ei^gänzen" (Verworn 47). Aehnlich wie die Pseudo-
podien der Rhizopoden verhalten sich bei hinreichend starker elek-
trischer Reizung auch die Plasmastränge und -fäden in gewissen
Pflanzenzellen (Tradescan t ia). Bei schwacher Reizung beobachtet
man häufig, wie beim freilebenden, amoeboid beweglichen Plasma erst
nur eine Verlangsamung und Stillstand der spontanen, strömenden
Bewegung, worauf bei Verstärkung des Reizes Bildung von Varicosi-
täten, Klumpen u. s. w. erfolgt. Kühne sah diese Erscheinungen
bei partieller Reizung auch nur local hervortreten. Bringt man eine
grössere Zelle von Trad escantia quer zwischen zwei nahe bei ein-
ander liegende Elektroden , die in feine Spitzen enden , so kann man
die Ströme grösster Dichte dann allein durch ein beschränktes Stück
der Zelle gehen lassen. Bei allmählichem Annähern der secundären
Spirale tritt Stillstand in den Plasmafäden nur in einem Theil der
Zelle ein, worauf sich Wülste, Klumpen und Knollen bilden, welche
später wieder vollkommen in den Strom des noch unveränderten
Plasmas aufgenommen werden können. Auch das rotirende Plasma
von Vallisneria, Ohara, Nitella u. s. w. zeigt bei elektrischer Reizung
immer zuerst eine Verzögerung und schliesslich Stillstand der Strömung.
Viel grösseres Interesse bieten nun aber die Erscheinungen,
Avelche an gewissen Plasmaarten bei Einwirkung des con-
stanten Stromes hervortreten. Die ersten Beobachtungen in
dieser Richtung verdanken wir Kühne, welcher schon im Jahre
1864 (1. c.) auf das merkwürdige und in vieler Beziehung wichtige
Verhalten von Actinosphaerium zum galvanischen Strome hinwies.
Ich werde mich im Folgenden vorzugsweise an die Schilderung von
Verworn (1. c.) halten, welcher diese Beobachtungen neuerdings
wieder aufgenommen und nach verschiedenen Richtungen ergänzt und
erweitert hat. In methodischer Hinsicht sei bemerkt, dass bei den
betreffenden Versuchen ausschliesslich unpolarisirbare Elektroden zur
Verwendung kamen. Das Actinosphaerium wurde mit einigen
Tropfen Wasser in ein Reizkästchen gebracht, welches, auf einem grossen
Objectträger durch Auf kitten von zwei Leisten aus porösem Thon und
zwei Querwälle aus Kitt hergestellt wurde, so dass ein abgeschlossener
rechteckiger Raum entstand, an dessen Langseiten die Pinsel der Elek-
troden angelegt wurden, so dass eine annähernd parallele Durchströmung
möglich schien. In Folge der grossen Widerstände im Kreise muss man
ziemlich starke Ströme anwenden, um deutliche Erfolge zu erzielen, die
dann aber stets überaus charakteristisch sind. Bei der Schliessung
des Stromes bemerkt man zunächst, dass die Pseudopodien sowohl an
Biedermann, Elektrophysiologie. 17
258 Elektrische Reizung der Muskeln.
der Anoden- wie Kathodenseite des kugeligen Körpers varieös werden
und sich unter den oben erwähnten Erscheinungen zu retrahiren be-
ginnen, während wieder die senkrecht zur Stromes-
richtung stehenden Pseudopodien keine Ve r ä n d e r u n g be -
ni erken lassen. Auf Seite der Kathode verschwinden die an sich viel
geringeren Reizerscheinungen sehr rasch, indem die Pseudopodien alsbald
wieder ihre normale Beschaffenheit annehmen. Dagegen schreiten
die entsprechenden Wirkungen an der Anode während
der ganzen Dauer des Stromes ununterbrochen fort. Die
Pseudopodien werden langsam ganz eingezogen, darauf fangen die
Vacuolen der Rindenschichte an zu zerplatzen und ihre Flüssigkeit
zu entleeren, wodurch an der Anodenseite allmählich eine Einschmel-
zung der Körpermasse stattfindet, die mit einem körnigen Zerfall des
Protoplasmas verbunden ist. Auf diese Weise bildet sich an der
Anodenseite nach imd nach eine concave Einbuchtung, während
gleichzeitig eine sehr langsame Einziehung der Pseudopodien an der
ganzen übrigen Körperoberfläche erfolgt. Schliesslich nimmt das
A ctino sphaerium mondsichelförmige Gestalt an, nachdem schon der
grösste Theil des Körpers körnig zerfallen ist (Fig. 97).
Oeffnet man den Stromkreis zu einer Zeit, wo die Pseudopodien
noch überall mit Ausnahme der Anodenseite normal erhalten sind, so
hört sofort d e r E i n s c h m e 1 z u n g s p r o c e s s a n d e r A n o d e auf
und an d e r K a t h o d e zeigt sich nun ein V a r i c ö s w e r d e n
der Pseudopodien, ungefähr in demselben Grade wie unmittelbar
nach Schliessung des Stromes. Doch ist diese Wirkung eine sehr
vorübergehende, und bald nehmen die Pseudopodien wieder ihre nor-
male Gestalt an, während sich auch die eingeschmolzene Anodenseite
wieder langsam ausfüllt, so dass ein ganzes aber kleineres Individuum
entsteht. Bei schwächeren Strömen kommt es überhaupt nicht zum
Platzen von Vacuolen, und nur die Pseudopodien der Anodenseite
retrahiren sich langsam; auch fehlt dann jede Spur kathodischer
Oeffnungswirkung. Alle die geschilderten Erregungserscheinungen
entwickeln sich um so schneller, je stärker der angewendete Strom
ist. Bei Schliessung sehr starker Ströme erfolgt sogar fast mit einem
Ruck der körnige Zerfall an der Anodenseite, um dann immer lang-
samer während der Dauer des Stromes nach dem Centrum hin vor-
zudringen.
Das langsame Einziehen der Pseudopodien an der ganzen Körper-
oberfläche während einer längeren Durchströmung würde nach Ver-
worn als eine secundäre Erscheinung aufzufassen sein, welche erst
in Folge des durch den Zerfallsprocess an der Anode auf das Plasma
ausgeübten Reizes entsteht, denn sie tritt immer erst ein, nachdem
schon ein grösserer Defect entstanden ist. Die geschilderten That-
sachen lassen von vornherein den Erfolg von Wechsel-
strömen voraussehen. Bei massig schneller Reizfolge beginnen dann
die Pseudopodien an beiden Körperpolen varieös zu werden und
ebenso schreitet auch bei stärkeren Strömen der körnige Zerfall von
beiden Polen her gleichmässig fort. Bemerkenswerth ist es, dass bei
sehr raschem Strom Wechsel die bereits eingeleiteten
Erregungserscheinungen si stiren, um bei langsamerer
Folge wieder zu beginnen.
Ein ganz analoges Verhalten gegenüber dem Kettenstrome zeigt,
wie Ve r w 0 r n fand, auch Polystomella crispa, eine marine
Elektrische Reizung der Muskeln. 259
Foraminifere mit zahlreichen sehr feinen, vielfach netzartig mit ein-
ander anastomosirenden Pseudopodien, welche in ausgezeichneter Weise
das sclion von Max Schnitze beschriebene Phänomen der „Körn-
chenströmung" darbieten. „Bei Schliessung des Stromes beginnen die
Körnchen in den an der Anodenseite beündlichen Pseudopodien sämmt-
lich in centripetaler Dichtung zu fliessen, die Pseudopodien Averden
dabei gleichmässig langsam zurückgezogen, je länger die Einwirkung
dauerte, um so weniger und kürzere Pseudopodien ragen nur noch
aus der Schaale hervor, und bald sind an der ganzen Anodenseite
sämmtliche Pseudopodien hinter der Schaale verschwunden." An der
Kathodenseite ist dagegen keinerlei Veränderung bemerkbar, die
Körnchenströmung geht in normaler Weise weiter und die Pseudo-
podien bleiben ausgestreckt, „ja sie verlängerten sich sogar häufig
noch bedeutend, und wenn vorher an der Kathodenseite gar keine
Pseudopodien hervorragten, traten nach der Schliessung oft welche
unter centrifugaler Richtung der Körnchenströmung hervor," Auch
hier war an den senkrecht zur Stromesrichtung stehenden Pseudo-
podienbündeln bei und nach der Schliessung keine Veränderung zu
bemerken. Eine deutliche kathodische Oeffnungswirkung konnte Ver-
AV 0 r n hier nicht constatiren.
Fig. 98. Pelomyxa palustris. Po-
lare Keizerfolge bei Durchleitung eines
Kettenstromes. (Nach V e r w o r n.)
Von grossem Interesse sind ferner die Reizwirkungen, welche
unter sonst gleichen Verhältnissen bei Pelomyxa palustris be-
obachtet werden. Pelomyxa ist ein häufig 2 mm grosser solider
Klumpen von nacktem Protoplasma, der durch die grosse Menge von
Einschlüssen (Sand und Schlammtheilchen) sehr undurchsichtig er-
scheint. Die Bewegungen sind äusserst träge und bestehen, wie auch
bei manchen Amoeben, in einer Strömung des Entoplasmas längs der
Körperaxe nach einer Seite hin, um daselbst beiderseits umzubiegen
und an den Seiten zurückzufliessen. Auf diese Weise entstellt in der
Richtung des Axenstromes ein stumpfer Verstoss, an dessen Rand oft
ein hyaliner Saum bemerkbar wird. Reizwirkungen äussern sich nun
verschieden, je nachdem sie die ganze Oberfläche gleichmässig treffen
oder nur local wirken, je nachdem sie schwach oder stark sind.
„Schwache andauernde Reize, die auf den ganzen Körper wirken, wie
17*
260 Elektrische Eeizung der Muskeln.
z. B. Erschütterungen, bewirken ein sehr langsames, aber voll-
kommenes Kugeligwerden des Körpers. Schwache locale Reize er-
zeugen ein langsames Zurückziehen der getroffenen Stelle." Wirken
starke (etwa chemische) Reize auf den ganzen Körper, so bedingen
sie ebenfalls kugelige Abrundung, aber zugleich tritt iu Folge Zerfalls
der äusseren Plasmaschicht überall das körnige Innenplasma aus, was
bei localer Reizung nur örtlich erfolgt. „An der gereizten Stelle
platzt dann das körnig zerfallende Protoplasma im Zusammenhang
ruckartig hervor, und es entsteht ein ähnliches Bild wie bei An-
wendung starker Ströme auf A c t i n o s p h a e r i u m. " In dieser Weise
äussert sich nun auch die Wirkung eines hinreichend starken gal-
vanischen Stromes (Fig. 98).
Bei der Schliessung platzt mit einem Ruck an der Anodenseite
der Körperinhalt zusammenhängend hervor, worauf der Zerfallsprocess
wie bei A c t i n o s p h a e r i u m immer weiter nach der Kathodenseite hin
fortschreitet, bis endlich auch der letzte Rest hier noch vorhandenen
Plasmas zerstört ist, „Dieser Zerstörungsvorgang schreitet bei eben
wirksamen Strömen in circa ^2—^/4 Minuten von der Anode bis zur
Kathode hinüber, also bis zur völligen Zerstörung des Individuums,
und zwar mit immer abnehmender Geschwindigkeit: Anfangs ruck-
artig schnell, dann immer langsamer und schliesslich ganz allmählich
und undeutlich. Bei stärkeren Strömen ist die Dauer bis zum End-
erfolge eine viel geringere. Der Process verläuft in der Form eines
Schnürrings über den ganzen Körper; derselbe setzt an der Anode
ein und schreitet nach der Kathode zu vorwärts ; was anodenwärts
von ihm gelegen ist, d. h. also alle Theile, die er überschritten hat,
sind körnig zerfallen, was kathodenwärts von ihm liegt, lebt noch."
„Wird der Strom, nachdem der Zerfallsprocess erst eine ganz kurze
Strecke vorgerückt ist, geöffnet, so wird der Process sofort sistirt,
während an der Kathode nun mit einem Ruck eine ebensolche Aus-
buchtung von körnig zerfallenem Protoplasma hervorbricht, wie im
Moment der Schliessung an der Anode. Doch schreitet an der Ka-
thode dieser Process nach der Oeffnuug nicht weiter fort." Ist dann
nur noch ein kleiner Rest unzerstörten Plasmas vorhanden, so bildet
sich aus demselben ein neues kleineres Individuum. Bei Anwendung
schwächerer Ströme beginnt die Anodenerregung bisweilen erst nach
einem langen Latenzstadium (1 Minute und mehr) zu wirken. Sehr
auffallend gestaltet sich nach Verworn bei Pelomyxa die Wirkung
inducirter, sowie kurz dauernder Kettenströme, indem bei einer ge-
wissen Intensität derselben immer nur kathodische Oeffnungs-
erregung erfolgt, Avährend die anodische Schliessungserregung erst
bei Strömen von längerer Dauer hervortritt. Es würde sich demnach hier
nicht nur um einen Gegensatz zum Muskel in Bezug auf das polare
Erregungsgesetz handeln, sondern auch hinsichtlich der Abhängigkeit
der Schliessungs- und Oeffnungserregung von der Dauer des Reiz-
stromes.
Verschiedene Amoebenformen, welche Verworn untersuchte
(A. limax, verrucosa und diffluens), zeigten scheinbar ein wesentlich
verschiedenes Verhalten Avie Pelomyxa, indem es wenigstens bei
den angewendeten Stromstärken nicht zur Zerstöpung an dem der
Anode zugewendeten Körperpole kam, sondern nur zu einer Aus-
stülpung (Pseudopodienbildung) auf Seite der Kathode. In der
Regel findet bei Schliessung des constanten Stromes zunächst eine
Elektrische Reizung der Muskeln. 261
momentane Sistirung der Körnchenströmung statt, bis plötzlich an dem
vorderen Ende derAmoebe ein hyalines Pseudopodium hervorbricht,
das gerade nach der Kathode gerichtet ist. Dieses streckt sich (bei
A. limax) ziemlich lang aus und nimmt den ganzen Leibesinhalt in
sich auf, so dass die Amoebe schliesslich in ihrer nor-
malen Keulen form in der Richtung des Stromes gerade
auf die Kathode zu kriecht. Wird der Strom während dieser
Zeit plötzlich gewendet, so findet bei stärkeren Strömen eine ruck-
weise Umkehr der Körnchenströmung nach der entgegengesetzten
Richtung statt, wodurch auch wieder die Richtung des Kriechens eine
entgegengesetzte wird. Durch abwechselndes Wenden des Stromes
kann man so die Amoebe mit voller Sicherheit fortwährend zur Um-
kehr zwingen. Es ist nicht schwer, zu zeigen, dass es sich auch hier
im Grunde um dieselben Wirkungen handelt, wie bei Actino-
sphaerium, Polystomella und Pelomyxa, obschon unmittelbar
sichtbare Erregungserscheinungen vollkommen fehlen. Wenn man das
Varicöswerden der Pseudopodien, das Einziehen derselben, sowie den
schliesslichen partiellen Zerfall des Körperplasmas als Folgewirkungen
der Erregung auffassen darf, was sicher nicht bezweifelt werden kann,
so ergeben sich aus den mitgetheilten Beobachtungen zwei wichtige
Folgerungen : Erstlich der Satz , dass der elektrische Strom
auch das Protistenplasma wie den Muskel nur polar er-
regt, wobei jedoch in Bezug auf die Localisation der
Erregungserscheinungen ein gerade entgegengesetztes
Verhalten hervortritt, indem bei Schliessung des Stro-
mes an der Anode, bei der Oeffnung dagegen an der Ka-
thode Erregung erfolgt. Ueberaus klar und überzeugend macht
sich ferner die Thatsache geltend, dass nicht nur im Momente
des Entstehens und Verschwindens, sondern während
der ganzen Dauer der Schliessung, sowie einige Zeit
nach Oeffnung des Stromkreises der Vorgang der Er-
regung ausgelöst wird, der sich hier nicht eigentlich durch
eine Contraction in demselben Sinne wie beim Muskel, sondern
durch ein centripetal gerichtetes Rückströmen des Plasmas
äussert, das unter Umständen zu einer localen Zerstörung der
äussersten Schichte führen kann. Die Verschiedenheiten der Erschei-
nung des schliesslichen Plasmazerfalls bei den einzelnen Formen er-
klären sich hinreichend aus der verschiedenen Zusammensetzung und
Consistenz des Protoplasmas in jedem einzelnen Falle, Unter Um-
ständen können nun, wie gerade bei Am o eben, die sichtbaren Form-
änderungen gänzlich fehlen, die Erregung bleibt „latent". Aber
auch dann weisen die Richtungsbewegungen des ganzen Plasmakörpers
zwingend auf das Vorhandensein einer polaren Erregung hin. Dass
eine solche unter Umständen zu einer Axeneinstellung des Protisten-
körpers führen kann, ist leicht ersichtlich. Zunächst ist zu bemerken,
dass auch andere Reize , wie beispielsweise Licht , Wärme , chemische
Substanzen, erfahrungsgemäss einen richtenden Einfluss ausüben, wenn
dieselben örtlich einwirken oder doch an verschiedenen Stellen des
reizbaren Substrates verschiedene Intensität zeigen. So veranlassen
gewisse Lichtstrahlen (namentlich die kurzwelligen) manche Flagellaten,
sowie die Schwärmsporen vieler Algen, sich innerhalb der Richtung der
einfallenden Strahlen entweder zur Lichtquelle hin oder von ihr fort
zu bewegen (positiver und negativer H e 1 i o t r o p i s m u s), und eine ana-
262
Elektrische Reizung der Muskeln.
löge Wirkung hat Pfeffer an Bakterien und Flagellaten für lösliche
chemische Stoffe nachgewiesen, indem die betreffenden Organismen diese
Stoffe aufsuchen oder fliehen, sich positiv oder negativ chemotropisch
verhalten. In allen diesen Fällen handelt es sich, wie Verworn richtig
bemerkt, um eine polare Erregung der Protisten durch die betreffen-
den Reize, welche eine Axeneinstellung der Organismen nach der
durch - den Reiz oder richtiger den Intensitätsunterschied des Reizes
bestimmten Richtung bewirkt. Gehen wir von der Annahme aus,
dass bei Durchströmung einer Amoebe die Schliessungserregung
wie bei andern Rhizopoden primär an der Anode erfolgt, so kann
eine auf dem Vorwärtsströmen des Plasmas beruhende Pseudopodien-
bildung naturgemäss nur auf Seite der Kathode stattfinden, womit die
Vorwärtsbewegung in
bestimmter Richtung
ohne Weiteres ge-
geben ist.
Noch deutlicher
zeigt sich diese rich-
tende Wirkung des
Stromes („Galvano-
tropismus") bei vie-
len rascher beweg-
lichen ciliaten Infu-
sorien, sowie bei Fla-
gellaten. Bringt man
zwischen die schon
beschriebenen Leisten-
elektroden auf den
Objectträger einige
Tropfen eines reich-
lich Paramaecium
enthaltenden Heuauf-
gusses, und schliesst
man nun einen hin-
reichend starken Ket-
tenstrom, so zeigt sich,
wie Verworn fand,
folgende Erscheinung,
die am besten mit blossem Auge oder bei Lupenvergrösserung
wahrgenommen wird. „Im Moment der Schliessung drehen sich
sämmtliche Paramaecien wie auf Commando mit dem vorderen
Körperpol nach der negativen Elektrode , und der ganze Haufe
schwimmt mit gleichmässiger Geschwindigkeit auf dieselbe zu
(Fig. 99). In ganz kurzer Zeit ist die Anodenseite des Tropfens
vollständig frei von Paramaecien, nicht ein einziges ist mehr zurück-
geblieben, dagegen ist der ganze Haufe jetzt in dichtem Gedränge
an der Kathode versammelt. So lange der Strom geschlossen bleibt,
verharren die Protisten hier, wird der Strom aber geöffnet, so wenden
sich sofort alle Paramaecien wieder mit ihrem vorderen Körperende
nach der Anode zu und schwimmen in der Richtung auf diese los.
Wieder nach kurzer Zeit ist die Kathode verlassen, und der grösste
Theil hat sich an der Anode angesammelt. Die Ansammlung wird
jedoch jetzt keine so vollständige, wäe nach der Schliessung an der
Fig. 99. Galvanotropismus von Paramaecium a u r e 1 i a,
(Nach Verworn.)
Elektrische Reizung der Muskeln. 263
Kathode, sondern die Par amaecien beginnen bald wieder nach allen
Richtungen hin durch einander zu schwimmen ; und es dauert nicht lange,
so ist die gleichmässige Vertheilung im Tropfen wieder hergestellt.
So oft man den Strom wieder schliesst, tritt dieselbe Erscheinung mit
derselben Präcision ein." Dass es sich dabei wirklich um eine vitale
Erscheinung handelt, lässt sich leicht zeigen, indem man den Versuch
wiederholt, nachdem die Thiere durch Chloroform oder Aether ab-
getödtet worden sind.
Wendet man statt des Reizkästchens unpolarisirbare Elektroden
mit Spitzen aus gebranntem Thon an, welche direct in den infu-
sorienhaltigen Wassertropfen eintauchen, so zeigt sich die bemerkens-
werthe Erscheinung, dass sich nun alle Paramaecien im Moment
der Schliessung mit ihrer Längsaxe in die Richtung der Stromcurven
einstellen und in den Bahnen derselben nach der Kathode hinüber-
schwimmen, so dass die am äussersten Rande des Tropfens befind-
lichen Individuen eine nahezu halbkreisförmige Bahn zurücklegen.
Wird die Stromesrichtung oft gewechselt, so kann man die Para-
maecien zu fortwährender Umkehr bald nach dieser, bald nach jener
Seite veranlassen. Schnell wechselnde Ströme bewirken aber, wie
leicht ersichtlich, überhaupt keinerlei bestimmte Schwimmrichtung und
daher auch keine locale Ansammlung der Protisten. Obschon nun
von vornherein kein Zweifel darüber bestehen kann, dass es sich hier,
gerade wie bei den vorhin genannten Arno eben, um einen durch
latente Schliessungserregung an der Anode bedingten „Galvanotropis-
mus" handelt, so lässt sich dies doch auch ganz direct durch ent-
sprechende Versuche an anderen Infusorien nachweisen, welche dem
Strome gegenüber minder resistenzfähig sind, als Paramaeciura
aurelia. So ist es Verworn gelungen, bei Paramaecium bur-
saria, das bei schwächeren Strömen ebenso ausgezeichnet galvano-
tropisch ist, wie P. aurelia, durch Anwendung sehr starker Ströme,
ähnlich wie bei den oben erwähnten Rhizopoden, eine sichtbare Zer-
störung des einen Körperpoles herbeizuführen, und zwar stets der
Anode, also des beim Schwimmen nach hinten gerichteten Poles. „Bei
Schliessung des Stromes tritt zunächst, wie gewöhnlich, Axeneinstellung
ein, und während nun das Protist nach der Kathode hinüber zu
schwimmen beginnt, tritt am hinteren Körperpol eine hyaline Masse
hervor, die sich langsam vergrössert." Dass es sich dabei um ein
Analogen des Zerfalls auf der Anodenseite von Actinosphaerium
und P e 1 0 m y X a handelt, dürfte wohl kaum zu bezweifeln sein. Noch
leichter gelingt es, dieselbe Wirkung bei Bursaria truncatella zu
erzielen, wo schon bei Anwendung massig starker Ströme ein körniges
Zerfliessen des anodischen Körperendes eintritt, das, solange der Strom
geschlossen bleibt, fortschreitet, bis das ganze Thier in einen durch
klebrige Massen nur locker zusammengehaltenen Körnerhaufen zer-
fallen ist. Dabei haben diese schwerfälligen grossen Infusorien be-
sonders bei stärkeren Strömen meist gar nicht Zeit, erst ihre Axe ein-
zustellen, sondern der Zerfall ergreift jede beliebige Seite des Körpers,
die gerade im Momente der Schliessung der Anode zugekehrt ist
(Verworn).
Aehnlich wie die genannten verhalten sich nun noch eine grosse
Zahl anderer von Verworn untersuchter ciliater Infusorien, sowie
einige Flagellaten (Peridinium tabulatum und Tra'che-
lomonas hispida). Dagegen übt bei einigen anderen Protisten-
264
Elektrische Eeizung der Muskeln.
formen der Strom einen richtenden Einfluss im gerade entgegen-
gesetzten Sinne aus, wie in den bisher besprochenen Fällen. Be-
zeichnet man demnach eine nach der Kathode hingerichtete Schwimm-
(oder Kriech-) Bewegung als negativen Gal vano tr opi smus, so
würde als positiver G a 1 v a n o t r o p i s m u s die Einstellung mit dem
Vorderende und das Schwimmen nach der Anode hin zu be-
zeichnen sein. Ein solches Verhalten fand Verworn bei Opa-
lina ranarum, sowie bei gewissen Flagellaten, besonders Polytoma
u V e 1 1 a und C r y p 1 0 m 0 n a s e r o s a. Bemerkens werth ist ferner die
von Verworn als „tranversaler Galvano tropismus" beschriebene
Erscheinung, dass gewisse, sehr gestreckte Infusorien (so das 2 mm lange
Spirostomum ambyguum) sich mit ihrer Längsaxe senkrecht
zu den Stromfäden stellen (vielleicht wegen mangelnder Erregung
bei Querdurchströmung). Sieht man von diesen vereinzelten Fällen
ab, die noch eines eingehenderen Studiums bedürfen, so darf
man behaupten, dass die oben aufgestellten Sätze betreffs der
elektrischen Erregung des Protistenplasmas für die grosse Mehr-
zahl der untersuchten Formen Geltung haben , wodurch dieselben in
einen eigenthümlichen und gewiss höchst bemerkenswerthen Gegen-
satz zu allen Muskelelementen, sowie auch zu den Nervten treten. Die
naheliegende Annahme, dass das polare Erregungsgesetz im Sinne
Pflüge r's für jedes irritable
Plasma ohne Ausnahme Geltung
hat, erscheint hierdurch end-
gültig widerlegt.
An die im Vorstehenden
erörterten Thatsachen schliessen
sich naturgemäss die interessan-
ten Beobachtungen von Roux
über „morphologische Po-
larisation" von Eizellen
an (48). In der Absicht, fest-
zustellen, ob der elektrische
Strom die Richtung der ersten
Theilung des Eies zu beein-
flussen vermag, setzte Roux
ein etwa 4 cm langes gerades
Band von Froschlaich mit be-
reits befruchteten Eiern der
Wirkung eines starken, zu Be-
leuchtungszwecken dienenden
Wechselstromes von 100 Volt
Spannung aus, wobei schon
nach 10 Minuten an jedem Ei
eine senkrecht stehende, das Ei
halbirende Furche hervortritt, welche überall rechtwinklig zur
Stromesrichtung orientirt war. Schon vorher lässt sich eine deut-
liche Scheidung der Oberfläche in drei Felder constatiren, welche
durch zwei parallele, kreisförmige Grenzlinien gesondert sind, ein
äquatoriales Gürtelfeld ohne erkennbare Veränderungen,
und zwei den Elektroden zugewendete Polfelder mit veränderter,
verfärbter Oberfläche. Wurde statt eines einzigen Bandes von
Froschlaich eine einfache Lage von Eiern durchströmt, welche den
Fig. 100. Froscheier in einer Schale mit
Wasser von den beiden geraden, die senk-
recht eingesetzten Elektroden markirenden
Strichen aus durchströmt. Die Polfelder
dunkel. (Nach Eoux.)
Elektrische Reizung der Muskeln. 265
Boden einer runden Schale bedeckten, wobei die Elektroden an zwei
einander entgegengesetzten Stellen des Randes angelegt waren, so
markiren die Aequatorgürtel oder richtiger ihre Grenzlinien gegen
die Polfelder sämmtlicher Eier Curven, welche alle rechtwinklig
zu der mittleren, geraden Verbindungslinie der Elektroden beginnen
(Fig. lOOj, um sich dann, die zunächst liegende Elektrode im Bogen um-
ziehend, unter allmählicher Vergrösserung ihres Abstandes gegen den
Rand der Schale zu wenden und hier wieder im rechten Winkel zur
Umrandung zu enden. Die Krümmung der Curven ist unmittelbar
neben den Elektroden am grössten und nimmt bis zu der in gerader
Richtung senkrecht auf die Elektrodenaxe verlaufenden Mittellinie
allmählich ab. Wie schon die blosse Betrachtung zeigt, kann es nicht
zweifelhaft sein, dass man es hier mit Linien gleicher Span-
nung, beziehungsweise durch dieselben markirten äqui-
potentialen Flächen des ganzen elektrischen Feldes zu
thun hat. Bei den einer einzelnen Spannungslinie entsprechenden
Eiern nimmt die Breite der Aequatorflächen mit der Entfernung von
der geraden Verbindungslinie der Elektroden zu, so dass die dem
Schalenrand zunächst liegenden Eier die kleinsten Polfelder und zu-
gleich die grössten Aequatorflächen darbieten. Fasst man das ge-
schilderte Verhalten jedes einzelnen Eies gegenüber dem Wechsel-
strome ins Auge, so ist eine gewisse Analogie mit den früher ge-
schilderten Erscheinungen an Actin osphaerium unter gleichen
Verhältnissen nicht zu verkennen, und denkt man sich etwa derartige
Protisten in der Grösse von Froscheiern bei gleicher Anordnung in
wechselnder Richtung durchströmt, so würden nach Zerfall der „Pol-
flächen" die übrig bleibenden Mittelscheiben voraussichtlich eine ähn-
liche Anordnung entsprechend den Spannungslinien erkennen lassen,
wie die Eiäquatoren in dem Roux'schen Versuch.
Diese üebereinstimmung erstreckt sich aber auch auf die Ver-
schiedenheit der Wirkungsweise beider Pole, was natürlich nur bei
Behandlung mit dem Gleichstrom hervortritt. Bei gleicher Anord-
nung wie vorher entwickelt sich, wie Roux zeigte,
an reifen, unbefruchteten Eiern „in weiter, die Mittel-
linie des elektrischen Feldes überschreitender Um-
gebung der positiven Elektrode bloss e i n grosses, grau ■
verfärbtes , der Anode zugewendetes Polfeld,
und bloss die der Kathode nächsten zwei Reihen Eier
hatten ein verfärbtes, kathodisch gelegenes Polfeld Fig. 101. „Spe-
unter Fehlen eines anodischen". Dieses letztere ent- cialpolarisation"
steht auch immer später und die Veränderungen sind theütell! voTstar-
viel geringer als am positiven Felde. Bei schwächeren ken Wechsel-
Strömen entsteht auf der negativen Seite des Eies strömen durch-
Überhaupt kein Polfeld. flossenen Eizelle.
Wenn man die geschilderten Stromeswirkungen ^^^^^ Roux.)
nun auch nicht direct als Erfolge einer elektrischen
Erregung des Eiplasmas wird bezeichnen wollen, so handelt es sich
dabei doch, wie es scheint, um eine specifische Reaction der noch
lebenden oder wenigstens annähernd normalen Eizelle, wenngleich
die Entwicklungsfähigkeit nicht nothwendig erhalten zu sein braucht.
An Massen frisch ausgetretener Eisubstanz konnte Roux niemals
Polfelderbildung nachweisen.
Interessant gestaltet sich auch das Verhalten von Eiern, welche
266 Elektrische Eeizung der Muskeln.
sich bereits in verschiedenen Stadien der Furchung befinden. Sowohl
an dem in zwei und mehr Zellen getheilten Ei (Fig. 101), wie auch im
Morulastadium und auch noch an der in zahlreiche kleine Zellen zer-
legten Blastula zeigt nämlich jede einzelne Zelle der Oberfläche bei
Durchströmung des ganzen Gebildes eine „Specialpolarisation",
indem „die bloss an den Polseiten des Eies liegenden Zellen je ein
von aussen sichtbares Polfeld erhalten, welches dem Pole dieser Seite
des Eies zugewendet ist, während der Aequator den distal vom Pol
gelegenen Theil der freien Oberfläche der Zelle einnimmt". Bei weiter
vorgeschrittener Theilung in immer kleinere und weniger vorspringende
Zellen bei älteren Blastulae und der Gastrula kommt es dagegen unter
denselben Verhältnissen wieder zur Bildung eines Gesammtäquators
zwischen zwei Gesammtpolfeldern , indem ein Gürtel von den Polen
am weitesten abgelegener Zellen unverändert bleibt. Es scheint, dass
die Specialpolarisation der einzelnen Zellen früherer Furchungsstadien
an „eine mit der Vitalität derselben schwindende Eigenschaft geknüpft
ist", da jeder Eingriff", welcher geeignet erscheint, die Lebensenergie
des Eies zu schwächen, auch die Entstehung von Specialpolfeldern
theilweise oder ganz verhindert, ohne zunächst die charakteristische
„Totalpolarisation" des ganzen Zellaggregates zu beeinträchtigen. So
beobachtete Roux an gefurchten Eiern nach schwacher Vergiftung
mit Carbolsäure, wodurch ihre äussere Form nicht wesentlich ver-
ändert wurde , dass zwar im ersten Momente der Durchströmung
Specialpolfelder entstanden, dieselben dehnten sich aber sehr rasch
über die ganze direct von den Stromfäden getroff'ene Zelloberfläche
aus, so dass nun jederseits „ein einheitliches, aber im Bereiche
der oberen Hemisphäre aus gerundet vorspringenden Zellen bestehen-
des Polfeld entsteht 5 und zwischen beiden liegt der von zwei durch-
gehenden, parallelen Linien begrenzte „Generaläquator". Bei etwas
stärkerer Vergiftung tritt dann überhaupt keine Reaction ein. Aehn-
liche Veränderungen lassen sich auch durch verschiedene hohe Tem-
peraturen herbeiführen.
Während kurzes Einlegen ungefurchter Eier oder Morulae in
Wasser von 39 — 45 '^ C. die Reactionsfähigkeit bedeutend steigert, hat
eine längere Einwirkung der Wärme den umgekehrten Erfolg, und die
]\[orulae bilden unter diesen Umständen keine Specialpolfelder mehr,
sondern nur die beiden „Generalpolfelder" getrennt durch einen
Aequator. Auch diese Erfahrungen im Verein mit der weiteren That-
sache, dass auch Abkühlung der Eier die Reaction auf den Strom
sehr erheblich verzögert, weisen darauf hin, dass man es hier mit
einem vitalen Phänomen zu thun hat, dessen weitere Erforschung
gewiss noch mancherlei Aufschluss über das eigentliche Wesen der
polaren Stromeswirkungen verspricht.
TJelbersicht der Ergebnisse.
Fassen wir nunmehr die Resultate der im Vorstehenden ausführ-
lich mitgetheilten Untersuchungen über die sichtbaren Folgewirkungen
der elektrischen Reizung verschiedener contractiler Substanzen zu-
sammen, so werden sich zugleich gewisse Gesichtspunkte ergeben, von
denen aus es möglich erscheint, wenigstens einigermaassen begründete
Vermuthungen hinsichtlich der eigentlichen Wirkungsweise des Stromes
Elektrische Reizung der Muskeln. 267
ZU gewinnen. Vor Allem ist zu bemerken, dass sieh das von Du
Bois-Reymond seiner Zeit, allerdings nur mit Rücksicht auf die
elektrische Reizung motorischer Nerven, aufgestellte allgemeine
Gesetz der Erregung, Avelches in der Folge auch für die
directe Reizung contractiler Substanzen als geltend angesehen
wurde, als den Thatsachen nicht entsprechend erwiesen hat. Es
kann dasselbe daher auch nicht wohl zur Grundlage theoretischer
Erwägungen in Bezug auf das eigentliche Wesen der elektrischen
Erregung gemacht werden. Bekanntlich lautet das Gesetz in seiner
ursprünglichen Fassung folgendermaassen:
„Nicht der absolute Werth der Stromdichtigkeit in jedem Augen-
blicke ist es, auf den der Bewegungsnerv (beziehungsweise Muskel,
contractiles Plasma überhaupt) mit Zuckung des zugehörigen Muskels
(beziehungsweise Erregung überhaupt) antwortet, sondern die Ver-
änderung dieses Werthes von einem Augenblick zum andern, und
zwar ist die Anregung zur Bewegung, die diesen Veränderungen
folgt, um so bedeutender, je schneller sie bei gleicher Grösse vor sich
gingen oder je grösser sie in der Zeiteinheit waren."
Wenn auch zuzugeben ist, dass in vielen Fällen, und insbesondere
bei allen rasch reagirenden, die Erregung dem ent-
sprechend auch rasch leitenden contractilen Substanzen, der
Reizerfolg (insoweit er sich durch sichtbare Gestaltveränderungen
verräth) vorzugsweise im Momente des Entstehens oder Verschwindens
des Stromes sich geltend macht (Schliessungs- und Oeffnungs-
zuckung), so kann es doch andererseits nicht dem geringsten
Zweifel unterliegen, dass der elektrische Strom in jedem Falle
während der ganzen Dauer seines Fliessens jene Verände-
rungen der irritablen Substanzen bewirkt, welche einerseits der Er-
regung, andererseits dagegen antagonistischen Hemmungsvorgängen
zu Grunde liegen. In vielen Fällen sind sogar diese Dauerwirkungen
überhaupt die einzigen, welche im Gefolge der elektrischen Reizung
hervortreten (glatte Muskeln, viele Protisten). Ströme von zu kurzer
Dauer bleiben dann wirkungslos, und es lässt sich dies, wie gezeigt
wurde, auch für quergestreifte Muskeln bei Anwendung geeigneter
Versuchsmethoden nachweisen. Der Strom muss, um erregend
zu wirken, unter allen Umständen eine gewisse und
zwar um so grössere Dauer besitzen, je geringer die
Erregbarkeit und je langsamer die Reaction des be-
treffenden Plasmas ist. Ebenso wenig, wie bei der Schliessung
des Stromes die Erregung nur eben den Moment des Entstehens be-
gleitet, ist dies der Fall bei Oeffnung des Stromkreises; auch die
Oeffnungserregung überdauert erheblich das Verschwinden des
Stromes.
Der maassgebende Einfluss, welchen die Erscheinung der
Schliessungs- und Oeffnungs z u c k u n g des quergestreiften Muskels
von Anfang an auf die ganze Auffassung und theoretische Beui'-
theilung der Stromeswirkung gewonnen hat, macht es nothwendig,
an dieser Stelle nochmals die Frage zu berühren, welche Bedingungen
überhaupt für das Zustandekommen einer Contractions welle erfüllt
sein müssen. Die Erfahrung lehrt, dass, wenn eine Welle, d. h. eine
merkliche Zuckung des ganzen längsdurchströmten Muskels, entstehen
soll, erstlich die (Grösse des Reizes eine gewisse minimale Grenze
überschreiten muss. Ist der Reiz zu schwach, so bleibt die Contrac-
268 Elektrische Keizuug der Muskeln.
tion entweder nur local oder verbreitet sich nur über einen be-
schränkten Abschnitt des Muskels durch Leitung von Querschnitt zu
Querschnitt, um schliessb'ch in Folge des „Decrementes" zu erlöschen.
Die zweite, durch die Erfahrung unmittelbar gegebene Bedingung der
Fortpflanzung der Erregung ist ferner eine gewisse Raschheit des
Entstehens derselben in der, nöthigen Grösse. Die Ver-
änderungen an der Stelle der directen Reizung müssen hier plötz-
lich einen entsprechend hohen Grad erreichen, dann erst überträgt
sich die Erregung auf benachbarte Querschnitte, und diese w^irken
nun ihrerseits in gleicher Weise auf ihre Nachbarn. Dass dem so ist,
ergiebt sich unmittelbar aus dem Umstände, dass es leicht gelingt,
einen selbst sehr starken Kettenstrom in einen Muskel hineinzu-
schleichen, ohne dass sichtbare Erregungserscheinungen eintreten,
wobei die allmählich zunehmende locale Ermüdung an der Kathode
als ursächliches Moment gewiss w^esentlich mit in Betracht kommt.
Dies findet seinen Ausdruck nicht allein in der elektrischen
Schliessungs- und Oeffnungszuckung, sondern auch in zahlreichen
anderen Erfahrungen. So braucht nur daran erinnert zu werden,
dass auch eine mechanische, etwa durch Druck verursachte Reizung
keine Muskel zuckung veranlasst, wenn sie nur ganz allmählich ge-
steigert wird.
Alles dies wirft aber zugleich Licht auf die eigentliche Bedeutung
des Du B 0 i s 'sehen Erregungsgesetzes, indem sich zeigt, dass nicht
sowohl die örtlichen Veränderungen am Reizorte selbst, sondern
vielmehr die Fortleitung des Erregungsvorganges, d. h. die Aus-
lösung einer Reiz- (Contractions-) We 1 1 e , von In tensitäts seh wan-
kungen des Stromes und deren Steilheit abhängig sind, sofern es sich
überhaupt um Objecte mit hinlänglich entwickeltem Leitungsvermögen
handelt. Das „allgemeine Gesetz der Ei'reguug" bezieht sich daher
nicht sowohl auf den Ablauf des Erregungsvorganges und auf das
Zustandekommen der demselben zu Grunde liegenden Veränderungen
der erregbaren Substanz am Orte der directen Reizung (der
physiologischen Anode und Kathode), sondern vielmehr nur auf die
Bedingungen der Fortpflanzung des Erregungsvor-
ganges durch Leitung. In diesem Sinne lässt sich dann das
Gesetz auch so ausdrücken :
Fortpflanzung der Erregung vom Orte der directen
Reizung findet bei Ein Wirkung des elektrischen Stromes
an geeigneten Objecten in der Regel nur bei genügend
raschen Stromesschwankungen statt, mögen dieselben
nun von Null oder irgend einem endlichen We r t h aus-
gehen.
Die vergleichende Untersuchung möglichst verschiedener contrac-
tiler Substanzen zeigt nun ganz unmittelbar, dass am Orte der directen
Reizung selbst während der ganzen Dauer des Stromes wie
auch einige Zeit nachher sichtbare Veränderungen bestehen bleiben,
deren Bedeutung nur in den Fällen unterschätzt werden könnte, wo
sie, wie beispielsweise beim quergestreiften Muskel, gegenüber den Er-
folgen der fortgeleiteten Erregung („Zuckung") mehr oder weniger in
den Hintergrund treten. Ohne hier näher auf die Frage einzugehen,
weshalb in der Regel nur eine Contractionswelle bei Schliessung
oder OefFnung des Stromkreises abläuft, muss doch darauf hingewiesen
werden, dass dies unter Umständen auch bei i ntermittir ender
Elektrische Reizung dei* Muskeln. 269
Dauerreizung mit gleichgerichteten, rasch unterbrochenen Strömen ge-
schieht, sowie umgekehrt in andern Fällen dauernde Schliessung eines
Kettenstromes einen äusserlich ähnlichen, dauernden Erregungszustand
des ganzen Muskels zur Folge haben kann, wie sonst nur inter-
mittirende Reizung. In ersterer Hinsicht zeigten Bernstein und
E n g e 1 m a n n , dass, wenn bei rascher Unterbrechung eines
Kettenstromes die Pause zwischen je zwei auf einander
folgenden Schliessungen unter einen gewissen Werth
sinkt, der Erfolg der Reizung quergestreifter Muskeln
gleich dem der Schliessung eines constanten Stromes
ist; d. h. es läuft nur eine einzige Contractionswelle (Anfangs-
zuckung) von der Kathode ab, an der es dann, wie bei dauernder
Schliessung, zu einer localen Dauercontraction kommt. Die Grösse
des betreffenden Zeitwerthes nimmt ab mit wachsender Stromstärke
und wächst mit abnehmender Reizbarkeit,
Noch leichter lässt sich nach Engelmann dieselbe Thatsache
am träge reagirenden Ureter nachweisen , da hier die Pausen
zwischen je zwei auf einander folgenden Schliessungsreizen sehr viel
grösser sein können, als beim quergestreiften Muskel, ohne dass an
dem Erfolge etwas geändert wird, indem nur im Beginn und am Ende
der intermittirenden Reizung eine Contractionswelle, ersterenfalls von
der Kathode, letzterenfalls von der Anode, abläuft („Anfangs- und
Endzuckung"). Unter allen Umständen ist also eine gewisse, bei
verschiedenen contractilen Substanzen (deren Leitungsvermögen über-
haupt höher entwickelt ist) sehr wechselnde Zeit erforderlich, bevor
nach Ablauf einer Contractionswelle die Bedingungen sich wieder
herstellen, welche zum Zustandekommen einer neuen Reizwelle er-
forderlich sind (Engelmann).
Die oben mitgetheilten Erfahrungen über Auslösung rhythmisch
auf einander folgender Contractions wellen bei dauerndem Geschlossen-
bleiben eines Kettenstromes widersprechen dem Gesagten durchaus
nicht. Offenbar kommt es, ganz allgemein ausgedrückt, nur auf die
Wiederherstellung eines ursprünglich vorhandenen Zustandes der er-
regbaren, leitungsfähigen Substanz an, wenn während des Fort-
bestehens einer stetig wirkenden Reizursache neuerdings eine Contrac-
tionswelle ablaufen soll.
Dies wird aber, sofern nur das Verhältniss und der zeitliche Ver-
lauf der Assimilations- und Dissimilationsprocesse der lebenden Sub-
stanz entsprechende sind, ebensowohl dann der Fall sein können, wenn
es sich um eine intermittirende Reizung handelt, wie im Falle einer
stetig fortwirkenden Erregungsursache. In letzterer Beziehung braucht
bloss auf das so weitverbreitete Vorkommen rhythmischer Bewegungs-
vorgänge verwiesen zu werden, die in vielen Fällen nachweislich auf
der Fähigkeit gewisser Plasmaarten beruhen, einen stetigen Reiz in
rhythmische Erregung umzusetzen. Von dem nicht weiter differenzirten
Plasma der Protisten (contractile Vacuolen) bis zu den quergestreiften
Muskeln hinauf findet man dieses Vermögen mehr oder weniger ent-
wickelt, doch machen sich gradweise Unterschiede bemerkbar. So
sehen wir auch den ganglienfreien Herzmuskel nicht nur bei gieichmässig
andauernder mechanischer oder chemischer Reizung, sondern auch
unter dem Einfluss des constanten Stromes rhythmisch pulsiren, und
dasselbe gilt, wenn auch in viel geringerem Grade, vom quergestreiften
Stammesmuskel. Ohne auf die Frage nach der eigentlichen Ui'sache der
270 Elektrische Reizung der Muskeln.
Rhythmicität in diesen und andern Fällen näher einzugehen, soll hier
nur noch besonders betont werden, dass gerade auch das Vorkommen
rhythmisch wiederholter Contractionen während dauerndem Geschlossen-
sein des Stromes einen sehr überzeugenden Beweis dafür liefert, das
bei elektrischer Reizung der Vorgang der Erregung dauernd ausgelöst
wird. Von grosser Bedeutung sind in dieser Beziehung auch gewisse,
später näher zu erörternde elektromotorische Folge Wirkungen der
Durchströmung von Muskeln, welche man seit Du Bois unter dem
Namen der secundär elektromotorischen Erscheinungen zusammen-
zufassen pflegt.
Als zweite fundamentale Thatsache das ganzen Gebietes
ist das Gesetz von der ausschliesslich polaren Wirkung
jedes wie immer erzeugten elektrischen Stromes zu be-
zeichnen, dem zu Folge derErregungsvorgangbeimEntstehen
und während der Schliessungsdauer des Reizstromes in
der Mehrzahl der Fälle primär nur an der physiologischen
Kathode, beim Verschwinden und nach Oeffnung des
Kreises aber nur an der physiologischen Anode aus-
gelöst wird. Eine bemerkenswerthe Ausnahme in Bezug auf die
erwähnte Localisation der Erregung bei elektrischer Reizung bilden,
wie gezeigt wurde, viele, ja vielleicht die Mehrzahl der Protisten, bei
welchen die Erregung zwar auch streng polar erfolgt, aber bei der
Schliessung an der Anode, bei der Oeffnung an der Kathode localisirt
erscheint; auch die Beobachtungen von Roux über die morphologische
„Polarisation" von Eizellen würden sich hier anreihen. In vielen
Fällen lassen sich ferner durch entsprechende sichtbare Gestaltver-
änderungen ebenso gesetzmässige e r r e g u n g s h e m m e n d e Wirkungen
des Stromes nachweisen, welche gleichzeitig mit den Erregungs-
erscheinungen auftreten, aber an dem entgegengesetzten Pole
localisirt sind. Der kathodischen Schliessungserregung
entspricht daher gleichzeitig eine anodische Schliessungshem-
mung, der anodischen Oeffnungserregung eine kathodische
Oeffnungshemmung. Es zeigen also sowohl die gleichzeitig
vorhandenen polaren Stromes Wirkungen, beziehungsweise Nachwirkungen,
wie auch die nach einander am gleichen Pole hervortretenden
Wirkungen im Allgemeinen antagonistischen Charakter, was
sich insbesondere auch in dem gegensätzlichen Verhalten der „elektro-
tonischen" Erregbarkeits Veränderungen an den physiologischen Polen
ausprägt, die es ermöglichen, namentlich die HemmungsAvirkungen
auch in solchen Fällen nachzuweisen, wo wegen Mangels eines tonischen
Erregungszustandes eine sichtbare Gestaltveränderung nicht hervor-
tritt. Soweit sich aus Versuchen an Muskeln schliessen lässt, scheint
der Strom, wenn seine Stärke gewisse Grenzen nicht überschreitet,
die intrapolare Strecke zu durchsetzen, ohne merkliche Veränderungen
innerhalb derselben hervorzurufen. Unter gewissen Umständen treten
allerdings in der Umgebung der physiologischen Pole, und zwar
während der Schliessung der Anode, nach der Oeffnung der Kathode
Erregungserscheinungen hervor, welche aber wohl nur durch Strom-
schleifen und Bildung secundärer Elektrodenstellen bedingt sein dürften
und denen daher gleichzeitig antagonistische Veränderungen (Hem-
mungen) in der Umgebung des anderen Poles entsprechen.
Die Fortdauer der erregenden bezw. hemmenden Wirkungen des
Stromes während der Schliessungszeit, sowie die polare Beschränktheit
Elektrische Reizung der Muskeln. 271
und der Antagonismus derselben lassen es zweifellos erscheinen, dass
die Erfolge der elektrischen Reizung nur eine besondere
A e u s s e r u n g der beginnenden Elektrolyse der lebenden
Substanz darstellen. Dann wird es auch im Allgemeinen verständlich,
dass sich die anodischen und kathodischen Veränderungen in ihrer
Wirkung aufheben, wenn sie, wie bei einer Querdurchströmung an den
gegenüber liegenden Längsseiten einer Muskelfibrille oder überhaupt
eines sehr schmalen Streifens contractiler Substanz (etwa eines Pseudo-
podiums) erzeugt werden. Es widerspricht dieser Auffassung auch nicht,
dass die der Erregung zu Grunde liegenden Veränderungen bei gewissen
Plasmaarten nicht an der Kathode, sondern im Gegentheil an der
Anode localisirt erscheinen; denn offenbar hängt dies nur von der
Qualität der erregbaren Substanz ab, die nicht nothwendig in allen
Fällen dieselbe zu sein braucht. Diese flüchtigen Andeutungen mögen
an dieser Stelle genügen; es wird unsere Aufgabe sein, später noch-
mals im Zusammenhang auf die Theorie der elektrischen Erregung,
soweit sich eine solche zur Zeit aufstellen lässt, näher einzugehen.
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(. 1868.
7. A. Fiek, Untersuchungen über elektr. Nervenreizung. Braunschweig 1864.
8. ^W. Wundt, Zur Lehre von der Muskelbewegung, p. 122.
9. B. Morgen, lieber Eeizbarkeit und Starre der glatten Muskeln. (Untersuchungen
aus dem physiolog. Institut der Universität Halle. II. Heft. 1890.)
10. H. V. Bezold, Untersuchungen über die elektr. Erregung der Nerven und Muskeln.
1861.
11. C. Eckhardt, Beiträge zur Anat. und Physiol. III. p. 147.
[ Poster and Dew-Smith, Journ. of anat. and physiol. 10. p. 737.
12. l Scherhey, Du Bois Arch. 1880. p. 259-
[r. Neumann, Pflügers Arch. 39. p. 403.
13. E. Hering, Beiträge zur allgem. Nerven- und Muskelphysiologie. I. (Sitzungs-
berichte der Wiener Academie. LXXIX. III. Abth. 1879.)
14. W. Biedermann, Beiträge zur allgem. Nerven- u. Muskelphysiol. XI. (Sitzungs-
berichte der Wiener Academie. LXXXVII. HI. Abth. 1883.)
15. C. Sachs, Du Bois Arch. 1874. p. 57.
16. C. Leicher, Untersuchungen aus dem physiolog. Institut der Universität Halle.
I. Heft. p. 5.
17. Liichsinger, Pflügers Arch. XII. p. 152.
18. Tschirjew, Du Bois Arch. 1877. p. 489.
272 • Elektrische Reizung der Muskeln. S
19. J. Albrecht, Meyer und GiuflFre, Pflügers Arch. 21. p. 462 ff. *
{Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit u. s. w. Braun-
schweig 1862. p. 58. ■
Arch. für Anat. und Physiol. 1867. p. 688. i
21. M. SchifiF, Moleschotts Untersuchungen. V. p. 181 ff. \
22. W. Biedermann, Pflügers Arch. 47. 1890. p. 250 f. |
23. E. Brücke, Sitzungsberichte der Wiener Academie. LXX. III. Abth. 1874. '
24. W. Biedermann, Beiträge zur allgem. Nerven- u. Muskelphysiol. III. (Sitzungs-
berichte der Wiener Academie.) ■
25. Regeezy, Pflügers Arch. 43. 1888. p. 583. ^
26. W. Biedermann, Beiträge zur allgem. Nerven- u. Muskelphysiol. IV. (Sitzungs- i
berichte der Wiener Academie. LXXIX. III. Abth.) I
27. Engelmann, Pflügers Arch. 26. p. 191. \
28. L. Hermann, Pflügers Arch. XLV. 1889. p. 593. i
29. W. Biedermann, Pflügers Arch. 46. 1890. p. 398. j
30. M. Fürst, Pflügers Arch. 46. 1890. p. 367 ff. \
31. W. Biedermann, Pflügers Arch. 45. 1889. p. 369. • i
32. Schillbach, Virchows Arch. 1887. p. 109. ;
33. Lüderitz, Pflügers Arch. XL VIII. p. 1 Ö'. j
34. Hillel Jole, Recherches physiologiques sur l'action polaire des courants elec-
triques. These inaug. Geneve 1889. ;
35. W. Biedermann, Beiträge zur allgem. Nerven- und Muskelphysiologie. XIV. j
(Sitzungsberichte der Wiener Academie. LXXXIX. III. Abth. 1884.) j
36. Beiträge zur allgem. Nerven- und Muskelphysiologie. XVIII. (Sitzungs- ]
berichte der Wiener Academie. XCII. III. Abth. 1885.) ;
37. W. Kühne, Arch. für Anat. und Physiol. 1860. p. 542. ;
38. E. Du Bois-Reymond, Ges. Abhandlungen. I. p. 126. •
39. L. Hermann, Pflügers Arch. 39. p. 603.
40. Jendrassik, Du Bois Arch. für Physiol. 1879. p. 300. j
41. Regeezy, Pflügers Arch. XLV. j
42. L. Hermann, Pflügers Arch. XXX. j
43. R. Heidenhain, Physiolog. Studien. j
44. J. Rosenthal, Zeitschr. für rat. Med. 3. III. p. 132. l
45. Hermann's Handbuch der Physiologie. I. 1. p. 365 ff.
46. W. Kühne, Untersuchungen über das Protoplasma. Leipzig 1864. i
47. M. Verworn, Pflügers Arch. XLV und XLVI. ]
48. Roux, Sitzungsberichte der Wiener Academie. CI. III. Abth. 1892.
D. Die elektromotorischen Wirl<ungen der Muskeln.
Die in Form chemischer Spannkraft in den Muskeln, wie über-
haupt in jeder lebendigen Substanz aufgespeicherte potentielle Energie
liefert im Allgemeinen drei Formen lebendiger Kraft, und zwar mecha-
nische Arbeit (Massenbewegung), Molekularbewegung der Wärme und
Elektricität. Unter diesen spielt die erstere, sofern es sich um echte
Muskelzellen handelt, weitaus die wichtigste Rolle und ist als deren
eigentliche und specilische Leistung anzusehen. Dem gegenüber tritt
die Wärmebildung bei Weitem nicht so sehr in den Vordergrund,
obschon sie, zumal bei den Warmblütern, eine ausserordentlich wich-
tige Rolle im Haushalt des Organismus zu spielen berufen ist. Die
Elektricitätsentwicklung endlich, Avelche uns im Folgenden allein zu
beschäftigen haben wird, tritt, abgesehen von einer verschwindend
kleinen Zahl von Ausnahmsfällen, so sehr zurück gegenüber den beiden
andern Formen lebendiger Kraft, dass es der feinsten Hülfsmittel und
der emplindlichsten Methoden bedarf, um nur überhaupt die Thatsache
ihres Vorhandenseins festzustellen. Wenn dem ungeachtet gerade
dieses Kapitel der Elektrophysiologie zu den bestgekannten und am
sorgfältigsten durchgearbeiteten der Physiologie überhaupt gehört, so
liegt dies vor Allem in dem Umstände begründet, dass seit dem Be-
kanntwerden der wunderbaren Wirkungen des elektrischen Stromes
auf reizbare Theile und jenem folgenschweren Streit zwischen Gal-
vani und Volta der Gedanke, es möchten die räthselvollen Er-
scheinungen der Muskel- und Nerventhätigkeit in irgend einer Beziehung
zu der damals nicht minder dunklen Kraft der Elektricität stehen,
niemals ganz verschwand. Wenngleich in der Folge die Ueberzeugung
bald zum Durchbruch gelangte, dass das, was sich im Nerven zum
Muskel fortpflanzt (das „Nervenprincip"), sicher nicht an sich Elek-
tricität ist, so legten doch die später so ausserordentlich rasch fort-
geschrittenen Kenntnisse der elektromotorischen Wirkungen gewisser
thierischer Theile und insbesondere gerade der Muskeln und Nerven
immer wieder die Vermuthung nahe, dass diese Wirkungen nicht
ohne Bedeutung für die Function der betreffenden Theile seien.
Leider muss man aber bekennen, dass, ungeachtet der zahllosen
Arbeiten und Entdeckungen auf diesem so viel und gern durchforsch-
ten Gebiete, ein sehr autfjllliger Widerspruch zwischen der Summe von
Kenntnissen und Erfahrungen im Einzelnen und der fast gänzlichen
Unkenntniss ihrer Bedeutung für die Function der betreffenden Ge-
Avebe hervortritt. Ueber das Stadium mehr oder weniger begründeter
Vermuthungen sind wir hier noch nicht hinaus gekommen. In gross-
Biederinann, Elektrophysiologie. 18
274 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
artigster Weise manifestirt sich dagegen die Elektricitätsentwicklung
lebender organischer Theile bei jenen wunderbaren Fischen, welche,
ausgestattet mit mächtig wirkenden Batterieen, ein einzig dastehendes
Beispiel liefern, wie aus unscheinbaren Anfängen, aus Muskeln oder
Drüsenzellen, deren elektromotorische Wirkungen nur schwer nach-
weisbar sind , sich Organe entwickelt haben , deren Bedeutung als
mächtige elektrische Schutz- und Angriffswaflfen für ihre Träger so
unverkennbar hervortritt.
Man kann sich dem Gewichte dieser Thatsache nicht verschliessen
und wird das grosse Interesse, welches man seit jeher dem im Folgen-
den zu behandelnden Zweig der Elektrophysiologie entgegenbrachte,
um so berechtigter finden, als durch die grundlegenden Arbeiten
Matte ucci's, Du Bois-Reymond's, L. Hermann's ü. A. hier
eine Basis geschaffen wurde, auf Avelcher weiter zu bauen nicht nur
an sich hohen Genuss gewährt, sondern durch die Exaktheit der Methodik
auch ein dereinstiges Verständniss der wahren Bedeutung aller Einzel-
beobachtungen verbürgt.
Ungeachtet der grossen Bedeutung, welche gerade auf diesem
Gebiete der historischen Entwicklung unserer Kenntnisse zukommt,
darf ich von einer Besprechung derselben an dieser Stelle absehen,
da es sich doch nur um einen kurzen Auszug jener mustergültigen
Darstellung handeln könnte, welche Du Bois-Reymond in seinen
classischen „Untersuchungen" davon gegeben hat.
Es soll daher im Folgenden sofort mit der Besprechung der
elektromotorischen Wirkungen der Muskeln während der „Ruhe" be-
gonnen werden.
I. Der „Ruhestrom" der Muskeln.
In den Jahren 1840 — 1843 wurde ziemlich
Matteucci und E. Du Bois-Reymond die Thatsache entdeckt, dass
isolirte, quergestreifte Muskeln sich unter gewissen Bedingungen in einer
streng gesetzmässigen Weise elektromotorisch wirksam zeigen. Damit
war ein grosses Gebiet der Elektrophysiologie erschlossen, dessen
weitere Erforschung und Bearbeitung stets eine bewundernswerthe
Leistung Du Bois-Rey mond's bleiben wird, neben welchem sich
später insbesondere Hermann die grössten Verdienste erworben hat.
Schneidet man aus der Mitte eines möglichst regelmässigen, parallel-
faserigen Froschmuskels (etwa des Sartorius, Gracilis oder Semimem-
branosus) ein längeres Stück heraus, so erhält man ein sogenanntes
Muskelprisma oder einen M u s k e 1 c y 1 i n d e r , dessen zwei End-
flächen durch künstliche Querschnitte gebildet werden, wäh-
rend die Mantelfläche (der „natürliche Längsschnitt" Du Bois')
der wirklichen unversehrten Muskeloberfläche entspricht. Legt man
nun unpolarisirbare Elektroden von entsprechender Form der Art an
ein solches Muskelprisma an, dass die eine den künstlichen Querschnitt,
die andere die Mitte des natürlichen Längsschnittes ableitend berührt,
so beobachtet man, wenn sich im Kreise ein hinreichend empfindliches
Galvanometer (Multiplicator oder Spiegelbussole) befindet, stets eine sehr
starke Ablenkung im Sinne eines Stromes, welcher im ableitenden
Bogen vom Längsschnitt zum Querschnitt, im Muskel selbst daher um-
gekehrt vom Querschnitt zum Längsschnitt fliesst. Da jeder beliebige
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
275
Punkt des Längsschnittes, mit jedem beliebigen Punkt des Querschnittes
verbunden, immer Ströme in demselben Sinne liefert, so lässt sich all-
gemein der Satz aufstellen, dass die ganze Mantelfläche des
Muskelcylinders positive, jeder Querschnitt dagegen
negative Spannung zeigt. Man findet aber bald, dass die Ver-
theilung dieser Spannungen eine ungleiche ist; denkt man sich den
Muskelcylinder durch eine in der Mitte durchgelegte, den Endflächen
parallele Ebene in zwei Hälften getheilt, so entspricht dem „Aequator",
d. h, der kreisförmigen Durchschnittslinie, an der Manteloberfläche
die grösste positive Spannung. Vom Aequator aus nehmen die posi-
tiven Spannungen nach beiden Seiten gegen die Endflächen hin un-
gleichmässig, d. h. gegen die Enden hin schneller, ab, um an der
Grenze zwischen Längsschnitt und Querschnitt gleich Null zu werden.
Alle Spannungslinien oder isoelektrischen Curven bilden daher parallel
dem Aequator verlaufende Kreise. Au den Endquerschnitten nimmt
die negative Spannung jederseits von der Mitte nach der Peripherie
hin ab. Aus dieser Ver-
theilung der Spannungen
lässt sich leicht
dass die Grösse
lenkung je nach
der Fusspunkte
leitenden Bogens
schieden ausfallen
ersehen,
der Ab-
der Lage
des ab-
sehr ver-
wird, so
dass man starke, schwache
und unwirksame Anordnun-
gen unterscheiden kann.
Es wird ofl'enbar kein Strom
entstehen, wenn zwei Punkte
des Aequators oder irgend
einer ihm parallel verlaufen-
den isoelektrischen Curve ableitend berührt
nicht der Fall sein, wenn von symmetrisch
Fig. 102.
werden; dies wird auch
zum Aequator gelegenen
Punkten des Längsschnittes oder entsprechenden Punkten beider End-
querschnitte • abgeleitet wird. Dagegen zeigen sich schwache Ab-
lenkungen sowohl bei Ableitung von zwei asymmetrisch zum Aequator
gelegenen Längsschnittpunkten, wie auch von zwei asymmetrischen
Punkten desselben oder beider künstlichen Querschnitte. Fig. 102
a 1) c d stellt einen Schnitt durch den Muskelcylinder dar; die Pfeile
bezeichnen die Richtung der in den ableitenden Bogen fliessenden
Ströme. In den Bogen, welche symmetrische Punkte verbinden, ent-
steht gar kein Strom.
Wird die an jedem Punkte einer Längsschnittseite bestehende
Spannung durch die Höhe einer Ordinate ausgedrückt, welche auf
der Längsschnittseite als Abscisse errichtet wird, so bildet in Folge
der rascheren Abnahme der Spannungen nach den Endquerschnitten
hin die Verbindungslinie der Gipfelpunkte jener Ordinaten eine beider-
seits steil abfallende krumme Linie. Aehnlich verhält es sich auch
am Querschnitt (Fig. 103).
Verkürzt man den regelmässigen Muskelcylinder durch Anlegung
neuer Querschnitte, so erhält man stets Cylinder (Prismen), welche
für sich demselben Gesetze des Muskelstromes folgen; man kann
18*
276 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
ferner den Muskel auch parallel seiner Faserung der Länge nach
spalten, so dass, wie Du B o i s sich ausdrückt, ein künstlicher
Längsschnitt entsteht, der sich nun ebenso wieder „natürliche"
positiv zum Querschnitt verhält. Es ist wohl nicht zu bezweifeln,
dass, wenn es möglich wäre, eine einzelne Primitivfaser für sich
zu untersuchen, derselbe Gegensatz zwischen Längsschnitt und Quer-
schnitt sich auch hier bemerkbar machen würde. Ja, man darf viel-
leicht mit einiger Berechtigung noch weiter gehen und auch kleinen
Theilen einer Primitivfaser elektromotorische Wirksamkeit in gleichem
Sinne zuschreiben. DuBois-Reymond gelangte so in der That zu der
Anschauung, dass jede Muskelfaser aus kleinsten, elektromotorisch
wirkenden, in einer leitenden Flüssigkeit suspendirten Theilchen
(„Molekeln ") aufgebaut sei, und entwickelte auf Grund dieser Vor-
stellung eine Theorie der elektrischen Erscheinungen an thierischen
Geweben, welche lange Zeit hindurch allein herrschend war. Eine
nothwendige Consequenz dieser Auffassung war die, wie es schien,
durch den Versuch bestätigte Annahme, dass auch völlig unversehrte,
Fig. 103. Vertheilung der Spannungen am geraden Muskelcylinder. (Nach Rosen thal.)
quergestreifte Muskeln mit natürlichem Querschnitt in ganz gleicher
Weise elektromotorisch wirken, wie solche, welche mit künstlichem
Querschnitt versehen sind. Unter „natürlichem Querschnitt"
versteht Du B o i s - R e y m o n d die Gesammtheit der mit der Sehne noch
in natürlichem Zusammenhange befindlichen unversehrten Muskelfaser-
enden. Diese Lehre von der elektromotorischen Gleichwerthigkeit
des künstlichen und natürlichen Querschnittes stützte sich hauptsäch-
lich auf das elektromotorische Verhalten des scheinbar unverletzten
M. gastrocnemius vom Frosche, dessen complicirter Bau und
vielfache Verwendung es erforderlich machen, noch etwas näher auf
den so viel besprochenen „ Gas trocnemiusstrom " einzugehen.
Es soll zunächst ganz davon abgesehen werden, dass, wie später zu
erörtern sein wird, der wirklich gänzlich unversehrte Muskel elektro-
motorisch völlig unwirksam ist, sondern wir nehmen an, der Achilles-
sehnenspiegel verhalte sich, wie in der Mehrzahl der Fälle, bei nicht
besonderer Sorgfalt der Präparation negativ gegen die übrige Muskel-
oberfläche. Wegen des complicirten Baues ist dann auch die Ver-
theilung der Oberflächenspannungen eine viel verwickeitere als am
parallelfaserigen, regelmässigen Muskelcylinder. Eine sehr anschauliche
Beschreibung des Baues giebt Rosen thal (2).
„Man denke sich zwei Sehnenblätter, ein oberes und ein unteres,
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
277
durch schräg zwischen beiden ausgespannte Muskelfasern verbunden,
so dass wir einen halb gefiederten Muskel hätten. Nun denke man
sich das obere Sehnenblatt in der Mitte zusammengefaltet, wie man
ein Blatt Papier faltet, und die beiden Blatthälften mit einander ver-
wachsen. Wir haben dann ein oberes, im Innern des Muskels ge-
legenes Sehnenblatt, von welchem nach beiden Seiten hin Muskel-
fasern schräg abgehen; die untere Sehne aber ist durch jenes Zu-
sammenfalten der oberen gekrümmt worden, so dass der ganze Muskel
die Gestalt einer der Länge nach gespaltenen Rübe erhält, deren
flache (dem Unterschenkelknochen zugewendete) Seite ganz von
Muskelfasern gebildet wird und nur einen zarten Längsstreif als An-
deutung der im Innern verborgenen Sehne zeigt, während die ge-
Fig. 104. Schema des Gastrocnemius-Baues. (Nach Du Bois -Reymond.)
Fig. 105. Vertheilung der Spannungen am schrägen Muskelcylinder. (Nach
Rosenthal.)
wölbte Rückseite in ihren unteren zwei Dritttheilen von Sehnen-
substanz bedeckt ist, die sich nach unten in die Achillessehne fort-
setzt" (Fig. 104). Der Gastrocnemius hat daher von Natur aus einen
schrägen Querschnitt und einen natürlichen Längsschnitt, welcher
die ganze flache und einen kleinen Theil der gewölbten Fläche ein-
nimmt. Dem entspricht nun auch die eigenthümliche Vertheilung der
Spannungen an der Oberfläche des Muskels. Denkt man sich einen
regelmässigen Muskelcylinder schräg verzogen (Fig. 105), so dass die
beiden Endquerschnitte zwar unter einander parallel, aber schräg zur
Axe verlaufen, so entspricht die Curve grösster positiver Spannung
nicht dem ebenfalls schrägen, in der Mitte gelegenen, elliptischen
Aequator, sondern einer nach den stumpfen Ecken hin verzogenen,
gewundenen Curve. Ebenso ist umgekehrt an den spitzen Ecken der
Querschnitte die negative Spannung grösser als an den stumpfen. Bei
einer am regelmässigen Muskelcylinder stromlosen Anordnung, wo bei
278 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
die Fusspunkte des ableitenden Bogens gleichweit vom geometrischen
Aequator abliegen, erhält man daher in diesem Falle, wie leicht er-
sichtlich, einen Strom, welcher im Muskel von der scharfen zur
stumpfen Kante fliesst („ Neigungs ström" Du Bois'). Solche
Neigungsströme liefert nun auch der von Haus aus mit einem schrägen
Querschnitt versehene Gastrocnemius. Man erhält hier vor Allem
einen starken Strom bei Ableitung vom oberen und unteren Muskel-
ende, der im Muskel selbst in aufsteigender Richtung fliesst. Ausser-
dem erhält man aber fast bei jeder anderen Art der Ableitung schwä-
chere oder stärkere Ströme, da gleichartige Stellen nur sehr spärlich
an der Oberfläche vorkommen.
Ist der aufsteigende Gastrocnemiusstrom nicht allzu schwach, so
lässt er sich, wie überhaupt der Längsquerschnittstrom, auch leicht
mittels des „physiologischen Rheoskopes" (des stromprüfen-
den Froschschenkels) nachweisen, und zwar nicht nur in der schon
von Galvani und Volta herrührenden Versuchsform der „Zuckung
ohne Metalle", wobei man den Schenkelnerven rasch auf die
convexe Muskeloberfläche fallen lässt und dadurch eine äussere Neben-
schliessung des Stromes durch den Nerven bewirkt, sondern auch in
der Weise, dass man den Nerven in einen vom Längsschnitt und
Querschnitt ableitenden Bogen von geringem Widerstand einschaltet.
Man erhält dann bei Schliessung, eventuell auch bei Oeff'nung des
Kreises eine Zuckung des Schenkels. Während die Erregung eines
motorischen Nerven durch den Muskelstrom in der Form der
„Zuckung ohne Metalle" zur Zeit des berühmten Streites zwischen Gal-
vani und Volta das allergrösste Interesse beanspruchte, da der Ver-
such die Existenz einer den thierischen Theilen an sich eigenthüm-
lichen Elektricität direct zu beweisen schien, so ist dieses Interesse
später fast ganz geschwunden, als es sich hier nicht mehr um eine
Streitfrage handelte. Dagegen verdient ein anderer Versuch, den
Muskelstrom auf physiologischem Wege nachzuweissen , grössere Be-
achtung. Da der Längsquerschnittsti'om bei Weitem genügt, um den
Nerven eines stromprüfenden Froschschenkels zu erregen, so war auch
au die Möglichkeit zu denken, den Muskel selbst durch
seinen eigenen oder den Strom eines andern Muskels zu
erregen (Hering 4).
Schon 1859 beschrieb Kühne (3) ein eigenthümliches Verhalten
des querdurchschnittenen M. sartorius vom Frosch, welches beim
Eintauchen der Schnittfläche in verschiedene Flüssigkeiten hervortritt
und von ihm auf chemische Reizung des blossliegenden Faser-
inhalts bezogen wurde. Nähert man dem vertical herabhängenden,
curarisirten Muskel unmittelbar nach Anlegen eines Querschnittes von
unten her ein Schälchen mit 0,6 " o NaCl, so sieht man fast unfehlbar
im Augenblicke der Berührung der Schnittfläche und des Flüssigkeits-
spiegels eine Zuckung erfolgen. Dabei reisst sich der Muskel von
der Flüssigkeit los, taucht bei der Wiederverlängerung abermals ein,
wobei wieder eine Zuckung erfolgt u. s. w. Es kann auf diese Weise
zur Auslösung einer langen Reihe (über 100) rhythmischer Zuckungen
kommen. Ganz ebenso gelingt dieser Versuch mit einer grossen An-
zahl anderer Flüssigkeiten. Kühne fand nebst NaCl-Lösung in den
verschiedensten Concentrationen noch sehr gut wirksam Lösungen
von fixen Alkalien und Mineralsäuren bis zu 0,1 "/o, sowie
verschiedene Salzlösungen, dagegen verraisste K ü h n e die Zuckung
Die elektromotorischen Wirkungen der Mnskeln. 279
bei Berührung des Querschnittes, wenn er destillirtes Wasser,
Alkohol, Creosot, concentrirtes Glycerin, syrupöse
Milchsäure anwendete ; W u n d t und Schelske haben ferner ge-
funden, dass auch concentrirte Sublimatlösung keine Zuckung
vom Querschnitt aus bewirkt. K ü h n e deutete, wie schon erwähnt,
alle Fälle, in welchen er die Zuckungen bei Berührung des frischen
Querschnittes mit einer Flüssigkeit beobachtete, als bedingt durch
chemische Reizung des biossliegenden Faserinhaltes. Doch wird
diese Auffassung sofort zweifelhaft, wenn man sieht, wie mit 0,5 — 0,6 '^/o
NaCl-Lösung, deren relative Unschädlichkeit allbekannt ist, die in Rede
stehende Erscheinung ganz besonders schön und lang anhaltend hervor-
tritt. Dabei ist noch besonders beachtenswerth, dass die an dem
einmal benetzten Muskelquerschnitt haftende Salzlösung keineswegs
zu einer Dauererregung Anlass giebt, wie es doch wohl der Fall sein
müsste, wenn die Flüssigkeit chemisch reizend wirkte. Es lässt sich
ferner zeigen, dass jede Reizwirkung ausbleibt, wenn die Lösung eben
nur den Querschnitt selbst benetzt und gar nicht oder nur in
minimaler Menge auf die Längsoberfläche des Muskels gelangen kann.
Hering (4) erzielte dies unter Anderem dadurch, dass er um das
Querschnittende des Muskels einen schmalen gefetteten Papierstreifen
der Art herumlegte, dass sein unterer Rand mit dem Rande des Quer-
schnittes zusammenfällt. Ein so vorbereiteter Muskel zuckt bei Be-
rührung der Querschnittfläche mit der Salzlösung nicht, was doch
der Fall sein müsste, wenn es sich um chemische Reizung handelte.
„Taucht man dagegen den Muskel bis über den Streifen in die
Flüssigkeit, so erhält man wieder eine Zuckung." Es zeigt sich also,
dass „zum Gelingen der Versuche einerseits die Herstellung einer
leitenden Verbindung zwischen dem Querschnitt und dem untersten
Theil der Längsobei-fläche nothwendig ist, und dass andererseits diese
Leitung keinen zu grossen Widerstand haben, d. h. die Quantität der
NaCl-Lösung, durch welche sie hergestellt wird, nicht zu gering sein
darf". Wenn es sich daher, wie nach dem Mitgetheilten wohl kaum
zu bezweifeln ist, um eine elektrische Erregung des Muskels durch
plötzliche Nebenschliessung seines eigenen Stromes innerhalb des im
Momente der Berührung vom Querschnitt zum Längsschnitt sich
hinaufziehenden Flüssigkeitswalles handelt, so erscheint es auch leicht
verständlich, dass alle nicht oder sehr schlecht leitenden
Flüssigkeiten, wie die Erfahrung lehrt, s t e t s u n w i r k s a m sind,
wenn sie auchnachweislich chemischreizend aufdieMus-
kelsubstanz w i r k e n (Sublimat, Alkohol, Wasser). Man kann, wie
Hering zeigte, geradezu aus dem blossen Verhalten des Muskels
beim Berühren seines Querschnittes mit einer Flüssigkeit ziemlich
sicher voraussagen, ob diese Flüssigkeit relativ gut oder schlecht leitet.
Von dem gewonnenen Standpunkte aus erklären sich nun auch einige
andere leicht zu bestätigende Erfahrungen, welche gewissermaassen
nur Modificationen des erwähnten Grundversuches sind. Lässt man
auf eine rechtwinkelig zur Faserrichtung angelegte Schnittwunde eines
Muskels einen Tropfen Kochsalzlösung auffallen, so beobachtet man
in der Regel eine Zuckung der durchtrennten Fasern und ein stärkeres
Klaff'en der Wunde. Ebenso gelingt es, eine Zuckung des querdurch-
schnittenen Sartorius auszulösen, wenn man in geeigneter Weise die
Verbindung zwischen Längsschnitt und Querschnitt durch irgend einen
feuchten Leiter (etwa ein Stück Leber, todten Muskel etc.) herstellt.
280 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Man kann das Präparat auch mit dem frischen Querschnitt einerseits
und einer dem Querschnitt benachbarten Stelle der Längsoberfläche
andererseits auf die Bäusche der unpolarisirbaren Zinktrogelektroden
legen und den Kreis in Hg schliessen. Bringt man ferner mittels
eines Glasstäbchens den Querschnitt eines frei herabhängenden Sartorius
durch Herumbiegen des betreffenden Endes mit der Längsoberfläche
in Berührung, so tritt ebenfalls eine Zuckung ein in Folge der plötz-
lichen Schliessung des Stromes durch den Muskel selbst. Hering
ist es endlich auch gelungen, durch den Strom eines verletzten Muskels
einen zweiten unverletzten zur Zuckung zu bringen. Man befestigt
zu diesem Zwecke den letzteren (Sartorius) mittels seiner Knochen
der Art, dass er in flachem Bogen schlaff herabhängt. Nun wird der
andere vertikal gehaltene Muskel mit seinem Querschnitt der Ober-
fläche des ersteren bis zur Berührung genähert. „Sind beide Muskeln
sehr empfindlich, so können sie schon hierbei beide zucken ; da näm-
lich bei der Berührung des Querschnittes leicht auch ein Theil der
Längsoberfläche mit dem unversehrten Muskel in Contact kommt,
so findet der Strom des verletzten Muskels durch den unverletzten
Schliessung, und hierdurch werden beide erregt." Dies ist aber
immer der Fall, wenn man das Schnittende etwas umknickt. Bei
allen bisher besprochenen Versuchen handelte es sich vim eine Ab-
gleichung des Muskelstromes durch feuchte Leiter. Li der That
erweisen sich Metalle wegen ihrer ausserordentlich raschen Polari-
sation als nur sehr wenig geeignet, obschon auf den ersten Blick eher
das Gegentheil zu erwarten schien. Hering erhielt, wie früher schon
Kühne (5), keine oder nur sehr schwache Zuckungen, wenn der
frische Querschnitt eines curarisirten Sartorius mit einer Platinplatte
berührt wurde, während ein mit jener durch einen Hg-Schlüssel zu
verbindender Draht aus gleichem Metall verschiedene Punkte der
Leitungsoberfläche berührte.
Der Umstand, dass, wie gezeigt wurde, der Längsquerschnittstrom
eines Muskels genügt, um nicht nur den Nerv eines stromprüfenden
Froschschenkels, sondern auch den verletzten Muskel selbst oder einen
andern unversehrten unter geeigneten Umständen zu erregen, lässt von
vornherein darauf schliessen, dass derselbe auch bei allen elektrischen
Reizversuchen an verletzten und daher elektromotorisch wirksamen
Muskeln eine Rolle zu spielen vermag, und es erscheint um so noth-
wendiger, auch dieser Interferenzerscheinungen zwischen
dem künstlichen und natürlichen Strom zu gedenken, als
es sich hier um einige Thatsachen handelt, welche zu theoretisch
wichtigen Schlussfolgerungen Anlass gegeben haben.
Als ein besonders schlagender Beweis für die Gültigkeit des
polaren Erregungsgesetzes wurde oben das eigenthümliche Verhalten
eines einseitig verletzten parallelfaserigen Muskels bei Längsdurch-
strömung erwähnt, welches sich bekanntlich darin äussert, dass die
erregende Wirkung der Schliessung oder Oeffnung eines Stromes
immer dann vermindert oder aufgehoben erscheint, wenn derselbe
durch die Demarcationsfläche aus- bezw. eintritt. Da nun im ersteren
Falle die Richtung des in den Reizkreis abgezweigten Antheiles des
Muskelstromes stets der Richtung des Kettenstromes entgegengesetzt
ist, der letztere daher durch den ersteren nothwendig geschwächt wird,
so entsteht die Frage, ob nicht dieser Umstand allein ausreichte, um
die verminderte Reizwirkunff bei Schliessung des Kreises zu erklären.
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 281
Offenbar müsste dann bei zwei in denselben Stromkreis hinter einander
eingeschalteten Muskeln, deren einer am einen Ende verletzt wurde,
die Schliessung des Stromes nachher auf jeden der beiden Muskeln
in gleicher Weise wirken, d. h. die Schliessungserregung müsste bei
admortaler Stromesrichtung nicht nur an dem mit künstlichen Quer-
schnitt versehenen, sondern auch an dem normalen Präparat aus-
bleiben oder vermindert erscheinen. Dies ist jedoch niemals der Fall.
Nicht minder schlagend wird die obige Annahme auch dadurch wider-
legt, dass durch beiderseitige Abtödtung der Faserenden eines
parallelfaserigen Muskels die Erregbarkeit in gleicher Weise für
Schliessung aufsteigender wie absteigender Ströme vernichtet oder herab-
gesetzt wird. Dagegen scheint es allerdings, dass die verstärkte
Wirkung, welche man oft bei Schliessung schwacher „abterminal" ge-
richteter Kettenströme nach einseitiger Verletzung des M. sar-
torius beobachtet, wesentlich mit durch den sich in diesem Falle zu
dem Reizstrom algebraisch hinzuaddirenden Muskelstromzweig ver-
ursacht wird.
Unter gewissen, gleich näher zu erörternden Bedingungen kann es
durch Interferenz des Demarcationsstromes und eines künstlichen
Reizstromes zur Entstehung sc heinbar er Oe ff nungszuckungen
kommen, die leicht als Folge Wirkungen einer wirklichen Oeifnungs-
erregung aufgefasst werden können und thatsächlich auch mit solchen
verwechselt wurden. Denkt man sich einen leitenden Bogen von
relativ geringem Widerstände der Art an einen, am Beckenende mit
künstlichem Querschnitt versehenen, curarisirten Sartorius angelegt, dass
die unpolarisirbaren Fusspunkte einerseits den Querschnitt, beziehungs-
weise den davon ableitenden Beckenknochen und andererseits das tibiale
Sehnenende (beziehungsweise die Tibia selbst) berühren, so muss sich
in dem Augenblicke, wo der an irgend einer Stelle unterbrochen ge-
dachte Bogen geschlossen wird, der Längsquerschnittstrom durch diesen
abgleichen und würde voraussichtlich, an dem schmalen Muskelende
aus normaler Muskelsubstanz austretend, eine Schliessungszuckung
auslösen, wenn die Intensität des abgeleiteten Stromzweiges genügend
gross, der Widerstand im Kreise aber möglichst gering wäre; Be-
dingungen, die allerdings in dem vorausgesetzten Falle in der
Regel kaum gegeben sind. Setzen wir aber einen Augenblick voraus,
es wäre hier wirklich zur Auslösung einer Schliessungszuckung des
Muskels durch Nebenschliessung des eigenen Stromes gekommen, so
würde eine auf dieselbe Ursache zurückzuführende Zuckung auch aus-
gelöst werden müssen, wenn der durch die Nebenschliessung abge-
zweigte Antheil des Muskelstromes zunächst durch einen die intra-
polare Strecke, d. h. den ganzen Muskel in aufsteigender Richtung
durchfliessenden Kettenstrom compensirt, beziehungsweise übercompen-
sirt würde, um dann im Momente der Oeffnung plötzlich wieder
Schliessung zu finden. Für den Fall, dass die Compensation eine
vollständige wäre und wenn man von unvermeidlichen Nebenwirkungen
des compensirenden Stromes absehen könnte, Avürde der Reizerfolg
bei Oeffnung des Kettenstromes sogar ebenso gross sein, wie vorher
bei Schliessung des ableitenden Bogens. Man kann nun den Versuch
in der That zu einem erfolgreichen gestalten, wenn man den Wider-
stand im ableitenden Bogen durch Verkürzung der intrapolaren
Muskelstrecke möglichst verringert (6). Zu dem Zwecke genügt
es oft schon, die untere Hälfte des Sartorius allein zu benützen.
232 Die elektromotorischen Wirimngen der Muskeln.
indem man ein Segment in der Mitte des Muskels durch Wärme
abtödtet (einen künstlichen, thermischen Querschnitt anlegt), die be-
treffende Stelle mittels kleiner Nadeln auf einer Korkplatte befestigt
und das untere Drittel des Muskels, durch die anhängende Tibia
belastet, frei herabhängen lässt. Zwei unpolarisirbare Elektroden,
von denen die eine am obersten Rande der abgetödteten Strecke
angelegt wird, während die andere nebst der Tibia in ein Gefäss
mit concentrirter Kochsalzlösung taucht, vermitteln einerseits die
Ableitung des Muskelstromes und dienen andererseits auch der
Zuflihrung des von einem D an ielT sehen Elemente gelieferten, com-
pensirenden Kettenstromes. Um die Intensität dieses letzteren be-
liebig abstufen zu können, befindet sich im Kreise ein Rheochord,
welches zugleich als Nebenschliessung des Muskelstromes dient. Es
muss Vorsorge getroffen sein, um den Kreis beliebig an zwei ver-
schiedenen Stellen öffnen zu können, da es hauptsächlich darauf an-
kommt, den Unterschied des Reizerfolges bei Oeffnung des Haupt-
stromes mit gleichzeitiger Nebenschliessung des Muskelstromes und
bei einfacher Ausschaltung des ersteren zu untersuchen. Zu dem
Zwecke befinden sich zwei Quecksilberschlüssel im Kreise, von denen
der eine zwischen dem Element und dem Rheochord, der andere
zwischen diesem und dem Muskel eingeschaltet ist. Der erstere soll
im Folgenden als Schlüssel des Hauptstromes, der letztere als Schlüssel
des Zweigstromes bezeichnet werden. Wenn man nun unmittelbar
nach Anlegen des thermischen Querschnittes den als äussere Neben-
schliessung des Muskelstromes dienenden Kreis mittels des Zweig-
stromschlüssels schliesst, während der Hauptstromschlüssel geöffnet
bleibt, so beobachtet man günstigen Falles an recht erregbaren
Präparaten eine deutliche, wenn auch meist nur schwache Schliessungs-
zuckung, Viel sicherer wird dasselbe Resultat erzielt, wenn man die
unpolarisirbaren Elektroden in geringem Abstände seitlich direct an
zwei Stellen der Muskeloberfläche anlegt, wodurch die Widerstände
im Kreise beliebig verkleinert werden können. Spannt man die obere
Hälfte eines unversehrten Sartorius auf einer Korkplatte aus und legt
die eine Elektrode am Beckenende, die andere an einem nur wenig
tiefer gelegenen Pvinkte der Längsoberfläche an, so beobachtet man
bei Zuführung eines schwachen oder mittelstarken, absteigend oder
aufsteigend gerichteten Stromes zwar eine Zuckung bei jedesmaliger
Schliessung, dagegen fehlt jede Spur einer Gestaltveränderung des
Muskels bei Oeffnung des Stromkreises mittels des Haupt- oder Zweig-
stromschlüssels. Wesentlich verschieden gestaltet sich jedoch das
Resultat des Versuches, wenn zuvor am Beckenende des Muskels ein
künstlicher (thermischer) Querschnitt angelegt wird : berührt dann die
negative Elektrode das wärmestarre Muskelende, während die positive
zunächst an einer möglichst nahe gelegenen Stelle der unversehrten
Oberfläche angelegt wird, so beobachtet man fast ausnahmslos un-
mittelbar nach der Verletzung an gut erregbaren Präparaten eine
deutliche Zuckung der als Index der Erregung dienenden, frei herab-
hängenden unteren Muskelhälfte, sobald, während der Hauptstrom-
schlüssel geöffnet bleibt, der Schlüssel des Zweigstromes geschlossen
wird. Es geht unmittelbar aus der Versuchsanordnung hervor, dass
es sich hier wieder um Erregung in Folge der Abgleichung des
Muskelstromes durch die bestehende Nebenschliessung handelt. Ob
dies nun der Fall ist oder nicht, immer beobachtet man bei
Die elektromotorischen "Wirkungen der Muskeln. 283
der beschriebenen Versuchsanordnung eine in der Regel
sehr starke Verkürzung des Muskels, wenn man vorher
einen schwachen, der Richtung des Muskelstromes im
Kreise entgegengesetzten, im vorliegenden Falle daher
aufsteigenden Kettenstrom hindurchschickt und nach
beliebig kurzer Schliessungsdauer im Hauptkreise
öffnet. Da die physiologische Kathode sich an der Stelle der Ver-
letzung befindet, bleibt die Schliessungserregung entweder ganz aus
oder macht sich nur in geringem Maasse geltend. Der erwähnte Er-
folg macht sich aber bei einem gewissen, nicht zu geringen Abstand
der ableitenden, beziehungsweise stromzufuhrenden Elektroden nur
geltend bei Oeffnung des Kettenkreises, während keine Spur einer
Gestaltveränderung bei Oeffnung des Zweigstromschlüssels eintritt.
Unerlässlich ist nur das Vorhandensein einer möglichst grossen
elektrischen Spannungsdifferenz der von den stromzuführenden Elek-
troden zugleich ableitend berührten Mviskelstellen. Unter Berück-
sichtigung der vorstehenden Erörterungen kann daher kein Zweifel
darüber bestehen, dass der so auffallende Unterschied des Reizerfolges
bei Oeffnung des Stromkreises an zwei verschiedenen Stellen ledig-
lich darin begründet ist, dass der Demarcationsstrom im einen Falle
bei Oeffnung des Kettenkreises eine äussere Nebenschliessung von
verhältnissmässig geringem Widerstand vorfindet, die andernfalls fehlt.
Die Zuckung, o b s c h o n zeitlich mit dem Momente der
Oeffnung des Stromkreises zusammenfallend, kann dem-
nach nicht als eine wahre, durch innere Reaction des
Muskels bedingte Oeffnung szuckung gelten, sondern
ist vielmehr eine Schliessungszuckung, ausgelöst durch
äussere Nebenschliessung des Muskelstromes (Bieder-
mann 6).
Ist der Abstand der beiden Elektroden sehr gering, so lässt sich
in der Regel selbst bei Anwendung der schwächsten noch wirksamen
Ströme ein merklicher Unterschied in der Grösse der Oeffnungs-
zuckungen kaum nachweisen, ob man nun den Kettenkreis oder den
Muskelkreis öffnet. Dazwischen lassen sich Elektrodenstellungen
finden, bei welchen ein deutlicher Grössenunterschied der durch Oeff-
nung des Haupt- oder Zweigstromschlüssels ausgelösten Zuckungen
hervortritt, indem die letzteren um so mehr abnehmen, je mehr die
Eintrittsstelle des atterminal gerichteten Kettenstromes bei unver-
änderter Lage der Kathode am Querschnitt von der Grenzfläche des
thermischen Querschnittes abrückt. Es erklärt sich dies leicht mit
Berücksichtigung der starken inneren Abgleichung, welche der
Muskelstrom unter allen Umständen in nächster Nähe der elek-
tromotorisch wirksamen Fläche findet. Denn wenn in der
Nähe jedes künstlichen Querschnittes jeder einzelnen Primitivfaser
und somit auch des ganzen Muskels stets zahlreiche Stromfäden an
noch erregbaren Stellen durch die Oberfläche austreten, so wird ein
Kettenstrom , der in diesem Gebiet der inneren Abgleichung des
Muskelstromes eintritt, einen Theil jener Stromfäden gleichsam com-
pensiren müssen, wobei die einen vollständig, die andern unvollständig
compensirt, noch andere übercompensirt werden können. Dies be-
deutet aber für diese Stellen, dass sie ihre Bedeutung als kathodische
Stellen des Muskelstromes mehr oder weniger verlieren , oder gar zu
anodischen Stellen des Kettenstromes werden. Wird nun der letztere
284 Diß elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
wieder geöffnet, so wird plötzlich der frühere Zustand wieder her-
gestellt, die genannten Stellen werden wieder zu kathodischen Stellen
des Muskelstromes und in Folge dessen erregt. Der Kettenstrom
hebt also sozusagen einen Theil der inneren Schliessung
des Muskelstromes auf, dessen plötzliche Wiederher-
stellung bei der Oeffnung des Kettenstromes eine
Schliessungszuckung herbei führt.
Hierfür ist es aber an sich gleichgültig, ob die Oeffnung des
Kettenstromes im Muskel- oder im Kettenkreise erfolgt; letzterenfalls
kommt nur noch in Betracht, dass nun auch jener Zweig des Muskel-
stromes, welcher durch das Rheochord Schliessung hat und während
des Bestehens des Kettenstromes compensirt oder übercompensirt wird,
im Momente der Oeffnung ebenfalls Schliessung findet und daher auch
seinerseits die „scheinbare Oeffnungszuckung" befördert. Doch tritt
die hierdurch theoretisch geforderte Differenz der Zuckungsgrössen im
einen oder andern Falle nicht merklich hervor, da dieselben in beiden
Fällen sehr beträchtlich sind. Da die zuletzt erwähnten Reizerfolge
mit Rücksicht auf später zu erwähnende Thatsachen bei elektrischer
Nervenreizung von Wichtigkeit sind, so muss hier noch etwas näher
auf dieselben eingegangen werden.
Legt man eine Schlinge aus befeuchtetem Baumwollfaden der Art
um den Muskel herum, dass sie an dem behufs graphischer Verzeich-
nung der Zuckungen im Hering'schenDoppelmyographen eingespannten
Muskel den Eintritt des Stromes irgendwo in der Continuität in nächster
Nähe eines künstlichen, durch Quetschung erzeugten Querschnitts ver-
mittelt, während der Austritt wieder durch den Beckenknochen erfolgt,
so sieht man bei Anwendung eines schwachen Stromes sofort und
unabhängig von der Stelle, an welcher der Stromkreis geöffnet wird,
starke Oeffnungszuckungen hervortreten, die von der Schliessungs-
dauer fast gänzlich unabhängig sind.
Unterbricht man bei unveränderter Lage der Kathode am
unversehrten Beckenende des Sartorius die physiologische Con-
tinuität desselben etwa in der Mitte durch Quetschen mit einer Pin-
cette, und legt man dann die Fadenelektrode bald diesseits, bald jen-
seits der Quetschungsstelle, immer jedoch dicht an der Grenze der-
selben an, so beobachtet man bei derselben Stromstärke in beiden
Fällen Oeffnungszuckungen an je einer der durch die Verletzung
getrennten Muskelhälften, und zwar contrahirt sich immer diejenige
Hälfte, an deren künstlichem Querschnitt der Strom gerade eintritt.
Entfernt man die den Eintritt des Stromes vermittelnde Fadenelektrode
nur wenig von der Quetschungsstelle und prüft man bei jeder neuen
Lage den Reizerfolg, so überzeugt man sich, dass die „scheinbaren
Oeffnungszuckungen" in der Regel schon an Stellen der normalen
Längsoberfläche, die kaum 2 mm von der gequetschten Stelle entfernt
liegen, merklich schwächer sind und gänzlich ausbleiben, sobald der
Faden noch um Weniges weiter vorrückt, immer vorausgesetzt, dass
man die Oeffnung durch den Schlüssel des Zweigstromes bewirkt.
Wenn es richtig ist, dass für die Auslösung scheinbarer Oeffnungs-
zuckungen durch innere Nebenschliessung des Demarcationsstromes
wesentlich nur der Umstand maassgebend ist, dass die in nächster Nähe
der elektromotorischen Fläche gelegenen kathodischen Faserstellen, an
welchen der Muskelstrom austritt, vorübergehend zu Eintrittsstellen
eines genügend starken Kettenstromes gemacht werden, wenn es also
Die elektromotorischen Wirkungeu der Muskeln. 285
nur auf die stellenweise Compensation des Deraarcationsstromes an-
kommt, so war zu erwarten, dass scheinbare Oeffnungszuckungen nicht
nur, wie in den bisher besprochenen Fällen, bei Anwendung „atter-
minal" gerichteter Kettenströme, sondern auch dann auftreten würden,
wenn bei „ab terminaler" Durchströmung des ganzen Muskels oder
eines Theiles desselben der Eintritt des Stromes an der Grenze eines
künstlichen Querschnittes im Bereich der Austrittsstellen der Muskel-
stromfäden erfolgt. In der That gelingt es nun, scheinbare Oeffnungs-
zuckungen von grosser Stärke auszulösen, wenn man am Beckenende
eines Sartorius künstlichen Querschnitt anlegt und unmittelbar dar-
nach einen schwachen absteigenden Kettenstrom durch den ganzen
Muskel schickt, dessen Eintritt seitlich dicht unter der Grenzfläche
der todten und lebenden Substanz mittels einer Fadenelektrode erfolgt.
Denkt man sich ferner bei abterminaler Durchströmung die ab-
getödteten Faserenden durch eine irgendwie hergestellte Neben-
schliessung mit der zunächst an die Grenzfläche stossenden Zone der
normalen Längsoberfläche des Muskels verbunden, so steht dem eben
Gesagten zu Folge zu erwarten, dass auch in diesem Falle scheinbare
Oeffnungsreizerfolge eintreten werden. Dies ist beispielsweise schon
dann der Fall, wenn das eine Muskelende mit einer schmalen Pin-
cette durchquetscht wird ; durch Wulstung und Einkrümmen der Längs-
oberflächen der Fasern wird dann nicht nur dem Muskelstrom,
sondern auch dem Kettenstrom vielfach Gelegenheit geboten, an
Stellen der unversehrten Oberfläche des Muskels aus- beziehungs-
weise einzutreten und daher wirksame Schliessungs- resp. schein-
bare Oeff'nungserregung auszulösen. Hat man sich überzeugt, dass ein
mittelstarker aufsteigender Strom an einem im Doppelmyographen ein-
gespannten Sartorius keine merkliche Oeffnungserregung auslöst, und
durchquetscht man nun in der angedeuteten Weise den Muskel nahe
dem untern Sehnenende, so treten fast regelmässig bei gleicher Rich-
tung, Intensität und Schliessungsdauer des Reizstromes wie vorher
Oeffnungszuckungen hervor, die in der angedeuteten Weise als schein-
bare aufzufassen sind (Biedermann 6; Engelmann 7).
Nach dieser Abschweifung kehren wir wieder zurück zur Be-
trachtung des „Ruhestromes" der Muskeln, seiner Eigenschaften und
seiner Entstehung. Da bei nicht zu grossen Ausschlägen am Galvano-
meter die Ablenkungen bekanntlich den Intensitäten des Stromes pro-
portional sind, so lassen sich natürlich Messungen der Intensität des
Muskelstromes leicht ausführen ; doch haben dieselben wegen der grossen
und sehr veränderlichen Widerstände thierischer und pflanzlicher
Theile im Ganzen nur geringen Werth. Viel wichtiger erscheinen
dagegen exacte Messungen der elektromotorischen Kraft.
Wenn an einem Leiter in dessen Innerem eine elektromotorische Kraft
wirkt, zwei Punkte verschiedener Spannung durch einen gleichartigen
ableitenden Bogen verbunden werden, so wird in diesem ein Strom -
zweig fliessen, dessen Intensität der elektromotorischen Kraft, die als
an den Fusspunkten wirkend gedacht werden kann, direct proportional
ist. Es lässt sich daher die Grösse der letzteren aus der Grösse der
Spannungsdifferenz zweier abgeleiteter Punkte bemessen, und wenn
wir Mittel haben, diese genau zu bestimmen, so haben wir zugleich
auch die Mittel, die Grösse der elektromotorischen Kraft zu bestimmen.
Wir würden dann auch in den Stand gesetzt sein, die elektromotorische
Kraft des Längsquerschnittsstromes einfach dadurch zu bestimmen,
286
Die elektromotorischen Wirkimg'en der Muskeln.
wir die Grösse der zwischen natürlicher Längsoberfläche und
künstlichem Querschnitt bestehenden Spannungsdifferenz messen. Die
Differenz der Spannungen zwischen zwei Punkten lässt sich nun in
der That leicht und genau mit Hülfe eines Verfahrens bestimmen,
welches von Poggendorff stammt und von Du Bois-Reymond
wesentlich verbessert wurde (8).
Das Princip der Methode beruht darauf, die Ablenkung des Mag-
neten durch einen von einer Messkette abgeleiteten Stromzweig im
entgegengesetzten Sinne zu beeinflussen, und zwar genau bis zu völliger
Aufhebung der ursprünglichen Ablenkung, Man hat dann in der
bekannten, variablen Spannungsdifferenz ein Maass für die Grösse der
zu bestimmenden, unbekannten. Ein solcher „ c o m p e n s i r e n d e r "
Strom lässt sich von einer Messkette leicht vermittels eines Rheochords
abzweigen, welches in diesem Falle als „C orapensator" bezeichnet
wird. Wird durch einen geraden
oder zum Kreise gebogenen Draht
(a h) (Fig. 106) der Strom einer
Constanten Kette (K) geleitet, so be-
steht auf demselben ein bestimmtes
„elektrisches Gefälle", indem
an den einzelnen Punkten verschie-
dene Spannungen herrschen. Ver-
bindet man nun unter Vermittelung
eines Stromwenders (C) den Längs-
schnitt eines auf unpolarisirbaren
Elektroden aufliegenden Muskels (iH)
mit dem Ende (a) der Compensator-
saite, während der abgeleitete Längs-
schnittpunkt mit einem metallischen
Schieber verbunden wird (c), welcher
auf dem Rheochorddraht gleitet, so
wirkt auf die Bussole (B) einerseits
die Spannungsdifferenz zwischen den
Rheochord punkten («) und (c), andererseits aber jene zwischen dem
Querschnitt und der Längsoberfläche des untersuchten Muskels. Durch
passende Einstellung des Schiebers (c) lässt sich nun jederzeit leicht
die durch den Muskelstrom bewirkte Ablenkung genau compensiren.
Es ist dann offenbar die Differenz der Spannungen zwischen Längs-
oberfläche und Querschnitt des Muskels gleich der Diffei-enz der
Spannungen zwischen den Punkten (a) und (c) des Rheochorddrahtes.
An diesem entspricht aber jeder Millimeter einem bestimmten Bruch-
theil der Kraft eines Dani eil' sehen Elementes.
Um derartige Messungen rasch und bequem ausführen zu können,
construirte Du Bois-Reymond den „runden Compensator",
bei welchem der Rheochorddraht (a h) auf einer runden Scheibe von
Hartgummi angebracht ist. Anfang und Ende desselben stehen mit
den Klemmen I und H in Verbindung; vom Anfang geht ausserdem
ein Draht zur Klemme IV, während HI mit dem metallenen Röllchen r
verbunden ist, welches auf dem Rheochorddraht schleift, von dem
ein beliebiger Antheil durch Drehung der Scheibe eingeschaltet werden
kann (Fig. 107, a und b).
Nach der eben beschriebenen Methode hat Du Bois-Rey-
mond zahlreiche Messungen der elektromotorischen Kraft zwischen
Fig. 106
sation.
Kraftmessung durch Compen-
(Nach Du Bois-Reymond.)
Die elektromotorischen Wirkuns'en der Muskeln.
287
Läng-sschnitt und Querschnitt quergestreifter Froschmuskeln aus-
geführt. Sie erreicht im Mittel 0,035— 0,075 Dan. Nach Matten cci
Fig. 107 ff. Runder Compensator. (Nach Du Bois-Reymond.)
Avürde der Muskelstrom um so
stärker sein , je höher man in der
Stufenleiter der Thiere emporsteigt;
jedoch sind Kraftmessungen an
Warmblütermuskeln mit hinreichen-
der Genauigkeit schwer ausführbar
in Folge des raschen Absterbens.
Dass der Muskelstrom an die Er-
haltung der normalen Lebenseigen-
schaften des Muskels gebunden ist,
ergiebt sich unmittelbar aus dem
Umstände, dass ganz abgestorbene
Muskeln stets elektromotorisch im-
wirksam sind oder doch nur ver-
gleichsweise äusserst schwache und
unregelmässige Wirkungen geben.
Dem entspricht es, dass die Kraft
des ausgeschnittenen, mit Quer-
schnitt versehenen Muskels, wie
schon Du B 0 i s zeigte , in lang-
samem Sinken begriffen ist, bis
endlich in Folge des von der Schnitt-
fläche aus langsam weiterkriechen-
den Absterbeprocesses sämmtliche
verletzte Fasern eines Muskels ab-
gestorben (erstarrt) und damit elek-
tromotorisch unwirksam geworden
sind. Es rückt demnach die Grenz-
fläche zwischen dem abgestorbenen,
fläche überziehenden Faserinhalt und dem lebenden Antheil der
Fio-. 107 5.
ursprünglich nur die Schnitt-
288 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
tractilen Substanz (die „Demarcationsfläche") im Verlaufe der
Erstarrung immer weiter nach innen.
Es wurde im Vorstehenden schon wiederholt von künstlichem
Q.uerschnitt gesprochen, auch wenn es sich nicht um eine wirkliche
Schnittfläche, sondern nur um eine Demarcationsfläche im obigen
Sinne handelte. In der That verhält sich jedes abgestorbene Stück
einer Muskelfaser als ein indifferenter Anhang (wie etwa sonst die
Sehnensubstanz), welcher von dem künstlichen Querschnitt, d. h.
der Grenzfläche zwischen todtem und lebendem Faserinhalt, ableitet.
Man kann daher in diesem Sinne ganz wohl von einem mechanischen,
thermischen oder chemischen Querschnitt sprechen. Im Allgemeinen
zeigt sich übrigens die Stärke der elektromotorischen Wirkung unab-
hängig von der Art der Abtödtung oder Zerstörung eines Faser-
antheiles, sofern es sich wirklich um eine solche handelt.
Wenn es auf Grund der erwähnten Erfahrungen keinem Zweifel
unterliegen kann, dass der Muskelstrom eine Eigenthümlichkeit des
lebenden Gewebes ist, so würde derselbe doch nur dann als eine
unser ganzes Interesse beanspruchende Lebensäusserung gelten
dürfen, wenn das seiner Zeit von D u B o i s - R ey mo n d ausgesprochene
Gesetz der Gleichwerthigkeit des künstlichen und natürlichen Quer-
schnitts durchweg Geltung hätte, wenn sich stets und in allen Fällen
dem Gesetz des Muskelstromes entsprechende Spannungen zwischen
dem Sehnenende und der übrigen Muskeloberfläche würden nachweisen
lassen, wenn mit anderen Worten die „Präexistenz" des Muskel-
stromes im völlig unversehrten lebenden Thier eine bewiesene That-
sache wäre. Dies ist nun aber, wie die folgenden Erörterungen zeigen
werden, keineswegs der Fall; es hat sich im Gegentheil unter dem
Eindruck zahlreicher Erfahrungen der neueren Zeit mehr und mehr
die insbesondere von Hermann vertretene Anschauung Geltung ver-
schaff't, dass der Muskelstrom nicht präexistire, sondern
eine künstlich durch die Präparation bedingte Er-
scheinung ist. Matteucci hat von vornherein die Ansicht ver-
treten, dass im lebenden unversehrten Thier keine Spur des Muskel-
stroms zu finden sei. Seiner Meinung nach entsteht dieser Strom
erst durch das Anlegen des ableitenden Bogens. Du" Bois-Rey-
mond, welcher sich, wie schon erwähnt wurde, hauptsächlich auf
Grund seiner ersten Befunde am Gastrocnemius des Frosches zu der
Annahme veranlasst sah, dass eine beständige Spannungsdifferenz
zwischen dem Achillessehnenspiegel (dem natürlichen Querschnitt)
und der unversehrten Muskeloberfläche bestehe, wurde bald ge-
nöthigt, seine Ansicht wesentlich zu modificiren. Den Ausgangs-
punkt der diesbezüglichen Untersuchungen Du Bois-Reymond's
bildeten Beobachtungen über den Einfluss der Kälte auf den
Muskelstrom, durch welche derselbe, wie schon Mateucci
beobachtet hatte, wesentlich vermindert wird. Du Bois-Reymond
fand die Angaben Matteucci's über die geringere Wirksamkeit der
Muskeln abgekühlter Frösche im Allgemeinen bestätigt. Gastrocnemien,
welche bei Ableitung von Sehne und natürlichem Längsschnitt mit D u
Bois-Reymond's ursprünglicher Vorrichtung immer einen sehr kräf-
tigen gesetzmässigen Strom zeigten, erwiesen sich nunmehr stromlos oder
gaben sogar verkehrte Ausschläge im Sinne eines im Muskel ab-
steigenden Stromes, lieferten dagegen sofort einen aufsteigenden Strom,
wenn ein künstlicher Querschnitt angelegt wurde. Du Bois-Rey-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 289
mond bezeichnete den, wie er meinte, durch die Kälte herbeigeführten
Zustand der Muskeln, in dem sie elektromotorisch unwirksam oder
gar in verkehrter Richtung Avirkend gefunden wurden, als den
„ p a r e 1 e k t r o n 0 m i s c h e n" Zustand (von Ttagavoi-iog =^ gesetzwidrig).
Die Thatsache, dass parelektronomische Muskeln vom Momente des
Auflegens auf die mit Eiweisshäutchen bekleideten Kochsalzbäusche
allmählich „normal" wirksam werden, erwies sich jedoch in der Folge
nicht sowohl als durch die Erwärmung bedingt, sondern vielmehr
durch die langsame chemische Veränderung (Anätzung) des Sehnen-
spiegels verursacht, welcher mit der concentrirten Kochsalzlösung
der Zuleitungsgefässe und mit dem Eiweiss der Schalenhäutchen in
Berührung stand. Es hatten hierbei diese Flüssigkeiten denselben
Effect allmählich hervorgebracht, den man plötzlich erzeugt, wenn man
in irgend einer Weise einen mechanischen oder thermischen Quer-
schnitt anlegt. Durch einwandfreie Versuche hat indessen später
Hermann (9) den Nachweis geliefert, dass in der That die Kraft
ausgeschnittener Muskeln durch Abkühlung erheblich
sinkt, durch Erwärmung dagegen steigt; die Schwankung
kann nach Hermann innerhalb der vitalen Temperaturgrenzen bis
zu 22 "/o betragen, ist aber wahrscheinlich noch grösser, da bei dem
angewendeten Versuchsverfahren die Möglichkeit vorliegt, dass die
tieferen Schichten nicht in gleichem Maasse beeinflusst Avaren, wie die
oberflächlichen.
Vermeidet man bei der Präparation, wie auch bei der Ableitung
der Muskeln möglichst jede Schädigung insbesondere der Sehnenenden,
so findet man dieselben elektromotorisch entweder gänzlich unwirksam
oder es sind die zwischen der Oberfläche und dem natürlichen Quer-
schnitt vorhandenen Spannungsdifl'erenzen doch so geringfügig, dass
man berechtigt ist, dieselben den kaum ganz zu vermeidenden
Schädigungen zuzuschreiben. Benetzung des natürlichen Querschnitts
mit Flüssigkeiten, welche die Muskelsubstanz chemisch nicht anzu-
greifen vermögen, wie beispielsweise physiologischer NaCl-Lösung, wirkt
niemals merklich stromentwickelnd. Im weiteren Verlaufe der Unter-
suchungen DuBois-Reymond's stellte sich dann heraus, dass der
vermeintliche Einfluss der Abkühlung auf die Entwicklung der Par-
elektronomie gar nicht so bedeutend ist, dass vielmehr alle Muskeln
sich stets auf ein er mehr oder minder hohen Stufe des
parelektrono mischen Zustand es befinden. Es ist dieser
Zustand daher auch nicht sowohl als ein abnormer, nur durch die
Kälte bewirkter aufzufassen, sondern vielmehr als ein ganz normaler
gesetzmässiger. Man könnte, wie Hermann richtig bemerkt, mit
viel mehr Recht den Zustand, in welchem der Strom zwischen Sehnen-
ende und Muskelfleisch in voller Stärke entwickelt ist, als den „par-
elektronomischen" bezeichnen, wie jenen, welchen Du Bois damit
meinte.
Auf die Erklärung, welche Du Bois-Reymond von der Par-
elektronomie gegeben hat, kann erst später näher eingegangen werden.
Vorläufig mag es genügen, darauf hinzuweisen, dass nach Du Bois'
Ansicht die Schwäche, beziehungsweise das Fehlen des Stromes
zwischen Oberfläche und natürlichem Querschnitt auf dem Vor-
handensein einer dünnen Lage besonders gearteter
Muskelsubstanz am natürlichen Querschnitt beruhen
sollte, welche die gesetz massige elektromotorische
Biedermann, Elektrophysiologie. 19
290 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Wirkung der übrigen Muskelmasse durch ihre ent-
gegengesetzte eigene Wirkung zum Theil compensirt,
aufhebt oder sogar ü bercompensirt.
Die stromentwickehide Wirkung der Benetzung des natürhchen
Querschnitts mit concentrirter NaCl-Lösung, Säuren oder Alkalien, der
Hitze oder des Schnittes Avürde demnach zurückzuführen sein auf die
chemische, thermische oder mechanische Zerstörung dieser dünnen
Schicht, welcher Du Bois den Namen der parelektro no-
mischen Schichte gegeben hat. So erklärte sich nun in ein-
fachster Weise der starke gesetzmässige Strom des scheinbar ganz
unversehrten Gastrocnemius , sowie die regellosen Ausschläge, welche
bei Ableitung verschiedener Oberschenkelmuskeln von Sehne nnd
natürlichem Längsschnitt erhalten werden können, aus der Annahme
eines in verschiedenem Grade entwickelten, parelektronomischen Zu-
standes. Es ist leicht ersichtlich, dass es unter den gegebenen Ver-
hältnissen näher liegt, den stromlosen Zustand für den nor-
malen zu halten. Denn liesse sich strenge beweisen, dass alle
Muskeln im gänzlich unversehrten Zustand stets und unter allen Um-
ständen stromlos sind, dann erscheint selbstverständlich die Hypothese
von einer gesetzwidrig wirkenden besonderen Schichte am natürlichen
Querschnitt völlig überflüssig. So spitzt sich denn, wie Hermann
hervorhob, die ganze Streitfrage nach der Präexistenz des Muskel-
stroms darauf zu, denselben vor der E n t h ä u t u n g des T h i e r e s
an den in situ befindlichen, blutdurchströmten Muskeln
nachzuweisen. Es könnte scheinen, als müsste dies beim Frosche
ausserordentlich leicht und einfach sein, da dessen feuchte, dünne
Haut den Muskeln nur lose aufliegt und eine verhältnissmässig gut-
leitende Nebenschliessung bildet. Indessen ist gerade dieses Versuchs-
object das allerungUnstigste. Du Bois-Reymond hat der Unter-
suchung des Muskelstroms am lebenden, unversehrten und unent-
häuteten Frosch ausserordentlich viel Zeit und Mühe gewidmet und
glaubte sich schliesslich auch wirklich von dem Vorhandensein ge-
setzmässiger Spannungsdifferenzen in dem erwarteten Sinne über-
zeugt zu haben. Nichtsdestoweniger handelte es sich aber auch hier,
wie sich später herausstellte, um eine Deutung, gegen welche sich die
schwerwiegendsten Bedenken geltend machen lassen. Zur Ableitung
der unenthäuteten Frösche und Frosehgliedmaassen bediente sich D u
Bois wieder zunächst der mit concentrirter NaCl getränkten und mit
.,Eiweisshäutchen" bekleideten Trogelektroden. Es stellte sich nun
bald heraus, dass immer die zuerst berührte Ableitungsstelle sich
positiv zu der später berührten verhielt, Avorauf nach einiger Zeit ein
Strom von geringer Kraft in der Richtung des Längsquerschnitts-
stromes enthäuteter Präparate zum Vorschein kam. Die ersterwähnte
Wirkung rührt nun, wie Du Bois fand, von einer der Froschhaut
selbst eigenthUmlichen elektromotorischen Kraft her, mit der wir uns
noch ausführlich zu beschäftigen haben werden. Vorläufig wird es
genügen, zu bemerken, dass jene senkrecht zu ihrer Oberfläche elektro-
motorisch wirkt, und dass der Strom in derselben von aussen nach
innen (im ableitenden Bogen natürlich umgekehrt) gerichtet ist. Da
nun diese an sich sehr starke Wirkung durch Benetzung der äusseren
Hautoberfläche mit ätzenden Flüssigkeiten rasch zerstört wird, so
muss natürlich bei ungleichzeitiger Berührung der Hautstellen mit
ableitenden Elektroden, welche nicht ganz indifferent sind, stets ein
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 291
Strom in dem oben angedeuteten Sinne auftreten, indem sich die
schwächer wirksam oder unwirksam gewordene Stelle positiv zur
andern verhält.
Man könnte nun erwarten, den gesetzmässigen Strom der unter
der Haut gelegenen Muskeln in dem Momente rein hervortreten zu
sehen, wo beide Ableitungsstellen elektromotorisch indifferent ge-
worden sind. Dies schien in der That bei Du Bois' Versuchen der
Fall zu sein, doch waren die SpannungsdifFerenzen, allerdings im
richtigen Sinne, immer sehr schwach und in allmählicher Zunahme be-
griffen. Dieser letztere Umstand wies schon darauf hin, dass die
Parelektronomie der subcutan gelegenen Muskeln durch die allmäh-
lich durch die Haut dringende NaCl-Lösung beseitigt wird, so dass von
vornherein die Vermuthung berechtigt erscheint, dass auch schon
die ersten Spuren des gesetzmässigen Muskelstromes durch Anätzung
des natürlichen Querschnitts entstanden sind. Es können daher, wie
zuerst Hermann (10) hervorhob und direct durch Aetzung mit
Silbernitrat erwies, Avelches die unterliegenden Muskeln sichtbar ver-
ändert (trübt), derartige Versuche überhaupt nicht als beweisend für
die Annahme der Präexistenz des Muskelstromes angesehen werden.
„Wählt man die Aetzstellen so, dass keine aponeurotischen Muskel-
flächen unterliegen (z. B. die äussersten Zehenspitzen und die Rücken-
haut), so findet man in der That keine dem Muskelstrom ent-
sprechende Ablenkung, sondern der Kreis ist soweit stromlos, als
überhaupt ein Kreis, der feuchte Leiter und Metalle enthält, stromlos
sein kann." Wendet man nach dem Vorgange Hermann' s statt
der rasch diffundirenden NaCl-Lösung, Creosot, Silbernitrat oder am
besten Sublimat an, so gelingt es wirklich, zu einer gewissen Zeit
völlige Stromlosigkeit zwischen den beiden abgeleiteten Hautpunkten
nachzuweisen, obschon später auch hier Durchätzung eintritt und
einen zunächst schwachen, gesetzmässigen Strom bedingt. Bei
Fischen, deren Hautstrom in den meisten Fällen schwächer ent-
wickelt ist als beim Frosch, genügt, wie Hermann gezeigt hat,
längerer Aufenthalt in zimmerwarmem Wasser, um bei jeder Ableitung
des immobilisirten, unversehrten Thieres Stromlosigkeit zu erhalten.
Dass es gelingt, auch völlig frei präparirte Muskeln absolut stromlos
zu erhalten, wurde bereits oben bei Besprechung der Parelektronomie
hervorgehoben, und Du Bois selbst hat ja diese Thatsaehe am
Gastrocnemius des Frosches unzählige Male beobachtet. Wenn er dem
ungeachtet die Präexistenz des Muskelstroms behauptete, so stützt
sich diese Ansicht hauptsächlich auf die Wahrnehmung, dass in zahl-
reichen andern Fällen der genannte Muskel trotz aller möglichen Vor-
sicht bei der Präparation geringe aber gesetzmässige SpannungsdifFe-
renzen darbietet. Man wird jedoch He rmann durchaus Recht geben
müssen, wenn er auch in solchen Fällen die elektromotorische Wirkung
auf das unvei-merkte Hinzutreten schädlich, d. h. chemisch alterirend
wirkender Flüssigkeiten (Hautsekret, Muskelsaft u. s. w.), ungleiche
Erwärmung, Berührung oder Druck bezieht, was nur dann möglichst
vermieden werden kann, wenn man erst mit den betreffenden Schäd-
lichkeiten einerseits, der ausserordentlichen Empfindlichkeit der Mus-
kelsubstanz andererseits bekannt geworden ist. Vor Allem ist die Be-
rührung mit Muskelwunden oder der dieselben benetzenden Flüssigkeit
sorgsamst zu verhüten. Denn es ist eine bereits Du Bois -Reymond
bekannt gewesene Erfahrung, dass der blossliegende , im Absterben
19*
292 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
begriffene oder bereits abgestorbene Faserinhalt, wie z. B. ein künst-
licher Querschnitt, ausserordentlich kräftig stromentwickelnd wirkt.
Mit Rücksicht auf den von Du Bois-Reymond aufgestellten Satz,
dass nur solche Stoffe, welche die Muskelsubstanz chemisch angreifen
und dadurch, wie er meinte, zur Zerstörung der parelektronomischen
Schichte führen, stromentwickelnd wirken, muss die erwähnte That-
sache sehr auffallend erscheinen, da man doch vorauszusetzen be-
rechtigt ist, dass die Muskelsubstanz sich selbst nicht chemisch alte-
rirt. Indessen ist zu bedenken, dass der blossliegende Faserinhalt
dem Erstarrungsprocesse rasch anheimfällt und hierbei chemische Ver-
änderungen erleidet, welche bekanntlich zu Säurebildung Anlass geben.
Da andererseits bekannt ist, dass Säuren selbst in hohen Verdünnungs-
graden die Lebenseigenschaften der Muskeln rasch schädigen, so ist es
naheliegend, die stromentvvickelnde Eigenschaft des künstlichen Quer-
schnitts auf die Säuerung der Muskelsubstanz zu beziehen. In wieweit
diese Vermuthung wirklich berechtigt ist, wird später noch ausführ-
licher zu erörtern sein.
Ganz besondere Schwierigkeiten bereitete der Präexistenzlehre das
elektromotorische Verhalten unversehrter oder doch scheinbar unver-
sehrter Oberschenkelmuskeln des Frosches. In der grosssen Mehrzahl
der Fälle fand Du B o i s dieselben zwischen beiden Sehnenenden ab-
steigend wii'ksam, jedoch kamen auch Fälle von völliger Stromlosig-
keit vor, sowie aufsteigend wirkende Präparate. Der Strom zwischen
oberem Sehnen ende und Aequator (DuBois' „oberer Strom'') war
in der Regel grösser als der zwischen Aequator und unterem Sehnen-
ende (der „untere Strom"). Doch beobachtete Du Bois auch
das Umgekehrte, und selbst solche Fälle kamen vor, wo beide Sehnen-
enden sich positiv gegen den Aequator verhielten. Die Verschieden-
artigkeit und das Verwirrende dieser Befunde hätte, wie Hermann
hervorhebt, allein schon genügen müssen, um die Lehre von der Par-
elektronomie zu erschüttern, doch war dies keineswegs der Fall.
Vielmehr erhielt dieselbe gerade auf Grund gewisser Befunde an
Oberschenkelmuskeln eine weitere Ergänzung durch die Annahme
einer in manchen Fällen an Stelle der parelektronomischen Schichte
entwickelten parelektronomischen Strecke (11). In diesem Sinne
deutete nämlich Du Bois-Reymond die allerdings nur in einigen
wenigen Fällen beobachtete Thatsache, dass ein in der Nähe des
Sehnenendes angelegter künstlicher Querschnitt sich nicht wie ge-
wöhnlich negativ, sondern positiv zum Längsschnitt verhielt. Es wird
später zu zeigen sein, wie sich alle diese Unregelmässigkeiten in ein-
fachster Weise erklären lassen; vorläufig sei nur bemerkt, dass es
ohne besondere Schwierigkeit gelingt, auch Oberschenkelmuskeln des
Frosches, wie insbesondere den Sartorius, vollkommen stromfrei zu er-
halten (16). Mit dem Nachweise, dass die Skeletmuskeln bei ge-
höriger Vorsicht stets in stromlosem Zustand erhalten werden können,
ist jedoch die Reihe der Beweise für den Satz, dass unversehrte
Muskeln überhaupt nicht elektromotorisch wirken, noch nicht er-
schöpft. Im Jahre 1874 wies Engelmann auf das Herz als einen
Muskel hin, der ausserordentlich geeignet ist zur Untersuchung in
gänzlich unversehrtem Zustande (12). Dasselbe erweist sich denn
auch in der That bei jeder Ableitungsart stromlos. Selbstverständlich
verhält sich aber ein künstlicher Querschnitt des Herzens ganz ebenso
negativ wie der eines jeden andern Muskels, und es war dies schon
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 293
Matteucci bekannt, welcher aus querdurchschnittenen Taubenherzen
Säulen construirte. Von grossem Interesse für die theoretische Auf-
fassung des Längsquerschnittstronies ist die Thatsache , dass , wie
Engelmann (12) fand, die Kraft zwischen künstlichem
Querschnitt und natürlicher Oberfläche des Herz-
muskels sehr rasch sinkt. Es ist dies um so auffallender, als
es seit lange — schon Du B o i s macht darauf aufmerksam — be-
kannt ist, dass der einmal entwickelte Längsquerschnittstrom mono-
merer Skeletmuskeln ausserordentlich beständig ist. So fand Engel -
mann, dass die Kraft des Sartorius binnen 1 Stunde im Mittel aus
45 Versuchen auf 81,1 *^/ü, binnen 24 Stunden auf 43,6**''o und erst binnen
48 Stunden auf 30,8*^/0 gesunken war. Anfrischen des Querschnitts, d. i.
Anlegen eines neuen tiefer hinein liegenden Querschnittes nützt dann
in der Regel nicht viel und führt höchstens zu einer geringen
Zunahme des Muskelstroms. Ganz anders ist es beim
Herzen. Hier genügt Abtragen der alten Schnittfläche,
um die Kraft sofort wieder in der anfänglichen Höhe er-
scheinen zu lassen. Es scheint also, als könne man hier die Ent-
stehung der parelektronomischen Schichte so zu sagen direct beob-
achten. Die Thatsache erklärt sich jedoch sehr einfach. Gehen wir
dabei aus von der Betrachtung des ganz analogen Verhaltens poly-
merer Stammesmuskeln. An der Innenfläche der Bauchwand von
Salamandra mac. verlaufen zwei lange, durch sehnige Inscriptionen
in zahlreiche kurze Glieder abgetheilte Muskeln. Wenn man einen
solchen bandförmigen Muskel herauspräparirt, in der Continuität
eines einzelnen Gliedes quer durchschneidet und ihn dann vor Ver-
trocknung geschützt liegen lässt, so überzeugt man sich nachträglich,
dass nach einiger Zeit nur dieses verletzte Glied die Zeichen der Er-
starrung an sich trägt, Avährend die übrigen ihr normales Aussehen
und ihre Erregbarkeit noch besitzen, dass also das Absterben an der
nächsten sehnigen Inscription Halt gemacht hat. Denkt man sich nun
einen solchen Muskel zum Galvanometer abgeleitet, einerseits vom
künstlichen Querschnitt, andererseits von irgend einem Punkt der
Muskeloberfläche, so wird selbstverständlich unmittelbar nach Anlegen
des künstlichen Querschnitts ein gesetzmässiger Strom vorhanden sein.
Dieser müsste aber vom Standpunkte der Präexistenzlehre auch dann
noch nachweisbar sein, wenn das verletzte Theilglied völlig erstarrt
ist, denn dann bildet es eben eine unwirksame Ableitung vom natür-
lichen Querschnitt des nächstfolgenden Gliedes, gerade wie die Sehne
oder der Knochen eines monomeren Muskels. Dies ist jedoch nicht
der Fall, sondern der Längsquerschnittsstrom besteht nur, so lange
noch ein Theil der Substanz des mit künstlichem Querschnitt ver-
sehenen Theilgliedes lebend vorhanden ist; er wird gleich Null, wenn
das betreff'ende Glied vollständig erstarrt ist und erhebt sich erst auf
seine frühere Höhe, wenn jenseits der sehnigen Inscription ein neuer
Q,uer schnitt angelegt wird.
Ganz analoge Verhältnisse existiren nun auch beim Herzmuskel.
Derselbe unterscheidet sich von andern quergestreiften Muskeln ausser
durch den sehr verwickelten Faserverlauf, der hier von keiner Be-
deutung sein kann, sehr wesentlich durch die ausserordentlich viel
geringere Grösse seiner morphologischen Elemente: er besteht aus
mikroskopisch kleinen Zellen. Engel mann hat nun nachgewiesen,
dass sich die einzelnen Herzmuskelzellen beim Absterben als völlig
294 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
selbststäuclige Individuen verhalten, gerade wie die einzelnen Theilglieder
polymerer Muskeln. Der durch den Schnitt hervorgerufene Er-
starrungsprocess wird somit beim Herzen in sehr geringer Entfernung
von der Wunde zum Stehen kommen, also viel früher abgelaufen sein,
als bei gewöhnlichen, langfaserigen Muskeln, und es wird somit auch
hier, wie bei polymeren Skeletmuskeln, die Grenzfläche zwischen
todter und lebender Muskelsubstanz schliesslich durch die natürlichen
Oberflächen, beziehungsweise Enden der nicht direct verletzten Zellen
gebildet. Wollte man sich diesen Befunden zum Trotz dennoch auf den
Standpunkt der Präexistenzlehre stellen, so bleibt nichts Anderes übrig,
als anzunehmen, dass jede einzelne Zelle des Herzmuskels an ihren
Endflächen mit einer parelektronomischen Schichte bekleidet ist, sowie
man auch im Falle polymerer Muskeln annehmen müsste, dass zu
beiden Seiten je einer sehnigen Inscription eine parelektronomische
Schichte vorhanden ist. Zu einer solchen Annahme wird man sich
aber ohne Noth wohl kaum entschliessen. Es geht also aus dem Ver-
halten polymerer Muskeln und des Herzens abermals hervor, dass
sowohl dieTheilglieder der ersteren als auch die zelligen
Elemente des letzteren im unversehrten Zustande nach
aussen elektromotorisch unwirksam sind.
Analoge Versuche, welche Engelmann an aus glatten Muskel-
zellen zusammengesetzten Organen anstellte, ergaben dasselbe Resultat.
Auch hier sinkt , wie beim Herzen , die Kraft zwischen einem künst-
lichen Querschnitt und natürlichem Längsschnitt sehr rasch , um bei
Anfrischung sofort wieder zu steigen, ein Verhalten, dass sich auch
beim Schliessmuskel von Anodonta constatiren lässt. Es darf da-
her auch jede glatte Muskelzelle im unversehrten Zustande als strom-
los gelten. Wenn bei Verletzung polymerer Muskeln der Längs-
querschnittstrom gleich Null wird, wenn dem Fortschreiten des
Erstarrungsprocesses durch die nächste Sehneninscription Halt ge-
boten wird, so erhebt sich die Frage, ob es kein Mittel giebt, den
vom künstlichen Querschnitt aus fortkriechenden Absterbeprocess eines
monomeren Muskels ein Ziel zu setzen und so den Muskelstrom
zu beseitigen. Der ausgeschnittene Muskel lässt sich allerdings nicht
mehr retten, aber es wäre denkbar, dass bei Fortdauer der Blut-
circulation ein querdurchschnittener Muskel heilen könnte. Engel-
mann (1. c.) fand nun in der That, dass auch gewöhnliche Skelet-
muskeln (Sartorius vom Frosch) nach subcutaner Durchschneidung
allmählich wieder stromlos werden ; wenn aber unter dem Einfluss
der normalen Ernährungsbedingungen sogar der künstliche Querschnitt
seine negative Spannung verliert, so können gewiss nicht die natür-
lichen Faserenden während des ganzen Lebens der Sitz einer elektro-
motorischen Kraft sein.
Alle bisher besprochenen Thatsachen weisen daher übereinstim-
mend darauf hin , dass quergestreifte Muskeln im völlig
unversehrten Zustande stromlos sind und dass der
„ruhende Muskelstrom" an die Existenz künstlicher
Querschnitte, seien diese nun mechanische, thermische oder
chemische, gebunden ist.
Wenn wir nunmehr dazu übergehen, die zur Erklärung der elektro-
motorischen Wirkungen verletzter „ruhender" Muskeln bisher ge-
machten Versuche einer näheren Besprechung zu unterziehen, so muss
vor Allem betont werden, dass eine der beiden bis in die letzte Zeit
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 295
sich schroff gegenüberstehenden Theorien gegenwärtig wohl als wider-
legt gelten darf, wenigstens in der Form, in Avelcher sie ursprünglich
von ihrem genialen Begründer Du Bois-Reymond aufgestellt
worden ist. Mehr und mehr hat sich seit H e r m a n n ' s grund-
legenden Arbeiten die Anschauung Bahn gebrochen, dass bei den ver-
wickelten Vorgängen innerhalb der lebenden Substanzen das chemische
Geschehen zum Mindesten ebenso sehr Berücksichtigung verdient und
linden muss, als die physikalischen Symptome desselben, und dass es
nicht angeht, einer bestimmten Einzelerscheinung zu Liebe ein Gebilde,
wie den lebenden Muskel oder Nerv, einem rein physikalischen Schema
gleichzustellen und dem entsprechend zu behandeln. Dem ungeachtet
muss jedoch schon des historischen Interesses wegen, sowie mit Rück-
sicht auf spätere Erörterungen, die „Molekulartheorie'' Du Bois-
Reymond 's hier wenigstens in Kürze besprochen werden, umsomehr,
als in neuerer Zeit der Versuch gemacht worden ist, dieselbe, wenn
auch in einer wesentlich veränderten P'orm, wieder zu beleben (Bern-
stein). Es bietet sich ausserdem dabei erwünschte Gelegenheit, einige
für das Folgende wichtige Thatsachen, betreffend die Vertheilung von
Strömen in körperlichen Leitern, nachzutragen.
Wenn ein Körper, wie der querdurchschnittene Muskel, Sitz
einer elektromotorischen Kraft ist, so handelt es sich offenbar in
erster Linie darum,
die daraus resultirende
Vertheilung der Span-
nungen in demselben
kennen zu lernen. Wie
dies mit Hülfe eines
gleichartigen ableiten-
den Bogens, d. h. eines
solchen, der an sich
und durch sein An-
legen an den feuchten
Leiter keine Veran-
lassung zur Entwick-
lung von Spannungs-
differenzen giebt, durch ^'^'S- 108 Schema der Stromverzweiguns- in
• 1 /l • nv> • Flussigkeitscylinder. (Nach Rosen thal.)
fläche des elektromoto-
risch wirkenden Leiters geschehen kann , wurde bereits oben aus-
führlich besprochen. Es bleibt jetzt nur noch übrig, zu erörtern,
wie man aus der Vertheilung der Oberflächenspannungen auf den
elektrischen Zustand des Inneren schliessen kann. Gehen wir bei
dieser Betrachtung von einem regelmässigen Flussigkeitscylinder
aus, in dessen Innerem irgendwo, etwa in einem Punkt der Axe,
eine elektromotorische Kraft Avirksam sein soll, so lässt sich der
Strömungsvorgang in der Ebene irgend eines Längsschnittes durch
die bestehende schematische Zeichnung darstellen (Fig. 108). Befindet
sich beispielsweise in (Ä) ein aus zwei verschiedenen Metallen zu-
sammengesetzter kleiner Körper, so wird der ganze Flussigkeits-
cylinder im Sinne der ausgezogenen Pfeile von Stromfäden durchsetzt
sein, die in ihrer Gesammtheit natürlich in einander geschachtelte
Flächen (Strömungsflächen) bilden. Entsprechend dem „Gefälle" herrscht
in jedem Punkte dieser Strombahnen eine bestimmte positive bezw.
einem
296
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Ämi 1
negative Spannung", und wir können daher leicht ein zweites System
von Linien resp. Flächen erhalten, wenn alle Punkte gleicher Span-
nung auf den verschiedenen Stromcurven (Strömungsflächen) mit
einander verbunden werden, wie dies durch die punktirten Linien an-
gedeutet ist. Man bezeichnet diese letzteren Curven, auf welchen
wegen des wachsenden Widerstandes die Intensität der Strömung um
so geringer ist, je "weiter sie nach der Mantelfläche des Cylinders hin
gelegen sind, als Spannungs- oder iso elektrische Curven, deren
Gesammtheit wieder ein System gekrümmter Flächen (Spannungs-
flächen , i s o e 1 e k t r i s c h e Flächen) bildet , welche die Strömungs-
flächen rechtwinklig" schneiden. Die Durchschnittslinien der isoelek-
trischen Flächen mit dem Cylindermantel bilden hier gerade wie beim
regelmässigen Muskelcylinder der Peripherie der Endflächen parallele
Kreise, die Strömungscurven meridionale Linien. Doch lässt sich
hieraus nicht sofort auch auf eine ganz bestimmte Lage der elektro-
motorischen Kraft schliessen, da eine analoge Vertheilung der Ober-
j^ flächenspannungen
noch in sehr vielen
-^ -^ -*■ -*- ■ anderen Fällen vor-
kommen kann , wobei
noch ausserdem frag-
lich bleibt, ob nur an
einer oder an mehreren
und vielleicht vielen
Stellen im Innern des
Körpers elektromoto-
rische Kräfte wirksam
sind. Thatsächlich ent-
spricht allerdings jeder
neuen Lage einer elek-
tromotorischen Kraft
ein anderes System von
Strömungs- und Span-
nungscurven , bezw.
eine andere Vertheilung der Oberflächenspannungen; da jedoch, wie
Helmholtz gezeigt hat, bei einer Vielheit elektromotorischer Kräfte
die Spannung jedes Punktes an der Oberfläche des Körpers der Summe
aller Spannungen entspricht, welche an diesem Punkte durch jede der
elektromotorischen Kräfte für sich allein erzeugt würde, so lassen sich
vielfache Combinationen derselben denken, bei welchen stets dieselbe
Vertheilung der Oberflächenspannung sich ergeben würde. Ueberlegt
man nun die Fälle, wo ein cylindrisch geformter Körper eine ähnliche
elektromotorische Wirksamkeit, wie der an beiden Enden mit künstlichem
Querschnitt versehene parallelfaserige Muskel zeigen würde, so findet
man, dass unter Anderem ein solider Kupfercylinder mit verzinkter
Mantelfläche den gemacliten Voraussetzungen entsprechen würde, so
bald er in eine leitende Flüssigkeit, wie etwa verdünnte H2SO4, vor-
senkt wird. Diese wird dann im Sinne des beistehenden Schemas
(Fig. 109 u4.) von zahllosen Stromfäden durchzogen sein, welche
sämmtlich von dem positiv elektrischen Zinkmantel zu den negativ
elektrischen Kupferendflächen verlaufen und an der Oberfläche eine
der am Muskelprisma beobachteten ganz analoge Spannungsvertheilung
erzeugen. Genau dasselbe wird aber auch unter zwei anderen Vor-
aussetzungen über die Lage der elektromotorischen Flächen der Fall
C B
Fig. 109. Schenica denkbarer Annahmen über die elektro-
motorischen Flächen in einer Muskelfaser. Axialer Längs-
schnitt. (Nach Hermann.)
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
297
sein. Man denke sich einen hohlen Cylinder aus Kupfer, dessen
Mantelfläche von einem Zinkmantel umhüllt wird und welcher gefüllt
ist mit angesäuertem Wasser; die ganze Vorrichtung sei wieder ein-
getaucht in angesäuertes Wasser. Dann entspricht das Schema (B)
(1. c.) der Vertheilung der Spannungen. Ganz analog würde sich die-
selbe endlich auch gestalten, wenn ein hohler Zinkcylinder mit ver-
kupferten Endflächen unter gleichen Verhältnissen untersucht würde
(C des Schemas Fig. 109). Welches dieser drei Schemata im Muskel-
cylinder thatsächlich verwirklicht ist, lässt sich durch den Versuch
nicht so ohne Weiteres entscheiden. In Bezug auf die erste An-
nahme muss auch noch hervorgehoben werden, dass im Sinne der
obigen Erörterungen der eine solide Cylinder auch durch eine beliebig
grosse Anzahl kleiner, sämmtlich mit positivem Längsschnitt und
negativem Querschnitt versehenen, cylindrischen oder rundlichen Kör-
perchen („peripolare Molekeln") ersetzt werden kann, voraus-
gesetzt, dass dieselben etwa in der Art der beistehenden schematischen
Zeichnung regelmässig angeordnet sind (Fig. 110 a). Mit Rücksicht
auf die beim Muskel wirklich gegebenen anatomischen Verhältnisse
würde sich die erste Annahme in der zuletzt erwähnten modificirten
ooooo
ooooo
ooooo
€3€(SC3:
CO€(IC3;
€3 €3
i€3C3€3l IC3€3€3
Fig. 110. Schema peripolarer («) und dipolarer (b) Molekeln. (Hermann' s Hand-
buch I. 1.) Die parelektronomischen Molekeln am natürlichen Querschnitt.
Form mit der von DuBois-Reymond begründeten Molekulartheorie
decken; die zweite mit einer von Grünhagen aufgestellten Hypo-
these, wonach ein elektromotorischer Gegensatz zwischen Muskelflbrille
und umspülender Ernährungsflüssigkeit bestehen soll; die dritte end-
lich liegt der Hermann ' sehen Alterationstheorie zu Grunde, welche
voraussetzt, dass am künstlichen Querschnitt selbst eine elektromoto-
rische Kraft entwickelt wird.
Werden an der Oberfläche der indifferenten Umhüllung irgendwo
zwei Punkte verschiedener Spannung durch einen ableitenden Bogen
mit einander verbunden, so ergiesst sich durch denselben ein Strom-
zweig entsprechend einem Bruchtheil der im Innern wirken-
den Kraft, da die Ströme, besonders in unmittelbarer Nähe der elektro-
motorischen Flächen, eine starke innere Abgleichung haben. Es ist
daher, wie Hermann bereits hervorhob, in manchen Fällen wesent-
lich zu beachten, dass die inneren Ströme durch Compensation der
abgeleiteten Stromzweige keineswegs beseitigt werden können. „Ein
Muskel mit angelegtem Bogen, dessen Strom compensirt ist, verhält
sich vielmehr so, als wäre der Bogen nicht vorhanden, und die Ströme
gleichen sich im Innern ab."
Die von Du Bois-Reymond mit ausserordentlichem Scharf-
sinn und grösster Consequenz durchgeführte physikalische Theorie des
Muskel- (und Nerven-)Stromes geht, wie schon früher erwähnt wurde,
von der Erfahrung aus, dass jedes kleinste, der Untersuchung über-
298 I^ie elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
haupt noch zugängliche Theilstück eines Muskelcylinders noch immer
die gesetzmässigen Spannungsdifferenzen zwischen Längsschnitt und
Querschnitt erkennen lassen. Es steht also nichts im Wege, sich den
ganzen Muskel, beziehungsweise jede einzelne Faser desselben aus
lauter kleinen Theilchen oder Molekeln zusammengesetzt zu denken,
deren jedes elektromotorisch wirkt, und zwar in gleicher Weise, wie
der ganze Muskelcylinder. Man kann sich dieselben entweder als
Kugeln mit zwei negativen Polarzonen und positivem Aequator (peri-
polare Molekeln) denken, oder aber, wie es Du Bois-Reymond
später mit Rücksicht auf gewisse noch zu erörternde Thatsachen that,
annehmen, dass jede peripolar- elektromotorische Molekel aus je zwei
dipolaren Theilchen besteht, welche sich ihre positiven Hälften zu-
kehren (Fig. 110/>). Jeder künstliche Querschnitt würde dann immer
zwischen zwei positive und nie zwischen zwei negative Flächen fallen.
Im Uebrigen ist es ganz gleichgültig, welche Form mau im Einzelnen
den Molekeln zuschreibt, und man kann sich dieselben ebenso gut als
Scheiben , wie als Kugeln denken. Erforderlich ist nur die regel-
mässige Anordnung derselben im Sinne der beistehenden Zeichnung
(Fig. 110). Denkt man sich dann das ganze cylindrische oder prisma-
tische Aggregat derartiger elektromotorisch wirkender Molekeln um-
hüllt von einer dünnen Schichte eines indifferenten Leiters (Perimy-
sium, Sarkolemm, sowie am Querschnitt die abgestorbene Schichte)^
so wird, wie schon erwähnt, die Vertheilung der Spannungen an der
Oberfläche durchaus den wirklich zu beobachtenden Verhältnissen ent-
sprechen. Mit Hülfe dieser Hypothese gelingt es nun in der That,
alle Erscheinungen des „ruhenden Muskelstromes" in einfacher Weise
zu erklären, insbesondere auch die Thatsache der gleichsinnigen Wirk-
samkeit jedes kleinsten Muskelstückchens, sowie die sogenannten Nei-
gungsströme an schrägen Querschnitten- Schwierigkeiten bietet aber
schon die Deutung der Parelektronomie , die, wenn man an der Prä-
existenzlehre festhalten will , nur durch die weitere, oben bereits
erwähnte Annahme erklärt Averden kann, dass am natürlichen
Querschnitt eine besonders geartete com pensir ende Schichte ge-
legen ist , w^elche sich Du Bois-Reymond durch „ p a r e 1 e k t r o -
n 0 m i s c h e Molekeln " gebildet dachte , welche der Sehne positive
Flächen zukehren und etwa aus den inneren Hälften der zu äusserst
gelegenen dipolaren Molekel bestehen könnten. Besteht die par-
elektronomische Schichte aus einer ganzen Reihe säulenartig geordneter
dipolarer Molekeln, so entsteht eine „parelektronomische Strecke".
Bernstein (13) hat die Du Bois'sche Molekulartheorie in neuerer
Zeit in einigen wesentlichen Punkten modiiicirt und als „elektro-
chemische Molekular theorie" gewissermaassen neu zu be-
gründen versucht. Ihm zu Folge hätte man sich den lebenden Faser-
inhalt „aus Längsreihen von Molekülen zusammengesetzt zu denken,
welche sich zu Fibrillen von endlichem Durchmesser aggregiren und
in einer ihnen adäquaten Flüssigkeit liegen, die gleichsam ihre Nähr-
flüssigkeit ist (Paraplasma)". Sie werden durch Ki'äfte an einander
gekettet, „welche der chemischen Affinität gleich oder ihr nahestehend
gedacht werden können, und bestehen aus einem Kern von com-
plicirter chemischer Zusammensetzung, identisch mit dem lebenden
Eiweissmolekül Pflügers".
Die Längsseiten der im Sinne der beistehenden (Fig. 111) pris-
matisch gedachten Molekülkerne (31), deren Endflächen durch Sauer-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 299
Stoffatome chemisch locker an einander gekettet sein sollen, denkt sich
Bernstein „beladen mit oxydablen N-freien Atomgruppen „etwa
vergleichbar einem feinen Platinfaden , welcher in eine Atmosphäre
von Wasserstoff eingetaucht wird". „Die von der Ernährungsflüssigkeit
umgebenen Molekülreihen beziehen aus ihr beständig die für den
Stoffwechsel nöthigen Ladungen". „Betrachtet man diese als elektro-
positiv gegenüber dem Molekülkern, die Sauerstoffatome dagegen als
elektronegative Ladungen derselben, so ergiebt sich daraus der Ruhe-
strom des Muskels (und Nerven), wenn man den Längsschnitt mit
einem künstlichen Querschnitt derselben verbindet. Es kann ausser-
dem noch angenommen werden, dass nach Anlegung eines künstlichen
Querschnitts durch die Zerreissung der Molekülkette assimilirter Sauer-
stoff freigemacht wird, Avelcher gegen den Molekülkern negative Spannung
besitzen würde." Die Parelektronomie der Sehnenenden würde sich
nach dieser Theorie erklären lassen, wenn man annimmt, „dass daselbst
eine jede Molekülreihe in die benachbarte continuirlich übergeht (durch
Fig. 111.
schlingenförmiges Umbiegen) und somit keine freien Querschnitte
bietet". Würde ein einzelnes derartiges „Molekül" oder besser Molekül-
aggregat für sich in einer leitenden Flüssigkeit eingebettet liegen, so
würde es sich, wie man sieht, in jeder Beziehung wie einDuBois'-
sches peripolares Molekül verhalten; in ihrer Gesammtheit sind die-
selben jedoch nicht wie diese als von Molekularströmen umflossen zu
denken, da ihre Spannungen nach allen Seiten neutralisirt erscheinen.
Dieselben Einwände, welche sich gegen die ursprüngliche Molekular-
theorie erheben lassen, müssen zum grossen Theil auch gegen die
„elektrochemische" Umgestaltung derselben geltend gemacht werden,
deren äusserst detaillirte Voraussetzungen über den chemischen Auf-
bau der lebendigen Substanz von vornherein zu schwerwiegenden Be-
denken Anlass geben dürften.
Nach der von Grünhagen vertretenen Theorie würde, wie er-
wähnt, ein elektromotorischer Gegensatz zwischen jeder Primitivfibrille
und der umgebenden Ernährungsflüssigkeit (Sarkoplasma) anzunehmen
sein, wobei die letztere das positive, die Fibrille das negative Glied der
Kette bilden würde. Die Stromlosigkeit unversehrter Muskeln würde
sich nach dieser Theorie sehr einfach durch die allseitige Umhüllung der
negativ elektrischen Fibrillen mit der positiven Ernährungsflüssigkeit
erklären. Grünhagen's Anschauungen über die Ursache der elektro-
motorischen Wirkungen thierischer Gewebe nehmen ihren Ausgangs-
punkt von Versuchen an porösen Cylindern. Doch ist, wie Hermann
hervorhebt, schwer zu ersehen, wie deren Resultate auf die beim
Muskel gegebenen Verhältnisse Anwendung finden sollen. Grünhagen
300 I^iß elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
fand nämlich, dass an cylindrisch-porösen Körpern während der Durch-
feuchtung die Querschnitte (Endflächen) gegen Punkte der Mitte ihrer
Längsoberfläche und ebenso auch asymmetrische Punkte der letzteren
und ersteren unter einander sich elekti'isch different, und zwar im
Sinne des Muskelcylinders, verhalten. Diese Spannungsdifl'erenzen ver-
schwinden, wenn der poröse Cylinder ganz mit Flüssigkeit imbibirt
ist, und werden daher aufgefasst als eine Folge der Flüssigkeitsströ-
mung durch die poröse Substanz. Aehnlich stellt sich nun Grün-
hagen auch das Verhältniss zwischen Fibrille und umgebender Er-
nährungsflüssigkeit vor.
In voller Uebereinstimmung mit allen bisher bekannten Thatsachen
befindet sich dagegen die der dritten früher erörterten Annahme über
den Sitz der elektromotorischen Kraft entspi-echende Alterations-
theorie von L. Hermann, welche alle elektromotorischen Wir-
kungen lebender Gewebe auf chemische Veränderungen der Substanz,
ohne Rücksicht auf deren molekularen Bau, zurückführt. In Bezug auf
den „ruhenden" Muskelstrom geht die Theorie von dem Satze aus,
„dass die absterbende Substanz sich zur lebenden nega-
tiv verhält". Als Sitz der elektromotorischen Kraft würde dem-
gemäss die Grenzfläche zwischen absterbender und lebender Substanz
(„D emarcationsfläch e") zu betrachten sein. Hermann be-
zeichnet daher auch den „Ruhestrom" des Muskels als „Demar-
cationss trom". Von sehr allgemeinen Gesichtspunkten aus hat
neuerdings auch Hering (14) das H e r m a n n ' sehe Erklärungsprincip
behandelt. Für ihn hat der Satz von der Stromlosigkeit unversehrter
ruhender Muskeln oder Nerven etc. den Sinn, „dass ein solches Ge-
bilde einen nach aussen ableitbaren Strom nicht entwickelt, so lange
sein Stoffwechsel, d.i. das innere chemische Geschehen
in allen T heilen desselben, gleich ist. Jede Störung
dieser Gleichheit bedingt das Entstehen ableitbarer
Ströme". Mit Nachdruck betont ferner Hering den übrigens auch
schon von Hermann seiner Zeit hervorgehobenen Umstand, dass
eine Veränderung des chemischen Geschehens in einem Theil eines
lebenden Continuums nicht bloss in der Art vorkommen kann,
„dass derselbe sich nunmehr zu den unveränderten Theilen nega-
tiv, sondern ebensowohl in der A,rt, dass er sich zu
letzteren positiv verhält". Bezeichnet man daher die in
ihrem Chemismus von der übrigen Substanz abweichende Stelle als
eine (relativ) alterirte, so muss man demgemäss „eine (relativ)
positive und eine (relativ) negative Alterirung" unter-
scheiden, wobei noch hervorzuheben ist, dass nicht „die ver-
änderte chemische Zusammensetzung diese Alterirung charak-
terisirt, sondern das veränderte chemische Geschehen, aus welchem
sich allerdings eine veränderte Zusammensetzung ergeben kann".
Wie an anderer Stelle (vergl. den Abschnitt über Ermüdung des
Muskels) bereits ausgeführt wurde, unterscheidet Hering in jeder
lebenden Substanz die aufsteigende Aenderung, die absteigende
Aenderung und den Zustand des Gleichgewichtes. „So-
wohl die aufsteigende als die absteigende Aenderung kann mit sehr
verschiedener Geschwindigkeit erfolgen, je nachdem die auf die Ein-
heit der Substanz bezogene Stärke der Assimilirung, die Stärke der
gleichzeitigen Dissimilation, oder letztere die erstere mehr oder Aveniger
übertriff't. Befinden sich alle Theile eines lebenden Continuums im Gleich-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 301
gewichte oder verändern sie sich alle mit derselben Geschwindigkeit
aufsteigend oder absteigend, so erzeugen sie keine ableitbaren Ströme.
Jede Verschiedenheit aber in der Geschwindigkeit oder in der Rich-
tung der Aenderung bedingt einen ableitbaren Strom." .,Wir können
uns demnach a 1 1 e v e r s c h i e d e n e n G e s c h w i n d i g k e i t e n der
]3 0sitiven oder negativen Aenderung in einer Reihe ge-
ordnet denken, der Art, dass die schnellste aufsteigende
Aenderung das obere, so zu sagen positive, die schnellste
aufsteigende das untere, sozusagen negative Ende der
Reihe bildet." „Wenn wir nun zwei Theile eines lebenden Con-
tinuums, welche sich in Betreff des chemischen Geschehens verschieden
verhalten, durch eine äussere Leitung mit einander verbinden, so geben
dieselben ceteris paribus einen um so stärkeren Strom, je Aveiter die
Zustände der beiden ableitend verbundenen Stellen in der erwähnten
Reihe auseinander liegen, und es fliesst der positive Strom durch die
äussere Leitung stets von derjenigen Stelle, deren Zustand dem posi-
tiven Ende der Reihe näher steht, zu derjenigen, deren Zustand dem
negativen Ende näher steht." „Dies wäre also das allgemeine
Gesetz aller vitalen Eigenströme der Nerven und
Muskeln."
„Ein mit möglichster Schonung präparirter M. sartorius, z. B.
der nicht mehr normal ernährt wird, befindet sich wahrscheinlich in
einer, wenn auch sehr langsamen absteigenden Aenderung, weil die
Dissimilirung die Assimilirung überwiegt; er geht also langsam dem
Tode entgegen. Erfolgte seine absteigende Aenderung in allen Theilen
genau mit derselben Geschwindigkeit oder Langsamkeit, so würde
man selbst mit dem empfindlichsten Galvanometer keine Ströme an
ihm nachweisen können.
Dieser ideale Fall ist natürlich in voller Strenge nie verwirklicht.
Geht aber die Empfindlichkeit des Galvanometers nicht über eine
gewisse Gi'enze hinaus, so lässt sich an einem solchen Muskel in der
That kein Strom nachweisen, was sowohl Du B o i s - R e y m o n d wie
spätere Beobachter gezeigt haben. Sobald wir dagegen einen Quer-
schnitt am Muskel anbringen, tritt sofort an der Schnittstelle eine
raschere absteigende Aenderung der Muskelsubstanz ein ; der unmittel-
bar am Querschnitt liegende Theil stirbt ab. Dieser todte Theil gehört
nicht mehr dem lebenden Continuum an und ist als ein hier unwesent-
liches Anhängsel desselben zu betrachten. Aber die raschere ab-
steigende Aenderung und damit das Absterben schreitet, wie sich an
der Muskelfaser unter dem Mikroskop zuweilen direct verfolgen lässt,
langsam in der Faser vorwärts, und es findet daher nach dem Quer-
schnitt hin immer eine schnellere absteigende Aenderung statt, als in
der übrigen Faser. Daher verhält sich der Querschnitt
negativ zur Längsoberfläche des Muskels."
Aber nicht bloss allgemeine theoretische Erwägungen sind es, welche,
abgesehen von der ausserordentlichen Einfachheit, die H ermann -
Hering'sche Auffassung vor allen anderen auszeichnen, sondern
es lassen sich auch directe experimentelle Thatsachen zu Gunsten der-
selben anführen , die geradezu als Beweise gelten dürfen. Hierher
gehört, abgesehen von allen bereits besprochenen Erfahrungen über
die Stromlosigkeit unversehrter Muskeln , zunächst ein Versuch von
Hermann, welcher die Frage zu entscheiden sucht, ob die Ent-
wicklung des Demarcationsstromes bei Anlegen eines künstlichen Quer-
3Q2 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Schnittes eine merkliche Zeit erfordert, oder ob der volle Werth
der Spannungsdifferenz zwischen Längsschnitt und Querschnitt sofort
nach der Verletzung gegeben ist, wie es unter der Voraussetzung der
Präexistenz der elektromotorischen Kraft nothwendig der Fall sein
müsste. Hermann construirte zu diesem Zwecke ein „Fallrheo-
tom", wobei durch einen schweren Fallkörper der Achillessehnen-
spiegel des Gastrocnemius abgerissen und zugleich der Bussolkreis für
eine kurze Zeit geschlossen wird. Erfolgt diese Schliessung einmal
im Momente des Abreissens und dann bei schon vorhandenem Quer-
schnitt, so ist im letzteren Falle die Ablenkung grösser als im ersten,
woraus auf eine „Entwicklungszeit" des Muskelstromes geschlossen wird.
Aehnliche Versuche hat Hermann mit gleichem Erfolg auch an
parallelfaserigen Muskeln angestellt (15).
Ein sehr schlagender Beweis für die Richtigkeit der zuletzt ent-
Avickelten theoretischen Anschauungen über die Ursachen thierisch
(und pflanzlich) elektrischer Ströme und zugleich ein entscheidender
Grund zur Ablehnung jeder wie immer gearteten Molekularhypothese
liegt ferner in dem von mir gelieferten Nachweis der directen Ab-
hängigkeit des Muskelstromes von localen chemischen
Veränderungen der Substanz. Wenn es richtig ist, dass die
an Muskeln und Nerven, sowie auch an andern thierischen und pflanz-
lichen Gebilden unter Umständen nachweisbaren elektrischen Span-
nungsdifl'erenzen im Wesentlichen immer darauf zurückgeführt werden
können, dass einander benachbarte Theile der lebendigen Substanzen
sich in ihrem Chemismus verschieden verhalten , so muss von vorn-
herein die Möglichkeit zugegeben werden, die daraus resultirenden
elektromotorischen Wirkungen wieder zu vernichten, sofern es noch
nicht zu einer die Wiederherstellung der normalen Be-
schaffenheit des chemisch veränderten Substanzan-
theils völlig aussch liessenden Zerstörung desselben
gekommen ist. Es ist bekannt, dass auch der ausgeschnittene
Muskel bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit besitzt, chemische,
durch gewisse Eingriffe (Reize) bewirkte Veränderungen seiner Sub-
stanz wieder auszugleichen, worauf ja die „Erholung" eines „ermüdeten"
Muskels beruht. Es wurde oben auch schon der interessanten That-
sache gedacht, dass man auch unabhängig von einer vorhergehenden
Erregung einen Muskel in einen der Ermüdung ähnlichen Zustand zu
versetzen vermag, indem man ihn der Einwirkung gewisser chemischer
Substanzen („Ermüdungsstoffe") aussetzt, durch deren Entfernung
mittels Auslaugen mit einer indifferenten Flüssigkeit es gelingt, die
normale Erregbarkeit wieder herzustellen (Ranke). Es kam also
wesentlich darauf an, zu untersuchen, inwieweit aus dem Nebenein-
andersein chemisch veränderten, jedoch noch restitutions-
fähigen Faserinhaltes einerseits und Faserinhaltes von normaler
chemischer Beschaffenheit andererseits elektromotorische Wirkungen
resultiren. Die beste Aussicht auf Erfolg schien die von J. Ranke
näher untersuchte „chemische Muskelermüdung" durch Kalisalze
oder Milchsäure zu versprechen, deren auffallende Einwirkung auf die
Erscheinungen der polaren Erregung durch den Strom bereits früher
ausführliche Besprechung fand. In der That zeigte sich sofort, dass
sich schon nach kurzdauerndem Eintauchen des einen
Endes eines ström freien Sartorius in einen wässerigen
Auszug von Muskelfleisch oder stark verdünnte Lö-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 303
sungen verschiedener Kalisalze (KNO3, KH2PO4, KCl)
dasselbe stark negativ gegen jeden anderen Punkt des
Muskels verhielt. Die Grösse der Ablenkung Avar in vielen
Fällen nur um weniges geringer, als wenn an einem mit künstlichen
Querschnitt versehenen Sartorius der ableitende Bogen die Schnitt-
fläche mit einem entsprechenden Oberflächenpunkt verbindet. Wir
sehen also hier verminderte Erregbarkeit Hand in Hand gehen mit
Negativität der Muskelsubstanz, und wie sich jene einfach durch Aus-
laugen mit physiologischer NaCl-Lösung beseitigen lässt, so ist das-
selbe auch hinsichtlich des Stromes der Fall. Schon
nach wenigen Minuten erscheinen die Spannungsdiffe-
renzen bis auf Spuren verschwunden, welche bei län-
gerem Auswaschen auch noch zu beseitigen sind, so
dass nun der Muskel wie zu Beginn des Versuches voll-
kommen stromlos und von normaler Erregbarkeit ist.
Dasselbe Resultat lässt sich auch am stromlosen (parelektronomischen)
Gastrocnemius durch Bepinseln des Achillessehnenspiegels mit den
betreftenden Flüssigkeiten erzielen, und es ist der dann entstehende
aufsteigende Strom ausserordentlich kräftig und durchaus von gleicher
Ordnung wie der gewöhnliche Demarcationsstrom (16). Gerade dieser
Umstand aber ist es nun, der die Thatsache um so bedeutungsvoller
erscheinen lässt, dass es so leicht gelingt, die „Kaliströme'" durch Aus-
waschen mit einer indifferenten Flüssigkeit vollständig zu beseitigen,
was sich in besonders auffallender Weise wieder am Gastrocnemius
zeigen lässt, indem es genügt, denselben, nachdem die Muskelsubstanz
am Achillesspiegel durch kurzes Bepinseln mit einer verdünnten Kali-
salzlösung stark negativ geworden ist, während einiger Minuten mit
^'4 *^/o NaCl-Lösung abzuspülen, um bei abermaliger Prüfung mittels des
Galvanometers den ursprünglichen, stromlosen Zustand vollständig
wieder hergestellt zu sehen. Es beweist dies, dass der nachtheilige
Einfluss der Lösung sich nur auf die äussersten Enden der sich schräg
inserirenden Fasern erstreckt haben konnte. Nach diesen Erfahrungen
erscheint nun auch die stromentwickelnde Eigenschaft jedes künst-
lichen Muskelquerschnittes leicht erklärlich, da sich bei der Erstarrung
der Muskelsubstanz stets saures Kaliumphosphat bildet.
Im Gegensatze zu den „Kaliströmen" scheinen die durch gleiche
Behandlung strondoser Muskeln mit sehr verdünnten Säurelösungen
(etwa Milchsäure) hervorzurufenden Spannungsdiff"erenzen auf viel ein-
greifenderen chemischen Veränderungen der Muskelsubstanz zu be-
ruhen, denn sie lassen sich durch noch so langes Auswaschen nicht
wieder beseitigen, obschon sie an sich schwächer sind, als die durch
Kalisalze bedingten.
Du Bois-ßeymond stellte seiner Zeit die Behauptung auf, dass
es für die chemische Angreifbarkeit der Muskelsubstanz durch irgend
eine Flüssigkeit kaum ein empfindlicheres Prüfungsmittel gebe, als den
natürlichen Querschnitt eines parelektronomischen Muskels damit zu
benetzen und die Veränderungen zu beobachten, die dadurch in dem
elektrischen Zustande des Querschnittes hervorgerufen werden. Von
diesem Gesichtspunkte aus müssen daher die Kalisalze im Allgemeinen
als entschiedene Muskelgifte angesehen werden, während die ent-
sprechenden Natriumverbindungen in gleicher Verdünnung nahezu
unschädlich sind und in manchen Fällen sogar einen entschieden er-
regbarkeitssteigernden Einfluss besitzen (NaoCOg). Gerade dieses letz-
304 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
teren Umstandes wegen darf man aber eine Flüssigkeit nicht als ganz
indifferent für den Muskel ansehen, wenn dieselbe bei örtlicher
Application keine merkliche Stromentwicklung bedingt. Selbst die
physiologische NaCl-Lösung (von 0,5 — 0,7 "/o), welche bei stundenlang
andauernder Einwirkung auf den natürlichen Querschnitt eines un-
versehrten, stromlosen Muskels niemals zu einer auch nur spurweisen
Entwicklung eines Demarcationsstromes Anlass giebt, wirkt nach Be-
obachtungen von F. S. Locke (17) schon deutlich erregbarkeits-
steigernd, was bei Anwendung stärkerer Lösungen seit lange bekannt
ist. Sicher darf man aber die stromentwickelnde Kraft einer Lösung
als Maassstab ihrer Schädlichkeit für den Muskel gelten lassen,
und wenn Nasse eine 0,7 ^/o Lösung von KCl oder KNOg für gleich
günstig hält, wie eine 0,2 — 1,5 ^/o Lösung von NaCl, so kann man
dem auf Grund der Galvanometerversuche gewiss nicht beistimmen.
Wenn man das untere Ende eines curarisirten Sartorius in eine selbst
2 °/o Lösung von NaCl taucht, so beobachtet man auch nach 10 — 20
Minuten noch keinen merklichen Demarcationsstrom oder selbst eine
geringe entgegengesetzte Ablenkung im Sinne eines im Muskel ab-
steigend gerichteten Stromes. Auch Engel mann hat bei seinen
Untersuchungen über das elektromotorische Verhalten der unverletzten
Oberfläche des Froschherzens gefunden , dass NaCl-Lösungen , deren
Gehalt 0,6 ^/o übersteigt, die damit berührte Stelle positiv elektrisch
gegenüber andern Punkten der Herzoberfläche machen. Noch weniger
deletär als NaCl wirken auf die Muskelsubstanz andere neutrale Natron-
Salze, wie z. B. Na2S04 und NaNOg, die selbst in starken Lösungen
(4 — 12 ^/o) nur in geringem Grade stromentwickelnd wirken, wenn
man etwa den Erfolg der localen Behandlung des M. sartorius mit
der Wirkung gleichstarker Lfisungen von NaCI oder gar der ent-
sprechenden Kalisalze vergleicht. Auch das alkalische, kohlensaure
Natron, unter dessen Einfluss die Erregbarkeit quergestreifter Muskeln
ausserordentlich gesteigert wird, wirkt in verdünnter Lösung entweder
gar nicht stromentwickelnd oder bedingt sogar einen schwachen ver-
kehrten Strom im Sinne einer Positivität des eingetauchten Muskel-
endes (18).
Fast allgemein ist die Meinung herrschend, dass das destillirte
Wasser eine die Muskelsubstanz sehr rasch und energisch angreifende
Substanz sei; so schliesst z. B. Kühne aus dem Umstände, dass
seinen Beobachtungen zu Folge ein in destillirtes Wasser getauchter
Sartorius vom Frosch früher seine Erregbarkeit einbüsst, als ein zur
selben Zeit in Salpetersäure (1 pro mille) getauchter Muskel, dass das
Wasser schneller zerstörend wirke, als die verdünnte Säure, und D u
Bois-Reymond giebt an, dass ein Gastrocnemius , eingetaucht in
destillirtes Wasser (bei 15° C.), binnen einer Stunde Avirklich todten-
starr und sauer gefunden werde. Folgerichtig hätte man daher auch
erwarten sollen, dass, wenn die Stromentwicklung an einem „par-
elektronomischen" Muskel nur auf Zerstörung einer am natürlichen
Querschnitt vorhandenen besonderen Schicht beruht, bei Benetzung
desselben mit destillirtem Wasser in kurzer Zeit ein kräftiger, gesetz-
mässiger Strom nachweisbar sein müsste, da ja erfahrungsgemäss die
stromentwickelnde Eigenschaft einer Flüssigkeit von deren Leitungs-
vermögen völlig unabhängig ist. Dem widersprachen jedoch zum Theil
schon die Versuche Du Bois-Reymond's, indem die Entwicklung
des Stromes parelektronomischer Muskeln bei Eintauchen derselben
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 305
in destillirtes Wasser nur träge und schwach erfolgte. Noch besser
eignet sich der Sartorius. Taucht man das Knieende in Wasser, so
macht sich schon kurze Zeit nachher eine Vokimszunahme desselben
bemerkbar, und man findet es dann regelmässig schwach }30sitiv
gegen Punkte der normalen Oberfläche. Nach längerer Dauer der
Wasserwirkung (20 — 40 Minuten) erscheint der betreffende Muskel-
abschnitt stark gequollen und nahezu doppelt so breit als vorher; er
sieht weisslich trübe aus und trägt alle äusseren Zeichen der Starre
an sich. Gleichwohl zeigt sich auch jetzt der partiell wasserstarre
Muskel elektromotorisch ebenso unwirksam wie vorher, oder es treten
noch später schwache Spuren eines gesetzmässigen Demarcations-
stromes hervor. Selbst nach stundenlanger Einwirkung destillirten
Wassers sind die nachweisbaren Spannungsdifferenzen der beiden Muskel-
abschnitte trotz der so ausserordentlich auffalligen Unterschiede ihrer
physikalischen Eigenschaften nur verhältnissmässig unbedeutend und
nicht zu vergleichen mit jenen, welche dem gewöhnlichen Demar-
cationsstrom zwischen Längsschnitt und künstlichem Querschnitt zu
Grunde liegen (18).
Wenn man sich erinnert, dass alle bisher bekannten Mittel, durch
welche es gelingt, die contractile Substanz des Muskels in den Zu-
stand der Erstarrung zu versetzen (Erwärmung auf 40" C. , Behand-
lung mit Chloroform, Säuren u. s. w.), bei örtlicher Einwirkung immer
auch zur Entwicklung kräftiger Demarcationsströme Anlass geben, so
muss die elektromotorische Unwirksamkeit des partiell wasserstarren
Sartorius als höchst auffällig bezeichnet werden, da sie sich, wie es
scheint, mit einer chemischen Theorie des Muskelstromes nicht wohl
würde vereinen lassen. Demgegenüber muss jedoch hervorgehoben
werden, dass der Zustand der „Wasserstarre" nicht ohne Weiteres
mit jener tiefgreifenden chemischen Veränderung der Muskelsubstanz
identificirt werden kann, welche das Wesen der spontanen oder Zeit-
starre, sowie auch der Wärmestarre ausmacht. Dies geht einerseits
aus dem Umstände hervor, dass die Säuerung, wenn sie überhaupt
auftritt, doch keineswegs gleichen Schritt hält mit der fortschreitenden
Entwicklung der „Starre", während andererseits die Möglichkeit der
Wiederherstellung der Erregbarkeit wasserstarrer Muskeln durch ein-
fache Wasserentziehung (durch 2 ^lo NaCl-Lösung) dafür spricht, dass
auch die Gerinnungserscheinungen anderer Natur sind, als bei den ge-
wöhnlichen Starreformen. In überzeugendster Weise wird aber die
Verschiedenheit der Wasserstarre und anderer Starreformen durch den
Umstand dargethan, dass Froschmuskeln selbst in einem sehr
vorgerückten Stadium der Wasserstarre (nach einer Stunde
und später) in demselben Sinne und in fast gleichem Grade
elektromotorisch wirksam werden können, wie unver-
sehrte Muskeln. Wenn man das untere Ende eines vertikal auf-
gehängten Sartorius etwa 30 Minuten lang in destillirtes Wasser
taucht, so erweist sich, wie erwähnt, der Muskel bei Ableitung vom
geometrischen Aequator und dem wasserstarren Abschnitt in der Regel
stromlos, oder er zeigt einen schwachen verkehrten Strom. Erwärmt
man nun einen Theil des gewässerten Muskelabschnittes durch Ein-
tauchen in Wasser von 40° C, so findet man den Muskel bei gleicher
Ableitung wie vorher stets elektromotorisch wirksam; das Gleiche ist
der Fall nach Durchquetschen oder Durchschneiden des wassei'starren
Endes. Es kann daher wohl keinem Zweifel unterworfen sein, dass
Biedermauu , Elektrophysiologie. 20
306 I^iö elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
in chemischer Hinsicht ein durchgreifender Unterschied besteht zwi-
schen dem durch die Einwirkung destillirten Wassers bewirkten starre-
ähn liehen Zustande und der wirklichen Todtenstarre eines Muskels,
nach deren völliger Entwicklung die Möglichkeit elektromotorischer
Wii'ksamkeit gänzlich ausgeschlossen erscheint.
Wenn diese letztere demnach sicher als eine Eigenschaft des
lebenden Muskels betrachtet werden muss, so darf es als um so
bemerkenswerther gelten, dass sie keineswegs an das Erhaltensein
aller Lebenseigenschaften desselben gebunden ist. Es lässt sich
nämlich zeigen, dass der Demarcationsstrom im Zustande
derUnerregbarkeit des Muskels nach Chloro form-, Aet he r-
oderAmyleneinwirkung in normalerRichtungundStärke
fortbesteht. Ranke, welcher diese auffallende Thatsache zuerst
beobachtete, setzte stets den ganzen, unversehrten Frosch der Einwir-
kung der Dämpfe der genannten Anästhetica aus und untersuchte in
verschiedenen Stadien der Narcose. Rascher kommt man zum Ziele,
wenn man den freipräparirten, mit künstlichem Querschnitt versehenen
Sartorius nebst den ableitenden Pinselelektroden und einem Schälchen
mit Aether unter einen nicht zu kleinen Glassturz bringt. Man über-
zeugt sich dann leicht, dass die Spann ungsdifferenzen zwi-
schen Längsschnitt und künstlichem Querschnitt zu
einer Zeit, wo beide m Muskel alle sichtbaren Erregungs-
erscheinungen gänzlich fehlen, nicht in irgend erheb-
lichem Grade vermindert, ja unter Umständen sogar
verstärkt erscheinen (19).
Während die Contractilität und das Leitungsvermögen in der
Regel schon nach 10 — 15 Minuten gänzlich erloschen zu sein pflegen,
lässt sich selbst nach stundenlanger Einwirkung von Aetherdämpfen
nur eine sehr geringe Schwächung des Demarcationsstromes nach-
weisen, was um so bemerkenswerther ist, als man sonst sieht, dass
ganz allgemein alle diejenigen Einflüsse, welche die Erregbarkeit her-
absetzen, auch schwächend auf den Muskelstrom einwirken. Wenn
nun in der Aethernarcose ein Muskel, dessen Erregbarkeit anscheinend
vollkommen aufgehoben ist, nichtsdestoweniger wie unter normalen
Verhältnissen elektromotorisch wirkt, so sieht man sich zu der An-
nahme gedrängt, dass die Veränderungen der chemischen
Thätigkeit der Muskelsubstanz, welche in der Nähe
e i n e r S c h n i 1 1 f 1 ä c h e unter a 1 1 e n Um s t ä n d e n angenommen
werden müssen, auch w ä h r e n d d e r A e t h e r n a r c o s e i n d e r -
selben Weise wie unter normalen Verhältnissen statt-
finden können. In gleichem Sinne spricht auch die Thatsache,
dass locale Behandlung mit Kalisalzen in entsprechend verdünnter
Lösung auch den Aethermuskel an der betreffenden Stelle negativ
macht. Berücksichtigt man ferner noch das Erhaltenbleiben der nor-
malen physikalischen Eigenschaften des narcotisirten Muskels zu einer
Zeit, wo selbst bei stärkster Reizung keine Spur sichtbarer Gestalt-
veränderung erfolgt, so erscheint die Thatsache nicht so befremdend,
dass ein Muskel auch in tiefster Narcose noch elektromotorisch zu
wirken vermag, wenngleich ein Theil der normalen Lebenseigen-
schaften dadurch wesentlich beeinträchtigt oder gänzlich aufgehoben
wird. Denn giebt man zu, dass der „Ruhestrom" einer partiellen
„Alterirung" der Substanz seine Entstehung verdankt, so wird man
folgerichtig in allen jenen Fällen einen solchen noch erwarten dürfen.
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 307
WO es sich um Präparate handelt, deren normale, chemische Zu-
sammensetzung nicht wesentlich gestört Avurde, und dies muss man
ebensowohl bei Aetherbehandlung wie nach Quellung des Muskels in
Wasser voraussetzen. Es werden später noch Thatsachen mitzutheilen
sein, welche darauf hinweisen, dass durch die Narcose in erster Linie
das Leitungsvermögen und die Contractilität des Muskels aufgehoben
werden, während die örtliche Erregbarkeit in dem Sinne erhalten
bleibt, dass unter dem Einfluss äusserer Reize noch gewisse chemische
Veränderungen entstehen, welche unter Anderem mit Negativität der
betreffenden Stellen Hand in Hand ffehen.
II. Die Actionsströine der Muskeln.
Von einer ausführlichen Darstellung der älteren Geschichte
aller Bemühungen, bei der Muskelcontraction elektrische Wirkungen
nachzuweisen, darf hier um so eher Umgang genommen werden,
als dieselbe, wie die Geschichte des „ruhenden Muskelstromes",
von Seite Du B o i s - R e y m o n d s im IL Theil seiner Unter-
suchungen eine eingehende und mustergiltige Darstellung erfahren
hat. Es sei daher nur erwähnt, dass schon im Jahre 1837 Prevost
im Anschluss an gewisse Beobachtungen von Ampere eine elektrische
Theorie der Muskelzusammenziehung aufstellte, die insofern von Inter-
esse ist, als sie zeigt, bis zu welchem Grade unter Umständen die An-
schauungen auf physiologischem Gebiete durch herrschende physika-
lische Theorien beeinflusst werden. Prevost glaubte sich durch
mikroskopische Untersuchung überzeugt zu haben, dass die Querstreifung
der Skeletmuskelfasern lediglich der optische Ausdruck parallel nebenein-
anderliegender Nervenendschiingen sei, die sich in dem Momente gegen-
seitig anziehen, wo ein elektrischer Strom das ganze System von
Schlingen in derselben Richtung durchfliesst. Um diesen Strom nach-
zuweisen, stiess Prevost „eine sehr feine unmagnetische Nadel in den
Schenkel eines Frosches in der Richtung der Fasern ein; die Spitze
ragte hervor und war mit Eisenfeile umgeben" ; im Augenblicke, wo
durch Verletzung des Rückenmarkes eine heftige Zusammenziehung
hervorgerufen wurde, ordnete sich, wie Prevost angiebt, die Eisen-
feile um die Spitze der Nadel an, als ob sie magnetisch geworden
wäre. Eine ganz ähnliche Theorie erfand 1844 Wharton Jones
(Du Bois 1. c. p. 10). „Seiner Ansicht nach, die sich an Bowman's
Beobachtungen (Zusammensetzung der Muskelfasern aus „discs") knüpft,
bestehen die Muskelfasern aus säulen- oder geldrollenartig aneinander
gereihten Scheiben, welche durch eine biegsame und elastische Substanz
verbunden sind, die ihnen gestattet, sich einander zu nähern oder zu ent-
fernen. Diese Scheiben würden nach Jones unter dem Einfluss der
Nerven zu Elektromagneten, und ihre gegenseitige Anziehung bewirke
die Verkürzung des Muskels. Zwar seien diese Elektromagnete
(„Appareils nevro-magnetiques") nicht allseitig von den Nerven um-
geben, wie die eisernen es mit Kupferdraht zu sein pflegen; dies
beweise jedoch nur, dass die Natur schon mit der einfacheren An-
ordnung auszukommen vermocht habe. Der erste grosse Fortschritt
auf diesem Gebiete ist wieder jenem unermüdlichen Forscher zu ver-
danken, der fast gleichzeitig mit Du Bois-Reymond auch den
20*
308 I^i^ elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Muskelstrom entdeckte. Nachdem C. Matteucci seit 1838 sich
mannigfach bemüht hatte, elektrische Wirkungen bei der Muskel-
thätigkeit nachzuweisen, und unter Anderem auch die Pre-
vo st 'sehen Versuche in verschiedener Form, jedoch stets mit ne-
gativem Erfolge, wiederholt hatte, gelang es ihm endlich, eine That-
sache zu finden, welche mit einem Schlage die gewünschte Entschei-
dung zu bringen schien. Am 28. Februar 1842 theilte Matteucci
der Pariser Akademie die Beschreibung eines Versuches mit, der zu
den schönsten und interessantesten der Experimentalphysiologie gezählt
werden muss. Es handelte sich um die „secundäre Zuckung",
wie Du Bois-Reymond später die Thatsache nannte, dass ein
Froschschenkel, dessen Nerv auf die Muskeln eines zweiten Schenkels
gelegt wird, lebhaft zuckt, wenn der letztere erregt wird. Von einer
Kommission der Akademie, der auch der ältere Bequerel angehörte,
wurde Matteucci in demselben Jahre der Preis für Experimental-
physiologie zuerkannt, und speciell der genannte Physiker zog aus
dem Versuch, dessen Richtigkeit allseitig bestätigt wurde, den Schluss,
„dass im Augenblicke der Zusammenziehung eine elektrische Ent-
ladung in dem Muskel vor sich gehen müsse, und dass ein Theil
derselben seinen Weg durch den Nerven des zweiten Frosches nehme" ;
Matteucci hatte bereits beobachtet, dass die secundäre Zuckung
durch feuchtes Fliesspapier nicht verhindert werde, wohl aber
durch Goldplättchen oder Nichtleiter, welche zwischen den Nerven
des secundären Präparates und den Muskel des primären gelegt
werden. Offenbar standen diese Erfahrungen mit der erwähnten Auf-
fassung in voller Uebereinstimmung. Matteucci war nun seinerseits
lebhaft bestrebt, für die vermeintliche Elektricitätsentwicklung bei der
Zusammenziehung, welche Bequerel direct in eine Parallele mit dem
Schlag der Zitterfische gestellt hatte, immer neue Beweise beizubringen.
Schon 1845 erschien eine neue Abhandlung in englischer Sprache
über die „inducirte Zuckung", wie sie Matteucci jetzt nannte.
Er findet das Eintreten derselben von der Art der Lagerung des
secundären Nerven auf dem Muskel des primären Präparates unab-
hängig; man kann jenen der Faserung parallel oder quer oder
irgendwie verschlungen anlegen, immer erfolgt die secundäre
Zuckung. Matteucci schnitt mit einem Rasirmesser eine Scheibe
Muskelfleisch vom Oberschenkel ab; die secundäre Zuckung blieb
nicht aus , als der stromprüfende Nerv nur die Schnittfläche
berührte. Er sah ferner auch Zuckungen 3. und 4. Ordnung, wenn
er auf den Gastrocnemius des stromprüfenden Präparates den Nerven
eines zweiten, auf den Muskel dieses den Nerven eines dritten
legte und nun den primären Nerven reizte. Mit Rücksicht auf die
vermuthlich elektrische Natur der secundären Zuckung benetzte
Matteucci die Oberfläche des primären Muskels mit verschiedenen
leitenden und nichtleitenden Flüssigkeiten, z. B. Serum, Blut, Oel
und verdünntem Alkohol, Firniss, Terpentinöl etc., in welche dann
der Nerv des secundären Präparates gebettet Avurde. Keine einzige
sah Matteucci die Zuckung aufheben, wohl aber vermochte dies das
dünnste Blättchen eines festen Körpers, wie Glas, Glimmer etc.
Durch Froschhaut gelang es wie durch Fliesspapier secundäre
Zuckung zu erhalten. Diese letzteren Beobachtungen machten
Matteucci an der bis dahin festgehaltenen Anschauung von dem
elektrischen Ursprung der secundären Zuckung völlig irre, und er
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
309
glaubte nun eine ganz besondere durch Fernwirkung sich mani-
festirende Kraft gefunden zu haben, welche von dem Muskel im
Augenblick der Zusammenziehung ausgeht, wesshalb er denn auch
vorschlug, die von ihm entdeckte Erscheinung als „inducirte
Zuckung" zu bezeichnen.
Bis zu diesem Zeitpunkte hatte Matteucci keine Kenntniss von
einer Entdeckung, welche DuBois-Reymond im Jahre 1842 bei
Weiterverfolgung einer älteren Angabe des italienischen Forschers ge-
macht hatte. Schon 1838 hatte nämlich Matteucci gefunden, dass
der aufsteigende „Frosch ström" (courent propre), welchen N o b i 1 i
Fig. 112.
1827 mittelst des Schweigger 'sehen Multiplicators am galvanischen
Präparate nachgewiesen hatte, und den Du B o i s auf die Ströme der
einzelnen Muskeln zurückführte, während einer tetanischen Contrac-
tion derselben fehlt oder doch wesentlich geschwächt erscheint (später
glaubte er sich vom Gegen theil überzeugt zu haben). Du Bois-
Reymond, welcher unterdessen das „Gesetz des Muskelstroms"
formulirt hatte, legte sich nun folgerichtig die Frage vor : w i e v e r -
hält sich der Muskelstrom während dauernder Er-
regung? Die erste Bekanntmachung der wesentlichsten Resultate
dieser Untersuchungen erfolgte 1842 in einem „vorläufigen Abriss".
Es hatte sich dabei herausgestellt, dass der Längsquerschnittsstrom
des M. gastrocnemius bei tetanisirender Reizung des zugehörigen
Nerven während der Contraction zwar bei Weitem nicht verschwindet,
allein doch merklich an Intensität abnimmt.
310 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Der Grundversuch, um den es sich hier handelt, AA^ar in der ur-
sprünglichen Form in folgender Weise angeordnet (Fig. 112). Der
Gastrocnemius liegt mit Längsschnitt und künstlichem (bezw. ange-
ätztem natürlichen) Querschnitt auf den Bäuschen der Zuleitungs-
gefässe; das centrale Ende des Nerven wird über Platinelektroden
gebrückt, welche ihrerseits mit dem die tetanisirenden Ströme liefern-
den Apparat in Verbindung stehen. Das Ergebniss des Versuches
ist nun stets eine deutliche Abnahme des Muskelstromes wäh-
rend des Tetanus, eine negative Schwankung desselben, die sich
durch einen Rückschwung der Nadel des Multiplicators bezw, des
Magnetringes am Galvanometer kundgiebt. Alle überhaupt möglichen
Fehlerquellen und Einwände gegen die Beweiskraft dieses Versuches
wurden von Du B o i s - R e y m o n d mit gewohnter Gründlichkeit ge-
prüft und erwogen und über jeden Zweifel festgestellt, dass es sich
in der That um eine mit dem Erregungszustand verknüpfte Vermin-
derung der elektromotorischen Kraft handle. Bei späteren
Versuchen bediente sich Du B o i s zur Untersuchung der negativen
Schwankung mit gleichem Erfolge an Stelle des complicirt gebauten
Gastrocnemius regelmässig parallelfaseriger Oberschenkelmuskeln,
deren Gestaltveränderung durch Ausspannen zwischen zwei Fixations-
punkten dauernd verhindert wurde. Einen wesentlichen Vortheil ge-
währt dabei das von Du Bois eingeführte Verfahren der Compen-
sation des „Ruhestromes", wobei sich die negative Schwankung als
eine der ursprünglich vorhandenen gegensinnige Ablenkung verräth,
deren zeitlicher Verlauf, bei aperiodisch schwingendem Magneten An-
fangs beschleunigt, in der Folge allmählich langsamer wird. Bei Fort-
dauer der Reizung erfolgt dann eine langsame Rückkehr zur Ruhe-
lage, die unter Umständen noch während der Schliessung des Reiz-
kreises, andernfalls aber erst nach Oeffnung desselben wieder erreicht
wird; doch ist dies kaum jemals vollständig der Fall. Gewöhnlich
bleibt eine dauernde Verminderung des Muskelstromes zurück
(negative Nachwirkung), deren Grad von der Stärke der
vorhergehenden Reizung abhängt.
Die nächstliegende Annahme betreffs der Deutung des Rück-
schwunges des Magneten während des Tetanus würde offenbar die
sein, dass es sich um eine dauernde, gleichmässig während der
Reizung anhaltende Abnahme des Längsquerschnittsstromes handelt.
Man durfte dann mit Berücksichtigung der bekannten Eigenthümlich-
keit des physiologischen Rheoskops, vorwiegend nur auf das Entstehen
und Verschwinden sowie plötzliche Dichtigkeitsschwankvmgen eines
Stromes zu reagiren, erwarten, dass es gelingen würde, den strom-
prüfenden Schenkel zum Zucken zu bringen durch die rasche Strom-
abnahme im Beginn des Tetanus, wenn der Nerv in passender Weise
über Längsschnitt und Querschnitt des erregten Muskels gebrückt
wurde. Dagegen lässt sich dies kaum am Ende des Tetanus er-
warten, da der Muskel nur allmählich in seinen ursprünglichen
Zustand zurückkehrt. Dieser Versuch , welchen Du Bois-Rey-
m 0 n d anstellte , lieferte nun ein den erwähnten Voraussetzungen
nicht entsprechendes, sehr auffallendes Resultat. Der stromprüfende
Schenkel zuckt nämlich nicht nur im Beginn des Tetanus, son-
dern er geräth selbst in secundären Tetanus während
der ganzen Dauer des primären. Ist dieser kein „voll-
kommener", so dass noch jede Einzelzuckung deutlich erkennbar
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
311
bleibt, und verbindet man den Muskel einerseits mit dem Galvano-
meter, andererseits mit dem physiologischen Rheoskop, so beantwortet
dieses jede primäre Zuckung mit einer secundären, während der
Magnet in Folge seiner Trägheit nur einfach im Sinne der negativen
Schwankung zurückschwingt. Man darf, ja muss daher annehmen,
dass auch bei vollkommenster Ve rschmelzung der sicht-
baren Contractionen des primären Muskels zum stetigen
Tetanus, jedem Reizanstoss eine von der nächstfol-
genden zeitlich gesonderte, äusserst kurz dauernde
negative Schwankung entspricht, so dass demnach der
Muskelstrom so zu sagen im Rhythmus der tetanisi-
r enden Reize auf- und ab seh wankt, wodurch zugleich be-
wiesen ist, dass, ungeachtet der scheinbar ganz stetigen Contraction
des Muskels im Tetanus, dieser doch d i s c o n t i n u i r 1 i c h e n Zu-
standsänderungen seine Entstehung verdankt, die sich vor Allem
durch das geschilderte galvanische Verhalten verrathen. Bei dieser
Gelegenheit tritt die ausserordentliche Ueberlegenheit des physiolo-
gischen Rheoskops gegenüber allen anderen bis dahin bekannten
physikalischen, stromprüfenden Apparaten in das hellste Licht, und es
ist in der That erst in neuester Zeit gelungen, Vorrichtungen zu
finden, welche sich hinsichtlich der Möglichkeit, kurzdauernde, insbe-
sondere sehr rasch aufeinander folgende Stromschwankungen nach-
zuweisen, mit dem gerade die flüchtigsten elektrischen Veränderungen
am sichersten anzeigenden physiologischen Rheoskop messen können.
Die beistehende graphische Darstellung (Fig. 113) giebt eine klare
Vorstellung vom Verhalten des Muskelstromes im Tetanus, wie es aus
der Beobachtung des secundären
Tetanus gefolgert werden muss.
„Stellt die Abscisse o t die Zeit
vor, auf welche die Grösse des
Stromes in jedem Augenblicke als
Ordinate bezogen ist, entspricht
ferner o a der beständigen Grösse
des Muskelstromes im Zustand der
Ruhe: dann ist es, damit eine
blosse Abnahme der Multiplicator-
wirkung stattfinde, gleichgültig, ob
0 a stetig kleiner wird, wie es
va. h p g angedeutet ist, oder ob
dies stossAveise geschieht, wobei der
Strom viel tiefer, ja selbst bis unter
die Abscissenaxe sinken kann,
was Umkehr der Stromesrichtung
bedeutet. Die Wirkung auf das
Galvanometer wird in beiden Fällen die gleiche sein. Ganz anders
verhält es sich aber mit dem physiologischen Rheoskop. Die Gestalt
der Curve h p g könnte niemals Tetanus im stromprüfenden Schenkel
hervorbringen; wir sind also zu der Annahme genöthigt, dass es die
Gestalt der gezackten Curve, aber mit constanter, noch unbekannter
Tiefe der Einbiegungen, sei, welche in Wirklichkeit beim Tetanisiren
stattfinde" (Du B o i s - R e y m o n d). Um den thatsächlichen Verhält-
nissen Rechnung zu tragen, muss auch noch berücksichtigt werden, dass
in Folge der Nachwirkung jede einzelne elementare Schwankungscurve
Fig. 113. Negative Schwankung im Te-
tanus. (Nach Hermann.)
312 Die elektromotorischen Wirkungen der Mnskeln.
sich nicht wieder zum anfänglichen Ordinatenwerth erhebt, so dass die
Fusspunkte der einzelnen Curven auf einer treppenförmig absteigenden
Linie liegen, wie Fig. 113 zeigt. Auf diese Thatsachen und Erwägungen
gestützt, glaubte nun Du Bois-Reymond eine allgemein gültige
Theorie der secundären Zuckung Matte ucci's aufstellen zu dürfen,
indem er dieselbe einfach als die physiologische Wir-
kung der negativen Schwankung des Muskelstromes
auffasste, welche ja auch bei jeder Einzelzuckung vorhanden und
nur der Trägheit des Magneten wegen nicht nachweisbar war. (Es sei
hier bemerkt, dass dies mit Hülfe neuerer Bussolen mit leichtem, aperio-
dischem Magneten keinerlei Schwierigkeiten bietet und ebenso sicher
gelingt, wie mit Hülfe des physiologischen Rheoskops.) Seiner An-
schauung zu Folge hielt es Du Bois zunächst auch für eine noth-
wendige Bedingung des Eintretens der secundären Zuckung, dass der
Nerv des secundären Präparates eine ganz bestimmte Lagerung
auf dem primären Muskel erhält. Es tritt nach Du Bois'
erster Angabe die secundäre Zuckung regelmässig nur dann ein,
„wenn der Nerv die Kette zwischen den beiden ungleichartigen
Flächenbegrenzungen des Muskels (Längsschnitt und Querschnitt)
schliesst". Schon Matte ucci hatte indessen das Eintreten der
secundären Zuckung ziemlich unabhängig von der Art der Lage-
rung des Nerven auf dem primären Präparate gefunden und auch
so abgebildet, dass derselbe in Schlingen gebogen dem zuckenden
Muskel anliegt. Es ist in der That sehr leicht, den Naclnveis zu
liefern, dass die secundäre Zuckung keineswegs immer durch nega-
tive Schwankung eines präexistenten Stromes bedingt wird, und D u
Bois hat dies später selbst nachgewiesen , als er die negative
Schwankung „parelektronomischer" Muskeln untersuchte.
Ehe jedoch auf diesen wichtigen Punkt näher eingegangen werden
kann, soll zunächst noch eine Frage Erledigung finden, die oben un-
entschieden gelassen werden musste.
Es wurde erwähnt, dass das Auftreten des secundären Tetanus
als ein Beweis dafür angesehen werden könne, dass der Muskelstrom
während der Zusamraenziehung keine c o n t i n u i r 1 i c h e Verminderung
erfährt, sondern während dieser Zeit in fortwährendem Auf- und Ab-
schwanken begriffen ist, dem jedoch der Magnet wegen seiner Träg-
heit nicht zu folgen vermag. Der stromprüfende Froschschenkel
lässt uns jedoch andererseits wieder darüber im Unklaren, wie weit
die Gipfel der einzelnen Schwankungscurven zur Nulllinie herabreichen
(was in Fig. 113 durch Punktirung angedeutet wurde), ob sie dieselbe
erreichen, der Strom also im Augenblick der Zusammenziehung Null
wird, oder endlich gar überschreiten, was einer Stromesumkehr ent-
sprechen würde.
Du Bois-Reymond selbst hatte es schon versucht, die erstere
Frage zu lösen (Unters. II. p. 120), und construirte zu diesem Zwecke
einen Apparat, „durch welchen man den Muskel vom Nerven aus in
schnell auf einander folgenden Momenten reizen konnte. Nach jedem
Reizmoment konnte der Muskelstrom auf eine kurze Zeit geschlossen
werden, und diese Schliessung konnte zu beliebiger Zeit zwischen je
zwei Reizen erfolgen. Wenn also während des Tetanisirens zwischen
je zwei Reizen der Muskelstrom in einer gesetzmässigen Curve sinkt
und wieder steigt, so wird man den tiefsten Punkt dieser Curve er-
mitteln, sobald die Schliessunffszeit des Muskelstroms der Laiie nach mit
Die elektromoterischen Wirkunoen der Muskeln.
313
diesem Punkte zusammenfällt." Das zu lösende Problem wird durch
beistehende graphische Darstellung noch besser verdeutlicht (Fig. 114).
Es sei wieder 0 T die Abscisse der Zeit, auf welche als Ordinaten die
Höhe des Muskelstromes aufgetragen wird {h\ so dass die Linie m m
u. s. w. dem Verlauf des Stromes während der Ruhe entspricht. In
1
^^B
H
L^l
1
1
hH
1
Fig. 114.
Fig-. 115. Differcntial-Rheotom von Bernstein (von oben gesehen).
den gleichweit von einander entfernten Zeitmomenten t t^ f^ f^ u. s. w.
erfolge je eine Reizung des Muskels, deren Folgewirkung eine negative
Schwankung des bestehenden „Ruhestromes" sein wird, deren Verlauf
sich, wie wir annehmen wollen, zwischen je zwei Reizungen durch die
Curve m o m u. s. w. darstellen lässt. Die wahre Gestalt dieser letzteren
lässt sich nun, wie man leicht sieht, bestimmen, wenn man den Bussol-
314 I^ie elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
kreis in der Pause zwischen je zwei Reizungen immer nur für eine ganz
kurze Zeit (T) schliesst, welche sich periodisch wiederholt und stets in
gleicher Entfernung von t^ t^ t^ u, s. w. befindet. Es wird also immer
derselbe Flächenraum (in Fig. 114 der schraiFirte Abschnitt der Curven-
fläche) aus dem Areale einer Schwankungscurve ausgeschnitten und
durch die Summation derselben eine Ablenkung von bestimmter Grösse
erzielt. Dadurch, dass die Zeit des Bussolschlusses beliebig über
den ganzen Zeitraum zwischen je zwei Reizen verschoben werden
kann, lässt sich die Gestalt und Grösse der jedem Einzelreize entspre-
chenden Schwankungscurve leicht linden. Das Verdienst, einen Apparat
construirt zu haben, welcher diesen Anforderungen durchaus entspricht,
gebührt Bernstein (20), dessen „D i f f e r e n t i a 1 - R h e o t o m" seither
eine ausgedehnte Anwendung in der Experimentalphysiologie gefunden
hat. Im Wesentlichen besteht das Instrument aus einem um die centrale
Axe leicht drehbaren Rade (r) (Fig. 115), dessen möglichst gleich-
massige Bewegung (5 — 10 Umdrehungen in der Sekunde genügen)
durch ein Uhrwerk oder einen kleinen Motor bewirkt Avird. An der
Peripherie des Rades befinden sich drei isolirte Metallspitzen (oder
nach Hermann Bürsten aus Kupferdraht), von denen eine (c) den
Reizcontact, die beiden anderen c, c„ den Bussolschluss vermitteln.
Die erstere schleift bei jeder Umdrehung über einen dünnen, aus-
gespannten Draht oder die Kuppe eines Quecksilbertropfens hin und
schliesst hierbei den Kreis R, R„ der primären Spirale eines Inductions-
Apparates. Die dabei in der secundären Spirale erzeugten, äusserst rasch
aufeinander folgenden Ströme (Schliessungs- und Oeffnungsschlag) werden
dem Präparat zugeführt und können zusammen als ein Momentreiz be-
trachtet werden. Der Reizcontactspitze diametral gegenüber befinden sich,
vom metallischen Rade isolirt, aber unter sich in leitender Verbindung,
die beiden dem Bussolschluss dienenden Spitzen (Bürsten), welche an
einem bestimmten Punkte der Umdrehung über die Quecksilberkuppen
zweier isolirter Stahlnäpfchen g'^ g"^, beziehungsweise über amalgamirte
Kupferbänke hinstreifen, die in den Bussolkreis (Bj Bg) eingeschaltet
sind. Die Näpfchen (Bänke) sind gegen einander verstellbar, so dass
die Dauer des gleichzeitigen Eintauchens, d. h. die Dauer des Bussol-
schlusses (T), innerhalb weiter Grenzen verändert werden kann. An-
statt nun, wie oben vorausgesetzt wurde, diesen Zeitraum über die
Fläche der Schwankungscurve zu verschieben, lässt sich bei dem
Bernstein'schen Instrument der Abstand der Zeiten (T) von den Reiz-
momenten (t t^ etc.) durch Verstellung des den Reizcontact tragenden
Schiebers bewerkstelligen. Das ganze Arrangement eines solchen Ver-
suches soll die beistehende Zeichnung versinnlichen (Fig. 116). Wegen
des verwickelten Faserverlaufs des M. gastrocnemius ist es zweck-
mässig, zum genaueren Studium der negativen Schwankung sich des
Sartorius zu bedienen, dessen Demarcationsstrom zunächst compen-
sirt wird. In Folge dessen bleibt der Bussolmagnet auch während
der Rotation in Ruhe und erfährt nur dann eine Ablenkung, wenn
während der Zeit (T) eine Aenderung des Muskelstromes erfolgt.
Nehmen wir nun zunächst an, der Reizschieber stehe, wie in Fig. 116,
so, dass die Schliessung des Kreises der primären Spirale in demselben
Momente eintritt, in M^elchem die OefFnung des Bussolkreises durch
die beiden Spitzen geschieht, so vergeht die Zeit einer ganzen Um-
drehung, bis wieder ein Schluss des Muskelkreises zu Stande kommt,
und wenn während dieser Zeit der Process der negativen Schliessung
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 315
abgelaufen ist, so wird man keine Ablenkung erhalten. Wenn man
den Versuch in dieser Weise Avirklich macht, so zeigt sich nichts-
destoweniger eine während der ganzen Dauer der Reizung langsam
zunehmende Ablenkung im negativen, d. i. im Sinne des Compen-
sationsstromes, welche offenbar auf die schon erwähnte, den Muskel-
strom schwächende Nachwirkung der Reizung zu beziehen ist.
Rückt man nun den Reizschieber weiter vor, so dass die Reizung
geschieht, während noch die Bussolspitzen ins Quecksilber tauchen, so
tritt bei einer gewissen Stellung plötzlich eine rasche Zu-
nahme der Ablenkung ein, welche beim Weiterrücken des
Schiebers stets im negativen Sinne rasch zunimmt, ein Maximum er-
reicht, um bei noch weiterem Vorschieben wieder abzunehmen und
endlich auf constanter niedrigerer Höhe zu verharren, als Anfangs,
Fig. 116. Schema eines Rheotomversuches. (Nach Bernstein.)
vor der Reizung. Diese Thatsachen beweisen also, dass zwischen
dem Moment der Reizung an einem Punkte des parallel-
faserigen Muskels (Bernstein wählte stets das untere, nerven-
freie Sartoriusende) und dem Beginn der negativen Schwan-
kung am anderen, mit künstlichem Querschnitt ver-
sehenen Muskelende eine messbare Zeit vergeht, sowie
dass die Erscheinung der negativen Schwankung in dem
abgeleiteten Muskelstück selbst eine gewisse Dauer
besitzt. Denn bei dem Vorrücken des Reizschiebers wachsen die
Ablenkungen bis zu einem Maximum, auf welchem sie einige Zeit
verharren. Rückt man dann den Schieber noch weiter vor, so erhält
man von keiner Stelle aus irgend einen Ausschlag des Magneten, Ja,
man kann den Schieber über den ganzen Theilkreis des Apparates
herumdrehen, es tritt nicht eher wieder eine Ablenkung am Galvano-
316 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
meter ein, bis der Schieber wieder über seine erste Stellung binaus-
gerückt ist und diejenige erreicht hat, bei welcher vorher die erste
Ablenkung im negativen Sinne erfolgte. Der Versuch bestätigt daher
durchaus die aus der Beobachtung des secundären Tetanus gezogene
Schlussfolgerung, dass der negativen Schwankung des Muskelstromes
bei tetanisirender Reizung nicht eine stetige Verminderung der
SpannungsdifFerenz zwischen Längsschnitt und Querschnitt entspricht,
sondern eindiscontinuirlichesAuf- und Abschwanken im
Rhythmus der Reizung. Es zeigt sich ferner, dass jede negative
Einzelschwankung rascher entsteht, als verschwindet; gi-aphisch aus-
gedrückt würde also ihre Curve steil zum Maximum ansteigen und
langsamer wieder absinken (vergl. Fig. 114). Ist die Umdrehungs-
geschwindigkeit des Rheotomrades und die in Graden ausgedrückte Ent-
fernung zwischen der anfänglichen Schieberstellung (avo gleichzeitig
gereizt und abgeleitet wird) und derjenigen bekannt, bei welcher eben
die erste Ablenkung erfolgt, so lässt sicli selbstverständlich mit Berück-
sichtigung der Länge der Muskelstrecke zwischen dem Reizorte und
dem abgeleiteten Punkte des Längsschnittes die Zeit berechnen, welche
der Vorgang der negativen Schwankung braucht, um sich von der Reiz-
stelle zum abgeleiteten Längsschnittpunkte des Muskels fortzupflanzen.
In ähnlicher Weise lässt sich auch die Dauer der negativen Schwan-
kung aus der Distanz der Anfangs- und Endstellung des Reizschiebers
und der Umdrehungsgeschwindigkeit des Rades berechnen. Man sollte
meinen, dass die Dauer der negativen Schwankung mit der Länge der
abgeleiteten Strecke wachsen müsste, da die Durch Wanderung der
letzteren offenbar doch auch eine gewisse Zeit beansprucht, welche
um so kürzer ausfallen muss, je kürzer man die abgeleitete Strecke
wählt. Der Versuch bestätigt aber diese Voraussetzung nicht. Die
Dauer der negativen Schwankung ist annähernd gleich
gross, wie lang auch die abgeleitete Strecke sein mag.
Dies bedeutet aber, dass der den Rückschwung des Magneten be-
wirkende Process vom Galvanometer nur angezeigt wird, während er
den die Längsoberfläche berührenden Fusspunkt des ableitenden
Bogens passirt, darüber hinaus aber nicht mehr. Als Fortpflan-
zungsgeschwindigkeit der negativen Schwankung fand Bern-
stein im Mittel 2,92 7 Meter in der Sekunde. Die Dauer beträgt
V250 bis ^/3oo Sek.
Mit Hülfe der geschilderten Repetitionsmethode lässt sich nun
auch die Frage nach dem Betrag der negativen Einzel-
schwankung entscheiden und untersuchen, ob in dem Momente,
wo die Schwankungscurve ihr Maximum erreicht hat, der abgeleitete
Strom auf Null sinken oder gar sich umkehren kann. Zu diesem Be-
hufe werden die beiden Quecksilber-Gefässe des Apparates so eingestellt,
dass die Schliessungszeit des Bussolkreises (T) möglichst kurz ist. Der
Reizschieber muss ferner bei dem Versuche in eine solche Lage ge-
bracht werden, dass nach jedesmaligem Reize der Bussolschluss auf
das Maximum der darauf folgenden negativen Schwankung fällt. Hat
man dies in bekannter Weise ermittelt, so hebt man die Compensation
auf und misst den ersten Ausschlag am Galvanometer, welcher durch
den Strom des nicht gereizten Muskels während der Drehung des
Rheotomrades bewirkt wird. Bestimmt man jetzt bei derselben Um-
drehungsgeschwindigkeit die Grösse des Ausschlages während des
Tetanisirens, so hängt dieselbe offenbar ab von dem Unterschied der
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln, j 317
Stärke des „ruhenden" Muskelstromes und der der negativen
Schwankung in dem beobachteten Zeiträume. Die Richtung des Aus-
schlages zeigt daher unmittelbar an, welcher Strom der stärkere ist.
Fände in diesem Momente der negativen Schwankung, also zur Zeit,
wo sie ihren grössten Werth erreicht hat, eine Umkehr des Stromes
statt, so müsste die Scala nach der negativen Richtung wandern.
Bernstein fand aber niemals eine Ablenkung im negativen Sinne,
meist trat eine solche im positiven Sinne auf, die aber, wie zu er-
warten war, bedeutend schwächer ausfiel, als die entsprechende Ab-
lenkung, welche durch den Strom des ruhenden Muskels erzeugt
wurde. Es sinkt also die Schwan kungscurve in der Regel
nicht einmal auf Null herab.
Zur Verdeutlichung der vorstehenden Erörterungen dürfte die
graphische Darstellung der erhaltenen Resultate wesentlich beitragen,
die übrigens zum Theil schon oben vorweggenommen wurde, als es sich
um die Erklärung des Rheotomprincips handelte. Sei t t, (Fig. 117)
die Abscisse der Zeit, t t, zugleich zwei auf einander folgende Reiz-
Fig. 117. Schema der Eheotomversuche. (Nach Bernstein.)
momente, h die Höhe des ruhenden Muskelstromes, T die Zeit des
Bussolschlusses, welche zwischen t f, verschiebbar angenommen wird.
Befindet sich diese Zeit in T, so zeigt sich noch keine merkliche
Ablenkung, welche erst beginnt, wenn der Bussolschluss bei T„ er-
folgt; von da ab nehmen bei weiterem Vorrücken der Schliessungs-
zeit die negativen Ablenkungen rasch an Grösse zu und schliesslich
(langsamer) wieder ab, so dass eine Curve entsteht, welche steil ab-
fällt, um langsam wieder anzusteigen, ohne jedoch (in Folge der Nach-
wirkung) die anfängliche Höhe wieder zu erreichen. Der tiefste Punkt
dieser Curve erreicht in der Regel nicht die Abscissenlinie (der Muskel-
strom wird nicht Null). Die Länge (riu) entspricht nun offenbar der
Zeit vom Momente der Reizung bis zu dem Augenblick, wo der Process
der negativen Schwankung unter der ersten ableitenden Elektrode an-
gekommen ist, während die durch die Linie mo dargestellte Zeit
der Dauer der negativen Schwankung entspricht. Die Figur muss
man sich, um den wirklichen Vorgang graphisch darzustellen, sehr
oft hinter einander wiederholt denken. Während die Reize sich in
immer gleichen Zwischenräumen bei t, t^, t^ u. s. w. folgen, liegen
die Schliessungszeiten (T,) immer gleich weit von dem entsprechenden
Reizmomente ab ; die Wirkung aufs Galvanometer wird dann gleich
Null sein. Fällt aber der Bussolschluss mit dem Anfang der negativen
318 I^'ß elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Schwankung zusammen, so wiederholt sich der gleiche Anstoss bei
jeder Umdrehung, und es resultirt daraus eine gemeinsame Wirkung
auf den Magneten. Diese ist offenbar „gleich der eines constanten
Stromes, dessen Höhe gleich ist dem Flächeninhalt aller über T be-
findlichen Curvenstücke, dividirt durch die Zeit der Beobachtung".
Auf diese Weise ist es möglich, durch auf einander folgende Beob-
achtungen die ganze Schwankungscurve zu construiren, und es ist dies
wenigstens für den quergestreiften Stammesmuskel bisher das einzige
Mittel gewesen, Form und Verlauf derselben festzustellen. Ohne An-
wendung des Summationsverfahrens (der Repetitionsmethode) ist dies bis-
her nicht gelungen, da alle, auch die scheinbar am besten geeigneten In-
strumente, wie insbesondere das Capillarelektrometer, nicht ausreichend
erscheinen, um die einem Einzelreize entsprechende negative Schwan-
kung ^enau zur Darstellung zu bringen. Es ist zwar, wie schon er-
wähnt wurde, ein Leichtes, durch die jede einmalige Zuckung be-
gleitende negative Schwankung an einer aperiodischen Bussole mit
möglichst leichtem Magneten eine deutliche Ablenkung zu erzielen,
allein der zeitliche Verlauf der Bewegung des letzteren entspricht hier
noch viel weniger dem zeitlichen Verlauf der Stromschwankung, als
der Ausschlag des für den vorliegenden Zweck übrigens viel zu wenig
empfindlichen Capillarelektrometers. Demungeachtet musste es in
hohem Grade erwünscht erscheinen, die Construction der
Schwankungscurve durch eine directe graphische Darstellung er-
setzen zu können. Da es nun nicht möglich scheint, die Trägheit des
Magneten zu überwinden und seine Beweglichkeit so Aveit zu steigern,
dass er rascheren Stromesschwankungen treu zu folgen vermöchte, so
schlug neuerdings Hermann den umgekehrten Weg ein, indem er
bestrebt war, den zu untersuchenden galvanischen Vorgang hinreichend
zu verlangsamen (21). In einfacher und sehr sinnreicher Weise erreichte
er dies Ziel dadurch, dass während der Drehung des Bernstein'schen
Rheotoms .die beiden den Bussolcontact vermittelnden Kupferbänke,
welche auf einer Ebonitscheibe angebracht waren, in derselben Rich-
tung aber viel langsamer als das Rad selbst mitgedreht wurden. Wie
man leicht sieht, wird dadurch der Abstand zwischen Reiz und Bussol-
schluss continuirlich verändert, so dass sich der ganze Vorgang der
negativen Schwankung beliebig verlangsamt am Galvanometer abspielt.
Der Magnet wird daher dem zeitlichen Verlauf der elektrischen Ver-
änderung mit vollkommener Treue zu folgen im Stande sein, und man
hat nur nöthig, die Bewegung desselben mittels eines vom Spiegel
reflectirten Lichtstrahles auf eine bewegte lichtempfindliche Platte
zu übertragen, um ein treues photographisches Abbild der Schwankungs-
curve zu erhalten. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass die
Resultate, welche durch dieses Verfahren („Rheotachygraphie") ge-
wonnen werden , durchaus mit den aus den gewöhnlichen Rheotom-
versuchen abgeleiteten Schlussfolgerungen übereinstimmen.
Wie sich aus den vorstehenden Erörterungen unmittelbar er-
giebt, entspricht die „Schwankungscurve" der Entwicklung
und dem zeitlichen Verlauf der negativen Schwankung an einer
bestimmten Stelle des Muskels, nämlich dem abgeleiteten Längs-
schnittpunkt. Da jedoch die ihr zu Grunde liegenden Verände-
rungen, deren directe Beziehung zum Erregungsvorgang nicht
zweifelhaft sein kann, mit einer der Fortpflanzgeschwindigkeit dieser
letzteren entsprechenden Schnelligkeit von Querschnitt zu Querschnitt
Die elektromotorischen Wirkuno-en der Muskeln.
319
fortschreiten, so erscheint die Frage gerechtfertigt, wie lang wohl
die Muskelstrecke sein wird, deren einzelne Punkte nach der Reizung
gleichzeitig in verschiedenen Phasen der negativen Schwankung
sich befinden. Wir gelangen so zu dem zuerst von Bernstein
entwickelten Begriff der „Reiz welle" des Muskels. „Eine Muskel-
faser 31 31 (Fig. 118) sei von ihrem künstlichen Querschnitt (q)
und von der Oberfläche des Elementes d Mi abgeleitet, welches
man sich als von zwei sehr nahe Hegenden Querschnitten begrenzt
denken möge. Wenn die Faser in p momentan gereizt wird, so
wird nach einer bestimmten Zeit die negative Schwankung das
Element d J/j erreicht haben, und zwar in dem Momente, in dem
man im abgeleiteten Kreise die ersten Zeichen der negativen Schwankung
wahrnimmt. Zu derselben Zeit aber wird das Maximum der negativen
Schwankung in einem dem gereizten Punkte näher gelegenen Elemente
{d Jfg) sich befinden, und in einem dritten Elemente {d M^) wird die
negative Schwankung ihr Ende erreicht haben. Tragen wir nun über
dJL <IM,
Fig. 118. Schema der „Keizwelle". (Nach Bernstein.)
diese und die dazwischen gelegenen Elemente der Muskelfaser die
Grösse der negativen Schwankung als Ordinaten auf, so erhalten wir
die Curve m n o, welche darstellt, in welchem Zustand der elektro-
motorischen Veränderung sich das darunter liegende Element der
Muskelfaser befindet." Bernstein bezeichnet die Curve m. n o als
„Reiz welle", Sie schreitet natürlich wie ein M^ellenberg von der
gereizten Stelle aus in der Muskelfaser und zwar nach beiden Seiten
hin fort, indem sich successive in jedem Element der Faser der Process
der negativen Schwankung von seinem Beginn bis zum Ende voll-
zieht, so dass die Welle wähi-end der Dauer der negativen Schwankung
um ihre eigene Länge fortschreitet. Bernstein berechnet für diese
letztere aus seinen Versuch einen mitteren Werth von 10 mm.
Fassen wir schliesslich das Resultat der vorstehend mitgetheilten
Versuche und Erörterungen betreffs der negativen Schwankung eines
mit künstlichem Querschnitt versehenen parallelfaserigen Muskels noch-
mals in Kürze zusammen, so ergiebt sich Folgendes: Wird das eine
Muskelende durch einzelne Inductionsschläge gereizt, während das
andere abgeleitet wird, so beginnt einige Zeit nach jedem Einzelreize,
deren Dauer dem Abstände des abgeleiteten Längsschnittpunktes vom
Reizorte entspricht, in dem dem ersteren zugehörigen Muskelsegmente
eine Veränderung sich zu entwickeln, welche, allmählich anwachsend,
in einem gewissen Zeitmoment ein Maximum erreicht, um endlich
wieder Null zu werden. Es äussert sich dieselbe dadurch, dass sie die
320 -Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
elektrische Spannungsdifferenz der beiden abgeleiteten Punkte des
Muskels zu vermindern bestrebt ist. Da wir nun wissen, dass der
künstliche Querschnitt des Muskels sich negativ -elektrisch verhält
gegen jeden Punkt der unversehrten Oberfläche, so lassen sich alle
bisher erwähnten Erscheinungen leicht erklären , wenn man sich vor-
stellt , dass jene von der Reizstelle aus sich durch die
Muskelfaser fortpflanzende Veränderung der erreg-
baren Substanz mit einem Negativ wer den derselben
verbunden ist. Wir werden in der Folge noch directe Beweise
für die Richtigkeit dieser Vorstellung zu erwähnen haben. Vorläufig
mag dieselbe hier noch als Hypothese gelten, welche geeignet erscheint,
das bisher Mitgetheilte anschaulicher zu machen. Wir Averden uns
also vorzustellen haben, dass im selben Augenblick, wo ein kurz-
dauernder Reiz (Momentreiz) auf irgend eine Faserstelle einwirkt, da-
selbst eine chemische Veränderung sich zu entwickeln beginnt, welche
sich durch Negativwerden der betreffenden Faserstellen gegen benach-
barte, nicht gereizte Stellen kundgiebt. Es muss Nachdruck darauf
gelegt werden, dass allen Erfahrungen zu Folge diese Veränderung
(welche wir als identisch mit dem Erregungsvorgang ansehen müssen)
unmittelbar im Momente der Reizung , also ohne merkliches
Latenzstadium, beginnt, dann ziemlich rasch zu einem Maximum
ansteigt, um endlich langsamer wieder abzuklingen. Die zeitliche
Aufeinanderfolge der verschiedenen Stadien dieser Veränderung an
ein und derselben direct oder indirect gereizten Faserstelle lässt sich
durch eine Curve darstellen, welche oben als „Schwan kungs -
curve" bezeichnet wurde. Da aber der in Rede stehende Vorgang
nicht local beschränkt bleibt, sondern sich in der Regel mit messbarer
Geschwindigkeit vom Reizorte aus über die ganze Faser fortpflanzt,
so befindet sich stets ein kürzerer oder längerer Abschnitt des Mus-
kels gleichzeitig, und zwar an seinen verschiedenen Punkten, in
verschiedenen Phasen der Negativität. Trägt man die Werthe dieser
als Ordinaten auf den Muskel als Abscissenaxe auf, so erhält man
eine Curve von ähnlicher Form Avie die Schwankungscurve, welche
man als „Reiz welle" bezeichnet. Da die Geschwindigkeit bekannt
ist, mit der sich der Vorgang des Negativwerdens (der Erregung) im
Muskel fortpflanzt, und da andererseits auch die Zeit bekannt ist, in
welcher sich die Reizwelle um ihre eigene Länge fortpflanzt, denn
diese ist identisch mit der Dauer der negativen Schwankung an einer
bestimmten Faserstelle, so lässt sich die Länge der Reizwelle leicht
berechnen nach der Formel s ^ et =^ D (Dauer der negativen Schwan-
kung) X G (Fortpflanzungsgeschwindigkeit). Da die beiden Werthe, aus
denen sich die Länge der Reizwelle berechnet, an verschiedeneu Mus-
keln und auch an einem und demselben zu verschiedenen Zeiten sehr
verschieden sind, so ist natürlich auch die Wellenlänge der Reizwelle
eine sehr wechselnde. Schon Bernstein fand dies, und Kühne,
auf dessen diesbezügliche Versuche später noch näher einzugehen sein
wird , fand , dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit und damit auch
die Länge der Reizwelle in hohem Grade variirt. Im ungünstigsten
Falle betrug die erstere 25 cm in der Sekunde, in anderen Fällen da-
gegen mehr als 2 m. Es erinnert dies sofort an jene auffallende
Thatsache, dass ein und derselbe Muskel schnelle und langsame Con-
tractionswellen fortzupflanzen vermag, und in der That handelt es sich
in beiden Fällen im Grunde um dieselbe Erscheinung, da nichts im
Die elektromotorischen Wirkungen der Mnskeln. 321
Wege steht ^ Keizwelle und „Erregungswelle" zu iclentiticiren. Es
würde sich daher nur darum handeln, die Beziehungen zwischen dieser
letzteren und der „Contractionswelle'^ festzustellen. Der Umstand, dass
die Contraction des Muskels ein Latenzstadium besitzt, Avährend die
„Reizwelle" ein solches nach Bernstein nicht erkennen lässt, beweist
ohne Weiteres, „dass in einer gereizten Muskelfaser die Keizwelle der
Contractionswelle wenigstens theilweise voranläuft". In der That
machte Helmholtz schon im Jahre 1854 die Angabe, dass die
negative Schwankung, wenigstens der steilste, die secundäre Zuckung
erregende Theil derselben, der Zusammenziehung vorangeht. Er
verlegte sie in die Mitte, v. Bezold später in den Anfang des
Latenzstadiums. Helmholtz (22) verfuhr folgendermaassen. Der
Nerv A eines Muskels (Fig. 119), der mit dem Zeichenstift eines
Myographions in Verbindung stand, war über Längsschnitt und Quer-
schnitt des Muskels B gebrückt, dessen Nerv durch einen Oeffnungs-
inductionsschlag gereizt wurde, so dass die nega-
tive Schwankung des Muskelstromes von B eine
secundäre Zuckung des Muskels A hervorrief.
Die messbare Zeit, welche zwischen dem Moment
der Reizung des primären Präparates und dem
Beginn der secundären Zuckung von A verging,
war die Summe folgender vier Zeitwerthe: 1) der
Zeit zwischen der Ankunft der Nervenerregung
in A und dem Beginn der Verkürzung, d. h.
das Stadium der latenten Reizung von A; 2) der
Zeit, welche die Fortpflanzung der Erregung im
Nerven des Muskels A vom Reizorte bis zum
Muskel beansprucht; 3) die Zeit, die zwischen
der Ankunft der Erregung in B und dem Mo- j-ig. 119. Versuch von
mente vergeht, wo die negative Schwankung Helmholtz über die
den Nerven A erregt, und endlich 4) die Zeit Zeit der negativen
der Leitung im Nerven von B. Durch Abzug Schwankung.
der aus anderweiten Versuchen bekannten Zeit-
räume 1 , 2 und 4 von der Summe fand sich die Grösse der ge-
suchten Zeit 3, und zwar ergab sich dieselbe zu etwa ^^200 Sekunde,
d. h. es vergeht zwischen dem Momente der Reizung eines Muskels
und dem Momente der stärksten elektrischen Aenderung desselben
etwa ^/2oo Sekunde; legt man nun den ursprünglich angenommenen
Werth der Latenzzeit von */ioo Sekunde zu Grunde, so würde
das Maximum des negativen Schwankungsstromes in der Mitte der
Periode der latenten Reizung fallen. Nach v. Bezold (23) beginnt
die elektrische Schwankung übrigens unter den günstigsten Ver-
hältnissen unmittelbar nach dem Augenblick der Reizung und fällt
daher in den Beginn des Latenzstadiums. Die Bestimmungen der
Grösse des letzteren haben seit Helmholtz zu immer kleineren
Werthen geführt, und noch jüngst fand Burdon-Sanderson wieder
eine wesentlich kleinere Grösse als Tigers tedt, welcher 0,005 Se-
kunde für die Froschmuskeln angenommen hatte. Nach Burdon-
Sanderson (24) beträgt hier das Intervall zwischen der Reizung und
dem ersten Anzeichen einer Formänderung nur 0,0025 = V400 Sek.,
und da er auch der negativen Schwankung ein gleich grosses Latenz-
stadium zuschreibt, so würde kein merklicher Zwischenraum zwischen
beiden Erscheinungen existiren, wähi^end nach Bernstein (1. c. p. 92)
Biedermann, Elektrophysiologie. 21
322 I^ie elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
umgekehrt „jedes Element der Muskelfaser erst den Process der
negativen Schwankung vollendet, bevor es in den Zustand der Con-
traction eintritt". Da man jedoch einerseits die Thatsache des früheren
Beginns der elektrischen Veränderung bei langsamer sich contra-
hirenden Muskeln , wie z. B. dem Herzen , direct mit dem Auge be-
obachten kann, worauf unten noch zurückzukommen sein wird, und
da es andererseits schon aus rein theoretischen Gründen als im höch-
sten Grade unwahrscheinlich bezeichnet werden muss , dass die Er-
regung selbst, d. h. die mit Negativwerden verknüpften Veränderungen
der contractilen Substanz, ein Latenzstadium besitzen, so wird zunächst
daran festzuhalten sein, dass der Anfang der Reizwelle der Con-
tractionswelle, wenn auch um einen noch so kleinen Zeitwert, voran-
Jäuft (vergl. Engelmann, 25). Damit ist natürlich durchaus nicht
gesagt, dass die erstere im Sinne Bernsteins auch früher erlischt,
bezw. an einer Stelle schon erloschen ist, bevor die Contraction da-
selbst beginnt, denn während es ganz wohl denkbar erscheint, dass
eine Muskelstelle erregt ist und sich daher negativ zu benachbarten
ruhenden Stellen verhält, ohne dabei in merklichem Grade contrahirt
zu sein, so ist doch wohl das Umgekehrte völlig ausgeschlossen, und
jede contrahirte Strecke wird nothwendig auch als im Zustand der
Erregung befindlich betrachtet werden müssen. In diesem Sinne wird
man daher wohl auch sagen dürfen, dass die elektrische Welle
ein Ausdruck der Contraction selbst ist (vergl. Lee, 26).
Nimmt man mit Bernstein für das Stadium der latenten Reizung
die Zeit von 0,015 — 0,023 Sek. an (was bekanntlich nicht zu-
treffend ist) und legt man die von ihm gefundenen Werthe für die
Länge, Dauer und Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizwelle zu
Grunde, so würde bei Reizung eines Muskels an einem bestimmten
Punkte die Reizwelle nach dem Stadium der latenten Reizung bereits
eine Strecke von 45 — 92 mm in den Fasern zurückgelegt haben, ehe
überhaupt die Contraction am Reizorte beginnt. Dabei würde noch
ausserdem der enorme Unterschied in Betracht kommen, der nach
Bernstein zwischen beiden Wellen hinsichtlich ihrer Länge besteht.
Während die der Reiz welle etwa 10 mm beträgt, würde die der Con-
tractionswelle zwischen 198 und 380 mm schwanken. Diese letztere
Angabe muss aber füglich Bedenken erregen, wenn man die Berech-
tigung anerkennt, jede contrahirte Faserstelle als „erregt" zu be-
zeichnen, und andererseits die Negativität als galvanischen Ausdruck
der Erregung gelten lässt. Die ersterwähnte Behauptung wird nun
schon dadurch ganz wesentlich eingeschränkt, dass das Latenzstadium
nach allen neueren Erfahrungen sehr viel kürzer ist, als ursprünglich
angenommen wurde. Zudem hat F. S. Lee (1, c.) neuerdings mittelst
des Capillarelektrometers auch erheblich grössere Werthe für die Dauer
der Reizwelle gefunden, als alle früheren Beobachter, so dass es keinem
:Zweifel unterworfen sein kann, dass wenigstens für den frischen Muskel
„ elektrische Spann ungsdifferenzen, welche mit der Contraction
zusammenhängen, sich durch eine viel längere Zeit nachweisen
lassen, als bisher angenommen wurde". Damit fällt aber auch die
Vorstellung, dass die elektrische Welle in das Latenzstadium der Con-
traction fällt und dieser (als Ganzes) vorausläuft (F. S. Lee). Die
von Lee gefundenen Zeitwerthe für die Dauer der Reizwelle sind in
der That von gleicher Ordnung mit der Zuckungsdauer (0,05 — 0,26
Sek.).
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 323
So schien es denn, als sei die von Du Bois-Reymond ge-
gebene Deutung der secundären Zuckung wirklich die einzig zu-
treffende und mögliche, indem bewiesen war, dass bei jeder Einzel-
reizung der Demarcationsstrom eines Muskels eine sehr rasche
negative Schwankung erleidet, die nun ihrerseits einen über Längs-
schnitt und Querschnitt gebrückten Nerven erregen konnte, falls
die Empfindlichkeit des Präparates genügend gross war. Diese Er-
klärung musste jedoch eine wesentliche Aenderung erfahren, als sich
die Richtigkeit der ursprünglichen Behauptung Matteucci's heraus-
stellte, dass das Eintreten der secundären Zuckung von der Lagerung
des Nerven am primären Muskel unabhängig ist , indem auch
„parelektronomische" Gastrocnemien bei Reizung vom Nerven
aus ein secundäres Präparat, dessen Nerv den Längsschnitt des
primären Muskels mit dessen natürlichem Querschnitt verband
oder überhaupt nur den ersteren berührte, zu erregen vermögen. Es
kann hier offenbar so ohne Weiteres von einer negativen Schwankung
nicht gesprochen werden, da ja der Strom, welcher schwanken sollte,
wenigstens als nach aussen ableitbarer Z^veig fehlt. Es kam da-
her vor Allem darauf an, die galvanischen Wirkungen bei der Erregung
stromloser unversehrter Muskeln zu untersuchen. Ehe jedoch auf die
complicirten Verhältnisse bei indirecter Reizung des Gastrocnemius
näher eingegangen werden kann, wird es sich wieder empfehlen, an
den einfachsten Fall der directen Erregung des stromlosen Sar-
torius anzuknüpfen.
Wird das eine Ende desselben tetanisirend gereizt, während am
andern Ende vom natürlichen Querschnitt und einem etwa der Mitte
des Muskels entsprechenden Punkte der Längsoberfläche abgeleitet wird,
so tritt, wie zuerst Du Bois-Reymond fand, während der Reizung
ein Strom im Sinne einer negativen Schwankung hervor, auch wenn keine
Spur eines gesetzmässigen Muskelstromes vorher vorhanden war, indem
sich das Sehnenende positiv gegen jeden Punkt der Längsoberfläche
verhält. Mit Hermann bezeichnen wir diesen Strom als „Actions-
strom", weil er unabhängig von dem Vorhandensein oder Fehlen
eines Ruhestromes für den thätigen Zustand des Muskels charak-
teristisch ist. Im Anschlüsse an die Auffassung Her mann's wurde im
Vorhergehenden die negative Schwankung des Demarcationsstromes
dadurch erklärt, dass die contractile Substanz unter der den Längs-
schnitt berührenden Elektrode in dem Augenblicke mehr oder weniger
negativ wird, wo eine Erregungs- oder Reizwelle unter derselben ab-
läuft, wodurch dann natürlich die ursprünglich vorhandene Spannungs-
differenz zwischen Längsschnitt und künstlichem Querschnitt entsprechend
vermindert wird. W^ie man leicht sieht, lässt sich dasselbe Erklärungs-
princip nicht so ohne Weiteres auch auf den jetzt vorliegenden Fall
des unversehrten und daher stromlosen Muskels anwenden. Denn darf
man annehmen, dass die normalen Faserenden, wie jede andere Stelle
des Muskels, an der Erregung Theil nehmen (und es spricht keine
Thatsache für ein gegentheiliges Verhalten), so müssten sie, wenn die
Reizwelle bis dahin fortgeschritten ist, ebenso negativ werden, wie
jedes vorhergehende Segment. Dann dürfte aber unter den gegebenen
Bedingungen ein im Muskel vom Längsschnitt zur Sehne gerichteter
absteigender Strom während des Tetanisirens nicht auftreten, vielmehr
müsste die Stromlosigkeit, welche vor der Reizung bestand, auch
während derselben fortbestehen. Wir werden später sehen, in welch
21*
324
Die elekti-omotoriscben Wirkungen der Muskeln.
einfacher Weise die Hermann'sche Theorie diesen scheinbaren Wider-
spruch löst, während Du Bois-Reymond, auf dessen Deutung der
negativen Schwankung des Muskelstromes unten noch näher einzugehen
sein wird, sich gezwungen sieht, die vorhin angedeutete, im höchsten
Grade unwahrscheinliche Annahme zu machen, dass die natürlichen,
unversehrten Faserenden, beziehungsweise die „parelektronomische
Schicht'" derselben, an dem Erregungsvorgang gar nicht oder doch
nur in geringerem Maasse Theil nehmen.
Hiergegen ist vor Allem zu bemerken, dass ein tetanischer Actions-
strom von gleicher Richtung immer auch dann beobachtet wird, wenn
die Faserenden gar nicht in die abgeleitete Strecke hineinfallen,
sondern zwei beliebige Stellen der Längsoberfläche des
Muskels von den Fuss punkten des ableitenden Bogens
M
Fig. 120. Schema der doppelsinnigen (phasischen) Actionsströme. (Nach Bernstein.)
berührt werden (Hermann 27). Ueber die Ursache desselben
giebt ein Versuch Aufschluss, welcher zuerst von Bernstein (1. c.
p. 60 ff.) mittels des Rheotoms angestellt wurde und auch in anderer
Beziehung von Wichtigkeit ist.
Sei wieder J/ il/j ein regelmässiger parallelfaseriger Muskel, dessen
einem Ende mittels des Rheotoms einzelne in gleichen Zeiten auf ein-
ander folgende Reize zugeführt werden (Fig. 120), Avährend zwischen
je zwei Reizen der Bussolkreis jedes Mal für eine ganz kurze Zeit
geschlosen wird, was bekanntlich in beliebigen Momenten der
Reizpause geschehen kann, so wird, wenn Reizung und Bussol-
schluss gleichzeitig eintreten, kein Ausschlag erfolgen können, da die
Reizwelle, welche von jj ausgeht, eine gewisse Zeit braucht, um die
zunächst liegende abgeleitete Stelle (a) zu erreichen. W^ird aber der
Bussolkreis gerade immer in dem Momente geschlossen, wo der An-
fangstheil der Reizwelle den genannten Punkt erreicht hat, also so
lange nach jedem Einzelreize, als die Welle braucht, um den Weg
^ a zurückzulegen , so wird eine merkliche Ablenkung des Magneten
in dem Sinne zu erwarten sein, dass sich («) zu der zweiten abgeleiteten
Stelle (&) negativ verhält, wenn es richtig ist, dass jeder Punkt inner-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 325
halb der Reizwelle negativ ist gegen jede Stelle ausserhalb derselben.
Wird dann die Schliessungszeit des Galvanometerkreises noch weiter
in derselben Richtung verschoben, so dass andere Flächenstücke der
Schwankungscurve ausgeschnitten werden, so müssen die Ausschläge in
demselben Sinne zunächst wachsen, ein Maximum erreichen, wenn der
Gipfel der Reizwelle abgefangen wird, und endlich wieder abnehmend
Null werden, wenn die ganze Reizwelle unter dem Punkte a ab-
gelaufen ist. Legen wir den von Bernstein angegebenen Werth
von 10 mm für die Länge derselben zu Grunde, und sind daher die
beiden ableitenden Elektroden um mehr als 10 mm von einander ent-
fernt, so würde zu einer Zeit, wo eben das Ende der Reizwelle den
Punkt a passirt, der Anfangstheil derselben h noch nicht erreicht
haben, und auch wenig später wird das nicht der Fall sein, wenn die
Distanz der Elektroden genügend gross ist. Bei einer gewissen, diesem
Zeitwerth entsprechenden Schieberstellung am Rheotom wird daher
keinerlei Spannungsdifferenz zwischen a und h angezeigt werden.
Erst wenn die Schliessung des Bussolkreises so spät nach jedem
Einzelreiz erfolgt, dass die ausgelöste Reiz welle mit ihrem Anfangs-
theil gerade den Punkt h erreicht hat, wird wieder eine merkliche
Ablenkung erfolgen, jedoch in einer der früheren gerade
entgegengesetzten Richtung, indem sich jetzt h negativ zu
a verhält. Die Spannungsdifferenz wird nun wieder bei weiterem
Vorrücken des Bussolschlusses im gleichen Sinne zunehmend ein Maxi-
mum erreichen und schliesslich, wenn das Ende der Reizwelle unter
h abgelaufen ist. Null werden. Wir haben es also bei Ableitung
von zwei symmetrischen Längsschnittpunkten eines durch Inductions-
schläge rhythmisch gereizten (tetanisirten) Muskels nach jedem Einzel-
reiz mit einer doppelsinnigen Schwankung oder richtiger mit
einem doppelsinnigen Actionsstrom zu thun. Bernstein,
welcher diese Thatsache entdeckte, bezeichnete den Strom, welcher be-
obachtet wird, während die Reizwelle unter dem Punkte a abläuft,
und im Muskel die Richtung des unteren Pfeiles hat, als negative
Schwankung, den darauf folgenden, in der Richtung des oberen
Pfeiles fliessenden dagegen als positive Schwankung. Wie leicht
ersichtlich ist, müsste eigentlich die absolute Grösse der durch den
ersten Actionsstrom bewirkten Ablenkung genau derjenigen gleich
sein, welche durch den zweiten Actionsstrom bedingt wird ; dies ist
aber nach Bernstein 's Untersuchungen niemals der Fall, sondern d i e
positiven Ausschläge werden stets kleiner gefunden,
als die negativen. Es geht aus dieser Thatsache hervor, dass
die Reizwelle bei ihrer Fortpflanzung in der Muskel-
faser an Höhe abnimmt oder mit andern Worten (wenigstens
im ausgeschnittenen Muskel) ein Decrement besitzt. Mit Her-
mann (27) bezeichnet man die eben besprochenen doppelsinnigen
Actionsströme, welche am unversehrten, an sich stromlosen Muskel nach
jedem Einzelreize beobachtet werden, als „phasische Actions-
ströme". Die erste Phase ist von der Reizstelle weg, die zweite zu
ihr hin gerichtet. Liegt die eine Ableitungsstelle an einem künst-
lichen Querschnitt, so fällt natürlich die ihr entsprechende Phase
aus. Da der Bussolmagnet viel zu träge ist, um diese bei tetani-
sirender Reizung sich äusserst rasch folgenden, entgegengesetzt ge-
richteten Ströme durch entsprechende Ablenkungen anzuzeigen, so
würde von vornherein zu erwarten sein, dass bei stromloser Ableitung
326 ^i^ elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
von 2 Längschnittpunkten auch während des Tetanus keine Wirkung
erfolgt. Doch ist dies thatsächlich nicht der Fall, was sich leicht
aus dem Umstände erklärt, dass die Reizwelle bei ihrer Fortpflanzung
im Muskel an Grösse abnimmt; daraus ergiebt sich unmittelbar, dass
bei Ableitung von zwei Längsschnittpunkten eines unversehrten, strom-
losen, parallelfaserigen Muskels eine elektrische Spannungsdifferenz
zwischen diesen beiden Punkten auftreten muss, wenn das eine Ende
mittels eines gewöhnlichen Schlittenapparates tetanisirt wird, und
zwar muss immer der der Reizstelle nähere Längsschnittpunkt sich
negativ zu dem davon entfernteren verhalten, da dieser wiegen des
Decrementes der Reizwellen schwächer negativ als jener (d. h. relativ-
positiv) sein muss. Ein derartiger tetanischer Actionsstrom ist nun,
wie schon erwähnt, thatsächlich vorhanden, wie Du B o is-Rey mond
und Hermann übereinstimmend feststellten. Der Letztere fand die
Kraft dieses Stromes, welchen er aus den eben erwähnten Gründen
als „tetanischen decrementiellen Actionsstrom" bezeich-
nete, ziemlich bedeutend (0,002—0,02 Dan.). Du Bois-Reymond
war ursprünglich der Meinung, dass decrementielle Actionsströme nur
an ermüdeten, absterbenden Muskeln beobachtet werden, und dass dem-
nach die Reizwelle nur in diesem Falle abnehme. Hermann hat
jedoch gezeigt, dass das Decrement bereits unmittelbar nach der Prä-
paration vorhanden ist. Da die Reizwelle um so kleiner wird, je
weiter sie sich von dem Reizorte entfernt, so müssen die einzelnen
Querschnitte eines am einen Ende tetanisirten Muskels um so weniger
negativ sein, je näher sie dem nicht gereizten Ende liegen.
Hermann hat hierfür den directen Beweis erbracht, indem er an
einem regelmässig gebauten, parallelfaserigen Muskel eine Anzahl ab-
leitender, ringförmig umfassender Fadenschlingen anlegte, und während
das eine Ende tetanisirt wurde, die elektromotorische Kraft des Actions-
stromes zwischen je zwei Ableitungsstellen bestimmte. Er fand die-
selbe „annähernd proportional dem gegenseitigen Abstände derselben
und sonst ganz unabhängig von deren Lage". Es ist somit „jeder
von der Erregung durchlaufene Punkt während des Tetanus Sitz einer
elektromotorischen Kraft, die der Verlaufsrichtung der Erregungs-
wellen gleichgerichtet ist". Man sieht nun auch, dass die „negative
Schwankung" in ihrer ursprünglichen Erscheinungsweise nichts
weiter ist, als ein specieller Fall des tetanischen Actions-
strom es, in dem bei Ableitung von einem künstlichen
Querschnitt die entsprechenden Phasen ausfallen.
Da unter normalen Verhältnissen die Muskeln stets nur indirect,
d. h. vom Nerven aus, erregt werden, so hat es ein besonderes Inter-
esse, die Actionsströme unversehrter Muskeln auch bei dieser Art der
Reizung zu untersuchen, zumal alle früheren Versuche über negative
Schwankung lediglich aus Bequemlichkeitsgründen an dem an sich wohl
am wenigsten geeigneten Objecte, dem vom Nerven aus tetanisirten
Gastrocnemius des Frosches, angestellt worden sind. An demselben
unversehrten Muskel wurde in der Folge auch die erste genauer zer-
gliedernde Versuchsreihe über die Actionsströme bei indirecter Reizung
und Ableitung von beiden sehnigen Enden unter Bernstein's Lei-
tung und mit dessen Rheotom von Sigmund Mayer (28) ausgeführt.
Die complicirten Erscheinungen, welche man diesfalls beobachtet, und
die zu den verschiedensten Deutungen und Erklärungsversuchen An-
lass gaben, wurden aber erst verständlich, als L. Hermann im Jahre
Die elektromotorischen Wirkungen des Muskeln. 327
1877 daran ging, die Actionsströme regelmässiggebauter parallel-
faseriger Muskeln bei indirecter Reizung zu untersuchen (27). Nach
unseren derzeitigen Kenntnissen über die Beziehungen zwischen Nerv und
Muskel sind wir zu der Annahme berechtigt, dass die Erregung jeder
Muskelfaser bei Reizung der zugehörigen Nervenfaser an einer be-
schränkten Stelle und zwar dort ausgelöst wird, wo jener nei'vöse
Endapparat liegt, welcher zwischen der contractilen Substanz als Er-
folgsorgan und der Nervenfaser als Leitungsorgan eingeschaltet ist.
Wir werden später die histologischen und physiologischen Beziehungen
zwischen Nerv^ und Muskel noch eingehender zu erörtern haben; für
jetzt mag es genügen, zu bemerken, dass es als bewiesene Thatsache
gelten darf, dass die Nervenfaser mit der oder den zugehörigen
Muskelfasern nur in einem beschränkten Gebiete in Verbindung steht,
was natürlich nicht ausschliesst, dass eine und dieselbe Muskelfaser
von mehreren Nervenfasern an verschiedenen Stellen versorgt
wird. Die in neuerer Zeit mehrfach aufgetauchte, insbesondere von
J.Ger lach vertretene Anschauung, dass es eine eigentliche Nervendigung
im Muskel gar nicht gebe, indem der zutretende Nerv die contractile
Substanz in der ganzen Ausdehnung der Faser durchsetze und in
Gestalt feinster varicöser Fibrillen überall zwischen die Elemente der
Muskelfaser eindringe, darf wohl zur Zeit als widerlegt angesehen
werden, umsomehr, als sich herausstellte, dass Gerlach's Nervenfibrillen
im Wesentlichen nichts weiter sind, als die durch Goldchlorid dunkel-
roth gefärbte, also stark reducirende, interfibrilläre Substanz (Sarko-
plasma) des Muskels. Entsteht daher die Erregung bei indirecter
Reizung an den der Nervenendigung entsprechenden Faserstellen, so
muss sie sich von hier aus nothwendig und zwar wellenförmig durch
die Faser nach beiden Seiten hin fortpflanzen. Es lässt sich dies
jedoch nicht nur theoretisch erschliessen, sondern ganz direct beweisen,
und zwar sowohl auf dem Wege der histologischen Untersuchung als
auch durch das physiologische Experiment. In ersterer Beziehung
wurde neuerdings von verschiedenen Seiten (Föttinger, Rollett
u. A.j der wichtige Nachweis geliefert, dass die an den Muskelfasern
mancher Insecten nach geeigneter Behandlung des lebenden Gewebes
mit härtenden und conservirenden Flüssigkeiten leicht zu beobachten-
den „fixirten Contractions wellen" sich ganz vorwiegend an
den Eintrittsstellen von Nerven befinden , und zwar so , dass das
Maximum der Verkürzung, d. i. der Gipfel der Welle, meist in der
Mitte der Berührungsfläche (Sohle) des Doyer'schen Hügels gelegen
ist. Dies sowie die directe Beobachtung noch lebender Fasern beweist
unwiderleglich, dass die Nerveneintrittsstelle der Ausgangspunkt einer
wellenförmig nach beiden Seiten fortschrei4;enden Contraction werden
kann.
Ebenso sicher lässt sich nun aber auch galvanometrisch bei in-
directer Reizung des ganzen Muskels das Fortschreiten einer negativen
Reizwelle feststellen und so die von Du Bois-Reymond seiner Zeit
gehegten Zweifel an dem wellenförmigen Ablauf der Erregung bei
Reizung eines Muskels vom Nerven aus entkräften. Wir besitzen
im M. adductor magn. des Frosches mit dem zugehörigen, etwa
in der Mitte des Muskels eintretenden Nerven ein allen Anforderungen
entsprechendes Präparat, dessen Herstellung zwar etwas mühevoller
ist im Vergleich mit der des gewöhnlichen aus Gastrocnemius und
Ischiadus bestehenden Nerven-Muskelpräparates, aber durch die Regel-
328 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
mässigkeit und Klarheit der Versuclisergebnisse reichlich entschädigt.
Auf Grund der schon mitgetheilten Erfahrungen darf man annehmen,
dass sich ein derartiges Präparat bei Reizung seiner Nerven mit In-
ductionsschlägen in elektromotorischer Beziehung ganz ebenso ver-
halten wird, als in dem Falle, wenn der Muskel an der Nerven-
eintrittsstelle, im speciellen Falle also in der Mitte, direct gereizt
wird. Dabei ist es ein wesentlicher Vortheil, dass man bei indirecter
Reizung von der Reizstelle selbst mit abzuleiten vermag. Läge jede
Nervenendigung genau in der Mitte der zugehörigen Faser des
parallelfaserigen Muskels, so würde sich offenbar von da aus im Augen-
blicke der Reizung eine negative Reiz- bezw. Contractionswelle nach
beiden Seiten hin durch den Muskel fortpflanzen. Würde dann von
der Mitte und dem einen Sehnenende eines solchen Muskels zum Gal-
vanometer abgeleitet, während der Nerv mittels des Bernstein 'sehen
Rheotoms in gleicJien Pausen einzelne Reizanstösse erhält, so müsste
ein doppelsinniger phasischer Actionsstrom nachzuweisen sein, bestehend
aus einer ersten „atterminalen (abnervalen)" und einer zweiten „ab-
terminalen (adnervalen)" Phase. In der That fand nun Hermann ein
solches Verhalten bei seinen Versuchen am Sartoriuspräparat. Beide
Muskelhälften zeigten gleichzeitig zuerst einen atterminalen, von der
Mitte nach jedem Sehnenende hin gerichteten Strom, wenig später, und
zwar um soviel, als die Reizwelle braucht, um sich von der Mitte aus
nach den Enden hin fortzupflanzen, trat ein abterminaler Actionsstrom
auf, der wegen des Decrements der Reizwelle stets schwächer war, als
der erstere. Wird von beiden Sehnenenden abgeleitet, so ergiebt sich
in jedem Momente die algebraische Summe der Wirkungen beider
Hälften für sich; diese Summe würde natürlich bei einem genau sym-
metrisch gebauten Muskel = Null sein, bei anderen wechselt sie mit
der Zeit ihr Vorzeichen. Durch diese Versuche Hermann 's ist
daher der wellenförmige Ablauf der Erregung auch bei indirecter
Reizung physiologisch bewiesen, und wir können nunmehr dazu über-
gehen, die Actionsströme auch in dem verwickeiteren Falle, bei in-
directer Reizung des Gastrocnemius, zu betrachten. S. Mayer (1. c.)
hatte gefunden, dass bei Ableitung von beiden sehnigen Enden des
genannten Muskels nach jedem Einzelreize zuerst ein absteigender,
dann ein aufsteigender Actionsstrom oder — wie man sich damals
ausdrückte, weil der erstere Strom mit der negativen Schwankung
des am Achillesspiegel angeätzten Muskels identificirt wurde — eine
zuerst negative, dann positive Schwankung auftritt, eine Thatsache,
welche später von Du Bois-Reymond mittels des Bernstein'schen
Rheotoms, das auch S. Mayer benutzt hatte, von Hermann mittels
des schon früher erwähnten (nicht repetirenden) Fallrheotoms be-
stätigt wurde. War der Achillesspiegel angeätzt, so fehlte der auf-
steigende (positive) Theil des Actionsstromes. Uebrigens hatte schon
vor Mayer Holmgren (29) mittels eines leichten Magneten (ohne
Rheotom) häutig doppelsinnige Schwankungen am Gastrocnemius be-
obachtet, ausserdem aber auch Fälle rein positiver und rein negativer
Schwankung. Man kann sich den M. gastrocnemius nach Hermann
schematisch als einen Muskelrhombus vorstellen und kommt ausserdem
der Wahrheit ziemlich nahe, wenn man annimmt, dass jede Faser
ihre Nerveneintrittsstelle in der Mitte hat (Fig. 121). ' Dann ist
aber leicht ersichtlich, dass alle der oberen Ableitungslinie {a b),
das heisst dem dickeren Theil des Muskels, entsprechenden Punkte
Die elektromotorischen Wirkunofen der Muskeln.
329
durch die von den Nerveneintrittsstellen (a — ß) ausgehenden Er-
regungswellen früher und stärker beeinflusst werden müssen, als die
unteren, der Achillessehne entsprechenden Faserenden. Es wird
also zunächst ein absteigender, dann aber ein schwächerer aufsteigender
Actionsstrom resultiren. „Die obere Muskelhälfte müsste gerade um-
gekehrt zuerst aufsteigend, dann absteigend wirken; jedoch ist der
Bau des Muskels hier wesentlich anders; der grösste Theil des oberen
Neigungsstromes kann wegen der Einfaltung des oberen Spiegels über-
haupt kaum nach aussen zur Wirkung kommen , so dass erstens die
abterminale Phase der oberen Muskelhälfte meist gar nicht merklich
ist und zweitens die obere Sehne im Ganzen wie eine Ableitung vom
Längsschnitt zu betrachten ist. Bei Ableitung von beiden Sehnen
sind in Folge dessen die Erscheinungen nicht wesentlich anders als
bei Ableitung von Bauch- und Achillessehne. Die erste absteigende
Phase rührt also zweifellos nicht vom Achillesspiegel , sondern vom
Längsschnitt her, dagegen die zweite aufsteigende vom Achillesspiegel"
(Hermann). Mit Anätzen des letzteren
fällt die zweite Phase natürlich weg, da
sich die Faserenden dann ohnedies negativ
verhalten. Im Tetanus aber , wo Du
Bois-Reymond zuerst den stromlosen
Fig. 121.
Fig. 122.
Gastrocnemius absteigend wirksam fand, muss dies natürlich so sein,
da dann im Allgemeinen nur die algebraische Summe der entgegen-
gesetzten Actionsströme auftritt. Diese aber ist wegen des Ueber-
wiegens der ersten absteigenden Phase eben absteigend. Auf weitere
Einzelheiten in Betreff der elektromotorischen Wirkungen des gereizten
Gastrocnemius näher einzugehen, liegt hier um so weniger Grund vor,
als irgend welche neue theoretische Gesichtspunkte sich dabei nicht er-
geben würden. Doch sei noch erwähnt, dass Matthias (30) in neuester
Zeit mittels des schon oben beschriebenen Verfahrens, der „Rheotachy-
graphie" von Hermann die Actionsströme des Gastrocnemius gra-
phisch dargestellt hat, wobei sich bei Ableitung von der Achillessehne
und einer Stelle in der Nähe des nervösen Aequators doppelgipfelige
Curven ergaben, die nach einer ersten absteigenden Phase eine zweite
schwächere, aufsteigende erkennen lassen, worauf der Magnet mit ge-
ringen Abweichungen zum Nullpunkt zurückkehrt (Fig. 122). Diese
Ungleichheit hat ihren Grund hauptsächlich in einer theilweisen Super-
position der beiden Phasen, indem die Erregung die obere Ableitungs-
stelle noch nicht ganz passirt hat, wenn sie an der unteren angelangt
ist. Noch complicirter würde sich der Verlauf der elektrischen
Schwankungscurve des Gastrocnemius bei Ableitung von Mitte und
330
Die elektromotorischen Wirkun<jen der Muskeln.
Achillessehne nach den schon mehrfach envähnten Untersuchungen von
Lee (1. c.) gestalten, bei welchen an Stelle der trägeren Bussole das
leicht bewegliche Capillarelektroraeter trat; im Uebrigen wurde auch
hier das Rheotomverfahren angewendet. Die Curve (Fig. r23a) ent-
spricht einer dreiphasischen Schwankung, deren beide negative Ab-
schnitte durch ein zweigipfeliges, positives und sehr steiles Stück ge-
trennt erscheinen. Die Dauer des ganzen Vorganges betrug 0,26
Sek.; ein Werth, der, wie schon erwähnt, etwa der Zuckungs-
dauer des Muskels gleichkommt. Die Schwankungswelle des Sar-
torius (bei Ableitung von Mitte und Ende des Muskels) fand dagegen
auch Lee zweiphasisch, wobei ein merkliches Decrement am
frischen, unversehrten Muskel nicht bemerkbar war und beide Ab-
schnitte ziemlich symmetrische Gestalt zeigten (Fig. 123 b). Ist dagegen
das Sehnenende des Muskels auch nur in geringem Grade beschädigt,
so überwiegt die erste („negative") Phase, und leicht verschwindet,
Fig. 123. a Dreiphasische Schwankungscurve des M. gastrocuemius. b zweiphasische
Schwankuugscurve des M. sartorius. Oben des normalen, unten des verletzten Muskels.
(Nach Fr. S. Lee.)
wie die untere Curve derselben Figur zeigt, die zweite ganz. In diesem
Falle erscheint die nunmehr einsinnige Schwankung nicht merklich
kürzer als früher beide Phasen zusammen , M-as wieder auf eine
Superposition der beiden Componenten hinweist. Auch die drei-
phasische Welle des Gastrocnemius erleidet bei fortschreitender Er-
müdung oder Verletzung des unteren Muskelendes eine Veränderung
in dem Sinne, dass zunächst der mittlere positive Abschnitt ver-
schwindet oder nur angedeutet erscheint. Im Uebrigen bieten die
Ermüdungsveränderungen der elektrischen Schwankungscurve quer-
gestreifter Muskeln auch noch insofern ein besonderes Interesse, als
sie einen weiteren Beleg für die schon oben hervorgehobenen nahen
Beziehungen zwischen dem Actionsstrom und den Contractionserschei-
nungen liefern. Nach Lee ändert sich die Curve des ersteren in
gleichem Sinne wie die der Zuckung, indem einerseits durch Verklei-
nerung aller Ordinaten die Höhe abnimmt, während andererseits der
zeitliche Verlauf ein gedehnterer wird.
Wie sich aus den bisherigen Erörterungen ergiebt, lassen sich
alle an freipräparirten Muskeln während der durch directe oder in-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 331
directe Reizung angeregten Thätigkeit zu beobachtenden elektro-
motorischen Wirkungen mit grösster Leichtigkeit und ohne Zuhülfe-
nahme weiterer Hypothesen aus der Hermann' sehen Alterationstheorie
unter der einfachen Voraussetzung erklären, dass erregter Faser-
inhalt ganz ebenso wie absterbender sich normalem
bezw. ruhendem gegenüber negativ-elektrisch verhält.
Mit Rücksicht auf die der Theorie zu Grunde liegenden Vorstellungen
erscheint dies eigentlich selbstverständlich, da es sich ja in beiden Fällen
um eine im Sinne H er ing 's „absteigende" Aenderung der lebendigen
Substanz handelt, so dass die Actions- und Ruheströme auf dieselbe
Ursache zurückzuführen wären, „insofern beide als das äussere
Symptom einer verschiedenen Geschwindigkeit der absteigenden
Aenderung der beiden ableitend verbundenen Theile anzusehen sind".
Ein principieller Unterschied zwischen Actions- und
Ruhestrom existirt hiernach ebensowenig wie zwischen
erregter und absterbender Muskelsubstanz. Von diesem
Gesichtspunkte aus ist auch die Frage gegenstandslos, ob man die
oben besprochenen „Kaliströme" des Muskels als Actionsströme auf-
zufassen habe oder nicht. Der Umstand, dass sie auch am ätherisirten
Muskel hervortreten, kann ebensowenig etwas gegen die erstere Ansicht
beweisen, wie das Auftreten des gewöhnlichen Demarcationsstromes
unter denselben Bedingungen für die letztere.
Vom Standpunkte der Molekulartheorie aus bieten namentlich die
elektromotorischen Wirkungen unversehrter, an sich stromloser Muskeln
der Erklärung grössere Schwierigkeiten, die sich nur durch die An-
nahme gewisser Hülfshypothesen beseitigen lassen. Von einer eingehen-
deren Erörterung derselben darf hier um so eher Umgang genommen
werden, als ihren Ausgangspunkt die Lehre von der Parelektronomie
bildet, deren Unrichtigkeit zur Zeit wohl kaum noch bezweifelt werden
dürfte. Nur mit einem Worte sei daher das Grundprincip erwähnt,
welches Du Bois-Reymond zur Erklärung der negativen Schwan-
kung des Demarcationsstromes aufstellte. Dieselbe beruht hiernach
wesentlich auf einer Abnahme der elektromotorischen Kraft der „Mo-
lekeln" oder der Herstellung einer nach aussen schwächer wirksamen
Anordnung derselben. Auch Bernstein's neue „elektrochemische
Theorie" setzt eine „Abnahme der Ladungen in den Molekülen" voraus
und erklärt hieraus die Negativität jeder erregten Stelle. „Pflanzt sich
die Reizwelle zum Querschnitt hin fort, so nehmen auch bis zu diesem
die Ladungen der Moleküle ab; aber ist die Welle zum Querschnitt
gelangt, so kann sie nicht einen Strom in umgekehrter Richtung er-
zeugen, etwa eine zweite positive Phase der Schwankung, weil die
Ladungen der Moleküle nach ihren Querschnittseiten hin immer die
gleichen sind." Um die elektromotorischen Wirkungen stromloser
Muskeln zu erklären, muss Du Bois-Reymond seine Zuflucht zu
der Hypothese nehmen, dass die am natürlichen Querschnitt voraus-
gesetzte parelektronomische Schicht oder Strecke an der negativen
Schwankung gar nicht oder nur in geringerem Maasse theilnehme,
während sich nach Bernstein die unversehrten Faserenden wie jeder
andere Längsschnittpunkt verhalten. Du Bois-Reymond glaubte
sogar in dem Anbranden der Erregungswellen am natürlichen Quer-
schnitt direct die Ursache der Parelektronomie erblicken zu dürfen,
indem er die Ansicht aussprach , dass dadurch die Entwicklung par-
elektronomischer Molekeln begünstigt werde.
332 Die elektromotorischen Wirkimg-en der Muskeln.
Es dürfte aus dem Vorhergehenden klar geworden sein, dass sich
demgegenüber die Hermann'sche Alterationsstheorie schon durch ihre
unvergleichlich grössere Einfachheit empfiehlt; nicht minder aber fällt
der Umstand ins Gewicht, dass sie, wie im Folgenden noch zu zeigen
sein wird, auch solche elektromotorische Wirkungen lebender Gewebe
unter einheitlichen Gesichtspunkten zu behandeln gestattet, denen gegen-
über sich die Molekulartheorie bisher als völlig ohnmächtig erwiesen
hat (Drüsen- und Pflanzenströme). Sie erhebt sich endlich über den
Rang einer bloss willkürlichen, den Thatsachen angepassten Hypothese
durch eine Reihe experimenteller Erfahrungen, welche an der Richtig-
keit der zu Grunde liegenden Vorstellungen nicht zweifeln lassen.
Abgesehen von allen schon ausführlich besprochenen, den „Ruhestrom"
betreffenden Erfahrungen, sowie den Beobachtungen über die Actions-
ströme der Muskeln, wo sich die Altei-ationstheorie glänzend bewährte,
sind noch einige Befunde zu erwähnen, deren Besprechung sich hier
am besten anschliessen lässt. Hierhergehört vor Allem das elektro-
motorische Verhalten der sogenannten idiomusculären
Contraction. Bekanntlich verlieren absterbende Muskeln, insbe-
sondere von Warmblütern, ihr Leitungsvermögen beträchtlich früher
als ihre Erregbarkeit; die contractile Substanz gewinnt, wie sich
Funke ausdrückte, immer mehr die Eigenschaften einer zähen Masse,
die den local erhaltenen Eindruck, statt ihn weiter zu leiten, immer
dauernder behält. Schliesslich erhält man bei local beschränkter
Reizung überhaupt nur eine locale Contraction der Fasern, welche
meist nicht mehr schwindet. Es handelt sich also hier so zu sagen
um eine fixirte Contractionswelle , die sich über einen grösseren oder
kleineren Faserabschnitt ausdehnt. Der localen Dauercontraction muss
aber auch eine örtliche Dauererregung entsprechen, und diese ihrer-
seits bedingt wieder Negativität gegen normale Faserstellen. Czer-
mak hat nun in der That bereits im Jahre 1857, also 10 Jahre
vor Begründung der Alterationstheorie, den Nachweis geliefert, dass
wenn man den Nerven eines Froschpräparates auf einen Muskel mit
idiomusculärem Wulst fallen lässt, so dass er diesen und einen normalen
Längsschnittpunkt berührt, eine Zuckung eintritt, womit also bewiesen
war, dass zwischen dem Wulst einer- und der unveränderten
Oberfläche andererseits eine elektrische SpannungsdifFerenz besteht.
Spätere Untersuchungen von Kühne und Harless haben nun in
der That gezeigt, dass er sich stets negativ verhält gegen alle übrigen
Faserstellen.
Ich selbst hatte wiederholt Gelegenheit (16), mich davon zu über-
zeugen, dass auch in der Continuität des Sartorius vom Frosch nega-
tive Zonen vorkommen können, welche durch partielle Dauercontrac-
tionen des sonst gänzlich unversehrten Muskels bedingt werden und
unter Umständen zu sehr kräftigen Strömen Anlass geben. Wie man
leicht sieht, kann hierdurch unter Umständen der Anschein erweckt
werden, dass an den unversehrten Faserenden eine parelektronomische
Schicht von messbarer Ausdehnung (parelektronomische Strecke) be-
steht, da es denkbar erscheint, dass in einem solchen Falle oberfläch-
liches Anätzen des natürlichen Querschnittes in der Nähe eines Sehnen-
endes den gesetzmässigcn Strom nicht sofort hervortreten lässt, wenn
der abgeleitete Längsschnittpunkt sich in gleichem Grade oder stärker
negativ verhält, als der künstliche Querschnitt des betreffenden Muskel-
endes. Künstlich lässt sich eine solche stehende Contractionswelle an
Die elektromotorischen Wirkunj^en der Muskeln. 333
einer beliebigen Stelle eines parallelfaserigen Muskels leicht durch
örtliche Einwirkung einer Veratrinlösung erzeugen, durch welche be-
kanntlich das Abklingen der Erregung ganz ausserordentlich ver-
zögert wird. Hermann erreichte dasselbe durch energische Ab-
kühlung des Muskels. Wenn es endlich als Prüfstein einer Theorie
gelten darf, dass sich neue Thatsachen auf Grund derselben vorher-
sagen lassen, so müssen endlich auch die „secundär-elektromotorischen
Erscheinungen" genannt werden, deren Erörterung später folgt.
Als es durch Versuche an freipräparirten Muskeln sichergestellt
war, dass der Zustand der Thätigkeit von galvanometrisch nachweis-
baren elektromotorischen Veränderungen begleitet wird , war es ein
naheliegender Wunsch, dieselben auch an den unversehrten, in situ
Fig. 124. Der Du Bois'sche „Willkürversucli". (Nach Du Bois-Rey mond.)
befindlichen Muskeln der Warmblüter und des Menschen festzustellen,
und Du Bois-Rey mond hat dieser Aufgabe eine mit bewunderns-
werthem Fleiss durchgeführte Untersuchung gewidmet, welche als ein
Muster consequenter, zielbewusster Forschung gelten muss. Waren
seine Bemühungen, am nicht enthäuteten Frosch durch die Haut hin-
durch Spannungsdifferenzen im Sinne des „ruhenden Muskelstromes"
zu entdecken, durch die starke elektromotorische Wirksamkeit der
Haut selbst vereitelt worden, so begegneten dieselben Versuche am
Menschen nicht minderen Schwierigkeiten, deren nähere Erörterung
hier unterbleiben kann, da zur Zeit ebensowenig Grund vorliegt, den
menschlichen Muskeln während der Ruhe eine merkliche elektro-
motorische Wirksamkeit zuzuschreiben, wie denen des Frosches oder
irgend eines anderen Thieres, Dagegen schienen Du Bois-Rey-
m 0 n d ' s Bemühungen , während der willkürlichen Contraction nach
aussen ableitbare Ströme nachzuweisen oder in der Sprache seiner
334 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Theorie die negative Schwankung des präexistenten Muskelstromes
zu demonstriren , in der That von Erfolg gekrönt zu sein. Der
berühmte Versuch, um den es sich hier handelt, und der seiner Zeit
grosses Aufsehen hervorrief, besteht in Folgendem. Ein oder mehrere
Finger (am besten die Zeigefinger) jeder Hand werden in Zuleitungs-
gefässe getaucht, welche mit den Enden des Bussol- bezw. Multipli-
catorkreises in passender Weise verbunden sind (Fig. 124). Ist der
Magnet unter dem Einflüsse des in diesem Falle meist genügen Eigen-
stromes, der von verschiedenen Ungleichartigkeiten beider abgeleiteten
Hautstellen herrühren kann, zur Ruhe gekommen, und man spannt
nun die Muskeln des einen Armes kräftig an, so entsteht in der Regel
sofort ein Ausschlag im Sinne eines im Arme aufsteigenden Stromes,
dessen elektromotorische Kraft nach späteren Messungen von Her-
mann sehr gering ist (0,0014 — 0,0023 Dan.). Ein analoges
Resultat lässt sich auch bei Ableitung von beiden Füssen er-
zielen. Für das Gelingen des Versuches ist es wesentlich, dass die
willkürliche Muskelaction eine möglichst kräftige sei. Du Bois-
Reymond spannte den Arm stets derart an, „dass die Muskeln sich
hart wie Holz anfühlen, dass der Arm heftig erzittert, und dass nach
einigen Sekunden ein lebhaftes Gefühl von Wärme im Arm verspürt
wird". Bisweilen erwies sich auch, nach einem Vorschlag von
Mousson, ein gleichzeitiges Zusammenwirken mehrerer Personen,
nach Art einer Säule, vortheilhaft, wobei zwischen je zwei ein Gefäss
mit concentrirter NaCl-Lösung angebracht wurde, in welches jede der
beiden Personen einen Finger taucht und dann gleichzeitig je einen
(gleichnamigen) Arm anstrengt. Alle so zu beobachtenden galvanischen
Wirkungen zeichnen sich durch eine auffallend lange Nachdauer aus,
sowie durch ihre Unfähigkeit, secundäre Erregung des physiologischen
Rheoskopes hervorzurufen, ein Umstand, auf den wir später noch
zurückkommen werden, und der seinerseits gegen die Auffassung D u
Bois-Reymond's, dass es sich hier um den Ausdruck der negativen
Schwankung des Muskelstromes der menschlichen Gliedmaassen handelt,
durchaus keinen begründeten Einwand bilden könnte. Dagegen sind
in der Folge noch verschiedene andere Bedenken geäussert worden,
die sich theils auf die Richtung der beobachteten Ströme, theils aber
auf die Möglichkeit beziehen, jene auf Temperaturänderungen der
Muskeln oder irgendwie vermittelte elektromotorische Wirkungen der
Haut zurückzuführen. In ersterer Beziehung wurde auf den Wider-
spruch hingewiesen, der darin liege, dass die Wirkung bei der Zu-
sammenziehung der Muskeln am Froschbeine absteigend, an den Armen
(und Füssen) des Menschen dagegen aufsteigend sein sollte. Du
Bois-Reymond fand nun am enthäuteten Unterschenkel des Kanin-
chens thatsächlich Spannungsdifferenzen im Sinne eines absteigenden
„Ruhestromes" und constatirte dementsprechend eine aufsteigende
negative Schwankung. Mit Rücksicht auf das, was vom Standpunkte
der Hermann'schen Theorie über Ströme von Muskelcomplexen , wie
sie ganze Extremitäten darstellen, gilt, ist allerdings weder dem ge-
nannten Einwände , noch auch dem von Du Bois-Reymond ge-
lieferten Nachweis der entsprechenden Schwankung am Kaninchen-
unterschenkel irgendwelche Bedeutung' beizumessen. In der von der
Pariser Akademie zur Prüfung des Du Bois-Reymond' sehen Ver-
suches am Menschen eingesetzten Commission hat dagegen der ältere
Bequerel zuerst einen Einwand gegen dessen Deutung erhoben, auf
Die elektromotorischen Wirkuno-en der Muskel
335
P
den wir noch etwas näher eingehen müssen, da er sich in der Folge
trotz des Widerspruchs von Seiten Du Bo is-Reyni ond's als durch-
aus begründet erwiesen hat. Nach BequereFs Meinung würde beim
Avillkürlichen Tetanus des Armes eine verstärkte Hautabsonderung
am Finger stattfinden, wodurch die elektromotorische Beschaffenheit
der Haut selber eine Veränderung erleiden könnte.
In der That zeigte sich, als Du Bois-Reymond auf Wunsch
Bequerel's die beiden Zeigefinger seinerHände erst dann indieZuleitungs-
gefässe tauchte, nachdem der eine Arm willkürlich angespannt und
wieder erschlafft war, „ein schwacher Ausschlag in derselben Richtung,
als ob bei eingetauchtem Finger derselbe Arm angespannt worden
wäre" ; doch wurde dieser Umstand auf die schon erwähnte lange
Nachwirkung der vermeintlichen negativen Schwankung bezogen. Für
entscheidend zu Gunsten seiner Anschauung hielt Du Bois-Rey-
mond jedoch vor Allem folgenden Versuch. Um örtlichen Seh weiss
hervorzurufen, wurden die Hand und der Unterarm in einen Gutta-
perchasack gesteckt, der unterhalb des Ellenbogens um den Arm zu-
gebunden wurde. Darüber wurde Hand und Unterarm noch mit einer
wollenen Decke umwickelt. Nach einiger Zeit wurde dann die
schweissbedeckte Hand mit der nor-
malen in bekannter Weise galvano-
metrisch verglichen, wobei sich
herausstellte, dass nicht, wie es
nach Bequerel's Ansicht zu er-
warten schien, die erstere negativ,
sondern umgekehrt positiv gegen die
letztere sich verhielt. Dass es sich
dem ungeachtet bei dem Du Bois-
R e y m 0 n d 'sehen Willkürversuch um
nichts weiter handelt, als um das Auf-
treten eines Secretionsstromes , hat
erst viel später L. Hermann fest-
gestellt, dem wir auch den ersten
sicheren Nachweis wirklicher, durch den Actionsstrom bedingter
vanischer Muskelwirkungen am lebenden menschlichen Körper ver-
danken. Im Anschluss an seine Untersuchungen (über die Actions-
ströme) an Froschmuskeln versuchte es Hermann zunächst an einer
einzelnen passenden Muskelgruppe, den hier zu erwartenden teta-
nischen decrementiellen Actionsstrom nachzuweisen, und wählte hierzu
den Vorderarm, indem er mittels geeigneter Elektroden vom dicken
Fleische und von der Gegend dicht über dem Handgelenk ableitete.
Die Elektroden bestanden aus dicken mit ZnS04 getränkten Seilen,
welche um die erwähnten Stellen des Armes herumgeschlungen wurden.
Es trat aber hier ebensowenig wie bei analogen Versuchen am Ober-
schenkel der erwartete absteigende Strom hervor, sondern nur geringe
und unregelmässige Ablenkungen. Es schien daher durchaus fraglich,
ob es an menschlichen Muskeln unter den bezeichneten Umständen
bei willkürlicher Erregung überhaupt zur Entwickelung eines decre-
mentiellen Actionsstromes kommt. Hermann wendete sich daher,
und zwar mit um so grösserem Erfolge, der Aufgabe zu, die phasi-
schen Actionsströme unter denselben Bedingungen, jedoch bei
künstlicher Reizung vom Nerven aus zu untersuchen (27). Wie oben
auseinandergesetzt wurde, lässt sich mittels des Rheotom Verfahrens
phasische
Fig. 125. Doppelsinnig
Actionsströme am menschlichen Vorder-
arm. Rechts eine unpolarisirbare Seil-
elektrode.
gal-
336 -^'6 elektromotorischen Wirkniigeu der Muskeln.
zwischen je zwei Punkten eines unversehrten, clirect oder indirect ge-
reizten Muskels ein doppelsinniger Strom nachweisen, dessen erste
Phase abnerval, dessen zweite adnerval gerichtet ist. In Folge des
Decrementes der Reizwelle im ausgeschnittenen Muskel erscheint die
zweite Phase merklich schwächer als die erste. Die Anordnung des Ver-
suches zeigt die beistehende Figur 125 nach Hermann. Die Reize
müssen so stark sein, dass kräftige Zuckungen der Vorderarmmuskeln
eintreten. Das Resultat, welches in dem Auftreten eines zwei-
p hasischen, zuerst absteigenden (atterminalen), dann
aufsteigenden (abterminalen) Actionsstromes besteht,
war so regelmässig, dass Hermann diesen Versuch als einen der sicher-
sten in der Elektrophysiologie bezeichnen durfte, „in welchem ausnahms-
weise einmal der Mensch schönere und weitergehende Resultate giebt, als
der Frosch". Auch bei Ableitung von dem oberen Theil der Vorderarm-
muskeln in der durch die Fig. 125 angedeuteten Weise liefert der
Versuch das zu erwartende Resultat, nämlich im Sinne der eingezeich-
neten Pfeile wieder zuerst eine atterminale (diesmal aufsteigende), dann
eine ab terminale (absteigende) Phase des Actionsstromes. Der „nervöse
Aequator", d. h. derjenige Muskelquerschnitt, „in den der gemeinsame
Schwerpunkt aller Nerveneintrittsstellen fallen Avürde, wenn letztere
ein gewisses, überall gleiches Gewicht hätten", liegt am menschlichen
Vorderarm ziemlich nahe dem Ellenbogen. Bemerkenswerth ist die
annähernde Gleichheit beider Phasen, Avoraus zu schliessen,
„dass ein Decrement der Erregungswelle am ganz nor-
malen, blutdurchströmten Muskel nicht existirt", woraus
sich unmittelbar erklärt, dass es nicht gelingt, beim Tetanisiren ohne
Rheotom mit Sicherheit Actionsströme nachzuweisen. Es kann daher
auch der bei willkürlicher Innervation von Du Bois-Reymond be-
obachtete aufsteigende Arm- und Beinstrom kein von den Muskeln
herrührender Actionsstrom sein. Dass es sich dabei im Sinne der ur-
sprünglichen Vermuthung Bequerel's um einen durch die Thätig-
keit der Hautdrüsen bedingten .,Secretionsstrom" handelt, haben
Hermann und Luchsinger in der Folge direct durch Versuche
erwiesen, auf welche noch näher einzugehen sein wird. Dass aber,
wie Du Bois-Reymond fand, bei gleichzeitiger Ableitung von einer
schwitzenden und einer trockenen Hand die erstere einen absteigen-
den Strom anzeigt, kann nicht als ein entscheidender Gegengrund an-
gesehen werden, da es nicht sowohl auf das vorhandene Secret, als
vielmehr auf den durch Nervenreizung vermittelten Secretions vo r-
gang selbst ankommt. Wie die Bernstein ' sehen Versuche über
die negative Schwankung, beziehungsweise die Actionssti'öme an Frosch-
muskeln, so bieten auch die Untersuchungen Hermann ' s am Vorder-
arm des Menschen erwünschte Gelegenheit zur Bestimmung der Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im normalen menschlichen Mus-
kel. Als wahrscheinlichster Werth derselben ergaben sich 10 — 13 m
in der Sekunde.
Matthias (30) ist es neuerdings gelungen, mittels des Hermann'-
schen Verfahrens der „Rheotachygraphie", dessen bereits oben gedacht
wurde, auch die Actionsströme des menschlichen Vorderarmes graphisch
darzustellen.
Es ist leicht ersichtlich, dass sich glattmuskelige Theile in Folge
des viel langsameren Ablaufs aller Erregungserscheinungen in vieler
Hinsicht besser zur Untersuchung der Actionssti'öme eignen würden.
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 337
als quergestreifte, an denen derartige Untersuchungen bisher fast
ausschliesslich angestellt wurden. So ist ohne Weiteres klar, dass bei
einer so langsamen Fortpflanzung der Contractionswelle wie etwa
im Ureter des Kaninchens die phasischen Actionsströme selbst ohne
Zuhülfenahme der Repetitionsmethode unmittelbar an einer empfind-
lichen Bussole nachweisbar sein würden. Leider ist aber die Zahl
der eventuell brauchbaren Objecte eine äusserst beschränkte , ins-
besondere desshalb, weil eine örtlich ausgelöste Erregung bei den
meisten glattmuskeligen Organen local beschränkt bleibt und sich nicht
fortpflanzt. Dagegen bildet der Herzmuskel, dessen physiologische
Eigenschaften ihm gewissermaassen eine Mittelstellung zwischen quer-
gestreiften Skeletmuskeln und glatten Muskelzellen verschafi'en ein
ausserordentlich geeignetes Object zur Untersuchung der galvanischen
Erscheinungen. Schon im Jahre 1855 beobachteten Kölliker und
H. Müller (31) die negative Schwankung bei der spontanen Con-
traction eines mit künstlichem Querschnitt versehenen Froschherzens
mittels des Multiplicators und entdeckten bald darauf, dass auch
secundäre Zuckung vom gleichen Pi-äparat aus zu erhalten ist, wenn
der Nerv eines stromprUfenden Froschschenkels in geeigneter Weise
über Längsschnitt und Querschnitt gebrückt wird. Bei jeder Systole
erfolgte eine Zuckung des Schenkels, und zwar derart, dass sie sich
immer nach der Systole der Vorkammern und um ein kaum merk-
liches Zeitmoment vor der Systole der Kammern einstellte. „Die
Zuckung am stromprüfenden Schenkel trat bald am Unterschenkel,
bald am Tarsus und den Zehen ein und war immer sehr deutlich als
einmalige vorübergehende Contraction." (1. c, p. 99.)
Später stellte sich dann heraus, dass derselbe Versuch auch am
gänzlich unversehrten Herzen von Erfolg begleitet ist und selbst
bei querer Lagerung des secundären Nerven über der Mitte der
vorderen Fläche der Kammer gelingt. Da, wie früher mitgetheilt
wurde, die Oberfläche des unversehrten Herzens isoelektrisch ist, so
beweist auch wieder die zuletzt erwähnte Beobachtung am stromlosen
Herzmuskel, dass die von Du Bois-Reymond seiner Zeit vertretene
Deutung der secundären Zuckung als einer Folgeerscheinung negativer
Schwankung nicht richtig sein kann, sondern dass die mit der Thätig-
keit des Muskels verknüpften elektromotorischen Wirkungen (Actions-
ströme) als auslösender Reiz auf den anliegenden Nerven gewirkt haben
müssen. Die von Kölliker und Müller entdeckten Thatsachen
wurden später von Meissner und Cohn bestätigt und erweitert (32).
Donders (33) wiederholte dann die Versuche über secundäre Er-
regung vom Herzen aus unter Anwendung der graphischen Methode.
Er verzeichnete bei Kaninchen und Hunden gleichzeitig die Herz-
schläge und die Contractionen eines stromprüfenden Froschschenkels,
dessen Nerv auf dem Herzen ruhte. Es zeigte sich, dass in der Regel
jede Systole eine einfache Zuckung des Schenkels auslöste. Aus-
nahmsweise sah Donders, wie vordem schon Kölliker und Müller,
die einfache Systole von einer secundären Doppel zuckung gefolgt.
Stets Hess sich auch hier nachweisen, dass die secundäre Zuck-
ung merklich früher eintrat, als dieprimäre Contraction
des Herzens (beim Kaninchen um etwa Vio Sekunde). Bei einem
eben getödteten Hunde, dessen rechter Vorhof noch schwach schlug,
betrug die Zeitdifi'erenz sogar Vit Sekunde. Dieselbe Thatsache con-
statirte auch wieder Nuel am Froschherzen. Beim Hunde konnte
Bieder mauu, Elektrophysiologie. 22
338
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
er mit Hülfe des physiologischen Rheoskops nachweisen, dass die Zu-
sammenziehung des Vorhofes ganz ebenso von einer elektromotorischen
Schwankung begleitet ist, wie die des Ventrikels, und dass der Zeit-
unterschied zwischen den beiden elektromotorischen Vorgängen dem der
Contraction beider Herzabschnitte ganz entspricht.
Um den zeitlichen Verlauf und die Form der die Thätigkeit des Herz-
muskels begleitenden, elektromotorischen Schwankung (der „Reizwelle")
genauer festzustellen, unternahmen fast gleichzeitig Enge Imann (34)
und M ar chand (35) Versuche am Froschherzen mittels des Bernstein-
schen Rheotoms. Der durch Abtrennung vom Vorhof ruhig gestellte
Ventrikel wurde entweder an der Basis oder an der Spitze mit je
einem einzelnen Inductionsschlag gereizt; wie nun auch die Lage der
abgeleiteten Strecke auf der Kammeroberfläche gelegen sein mochte,
wie immer ihre Länge und ihr Abstand vom Reizorte verändert wurde,
stets trat als erster Erfolg ein im Herzen vom Orte des
Reizes weg gerichteter Strom auf. Zum Nachweis dieser
Thatsache ist übrigens das Rheotom gar nicht nöthig. Der Galvano-
meterkreis kann dauernd geschlossen bleiben; bei genügender Länge
der abgeleiteten Strecke sieht man dann schon bei massiger Eraplind-
lichkeit der Bussole jedes Mal als
erste Wirkung des Reizes eine Ab-
lenkung des Scalenbildes in dem
angegebenen Sinne. Es folgt hieraus
zunächst , dass jeder Theil des
Kammermuskels während
der Erregung vorübergehend
negativ - elektromotorisch
wirksam wird und dass diese
Negativität sich (wie auch die
Contraction nach Engelmann 's
Untersuchung) vom Orte der
Reizung, gleichviel, wo dieser
gelegen ist, nach allen Rich-
tungen durch die Kammer
fortpflanzt. Mittels des Rheo-
toms Hess sich nun weiter feststellen, dass bei Ableitung der äusseren
Kammeroberfläche von zwei in der Ruhe unwirksamen, ungleich weit
vom Orte der Reizung entfernten Stellen das elektromotorische
Verhalten des Herzens in der Regel vollständig dem eines
parallel faserigen, gewöhnlichen, quergestreiften, von
zwei Längsschnittpunkten abgeleiteten Muskels ent-
spricht, indem in der Mehrzahl der Fälle eine doppelsinnige
Schwankung auftritt, und zwar derart, dass die dem Reizorte
näher gelegeneStelle zunächstnegativ unddann positiv
gegen die entferntere wird (Fig. 126). In einer nicht geringen
Zahl von Fällen fehlte jedoch die zweite (positive) Phase, und stellte sich
entweder der anfängliche indiff"erente Zustand wieder her, oder es hinter-
blieb eine schwache Nachwirkung im Sinne einer Negativität der dem
Reizorte näheren Stelle, die unter allen Umständen zuer st
negativ-wirksam wird. Das Fehlen der zweiten Phase in den
zuletzt erwähnten Fällen würde sich unter der Voraussetzung er-
klären lassen, dass die beiden Schwankungen zeitlich zu nahe bei-
sammenlagen, um sich deutlich sondern zu können. Denn bei kurzer ab-
Fig. 126. Doppelsinnige Schwankung
am Ventrikel des Froschherzens (Rheo-
tomversuch). N negative, P positive
Phase. Die Zeit (in Vio Sek.) ist vom
Momente der Keizung gerechnet. (Nach
Engelmann.)
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 339
geleiteter Strecke und normaler Fortpflanzungsgeschwindigkeit kann die
Negativitätswelle, wie leicht ersichtlich, an der zweiten Elektrode schon
anlangen, bevor an der ersten der Gipfel der Negativität noch erreicht
ist. Im Einzelnen ergiebt sich aus Engel mann 's Versuchen be-
züglich des zeitlichen Verlaufs der Schwankung, dass dieselbe am
Orte der Reizung anscheinend sofort nach Eintreffen
des Reizes, also ohne merkliche Latenz beginnt. Das
Stadium der steigenden Negativität hat durchschnittlich eine
Dauer von etwa 0,09 Sekunde, so dass, da der Beginn der Con-
traction nach Engelmann 's Messungen beim Froschherzen sicher
nicht früher als nach 0,1 Sekunde anhebt, das Maximum der Nega-
tivität, wie auch schon aus früher erwähnten Thatsachen hervorgeht,
sicher vor Anfang der Zuckung fällt.
Bemerkenswerth ist das conti nuirliche und ziemlich
geradlinige Ansteigen der Negativität, da es neuer-
dings beweist, dass die Systole eine einfache Zuckung
und nicht ein Tetanus ist. Gegentheilige Beobachtungen
hat Fredericq am Hundeherzen gemacht. Das Stadium
sinkender Negativität zeigt im Allgemeinen eine erheblich
längere Dauer und einen verwickeiteren Verlauf der Schwankungs-
curve. Kommt es wie in der Mehrzahl der Fälle zur Stromumkehr,
so eilt die Kraft durchschnittlich in ziemlich geradem Laufe vom
Maximum der Negativität aus dem Maximum der Positivität zu, um
von diesem allmählich auf Null zu sinken. Die Gesammtdauer
der Schwankung hängt von vielen Umständen ab. Bei doppel-
sinniger Schwankung fand sie Engelmann im Mittel zu 0,436, bei
einfacher zu 0,211 Sekunde. Die örtliche Dauer der negativ elektro-
motorischen Wirksamkeit wird hiernach durchschnittlich auf wenigstens
0,2 Sekunde veranschlagt werden dürfen. In Bezug auf die absolute
Grösse der elektromotorischen Kraft der Erregungsschwankung kann
zunächst soviel mit Sicherheit gesagt werden, dass sie von einer Ord-
nung mit der künstlicher Querschnitte ist. Bei Ableitung von natür-
lichem Längsschnitt und ganz f r i s c h hergestelltem, nicht zu kleinem
künstlichen Querschnitt beobachtet man niemals eine Stromumkehr
in Folge der Reizung, sondern nur Schwächung und höchstens gänz-
liches Verschwinden ; dagegen tritt Umkehr bei gesunkener manifester
Kraft sehr gewöhnlich ein, und zwar um so auffälliger, je tiefer die
Kraft gesunken ist. Die Geschwindigkeit, mit welcher die Nega-
tivitätswelle durch das Herz läuft, beträgt nach Engelmann etwa
20 bis 40 mm; doch dürfte dieselbe vor dem Herausschneiden des
Herzens wesentlich grösser sein und hängt ausserdem in hohem Grade
von der Temperatur ab. Bei Reizung des Ventrikels von
den Vorkammern aus und in der Ruhe unwirksamer Ableitung
der Kammer von Basis und Spitze wird zunächst die Basis
negativ, darauf — wenigstens häufig — positiv wirksam
gegen die Spitze. Dies zeigt sich sowohl bei spontan klopfendem
Herzen als bei künstlicher Erregung des Vorhofes. Da die Negativität
der Basis erst nach Ablauf der Vorhofcontraction anhebt, kann sie
nicht auf Erregung des Vorhofes bezogen werden, wogegen auch die
erhebliche Grösse der Wirkung, im Gegensatz zu der höchst ge-
ringen bei directer Ableitung von den Atrien, spricht. Man muss
demnach annehmen, dass die Erregung des Ventrikels unter
normalen Verhältnissen an der Basis beginnt.
22*
340
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Von den Resultaten Engelmann's und Marchand's weichen
jene nicht unerheblich ab , welche mittels der gleichen Methode
(Rheotom) B.-Sanderson und Page am Froschherzen erhielten (36),
indem sie die Actionsströme des vom Vorhof durch eine Ligatur
getrennten und mit einzelnen Inductionsschlägen gereizten Ventrikels
mittels eines (besonders hierzu construirten) Rheotoms untersuchten.
Auch bei diesen Versuchen zeigte sich, dass jede erregte Stelle
des Herzmuskels sich negativ verhält zu jeder nicht
erregten und dass sich der Vorgang der Erregung (bezw. die Ne-
gativität) vom Reizorte aus nach allen Seiten hin gleichmässig ver-
breitet, und zwar mit einer erheblich grösseren Geschwindigkeit, als
Engelmann angenommen hatte. Nach den Messungen von B. -San-
Fig. 127. b Schematische Darstellung der elektrischen Schwan-
kung bei einer künstlich hervorgerufenen Herzcontraction. (Nach
B.-Sanderson nnd Page.) Die ausgezogene Linie entspricht
dem Verlauf der Negativität an der dem Reizorte näher ge-
legeneu Elektrode. Die punktirte Curve dagegen der Negativi-
tät an der davon entfernten Ableitiingsstelle. Die mittlere Linie
markirt die Zeit in '/lo Sek. / 'N entspricht der negativen,
VF der positiven Schwankung am Rheotom von Bernstein.
l
derson und Page beträgt nämlich die Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der Negativitätswelle im Froschherzen bei etwa 12*^ C. 125 mm in
der Sekunde, während Engelmann nur 20 — 40 mm fand. An jedem
Punkte des Ventrikels erreicht die Negativität rasch eine gewisse
Höhe, auf der sie sich dann verhältnissmässig lange (mehr als
1 Sekunde) gleichmässig erhält, um hierauf langsamer wieder ab-
zusinken. Die Gesammtdauer der örtlichen Negativität beträgt bei
+ IS^C. 1,6" bei + 12« C. 2,1" (nach Engelmann im Mittel 0,2").
Es sind dies Zeitwerthe, welche ziemlich genau der
Contractionsdauer des Herzmuskels entsprechen. Wie
man leicht sieht, steht diese Thatsache in vollkommener Ueberein-
stimmung mit der (Hermann'schen) Theorie, der zu Folge ein Muskel-
punkt so lange negativ bleiben muss, als der Erregungs- (bezw. Con-
tractions-) Vorgang dauert. Man darf demnach erwarten,
dass die Oberfläche des Ve ntrikels während der Dauer
der systolischen Contraction isoelektrisch sein wird.
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
341
wie es thatsächlich nach den Versuchen von B. -Sanderson und
Page der Fall ist. Nehmen wir an, es sei in beistehender Fig. 127«
X die gereizte Stelle, f und m die beiden abgeleiteten Ventrikel-
punkte, so erfolgt nach jeder Reizung eine sehr rasch verlaufende
(nur wenige Hundertel einer Sekunde betragende) elektrische Schwan-
kung im Sinne eines vom Reizorte weggerichteten Stromes, die von
einer längeren (1 — 2") Periode gefolgt ist, während deren die Bussole
keinen Strom anzeigt; darauf folgt eine entgegengesetzte Phase der
Ablenkung (positive Schwankung), welche viel schwächer ist und
länger dauert, als die anfängliche „negative" Schwankung. Das Inter-
vall, welches beide Phasen trennt, entspricht genau der Dauer der
Ventrikelcontraction, so dass der eine (negative) phasische Actions-
strom den Beginn , der andere (positive) das Ende der Erregung
(Contraction) des Muskels markirt. OflPenbar entspricht die erste
Phase des Actionsstromes der (sehr kurzen) Zeit, während welcher
die Negativitätswelle sich bereits an der dem Reizorte zunächst-
Fig. 128. b Capillarelektrometer nach L. Fredericq.
gelegenen Ableitungsstelle befindet, aber die davon entferntere noch
nicht erreicht hat. Das darauffolgende Stadium der Stromlosigkeit
(und scheinbarer Ruhe) entspricht der Periode, während welcher beide
abgeleiteten Stellen sich im Maximum der Negativität (Erregung) be-
finden. Die positive Phase am Ende entspricht dem Zeitmomente,
wo die Negativität an der dem Reizorte zunächstgelegenen Ableitungs-
stelle bereits abnimmt, an der davon entfernteren aber noch unge-
schwächt fortdauert.
Figur 127 ^ giebt eine graphische Darstellung des zeitlichen Ver-
laufs der Reizwelle im Ventrikel des Froschherzens. So leicht
es ist, mit Hülfe der modernen, empfindlichen Galvanometer, die
von der durch die spontane oder durch künstliche Reizung bewirkten
rhythmischen Thätigkeit des Herzens erzeugten Spannungsdifferenzen
nachzuweisen, so bietet doch eine andere, in neuester Zeit vielbenützte
Methode der Untersuchung noch wesentliche Vorzüge. Es ist dies
die Untersuchung mit dem Capillarelektrometer. Dieses be-
reits vor längerer Zeit von Lippmann angegebene, aber erst viel
später von Physiologen benützte Instrument besteht im Wesentlichen
aus einem in eine feine Capillare ausgezogenen Glasrohr (Fig. 128 a und
342
Die elekti-omotorischen Wirkungen der Muskeln.
b, Ä), dessen offene Spitze in ein mit verdünnter Schwefelsäure ge-
fülltes Gefäss (B) taucht; auf dem Boden dieses letzteren wie in dem
Capillarrohr selbst befindet sich Q.uecksilber. Der Stand des Me-
niscus im Capillarrohr wird mit dem Mikroskop beobachtet. Tritt
ein Strom in der einen oder andern Richtung in die Capillare ein,
so erfolgt durch Oberflächenpolarisation eine Veränderung der Capil-
laritätsconstante und dementsprechend eine Verschiebung des Queck-
silbermeniscus. Selbst ausserordentlich schnellen Schwankungen des
Stromes vermag die Quecksilberkuppe in der Capillare noch zu folgen ;
ganz besonders aber erscheint das Instrument geeignet, die Actions-
ströme des Herzens zu untersuchen.
Marey (37) benützte dieses Instrument zuerst zu dem Zwecke,
die elektrische Phänomene, welche die Systole des Herzens begleiten,
festzustellen. Er fand, dass bei Ableitung vom Ventrikel des Frosches
oder irgend eines anderen Thieres das Elektrometer bei jeder Systole
eine einfache Oscillation zeigt. Wenn man das ganze Herz mit
demselben in Verbindung bringt, so sieht man zwei Oscillationen der
Quecksilbersäule. Die eine bezieht Marey auf die Systole der
Fig. 129. Photographische
Darstellung der Actions-
ströme des Herzens a vom
Frosch , b von der Schild-
kröte. Die Zeitnaarken ent-
sprechen Sekunden. (Nach
Marey.)
Vorhöfe, die andere auf die des Ventrikels. Es gelang Marey
auch , diese Bewegungen zu fixiren , indem er das Bild der Queck-
silberkuppe auf einer sehr lichtempfindlichen und mit gleichmässiger
Geschwindigkeit bewegten Platte photographirte. Marey schliesst
aus diesen Versuchen, dass mit jeder Systole nur eine einfache
Stromesschwankung ablaufe (Fig. 1 29 a und h). B. S a n d e r s o n und
Page haben sich dieses Hülfsmittels bedient, um ihre Rheotomver-
suche zu controlHren und zu ergänzen. In der That stellte sich nun
eine weitgehende lieber einstimmung der auf Grund der
Rheotomversuche „theoretisch construirten" Sc h wan-
kung scurve des an einer Stelle gereizten Ventrikels
des Froschherzens mit jener heraus, welche die Queck-
silbersäule des Capillarelektrometers auf das licht-
empfindliche Papier zeichnete. Dies ergiebt sich unmittel-
bar aus der Vergleichung der beiden Figg. 127 & und 130«. Man er-
kennt an dem Photogramm, dass der erste „phasische Actionsstrom"
der Erregung nach einem sehr kurzen Intervall folgt, indem die
Herzspitze sehr rasch und für äusserst kurze Zeit sich positiv zur
Basis des Ventrikels verhält, worauf ein längeres Intervall folgt,
während dessen das Elektrometer keine Ablenkung zeigt; daran
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskelr
343
schliesst sich unmittelbar die etwas längere zweite (positive) Phase
des Actionsstromes, Avobei die Spitze negativ zur Basis sich verhält.
Bei Verletzung des Ventrikels an einer der beiden Ableitungsstellen
fällt natürlich die eine Phase weg, die Schwankung wird monopha-
siscli (Fig. 130 &) und rein negativ. Aehnliche Photographien vom
spontan schlagenden Herzen sind auch noch von andern Forschern
veröffentlicht worden, und es möge hier noch eine solche Figur von
Waller raitgetheilt sein, die auf den ersten Blick sehr verschieden,
doch im Wesentlichen mit den Ergebnissen von Sanderson und
h
Fig. 130. a Photographische Darstellung der Actionsströme des Froschherzens bei
künstlicher Reizung (wie in Fig. 127 «). Die Unterbreeiiungen der dunklen Linie
markiren die Reizmomente, ö Photographische Darstellung des Actionsstromes nach
Verletzung der Spitze des Ventrikels. Die Schwankung wird dadurch monophasisch.
(Nach Burdon-Sanderson und Page.)
Page übereinstimmt (Fig. 131). Es handelt sich dabei um eine gleich-
zeitige Verzeichnung der Contractionscurve h h und der durch den
Actionsstrom des spontan schlagenden Froschventrikels bedingten Aus-
schläge des Capillarelektrometers c e. Man sieht, dass die erste Phase
des Actionsstromes merklich früher beginnt, als die Contraction, dass
das Maximum der Spannungsdifferenz zwischen Basis und Spitze ent-
sprechend Negativität der ersteren (Herabgehen der Hg-Kuppe) lange
vor dem Maximum der Contraction erreicht wird, worauf dann als
zweite Phase ein umgekehrter Strom entsteht, indem die^^ Spitze
negativ gegen die Basis wird. In Fig. 131 bezeichnet t die Zeit in
344
Die elektromotorischen Wirkungfen der Muskeln.
V20 Sekunden. Das Capillarelektrometer war mit der Basis und Spitze
der Herzkammer so verbunden, dass sein Ausschlag nach unten ge-
richtet war, wenn die Basis negativ elektrisch gegen die Spitze ist.
Fig. 132.
Fig. 131.
Fig. 131. Zuckungscurve (h) nnd Actionsstror
(e) des spontan schlagenden Froschherzens.
(Nach Waller.)
Fig. 132. Photographische Darstellung der
Actionsströme des Säugethierherzens mit dem
Capillarelektrometer untersucht. 1 Spontaner
Herzschlag; die erste Phase entspricht Nega-
tivität der Spitze gegen die Basis, die zweite
dem umgekehrten Verhalten. 2 Nach Ver-
letzung der Spitze des Ventrikels. 3 Nach
Verletzung der Basis des Ventrikels. 4 Reiz-
erfolg bei künstlicher Erregung der Spitze.
5 Eeizerfolg bei künstlicher Erregung der
Basis. (Nach A. D. Waller.)
das Froschherz verhält sich auch das
und nach den Untersuchungen von August
Ganz analog wie
Schildkröten herz
Waller und Reid (39) das Herz der Warmblüter (Säuge
thiere). Bei künstlicher Reizung des ausgeschnittenen, bereits zur
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
345
Ruhe gelangten Ventrikels verhält sich dann wieder von den zwei
Ableitungsstellen die dem Reizorte näher gelegene zunächst negativ
und unmittelbar darauf positiv zu der entfernteren, und es entsteht
daher gerade wie beim Froschherzen unter gleichen Verhältnissen
eine doppelsinnige Schwankung in Folge der beiden phasischen
Actionsströme. In Folge der wesentlich grösseren Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der Erregung im Herzen der Warmblüter und der
Kürze der Contractionsdauer gehen jedoch die beiden Phasen ähnlich
wie beim quergestreiften Skeletmuskel unmittelbar in einander über.
^-"^N
N
/ t T-
\
( 1
- //
Fig. 133. Schematische Darstellung der durch die Actionsströme des menschlichen
Herzens bedingten Spannungsvertheilung (Stromcurven). (Nach A. D. Waller.)
Fig. 132, welche Photogramme der Ausschläge des Capillarelektro-
meters von einem normal schlagenden und einem künstlich gereizten
Säugethierherzen darstellt, lässt deutlich erkennen, dass jeder Phase
eine einfache Schwankung im Sinne einer einzelnen Erregungs-
welle entspricht. Auch bei der spontanen Thätigkeit des Säugethier-
herzens lässt das Capillarelektrometer bei Ableitung von zwei Punkten
des Ventrikels (Basis und Spitze) normaler Weise eine doppelsinnige
Schwankung erkennen. Während aber in diesem Falle beim Frosch-
herzen stets zuerst die Basis negativ wird, entsprechend der
unveränderlich von der Basis zur Spitze fortschreitenden Reiz- bezw.
346
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Contractiotiswelle, scheint dieses zwar auch beim Warmblüterherzen
die Regel zu sein, wie besonders neuere Versuche von Bayliss und
Starling (40) zeigen, doch kommen angeblich Ausnahmen vor, indem
entweder umgekehrt die Spitze früher negativ wird als die Basis, ein
Verhalten, das Waller (1. c.) für das normale hielt, oder überhaupt
nur eine einsinnige Schwankung auftritt. In diesem letzteren Falle
dürfte es sich wohl meist um eine Schädigung der einen Ableitungs-
stelle durch Verletzung etc. handeln. Bayliss und Starling (1. c.)
geben an, dass es gelingt, willkürlich durch ungleichmässige Erwär-
mung bezw. Abkühlung des Ventrikels am spontan schlagenden Hunde-
Fig. 134. Schema der
durch die Actionsströme
des Herzens bedingten
Spannungsvertheilung
an der Körperoberfläche
beim Menschen und beim
Hunde. Die dunkler ge-
haltenen Partieen ent-
sprechen Ableitung von
der Herzspitze, die hel-
leren Ableitung von der
Basis.
(Nach A. D. Waller.)
herzen die Richtung der beiden zusammengehörigen phasischen Actions-
ströme umzukehren. Es genügte hierzu schon Erwärmung bezw. Ab-
kühlung der Inspirationsluft.
Mittels des Capillarelektrometers gelingt es, die phasischen
Actionsströme des Herzens auch am unversehrten Körper eines
Thieres oder des Menschen nachzuweisen , indem man entweder bei
Thieren zwei dünne Nadelelektroden durch die Brustwandung in den
Ventrikel stösst und diese mit dem Gapillarelektrometer verbindet oder
von verschiedenen Punkten der Körperoberfläche ableitet (41). Ab-
leitung vom Munde entspricht in diesem Falle der Ableitung von der
Basis, Ableitung vom Rectum oder einer Hinter- (Unter-) Extremität
der Ableitung von der Spitze des Herzens. Ausserdem erwiesen sich
noch folgende Combinationen von Ableitungsstellen als günstig (beim
Menschen) (vergl. Figg. 1 33 und 134):
Die elektromotorischen Wirkunoren der Muskeln.
347
linke Hand und rechte Hand
rechte Hand und linker Fuss
Mund und linke Hand } Fig. 134.
„ und rechter Fuss
„ und linker Fuss
Ungünstig verhielten sich:
linke Hand und linker Fuss
„ „ und rechter „
rechter Fuss und linker „
Mund und rechte Hand.
Diese Thatsachen erklären sich aus dem Verlauf der (den Actions-
strömen des Herzens entsprechenden) Ströraungs- bezw. Spannungs-
curven im Körper. Bei Scäugethieren bedingt die annähernd mediane
Lage des Herzens keine so auffallende Assymetrie in der Vertheilung
Fig. 135. Gleichzeitige Darstellung des Cardiogramms (/* /*) und der Actionsströme
des Herzens vom Menschen (e e) mittels des Capillarelektrometers.
(Nach A. D. Waller.)
der Spannungsdifferenzen, welche durch die Thätigkeit des Herzmuskels
bedingt sind. Stets handelt es sich auch bei diesen Versuchen um
doppelsinnige oder gar dreiphasische Ausschläge (Fig. 135), und zwar
würde nach Wall er 's ersten Beobachtungen stets die Herzspitze
zuerst negativ, entsprechend einem basalwärts gerichteten Verlauf der
Reizwelle.
Die ausserordentliche Empfindlichkeit des Capillarelektrometers
und besonders die Schnelligkeit seiner Reaction ermöglichen es nun
auch, mit Hülfe desselben die Actionsströme des quergestreiften
Skeletmuskels bei tetanisirender Reizung direct sichtbar zu machen.
Verbindet man das CapiUarelektrometer mit der secundären
Spirale eines Inductionsapparates , so erzeugt natürlich jede Unter-
brechung oder Schliessung des primären Kreises eine deutlich sichtbare
Verschiebung des Meniscus in der Capillare (bei entsprechendem Rollen-
abstand). Bei schwingendem Neff sehen Hammer verschmelzen die
einzelnen Oscillationen für das Auge zu einem grauen Saume, der
bei geringer Stromstärke das vorher scharfe Bild der Hg-Kuppe wie
verwaschen erscheinen lässt und bei grösserer Stromstärke in mess-
barer Höhe auf dasselbe sich aufsetzt. Bei Anwendung eines ent-
sprechend rasch unterbrochenen Kettenstromes von gleichbleibender
348 I^iß elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Richtung erleidet der Meniscus ausserdem eine Gesammtverschiebung
in der Richtung des Stromes, Diese sowohl wie die Oscillationen
werden um so kleiner, je grösser die Zahl der Unterbrechungen ist
— und umgekehrt. Um bei hohen Frequenzen neben der Gesammt-
verschiebung den grauen Saum erscheinen zu sehen, bedarf es einer
viel grösseren Stromstärke, als bei geringer Zahl der Unterbrechungen
(Marti US, 42). Dies ist für die Beurtheilung der mit dem In-
strument gemachten Beobachtungen wesentlich, denn es kann ein von
elektromotorischen Wirkungen begleiteter physiologischer Vorgang im
Capillarelektrometer sich nur durch eine Gesammtverschiebung ohne
Oscillationen anzeigen, obschon es sich um unstetige Stromes-
schwankungen handelt, die nur deswegen am Meniscus nicht sichtbar
werden, weil entweder für die vorhandene elektromotorische Kraft die
Frequenz der Oscillationen zu gross oder in Anbetracht der Frequenz
die elektromotorische Kraft zu gering ist. Um nun die raschen Os-
cillationen des Meniscus sichtbar zu machen, giebt es zwei Wege;
einmal könnte man daran denken, die Schwingungen auf einer
entsprechend rasch bewegten lichtempfindlichen Platte
zu photographiren, was bei dem gegenwärtigen Stande der
Momentphotographie keinen unüberwindlichen Schwierigkeiten be-
gegnen dürfte. Leider wurde eine planmässige Untersuchung der
Actionsströme der Skeletmuskeln nach dieser Methode bisher nicht
unternommen. Andererseits kann man Form und Verlauf der Bewe-
gung des Meniscus durch Anwendung der stroboskopischen
Methode direct (verlangsamt) sichtbar machen. Martins (1. c. p.
590 ff.) befestigte an die Spitze des Schreibhebels eines sehr beweg-
lichen elektromagnetischen Schreibapparates (Pfeil' s Chronograph)
an Stelle der Schreibspitze ein viereckiges Papierblättchen von 1 qcm
Grösse. Schaltet man diesen Apparat in den Unterbrecherkreis ein,
so schwingt der Schreibhebel in der Periode der unterbrechenden
Feder mit. Das Papierblättchen zeigt dann bei genügender Frequenz
an seinem oberen und unteren Rande einen breiten, grauen Saum,
während das Blättchen selbst in Ruhe zu verharren scheint. Be-
trachtet man nun den oscillirenden Meniscus des Capillarelektrometers
durch den unteren oder oberen grauen Saum, so verschwinden die
Oscillationen des Meniscus und derselbe erscheint ganz scharf und
unbeweglich, wenn erunddasBlättchen in derselben Pe-
riode schwingen. Da nun die Oscillationen beider durch den-
selben Unterbrecher hervorgerufen werden, so ist bewiesen, dass das
Quecksilber keine eigene Schwingungsperiode hat, sondern genau den
Oscillationen des Unterbrechers folgt, wenn (bis zu 100 pro Sekunde)
bei jeder Frequenz der letzteren die vorher sichtbaren Schwingungen,
resp. der graue Saum des Meniscus durch das Stroboskop für das
Auge ausgelöscht werden können. Es ist klar, dass man mit Hülfe
dieser Methode leicht die unbekannte Frequenz periodischer Stromes-
schwankungen, die durch die Oscillationen des Meniscus sich anzeigen,
objectiv genau bestimmen kann, wenn man zwei Unterbrecher an-
w^endet, deren einer mit dem Capillarelektrometer, der andere mit
dem Stroboskop zu je einem gesonderten Kreise geschlossen ist.
Stimmen die Schwingungsperioden der beiden Unterbrecherfedern ge-
nau überein, so werden die Oscillationen des Meniscus ausgelöscht.
Differiren sie, so treten Interferenzen ein, aus denen die Grösse der
Schwingungsdifferenz beider Federn sich leicht berechnen lässt
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
349
(Marti US 1. c. p. 591). Sei beispielsweise die Schwingungszahl der
Stroboskopfeder bekannt und betrage sie 18 in der Sekunde. Beob-
achtet man nun anstatt der frequenten, ohne Hülfsmittel unzähl-
baren Oscillationen des Meniscus durch den Saum des Stroboskops
nur zwei regelmässige Schwankungen des Meniscus in der Sekunde,
so folgt daraus, dass die beiden Unterbrecherfedern um zwei Schwin-
gungen differiren. Zur Prüfung der physiologischen Anwendbarkeit
der Methode leitete Martins (1. c. p. 592) vom Querschnitt und
Längsschnitt des Gastrocnemius vom Frosche, mittels unpolarisirbarer
Elektroden zum Capillarelektrometer ab und compensirte den Ruhe-
strom. Bei Reizung des Ischiadicus mit 18 Oeffnungsinductschlägen
in der Sekunde gerieth der Meniscus in sehr regelmässige, deutliche
Oscillationen; wurde dann das Stroboskop in den primären Kreis des
Inductionsapparates eingeschaltet, so dass das Blättchen synchron mit der
Anzahl der Reize vibrirte, so wurden die Oscillationen des Meniscus
Fig. 136. Photographische
Darstellung der Actions-
ströme des M. gastrocne-
mius vom Frosch im Strych-
nintetanus. c c Contrac-
tionscurven. (Nach D e 1 -
aux.)
ausgelöscht: ein Beweis, dass jedem Reizstoss eine negative Stromes-
schwankung im Muskel, jeder negativen Schwankung aber eine Oscilla-
tion des capillaren Meniscus entsprach. Ebenso verhielt es sich bei
einer Reizfrequenz von 30 pro Sekunde. Versuche, auf dieselbe Weise
den Strychnintetanus , den Krampf bei elektrischer Rückenmark-
reizung, sowie die willkürlichen und Reflexbewegungen des Frosches zu
analysiren, sind leider in ausgedehnterer Weise bisher nicht ange-
stellt worden. Die Angaben von Loven (43), welcher bei Frosch
und Kröte die willkürliche Muskelcontraction mittels des Capillar-
elektrometers zu analysiren versuchte und dabei zu sehr auffallenden
Ergebnissen gelangte, sind neuerdings auch von Kries bestätigt
worden.
Loven glaubt sich überzeugt zu haben, dass sowohl die
dauernde willkürliche Zusammenziehung der Krötenmuskeln, wie
auch der Strychninkrampf dieses Thieres, wie des Frosches, von sehr
ausgesprochenen und ziemlich regelmässigen Stromesschwankungen
begleitet sind. Die Zahl derselben war auffallend gering (etwa 8 in
der Sekunde). Dass so seltene Einzelzuckungen zu einer scheinbar
350 I^iß elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
stetigen Contraction sollten verschmelzen können, ist um so be-
merken swerther, als bekanntlich 20 Reize und mehr in der Sekunde
erforderlich sind, um beim Frosch auf elektrischem Wege einen voll-
kommenen Tetanus zu erzeugen und nach v. Limbeck's Unter-
suchungen selbst noch 34 Reize, auf das Rückenmark wirkend, auf den
Muskel übertragen werden. Loven sieht sich daher zu der Annahme
gezwungen, dass die durch den Willen beherrschten Einzelzuckungen
viel langsamer verlaufen, als die elektrisch ausgelösten. Mit diesen
Beobachtungen stehen auch die Angaben von Delsaux (44) in Ueber-
einstimmung, welcher, wie die beistehenden Figuren (Fig. 136 a und 1))
zeigen, mittels des Capillarelektrometers im Strychnintetanus nur
etwa 5 Oscillationen in der Sekunde am Gastrocnemius des Frosches
beobachtete. Bei gleichzeitiger .Verzeichnung der Gestaltveränderungen
und der elektrischen Schwankungen des Muskels zeigte sich eine voll-
kommene Uebereinstimmung beider.
Da das Telephon sich ähnlich wie das Capillarelektrometer
durch eine ausserordentliche Empfindlichkeit für kurzdauernde Ströme
(Stromschwankungen) auszeichnet, so lag die Anwendung desselben
zum Nachweis der Actionsströme der Muskeln nahe. Hermann (45)
prüfte das Telephon zuerst daraufhin, konnte aber nichts von Actions-
strömen hören. Dagegen gelangten Bernstein und Schoenlein
1881 (46) zu positiven Ergebnissen mit dem Siemens'schen Telephon.
Wurden gleichzeitig 4 — 6 Froschgastrocnemien in wirksamer Anord-
nung auf unpolarisirbare Elektroden (Bäusche) gelegt und deren Nerven
gemeinsam und gleichzeitig gereizt, so hörte man ein „deutliches Knat-
tern" im Telephon, das bei anhaltender Reizung an Deutlichkeit ab-
nahm. Weitere Untersuchungen wurden an Kaninchen angestellt.
Die Wadenmuskeln wurden entweder blossgelegt und mittels unpolari-
sirbarer Elektroden mit dem Telephon verbunden, oder es wurden
einfach Metallnadeln durch die Haut in den Muskel eingestochen und
von diesen zum Telephon abgeleitet (Bernstein 47). In beiden
Fällen erhält man gut wahrnehmbare Töne, wenn der vorher durch-
schnittene N. ischiadicus tetanisirt wird. Es wurde bei Erregung mit
dem akustischen Stromunterbrecher gefunden, dass die Zahl der Reize
700 in der Sekunde erreichen kann, wobei im Telephon der dem
Unterbrecher entsprechende Ton mit musikalischer Reinheit zu hören
war. Jeder in ein zweites Telephon (Reiztelephon für den Ischiadicus)
hineingesungene Ton war deutlich vom Muskeltelephon wahrzunehmen
mit der der Stimme charakteristischen Klangfarbe. Auch nach
Strychninvergiftung vernahm man im Telephon beim Ausbruch der
Krämpfe mit Deutlichkeit einen tiefen, singenden Ton.
Später gelang es Wedenski (48), auch die Actionsströme eines
einzelnen Gastrocnemius vom Frosch bei erhaltener Circulation und
Ableitung mittels zweier Stecknadeln zum Telephon zu hören, und
zwar sowohl bei künstlichem, elektrischen Tetanus, wie auch bei will-
kürlicher Contraction und bei chemischer Reizung des Nerven.
Hesselba ch, welcher unter Bernstein's Leitung arbeitete,
zeigte, dass auch schon bei einer einfachen, durch einen einzelnen
Inductionsschlag ausgelösten Zuckung ein telephonisch nachweisbarer
Schall entsteht, was mit Rücksicht auf die Entstehung des ersten
Herztones und der Natur der systolischen Contraction von Wichtig-
keit ist. Zur Ausschliessung jedes Reflexes und der willkürlichen
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 351
durchschnitten; durch zwei nadelförraige , in den Wadenmuskel ein-
gestochene Elektroden wurden einzehie Inductionsschläge zugeführt.
Man hört dann mit dem Stethoskop bei jeder Zuckung einen deut-
lichen, momentanen, dumpfen Schall, und es war dies auch dann noch
der Fall, wenn durch Eingypsen der Extremität jede Formänderung
und Verschiebung des Muskels ausgeschlossen wurde. Von dem mit
dem Ohre direct vom Muskel gehörten „mechanischen Zuckungs-
schall" ist der durch die begleitende Stromesschwankung erzeugte
„elektrische ZuckungsschaU" zu unterscheiden, der übrigens nach
Bernstein mit jenem zeitlich zusammenfällt. Bernstein folgert
daraus, dass wir bei der Wahrnehmung der Muskelgeräusche oder
-Töne keineswegs die Zuckungs- oder Contractionsvorgänge hören,
sondern denjenigen Molekularprocess , dessen elektrischer Ausdruck
die Actionsströme sind, wobei allerdings vorausgesetzt wird, dass
die elektrische Schwankung der Contraction als Ganzes voraus-
eilt, was nach früheren Auseinandersetzungen mit Grund bezweifelt
werden darf.
Es wurde schon früher bemerkt, dass zwar jeder contrahirte
Muskel als im Zustand der Erregung befindlich angesehen werden
muss, dass aber nicht umgekehrt die Erregung immer auch von ent-
sprechenden Gestaltveränderungen begleitet sein muss. Von diesem
Gesichtspunkte aus erscheint es daher auch nicht unmöglich, dass elek-
trische Wirkungen unter Umständen ohne begleitende Contractions-
erscheinungen auftreten. Dass dies bei passiver Verhinderung der
Muskelverkürzung der Fall ist, ist ja längst bekannt, und auch am
Vorhof des Herzens verhindert, wie Fano und Fayod (49) zeigten,
Spannung bis zur Unbeweglichkeit keineswegs die Entstehung rhyth-
mischer Actionsströme, und ebensowenig ist dies der Fall während des
systolischen Stillstandes nach Digitalinvergiftung. Hierher gehört
vielleicht auch die Beobachtung von Kühne (50), wonach mit NHg-
Dämpfen behandelte und bis zur stärksten Verkürzung gebrachte
Muskeln hinterher häufig sehr auffallende secundäre Wirkungen liefern,
wenn sie auch selbst gar keine erkennbaren Bewegungen mehr aus-
führen. Es geschieht dies während des Anlegens eines neuen Quer-
schnittes, wobei man den Eindruck empfängt, als ob noch sehr wirk-
same Erregungswellen im Muskel abliefen, ohne von Contractionswellen
gefolgt zu sein. Aehnliche Beobachtungen habe ich selbst an dem
Schliessmuskel der Krebsscheere gemacht, worauf unten noch näher
einzugehen sein wird.
Beachtenswerth ist die Bemerkung von Fano und Fayod, dass
der „elektrische Puls" des Vorhofs des Schildkrötenherzens bei
Immobilisiren durch Spannung an Stärke sogar zunehmen
kann; man wird hierbei sofort an den so wesentlichen Einfluss er-
innert, welchen die Spannung auf die gesammten Umsetzungen im
Muskel besitzt, was sich bekanntlich sowohl in Bezug auf die mecha-
nischen Leistungen, wie auch in Bezug auf das thermische Verhalten
in so auffallender Weise äussert. Hierher gehört wohl auch der för-
dernde Einfluss der Spannung gewöhnlicher quergestreifter Stammes-
muskeln auf deren secundäre Wirksamkeit (51). Meissner und
Cohn hatten bereits beobachtet, dass bei indirecter Muskelreizung die
Grösse der secundären, reizenden Wirkung zunimmt, wenn der pri-
märe^ Muskel im ausgedehnten Zustand in Tetanus versetzt wird ; auch
— ' - - . - . . . . wenn man Mus-
352 I^ie elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
kein benützt, deren Erregbarkeit merkh'ch abgenommen hat. Es ist
dies wesentlich, weil erfahrungsgemäss bei hoher Erregbarkeit des
primären Präparates die secundäre Zuckung schon bei geringer Reiz-
stärke maximale Werthe erreicht. In einem gewissen Stadium der
Erschöpfung, wie insbesondere nach längerer Erwärmung, verlieren
erfahrungsgemäss Muskeln (Gastrocnemius von Rana temporaria) voll-
ständig die Fähigkeit, unbelastet secundäre Zuckungen auszulösen,
obschon selbst schwache Reizung vom Nerven aus noch kräftige
primäre Zuckungen bewirkt; selbst bei stärkerer Reizung und An-
wendung höchst empfindlicher secundärer Präparate bleibt dann jede
Wirkung auf die letzteren aus. In jedem solchen Falle wird nun aus-
nahmslos die secundäre Wirksamkeit des primären Warmmuskels durch
Belastung oder in anderer Weise bewirkte Dehnung sofort wieder
hergestellt, um momentan wieder zu schwinden, sobald diese beseitigt
wird. Bis zu einer gewissen Grenze wächst die Grösse der secundären
Zuckung mit der Stärke der Belastung , doch wird sie sehr rasch
maximal, und es lässt sich daher ohne Weiteres nicht entscheiden, ob
die Momente, welche während der Dehnung die secundäre Wirksam-
keit in so hohem Grade befördern, auch weiterhin bei immer zu-
nehmender Belastung noch eine Steigerung erfahren. Auch an dem
parallelfaserigen Sartorius lässt sich dieser Einfluss der Spannung sehr
gut demonstriren. Da es keinem Zweifel unterworfen sein kann, dass
die secundäre Wirkung eines Muskels auf den anliegenden Nerven eines
andern nur durch die direct oder durch Nervenreizung in jenem aus-
gelösten elektrischen Schwankungswellen zu Stande kommt, so kann
es sich bei einer Veränderung der secundären Wirksamkeit im posi-
tiven Sinne nur um zwei verschiedene Möglichkeiten handeln: ent-
weder es werden die Bedingungen für Abgleichung der vorhandenen
Spannungsdifferenzen durch den anliegenden Nerven günstiger, oder
es ändert sich die Grösse, Form und Geschwindigkeit des Ablaufes
der Wellen in einer die Erregung des ersteren begünstigenden Weise,
Dass die ersterwähnte Möglichkeit für die hier vorliegenden Fälle
nicht in Betracht kommt, dürfte schon daraus zu schliessen sein, dass
die Versuche ebenso gut bei Anwendung regelmässig gebauter Mus-
keln gelingen, wie mit dem gewöhnlichen Nerv - Muskelpräparat.
Zudem kann man durch Veränderung der Lage des secundären Nerven
auf der Oberfläche des primären Muskels die äusseren Bedingungen
für Auslösung secundärer Zuckungen während der Dehnung so un-
günstig als möglich gestalten, sei es, dass man denselben nur in kurzer
Ausdehnung den Muskel berühren lässt oder ihn quer oder ringförmig
anlegt, ohne in der Mehrzahl der Fälle den Erfolg zu beeinträchtigen.
Es dürfte daher lediglich die andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen
sein, und käme es darauf an, Grösse, Form und Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der elektrischen Schwankungswelle im ungedehnten
und gedehnten Muskel vergleichend zu untersuchen. Heidenhain
hat bekanntlich zuerst gezeigt, dass der als Wärme erscheinende Antheil
der bei Coutraction sich entwickelnden lebendigen Kräfte in höchst auf-
fälliger Weise von der Spannung des Muskels abhängt, derart, dass
bis zu einer gewissen Grenze die Wärmebildung mit der Belastung
wächst. Es erscheint daher der Gedanke naheliegend, dass durch die
Spannung auch jener Theil der Kräftesumme, welcher als Elektricität
in Form der die Erregung begleitenden Actionsströme erscheint, in
gleichem Sinne beeinflusst wird. Die Versuche von Lamansky
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 353
(Pflügers Arch. III. p. 193), Avelcher eine Zunahme der negativen
Schwankung am Gastrocnemius bei wachsender Belastung beobachtete,
würden diese Annahme zu unterstützen geeignet sein, wenn nicht die
ausschliessliche Benützung des unregelmässig gebauten Gastrocnemius
Bedenken aufkommen Hesse, auf welche bereits Du Bois-Reymond
aufmerksam machte.
Wenn die angedeutete Auffassung richtig ist, so darf man er-
warten, dass auch noch andere Momente, durch welche erfahrungs-
gemäss die Leistungsfähigkeit des Muskels gesteigert wird, dessen
secundäre Wirksamkeit erhöhen. Es wurde früher des günstigen Ein-
flusses gedacht, welchen unter Umständen wiederholte Reizung bei
gleichbleibender Intensität auf die mechanische Leistungsfähigkeit
des Herzens und der Skeletmuskehi besitzt, indem es im Beginn einer
Zuckungsreihe zur Bildung einer „Treppe" kommt. Es scheint nun,
dass auch die elektromotorischen Wirkungen unter gleichen Umständen
bisweilen eine erhebliche Steigerung erfahren. Verwendet man als
primäres Präparat gut erregbare Gastrocnemien von Kaltfröschen, so
sieht man, gleichgültig, ob dieselben belastet werden oder unbelastet
bleiben, bei langsamer rhythmischer Reizung durch Schliessen und
Oeffnen des primären Kreises eines Inductionsapparates eine mehr
oder minder gedrängte Reihe von Zuckungen entstehen, deren jede
auch von einer secundären Zuckung gefolgt ist, so dass der Be-
ginn der Reihe der primären Zuckungen mit dem der secundären
Zuckungsreihe zeitlich zusammenfällt. Summiren sich schliesslich bei
beschleunigter Reizfolge die primären Zuckungen zu einem ruhigen,
gleichmässigen Tetanus, so ist in der Regel das Gleiche auch bei dem
secundären Präparat der Fall. Der primäre Tetanus löst einen zeit-
lich mit ihm zusammenfallenden secundären aus. Wesentlich ver-
schieden verhält sich dies, wenn man sich eines Warmmuskels als
primären Präparates bedient, der im un gedehnten Zustande auch
bei stärkster Reizung keine secundären Einzelzuckungen auszulösen
vermag. Es hängt dann, abgesehen von dem jeweiligen Erregbarkeits-
zustande des Präparates, lediglich von der Grösse der die einzelnen
Reizmomente von einander trennenden Zeitintervalle ab, ob die secun-
däre Unwirksamkeit des Muskels auch während der ganzen Dauer
des unvollkommenen Tetanisirens bestehen bleibt oder nicht.
In der Regel beginnt, während der ström prüfende
Nerv unverändert d er Oberfläche des primären Muskels
anliegt, dieser letztere je nach Umständen nach einer
kürzeren oder längeren Reihe Wirkung sloserZuckungen
das secundäre Präparat zu erregen. Die Zuckungen des-
selben, Anfangs klein, nehmen rasch an Grösse zu und
können in der Folge die des primären Präparates um
ein Vielfaches übertreffen.
Da die Contractionen eines Warmmuskels in einem gewissen
Stadium der Ermüdung gedehnter verlaufen, wobei insbesondere die
Wiederverlängerung eine immer grössere Zeit in Anspruch nimmt, so
kann es geschehen , dass selbst bei nur massig rascher Aufeinander-
folge der Einzelreize die Zuckungen des unbelasteten primären Prä-
parates zu fast stetigem Tetanus verschmelzen, während mächtige und
völlig gesonderte secundäre Zuckungen allein die jedem Reizanstosse
entsprechenden inneren Veränderungen des Muskels erkennen lassen,
ähnlich wie dies auch bei einem straff ausgespannten Muskel der Fall
Biedermann, Elektrophysiologie. 23
354 ^i<2 elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
ist. Es wurde bereits erwähnt, dass die Zeitdauer, nach welcher der
ungespannte Wadenmuskel bei unvollkommenem Tetanisiren secundär
wirksam wird, einerseits von dem Grade abhängt, bis zu welchem
jener eigenthümliche , durch die Erwärmung herbeigeführte Zustand
der Muskelsubstanz entwickelt ist, und andererseits von der Stärke
und Zahl der in der Zeiteinheit einander folgenden Reize wesentlich
beeinflusst wird. Es lässt sich in dieser Beziehung nur sagen, dass
die Verzögerung im Allgemeinen um so grösser zu sein pflegt, je
schwächer die Inductionsströme und je grösser die Reizintervalle bei
einem gegebenen Erregbarkeitszustande des Muskels sind. Oft be-
ginnt der secundäre Muskel erst nach minutenlanger Reizung des
primären zu zucken, zu einer Zeit, wo in Folge von Ermüdung die
den einzelnen Reizen entsprechenden Gestaltveränderungen des letzteren
bisweilen kaum mehr wahrnehmbar sind. Der nahe liegende Verdacht,
dass es sich hierbei lediglich um eine Summationserscheinung im secun-
dären Nerven handelt, lässt sich leicht ausschliessen, wenn man diesen
letzteren nicht gleich bei Beginn der Reizung des primären Muskels,
sondern erst nach Ablauf einer grösseren oder geringeren Zahl von
Erregungen auflegt. Man findet dann ausnahmslos, dass die secun-
dären Zuckungen in voller Stärke sofort bei Berührung des Nerven
und des primären Muskels hervortreten, was darauf hinweist, dass das
allmähliche Wirksamwerden des letzteren auf Veränderungen beruht,
welche durch die wiederholten Erregungen in demselben veranlasst
werden.
Wenn es in den beiden vorerwähnten Fällen bis zu einem ge-
wissen Grade wahrscheinlich zu machen ist, dass die Verschiedenheit
der secundären Wirkung von Muskel zu Nerv auf einer Verschieden-
heit der Intensität der elektrischen Wirkungen des ersteren be-
ruhen dürfte, so scheinen in anderen Fällen Unterschiede
im zeitlichen Verlauf und in der Formder elektrischen
Schwankungswelle maassgebend zu sein. Hierher gehört
wohl vor Allem der so auffallende Unterschied der secundären Wirkung
von Muskel zu Nerv, wenn der erstere in verschiedener Weise d i r e c t
gereizt wird. Im Allgemeinen gelingt es schwerer, secun-
däre Zuckung auszulösen, wenn der primäre Muskel
direct, als wenn er vom Nerven aus gereizt wird; ja Du
Bois-Reymond machte seiner Zeit sogar die Angabe, dass man
überhaupt keine secundäre Zuckung erhält, wenn man eine Reizwelle
in einem Sartorius oder Gracilis erregt, dem das erregbare obere Ende
eines Ischiadicus anliegt. Dagegen hat Kühne zuerst gezeigt, dass
die durch Berührung des frischen Querschnittes eines curarisirten
Sartorius mit einer leitenden Flüssigkeit ausgelöste Zuckung, welche,
wie Hering nachwies, elektrischen Urspi'ungs ist, sich zu secundärer
Wirkung höchst geeignet erweist, ein Umstand, der die Thatsache nur
noch auffallender erscheinen lässt, dass die directe elektrische Reizung
desselben Muskels durch künstlich zugeführte Ströme sich zu gleichem
Zwecke äusserst ungeeignet zeigt. Zwar beobachtete Kühne bei
Reizung des einen Muskelendes mit einzelnen Inductionsschlägen un-
zweifelhafte, secundäre Wirkungen, indessen bedurfte es hierzu in allen
Fällen so starker Ströme, dass besondere Controllversuche geboten
waren, um eine directe Erregung des secundären Nerven durch Strom-
schleifen auszuschliessen. Lässt man einen Ketten ström seitlich
durch unpolarisirbare Elektroden nahe dem einen oder anderen Ende
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 355
des beiderseits mit Knochenstümpfen in Verbindung stehenden M. sar-
torius vom Frosche zutreten, so erfolgt auch bei stärkster Reizung
keine Spur secundärer Wirkung, ti'otz starker Zuckung des primären
Muskels und günstigster Lage des stromprüfenden Nerven, so lange
beide (Faden-)Elektroden sich in der Continuität des Muskels belinden,
so dass die Stromfäden sowohl an der Ein- wie Austrittsstelle die
Muskelfasern in mehr oder weniger schräger Richtung durchsetzen
müssen. Es wird an diesem negativen Erfolge auch nichts geändert,
wenn der Muskel noch so stark gedehnt wird. Dagegen beobachtet
man regelmässig schon bei schwacher Reizung des pri-
mären Muskels secundäre Wirkungen von grosser In-
tensität, wenn der Ketten ström, gleichgültig, an welchem
Ende des Muskels, durch die natürlichen, unversehrten
Faser enden austritt (51).
Es genügt , die eine Elektrode (Kathode) mit dem betreffenden
Knochenstumpf in Verbindung zu setzen und die andere, den Eintritt
des Stromes vermittelnde, direct an den Muskel zu legen. Dem Ge-
sagten zu Folge tritt dann secundäre Zuckung immer nur bei der
einen Stromesrichtung ein, während bei Schliessung in der andern
Richtung zwar eine starke Zuckung des primären Muskels, aber keine
Erregung des secundären Präparates erfolgt. Es ist nicht unwahr-
scheinlich, dass bei gleichzeitiger und gleichstarker Erregung sämmt-
licher Faserenden auf der einen Seite des M. sartorius, wie sie zu
Stande kommt, wenn der Strom in der Längsrichtung der Fasern an
dem einen oder andern Ende austritt, die elektrische Schwankungs-
welle sich wesentlich von der unterscheiden könne, welche bei mehr
oder weniger querem Austritt der Stromfäden durch eine dem Muskel
seitlich angelegte Elektrode ausgelöst wird. Jedenfalls wird man aber
annehmen dürfen, dass die durch Eintauchen eines frischen Quer-
schnittes in leitende Flüssigkeit ausgelöste Reizwelle demselben Um-
stände ihre besondere Eignung zu secundärer Wirkung verdankt, wie
die durch Schliessung eines atterminalen Kettenstromes erzeugte Welle,
so dass also die secundäre Unwirksamkeit des direct gereizten Curare-
muskels nur eine scheinbare, durch rein äusserliche Umstände herbei-
geführte ist.
Mit Rücksicht auf die eben erwähnten Versuchsresultate muss es
als auffallend bezeichnet werden, dass die Art der Lagerung des
secundären Nerven auf dem primären Muskel für den
Erfolg relativ geringen Einfluss zeigt. Handelt es sich,
wie nicht zu bezweifeln, um eine elektrische Erregung des Nerven
durch den Actionsstrom des primären Muskels, so muss jener noth-
wendig zwei Punkte verbinden, welche in einem gegebenen Augen-
blicke eine erhebliche Spannungsdifferenz darbieten. Die günstigste
Anlage des secundären Nerven ist augenscheinlich die, wo er in mög-
lichster Ausdehnung auf der unteren Sartoriusfläche parallel der
Muskelfaserung aufliegt. Es genügt dann unter Umständen ein ganz
dünnes Bündel von Muskelfasern, dessen Durchmesser kaum der Dicke
eines Froschischiadicus entspricht, um bei Querschnittsreizung secun-
däre Zuckung auszulösen. Im Uebrigen giebt es kaum eine An-
lagerungsweise, welche bei nur einigermaassen guter Nerven erregbar-
keit nicht zu sehr kräftigen secundären Zuckungen des Schenkels
genügte. Besonderes Interesse verdient die secundäre Erregung
des rechtwinkelig über den Muskel gebrückten Nerven.
23*
356 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Diese Lage wird leicht erzielt, indem man den Ischiadicus des auf
einer beweglichen Glasplatte befestigten Schenkels mit dem Plexus
sacralis an einen geeignet fixii'ten Glasstab klebt und ihn nach
massiger Spannung der Innenfläche des hängenden Sartorius anlegt
oder diesen einfach darüber hängt. Im letzteren Falle wird die
stärkste secundäre Zuckung beobachtet, wenn man dem mit beiden
Enden herabhängenden Sartorius auf einmal einen Doppelquerschnitt
anlegt oder diesen in bekannter Weise benetzt (Kühne 5); es zeigt
sich also, dass die secundäre Wirksamkeit dieses regelmässigsten
Muskels, an welchem Du Bois-Reymond's Gesetz des Muskel-
stromes ungetrübt zur Erscheinung kommt, von der Grösse des Ruhe-
stromes in dem Grade unabhängig ist, dass es an dem vom Quer-
schnitt aus erregten Muskel thatsächlich keine Stellen oder Linien giebt,
die secundär unwirksam wären. Noch überraschender als die secundäre
Erregung bei querer Lagerung des Nerven auf dem primären Muskel
ist die Thatsache, dass auch Anlegen an die Querschnitts-
fläche des Muskels die secundäre Wirkung nicht aus-
schliesst, was nach den geläufigen Vorstellungen über die Ab-
hängigkeit der secundären Erregung vom Muskelstrome kaum erwartet
Averden durfte (Kühne 1. c. p. 24 f.), ja man könnte unter diesen
Umständen fast Zweifel hegen, ob überhaupt die elektrische Schwan-
kungswelle unmittelbare Ursache der secundären Erregung ist. Kühne
selbst (1. c. p. 27 — 37) hat hierfür einen ganz directen Beweis ge-
liefert, indem er zeigte, dass die mit dem secundären Nerven belegte
Stelle nicht in demselben Augenblick wirkt, wo der primäre Reiz den
Äluskel an einer anderen, entfernteren Stelle trifft, sondern um so viel
später, als die Schwankungswelle Zeit braucht, um vom Ursprungs-
orte an den abgeleiteten zu gelangen. Es wurden die Nerven von
zwei Gastrocnemien dem Sartorius in einiger Entfernung von einander
angelegt und der letztere von einem Ende aus gereizt. Das Intervall
zwischen den Erregungen beider secundärer Nerven war stets deutlich
nachweisbar und oft sogar sehr beträchtlich, im Uebrigen aber ungemein
wechselnd: Während sich im ungünstigsten Falle der die secundäre
Zuckung erregende Vorgang nur mit der Geschwindigkeit von 25 cm
in der Sekunde, also äusserst langsam, fortpflanzt, ist die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit in anderen Fällen so gross, dass das angewendete Ver-
fahren (welches Geschwindigkeiten von 2 m in der Sekunde zu messen
gestattete) die Bestimmung nicht zuliess. Schon aus den ersten An-
gaben Berns tein's ging hervor, dass die Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der elektrischen Schwankungswelle im Muskel äusserst wechselnd
ist und an ausgeschnittenen Muskeln relativ rasch abnimmt. Darf
man aus dem Verlauf der Contractions welle irgend auf den der
Schwankungswelle schliessen, so wäre hier an die bekannten, mit
dem Auge wegen ihrer Langsamkeit leicht zu verfolgenden Con-
tractionswellen zu erinnern, die man besonders bei Insectenmuskeln,
aber auch an dem frischesten Froschmuskel unter Umständen
auftreten sieht; (so, wie oben erwähnt, am Sartorius oder Adductor
magnus bei mechanischer Reizung mit einer Nadelspitze (Kühne
1. c. p. 36 f.) oder bei Anwendung starker Kettenströme als galvani-
sches Wogen).
In Bezug auf die Frage, welcher Abschnitt der elektrischen
Schwankungswelle für die secundäre Erregung der wesentlichste ist,
würde man von vornherein geneigt sein, dazu den vordersten, als den
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 357
steilsten, für am meisten geeignet zu halten. Jedenfalls ist es, wie
aus den erwähnten Thatsachen hervorgeht, ein sehr kurzes
Stück der Erregungswelle, welches den angelegten Nerven
erregt.
Wie überhaupt zur wirksamen Nervenerregung (insbesondere der
elektrischen) eine gewisse Geschwindigkeit des zeitlichen Verlaufes
der durch den Reiz gesetzten Veränderungen gehört, so zeigt sich
dies auch an der secundären Erregung von Muskel zu Nerv, indem
langsam bewegliche Muskeln im Allgemeinen ungeeignet
sind zu secundärer Erregung von Froschnerven.
Matteucci hat bereits angegeben, dass er die secundäre Zuckung
vermisste, wenn er den Schenkelnerven des Frosches an die bewegten
Muskelmassen des Darmes, des Magens oder der Blase anlegte. Kühne
bestätigte dies auch am lebhaft beweglichen Ureter des Kaninchens ;
er vermisste secundäre Wirkung auch an den quergestreiften
Muskeln von Hydrophilus und Astacus, bei letzterem auch,
wenn die primären Contractionen des Schliessmuskels der Scheeren
durch Nervenreizung bewirkt werden ; ebenso am Darm der Schleie,
der sich da, wo er quergestreifte Muskeln führt, auf elektrische
Reizung ziemlich rasch, fast zuckend contrahirt. Secundär völlig un-
wirksam fand Kühne auch die Muskeln vonEmys europaea,
und zwar sowohl die blasseren Musculi retrahentes capitis collique
wie die rothen der Extremitäten, als er die ersteren durch Ausbohren
des Rückenmarkes oder nach dem Ausschneiden an einem Ende direct
elektrisch, die letzteren von den Nervenstämmen her reizte. Da die
Schildkröte den Kopf ziemlich rasch einziehen kann und ihre Beine,
wenigstens bei künstlicher Reizung ihrer Nerven mit Inductions-
schlägen, fast zuckend bewegt, muss die secundäre Unwirksamkeit so-
wohl für Einzelzuckungen wie für Tetanus füglich überraschen. Wie
sehr die secundäre Erregung vom Muskel zum (Frosch-)Nerv von der
Geschwindigkeit der Schwankungs- (bezw. Contractions-) Welle
abhängt, zeigt sich auch sehr schön am Herzen. Während Kühne
(l. c.) von dem Ventrikel des schlagenden Schildkrötenherzens nur
sehr schwache secundäre Zuckungen erhielt, die bald nach dem
Herausnehmen des Herzens, also lange vor aller merklichen
Abnahme des Pulsiren s, verschwanden, wirkt das kleinere, aber
rascher schlagende Froschherz wesentlich besser und das noch viel
rascher pulsirende Warmblüterherz bekanntlich sehr kräftig secundär.
Von den rothen Scheukelmuskeln des Kaninchens, deren Zuckung
viel träger ist als die der weissen , erhielt dagegen Kühne auf
Nervenreiz ebenso gut secundäre Zuckung und secundären Tetanus
wie von jenen.
J. V. Uexküll (52) fand, dass es unter sonst gleichen Um-
ständen für den Erfolg der secundäi-en Erregung sehr wesentlich ist,
an welcher Stelle der primäre Muskel (nicht curarisirter Sartorius) ge-
reizt wird,
„Die gleichzeitige Reizung von Muskelsubstanz und Nerv quer
über der Eintrittsstelle des letzteren beim Sartorius ist secundär un-
wirksam, während durch reine Muskelreizung, sowie reine Nerven-
reizung unter den gleichen Bedingungen secundäre Effecte erzielt
werden." Durch Versuche am M. gracilis zeigte Uexküll, dass der
Ausfall der secundären Wirkungen an die Miterregung der Nerven-
endigungen geknüpft ist. Unter gewissen Voraussetzungen (Annahme
358 DJG elektromotorischeu Wirkuugen der Muskeln.
einer Latenzzeit für die Reizübertragung vom Nervenendorgane auf
den Muskel und der alleinigen secundären Wirksamkeit des Gipfels
der Schwankungscurve des Actionsstromes) Hesse sich dann die Er-
scheinung als ein Interferenzphänomen erklären. Nach Uexküll
würde sich dabei der Vorgang in folgender Weise gestalten: „Ein
Reiz trifft das Nervenendorgan und die Muskelfaser zugleich, er löst
in letzterer sofort eine Actionswelle aus, die den secundären Schenkel
in Erregung versetzen würde, wenn nicht das zugleich gereizte End-
organ des Nerven sich einen Moment später auf den Muskel entladen
würde. Dadurch kommt keine einfache Actionswelle zu Stande, son-
dern zwei aneinandergekoppelte Wellen. Diese Koppelwelle wird in-
sofern ungeeigneter sein, secundär zu wirken, weil sie sich in ihrer
Form abgeflachter darstellen muss. Dadurch verliert der ganze Vor-
gang an Plötzlichkeit und somit auch an Fähigkeit, erregend zu
wirken."
Durch die vorstehend mitgetheilten Beobachtungen ist der Ein-
fluss, welchen die Intensität sowie Form und zeitlicher Verlauf der
elektrischen Schwankungswelle auf die secundäre Erregung von
Muskel und Nerv besitzen, zweifellos erwiesen. Es bleibt jetzt noch
übrig, den Einfluss der zeitlichen Aufeinanderfolge sich
wiederholender Einzel reize auf die secundäre Er-
regung, wie überhaupt auf die elektrischen Wirkungen
des Muskels zu erörtern.
Da die secundäre Erregung nur eine besondere Form der elek-
trischen Reizung eines mit seinem Muskel noch zusammenhängenden
Nerven darstellt, so darf man von vornherein erwarten, dass im Wesent-
lichen dieselben Gesetze, welche die Erscheinungsweise des primären
Tetanus und insbesondere seine Abhängigkeit von der Intensität und
Frequenz der Reize beherrschen , auch für den secundären Tetanus
gelten werden. Weim man weiter berücksichtigt, dass die elektrischen
Seh wankungs wellen, wie schon aus dem Vorstehenden sich ergiebt,
den Contractionserscheinungen nicht immer genau parallel gehen,
so lässt sich erwarten , dass kein völliger Parallelismus
zwischen primärem und secundärem Tetanus bestehen
dürfte, wie es auch thatsächlich der Fall ist. Ehe man die Un-
fähigkeit vieler Tetani zu secundärem Tetanus erkannte,
hielt man den letzteren für ein so sicheres Merkmal des primären
Tetanus, dass er nicht nur zum Beweise der elektromotorischen Dis-
continuität aller Tetani, sondern auch zur Entscheii^ung zwischen
Contractur und Tetanus allgemein verwendet wurde. Ohne Wider-
spruch wurde anerkannt, dass eine Muskelbewegung, die wohl secundäre
Zuckung, aber keinen secundären Tetanus erzeugt, selbst eine ein-
fache Zuckung sein müsse. Dies ist nun aber oft der Fall unter Um-
ständen, wo an der Discontinuität der primären Reize kein Zweifel
bestehen kann. Der Erfolg am secundären Präparat hängt, wie man
sich bald überzeugt, sehr wesentlich von Charakter und Stärke
der primären Reizwirkung und daher von Intensität und Frequenz
der das primäre Präparat treffenden Inductionsschläge ab. Werden
die Stromstärken so gewählt, dass sie den primären Muskel in Tetanus
versetzen, so erhält man theils Tetanus des secundären Muskels von
wechselnder Höhe und Länge, oder man erhält Curven , die sich in
nichts von denen unterscheiden, welche der primäre Muskel eventuell
als „Anfangszuckung" verzeichnet. In seltenen Fällen kommt es nicht
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 359
nur bei Beginn des primären Tetanus zu einer secundären Anfangs-
zuckung, sondern auch bei Beendigung der Reizung zu einer secun-
dären „Endzuckung" (Scliönlein 53). Wenn die secundäre Anfangs-
zuckung bei relativ geringer Reizfrequenz auftritt, so ist dies haupt-
sächlich durch jene Veränderungen in Stärke und Verlauf der Actions-
ströme des primären Muskels bedingt, welche als Folgen der Er-
müdung aufzufassen sind, was sich hauptsächlich darin zeigt, dass der
secundäre Tetanus oft wieder eintritt, wenn man dem primären Mus-
kel einige Zeit zur Erholung gegönnt hat. So haben auch bereits
Morat und Toussaint (54) durch Ermüdung des primären Muskels
bei einer Frequenz von nur 70—80 Reizen in der Sekunde secundäre
Anfangszuckung beobachtet. Ist Ermüdung möglichst ausgeschlossen,
so kann durch Verstärkung der primären Reize innerhalb weiter
Grenzen der Frequenz secundärer Tetanus erhalten werden.
Während der durch rhythmische elektrische oder mechanische
Reizung ausgelöste primäre Tetanus wenigstens in der Regel auch
secundären Tetanus, wenngleich nicht immer von entsprechend langer
Dauer, auslöst, giebt es andere Formen künstlich erzeugter
Tetani, bei welchen dies überhaupt niemals der Fall
ist, und die im günstigsten Falle secundäre Zuckungen
bewirken. Wie später näher zu erörtern sein wird, verfallen quer-
gestreifte Skeletmuskeln unter gewissen Umständen in einen oft lange
anhaltenden Tetanus, während der Nerv von einem Kettenstrom durch-
flössen wird (Schliessungs-Tetanus), eventuell auch nach der
Oeffnung des Stromkreises (Ritter 'scher Oe f f n u n g s - T e t a n u s).
J. J. Friedrich (55) fand nun, dass das secundäre Präparat in
diesem Falle, wenn überhaupt, stets nur mit einer im Beginn des
untersuchten Tetanus auftretenden secundären Zuckung, nie aber mit
einem secundären Tetanus reagirte. Bemerkenswerth ist noch,
dass der Erfolg beim Oeffnungs-Tetanus viel häutiger ganz ausblieb,
als beim Schliessungs-Tetanus.
Ebenso wenig vermag der oft äusserst kräftige Tetanus durch
chemische Reizung des motorischen Nerven secundären Tetanus her-
vorzubringen (Kühne 1. c. p. Gif.). Der Kochsalz- und der
Glycerin-Tetanus stellen, wie Kü*hne bemerkt, eine so grosse
mechanische Muskelleistung dar, dass sicherlich nicht Schwäche der
Muskelerregung Schuld sein kann an dem Ausbleiben des secundären
Tetanus; vielmehr kann es nur an der örtlichen oder
zeitlichen Angriffs weise der chemischen Reizung liegen,
dass die darauf indirect reagirenden Muskeln sich so
ganz anders verhalten.
Es ist dies um so bemerk enswerther, als auch jede beliebige
Form des vitalen Tetanus secundär nur eine oder
mehrere Eingangszuckungen, allenfalls auch bei Inte r-
misisonen secundäre Zwischenzuckungen, aber niemals
secundären Tetanus liefert. Schon Du Bois-Reymond
hatte die Frage untersucht, „ob der Strychnintetanus gleich dem
elektrischen unterbrochener Art sei" ; der Versuch wurde so angestellt,
dass der Nerv eines stromprüfenden Schenkels am natürlichen Längs-
schnitt und natürlichen oder künstlichen Querschnitt der Schenkel-
muskeln eines mit Strychnin vergifteten Frosches angelegt wurde.
In günstigen Fällen „sieht man den stromprüfenden Schenkel in einer
zusammenhängenden, obwohl nicht dichtgedrängten Reihe schwacher
360 1*16 elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Zuckungen begriffen"; häufig bleibt er aber ganz in Ruhe. Fried-
rich (1. c. p. 422) stellte derartige Versuche an Fröschen, Kaninchen und
Meerschweinchen an. Einzelne Zuckungen, welche dem Ausbruche
des eigentlichen Tetanus vorangingen, gaben häufig secundäre Zuck-
ungen , ein ganz ruhiger (S t r y c h n i n -) Tetanus dagegen
gab, Avennnicht, wiehäufig, jederErfolg ausblieb, stets
nur bei seinem Beginne secundäre Zuckungen, nie secun-
d ä r e n T e t a n u s. Erscheinungen, welche den von Du Bois-Rey-
m o n d beobachteten entsprachen, traten nur auf, wenn auch das primäre
Präparat keinen ruhigen Tetanus, sondern einen klonischen Krampf
zeigte. Im Uebrigen wirkt aber der Strychnintetanus überaus kräftig
auf angelegte Nerven. Starke secundäre Eingangszuckungen begleiten
fast jeden erneuten Anfall des Starrkrampfes, wenn man Frösche so
lange in äusserst verdünnte Strychninlösung setzt, dass sie für Stunden
und Tage zur Demonstration der gesteigerten Reflexe geeignet sind,
und den Schenkelnerven selbst nur an die Haut der Wade des un-
verletzten Thieres legt (Kühne 1. c. p. 60).
Ebenso wenig wie der Strychnintetanus vermag die anhaltende
Avillkürliche oder reflectorische Contraction secundären Tetanus zu be-
wirken. H a r 1 e s s war der erste, welcher vom präparirten Gastro-
cnemius des sonst unversehrten Frosches bei n a t ü r 1 i c h e n B e w e g u n -
gen desselben secundäre Wirkungen zu gewinnen suchte. Wenn
der Frosch durch intensive Schmerzerregung zu langdauernder Ver-
kürzung der betreffenden Muskeln gebracht wurde, beobachtete Har-
less nie secundären Tetanus, dagegen meist im Beginn der Ver-
kürzung secundäre Zuckung. Ebenso verhielt es sich bei Reflex-
bewegungen. Von Interesse ist auch ein Versuch von Harless, bei
welchem (am Frosch) einmal das Rückenmark und dann der
Plexus ischiadicus hoch oben elektrisch gereizt wurden:
ersteren Falls trat nur secundäre Anfangszuckung,
letzteren Falls stets secundärer Tetanus ein. Hieran
schliessen sich die Beobachtungen Hering' s an den tetani sehen
Contractionen des Zwerchfells, welche dasselbe beim Ath-
men erfährt; es gelingt nicht, vom contrahirten Zwerch-
fell secundären Tetanus eines mit seinem Nerven
passend angelegten Frosch sc henkeis zu bekommen, ob-
wohl derselbe sofort in secundären Tetanus verfiel, sobald der
Phrenicus schwach elektrisch tetanisirt wurde und tertiär zuckte, wenn
der hoch oben abgeschnittene Zwerchfellnerv auf das noch schlagende
Herz gelegt und so das Zwerchfell durch die Herzschläge zu rhyth-
mischen secundären Zuckungen gebracht wurde. Ein einfaches Mittel, um
eine grosse Reihe secundärer Z uckungen von (reflectorisch) gereizten
gewöhnlichen Skeletmuskeln zu erhalten, giebt Kühne (1. c. p. 63) an:
ein sich krümmender abgeschnittener Eidechsen seh Avanz
mit Froschschenkelnerven belegt, erregt diese auf das Leb-
hafteste. Wie dieser Versuch zeigt, besitzen demnach natür-
liche, schnell verlaufende Contractionen sehr erhebliche secun-
däre Wirkung.
Es scheint, dass das Telephon in Bezug auf den Nachweis
discontinuirlicher, elektrischer Schwankungswellen im Muskel bei
natürlichem Tetanus dem stromprüfenden Froschschenkel wesentlich
überlegen ist. Schon Bernstein und Schönlein (56) hörten an
mit Strychnin vergifteten Kaninchen beim Ausbruch der Krämpfe „mit
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 361
überzeugender Deutlichkeit einen tiefen singenden Ton". Später
stellte Wedenski (48) eine grosse Reihe hierher gehöriger Versuche
an. Bei jeder energischen natürlichen Contraction des Triceps femoris
des Frosches gelang es mittels des Telephons, ein ganz bestimmtes
Geräusch („Hauchen") wahrzunehmen. Dieselben Erscheinungen, nur
noch intensiver und anhaltender, wurden auch während der durch
Zerstörung des Rückenmarkes hervorgebrachten Krämpfe gehört.
Wedenski stellte auch Versuche an sich selbst an (durch Ein-
stechen von zwei Stecknadeln in den Biceps brachii), wie auch an
Hunden, Kaninchen und Kröten. Die Thiere wurden entweder mit
Strychnin vergiftet oder vom Rückenmark aus tetanisirt. Bei allen
diesen Experimenten vernimmt man ein schwer zu definirendes, tiefes,
gleichmässiges Rauschen oder Hauchen, ähnlich dem eines von Ferne
gehörten Wasserfalles. Hält man den Arm längere Zeit angestrengt
gebeugt, so wird das Hauchen schwächer und erlischt endlich (Er-
müdung). Das hauchende Geräusch ist tief, aber seine Tonhöhe
unbestimmbar; der Versuch, mit Hülfe künstlicher Reizung diese
letztere auf synthetischem Wege zu bestimmen, ergab insofern ein
negatives Resultat, als Reizungen mit 8—20 Schlägen in der Sekunde
elektrische Muskeltöne lieferten, die einen vollkommen verschiedenen
Charakter hatten von dem bei willkürlicher Contraction im Tele-
phon gehörten Hauchen,
So vollkommen daher auch der telephonische Beweis der oscilla-
torischen Natur der elektrischen Vorgänge im willkürlich thätigen
Muskel ist, er hat den einen grossen Mangel, dass er keine Frequenz-
bestimmung der Schwankungen ermöglicht.
Die Ursache des Fehlschlagens des secundären Tetanus in den
oben erwähnten Fällen ist wiederholt Gegenstand der Erörterung ge-
wesen. Schon Du Bois-Reymond (1) betont die vergleichsweise
geringere innere Stetigkeit des willkürlichen und Strychnin-Tetanus.
Wenn aber die Contractionen verschiedener Fasergruppen eines
Muskels nicht gleichzeitig erfolgen, so wäre es denkbar, dass die nach
aussen ableitbaren, elektrischen Schwankungen sich gegenseitig störten
oder vernichteten, so dass die Wirkung auf den anliegenden secundären
Nerven eventuell ausbliebe, was nicht der Fall sein wird, wenn
sämmtliche Elemente bei rhythmischer , künstlicher Reizung des
Nerven in derselben Phase gleichmässig zusammenwirken. In neuerer
Zeit haben Hering (55) und Brücke ähnliche Anschauungen ge-
äussert, und der Letztere drückt das Verhältniss bildlich dadurch
aus, dass er die künstliche Erregung vom Nerven aus als „salven-
mässige" Reizung den nach Art des Pelotonfeuers unregelmässig er-
folgenden Entladungen der Centralorgane gegenüberstellt. Auch die
Unwirksamkeit des durch chemische Nervenreizung erzeugten primären
Tetanus zur Auslösung eines secundären dürfte in ähnlicher Weise zu
denken sein. „Vergegenwärtigt man sich, dass die secundäre Wirkung
des Muskels nicht von einer einzigen Muskelfaser ausgeht, sondern
immer von Fasergruppen, und dass in jeder solchen Gruppe die
Schwankungswellen auch ohne Ordnung neben einander verlaufen
können, so findet man die Umstände, welche vorzugsweise Ver-
nichtung des äusseren Effectes zur Folge haben werden, da die Ab-
gleichung elektrischer Spannungsunterschiede, welche die einzige Ur-
sache aller secundären Erregung ist, nun im Muskel selber von einer
Faser zur andern, von jedem negativen Punkte der einen zum weniger
362 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
negativen oder positiven der benachbarten stattlindet" (Kühne 50).
Es bleibt also nur noch das Verständniss zu linden für das frühe Er-
löschen des secundären Tetanus , beziehungsweise für das Auftreten
der secundären Anfangszuckung bei rhythmisch „salvenmässiger",
elektrischer oder mechanischer Heizung. Ich glaube , dass man hier
keinerlei Schwierigkeiten begegnet, wenn man sich der Bedingungen
für das Auftreten der primären Anfangszuckung erinnert und ins-
besondere ihrer Abhängigkeit von Intensität und Frequenz der
tetanisirenden Reize. Nach Aussage des Capillar-Elektrometers und
Telephons nimmt die Intensität der elektrischen Schwankungen des
Muskels sehr rasch und jedenfalls viel früher ab, als die Verkürzung.
Ist nun ausserdem die Reizfrequenz erheblich, so liegt hierin
genügender Grund für die kurze Dauer des secundären Tetanus.
Dazu kommt noch ein Umstand, auf den Kühne (1. c. p. 68) zuerst
aufmerksam machte. Bekanntlich stellt ein quergestreifter Muskel in
der Regel kein physiologisch einheitliches Ganze dar, indem zum
Mindesten zwei functionell verschiedene Faserarten in seine Zu-
sammensetzung eingehen. Die trüben (rothen), langsam beweglichen
Fasern brauchen nur in anderem Tempo Veränderungen der Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit zu erleiden, als die flinken, hellen Fasern,
um ihre Schwankungswellen mit denen der anderen in der Weise
interferiren zu lassen, dass an der Oberfläche keine elektrischen
Spannungsdiff'erenzen zur Erregung eines angelegten Nerven mehr
übrig bleiben. In der That haben wir oben gesehen, dass die hellen
Fasern viel rascher ermüden als die trüben.
Mit Rücksicht auf den zuletzt erwähnten Punkt ist es auch kaum
anzunehmen, dass die an einem Ende parallelfaseriger Muskeln er-
zeugte Schwankungswelle in allen Fasern mit gleicher Phase anlangt,
und hierin dürfte die Erklärung nicht nur der kräftigen Erregung,
welche ein Nerv erföhrt, der rechtwinklig über ein starkes Bündel
solcher Fasern gelegt ist, sondern vor Allem auch für die sonst kaum
verständliche secundäre Wirksamkeit des regelrechten Querschnittes
liegen.
Eine bemerkenswerthe Thatsache ist es, dass während des
Lebens die sich contrahirenden Muskeln auf die zAvischen
sie gebetteten Nerven, wie es scheint, keinerlei secun-
däre Wirkung äussern. Zwar hat Hering gezeigt, dass die
von Schiff zuerst bemerkten und bis dahin unaufgeklärten, mit dem
Herzschlag isochronen Zuckungen des Zwerchfells (der Katze) bedingt
sind durch die Berührung des Nervus phrenicus mit dem schlagenden
Herzen; doch ist sonst kein Aveiterer Fall bekannt, vielmehr lässt
sich leicht zeigen, dass unter den scheinbar günstigsten Um-
ständen secundäre Erregung extramusculärer Nerven
in situ auch durch ihnen fremde Muskeln nicht zu
Stande kommt. Durchschneidet man den Nervus ischiadicus dicht
unterhalb des Abganges der Oberschenkeläste, so bleiben selbst bei
sehr starker tetanisirender Reizung des Plexus sacralis die Muskeln
des Unterschenkels und Fusses ruhig, obschon der Unterschenkel-
nerv zwischen lauter contrahirten Oberschenkelmuskeln eingebettet
liegt (Kühne). Dass dies nicht auf die Nebenschliessung der
Actionsströme innerhalb der umhüllenden Muskelmasse zu beziehen
ist, lässt sich leicht zeigen. Kühne erhielt stets secundäre Wir-
kungen, wenn er den Nerven eines Froschschenkels in den aus-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 363
gebeinten Oberschenkel einpackte und dann den Plexus ischiadicus
reizte, und ebenso ist es auch bekannt, wie wenig andere feuchte, als
Nebenschliessung dienende Körper die secundäre Wirkung zu be-
hindern vermögen. Dicke Lagen von Fliesspapier oder allseitige Um-
hüllung des mit dem secundären Nerven belegten primären Muskels
mit den Eingeweiden eines Froschweibchens stören in keiner Weise
die secundären Reizerfolge. Dass es sich bei der secundären Un-
erregbarkeit in situ befindlicher Nerven um eine besondere, „den Be-
dürfnissen wohl geregelter Muskel- und Nerventhätigkeit angepasste
Anordnung handelt, welche in Wahrheit weit mehr leistet, als die
natürlichen Verhältnisse erfordern", scheint aus dem Umstände hervor-
zugehen, dass, wie Kühne sah, eine selbst nur geringe Dislocation.
des zwischen den Oberschenkelmuskeln liegenden Nerven, ja selbst
nur das einfache Biossiegen desselben die sonst fehlende secundäre
Wirksamkeit sofort hervortreten lässt, während dieselbe nach Schliessung
der Wunde wieder schwindet. Man wird mit Kühne „kaum umhin
können, den Schutz in situ befindlicher Nerven vor der anscheinend
gefährlichen Nachbarschaft der Muskeln, zwischen welchen sie ver-
laufen, in Eigenthümlichkeiten dieser zu suchen, welche denselben
nicht erlauben, anders neben einander thätig zu werden, als in einer
die Abgleichung der myoelektrischen Spannungen durch die Gegend
des Nervenverlaufes verhindernden Weise", was vielleicht auf das
Princip der Interferenz oder des Ausschlusses summirter Wirkung der
Schwankungswellen zurückführbar sein dürfte.
Da es durch Hering festgestellt wurde, dass der Muskel durch
seinen eigenen Demarcationsstrom erregt werden kann, so lag die
Vermuthung nahe, dass es auch möglich sein müsste, secundäre
Erregung von Muskel zu Muskel zu erzielen. Ungeachtet
vieler Bemühungen blieben die ersten Versuche, dieses Ziel zu er-
reichen, stets erfolglos, indem weder bei partieller Erregung eines
Muskels sämmtliche Fasern, noch bei Totalerregung die benachbarten
Muskeln mit erregt wurden. Kühne gelang es zuerst, secundäre
(praesystolische) Erregung des Froschsartor ius durch die
Actio nsströme des langsam schlagenden Schildkröten-
herzens zu erzielen, welches sich, wie oben erwähnt wurde, gerade
durch seine secundäre Unwirksamkeit auf Froschnerven auszeichnet.
Es zeigt diese Thatsache neuerdings, wie sehr es bei der secundären
Erregung auf den zeitlichen Verlauf der Actionsströnie ankommt: der
langsamer reagirende Muskel spricht leichter auf eine langsamer ver-
laufende Sehwankungswelle an, während der rasch reagirende Nerv
auch besser durch eine rasch verlaufende Schwankung erregt wird.
Später gelang es Kühne, unter gewissen besonderen Umständen
secundäre Erregung von Muskel zu Muskel auch an Skeletmuskeln
des Frosches zu erzielen.
Während es niemals glückt, einen Sartorius dadurch zur Con-
traction zu bringen, dass man ihn mit einem andern direct oder in-
direct gereizten Muskel ohne Druck zusammenschmiegt, bleibt der
Erfolg nie aus, wenn die Muskeln theilweise auf einander
gepresst werden (Kühne 57). Man sieht unter diesen Umständen
einen Muskel sogar auf eine ganze Reihe anderer, mit den Enden
unter Druck zusammengefügter Muskeln secundär erregend wirken.
Indirecte Reizung des primären Präparates vom Nerven aus erweist
sich selbst in solchen Fällen noch wirksam, wo sonst die secundäre
3ß4 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Erregung auf einen anliegenden Nerven in der Regel ausbleibt.
Dies gilt insbesondere hinsichtlich der durch Glycerin erzeugten
klonischen und tonischen Krämpfe, welche das secundäre Nerv-Muskel-
präparat bekanntlich nur ausserordentlich schwach erregen. Dies
ändert sich jedoch sofort, sobald der primäre Muskel partiell gepresst
wird, indem dann auch der secundäre, in der Nähe der Pressstelle an-
gelegte Nerv bei Glycerinreizung des primären Nerven auf das Aller-
kräftigste erregt wird. Dasselbe ist der Fall, wenn ein zweiter
Sartorius mittels der Presse zwischen den ersten und den Schenkel-
nerven eingeschaltet wird. Dagegen ist die kräftigste, durch Ein-
wirkung von Ammoniak auf den primären Muskel bedingte Erregung
desselben ebenso unfähig, auf den secundären Nerven, wie auf einen
zweiten Muskel übertragen zu werden. Directe elektrische Reizung des
primären Muskels, die sonst bekanntlich wenig geeignet ist, einen an-
liegenden Nerven secundär zu erregen, erweist sich an gepressten
Muskeln höchst wirksam zu secundärer Erregung des angeschmiegten
Muskels, und zwar selbst in dem Falle, wenn der Strom im Muskel
von der Sehne zur Oberfläche gerichtet ist. Charakteristisch für jeden
gepressten Muskel ist die Totalcontraction auf einen locali-
sirten Reiz, sowie die Neigung zu anhaltend tetanischer
Verkürzung. Die erstere Erscheinung erklärt .sich leicht durch
die secundäre Wirkung von Faser zu Faser, und beide wirken zu-
sammen, um den partiell gepressten Muskel so ungemein empfindlich
erscheinen zu lassen: „Bei jedem Anfassen, worauf der normale nur
mit ein paar Randfasern fast unmerklich reagirt, fährt der gepresste,
in seiner Unfähigkeit, bündelweise zu zucken, gleich in ganzer Breite
zusammen, und während der erstere an einer kleinen Last kaum
rütteln würde, ist dieser im Stande, ein grosses Gewicht zu heben
und, indem er noch tetanisch wird, es auf eine bedeutende Höhe zu
bringen und während vieler Sekunden erhoben zu halten" (K ü h n e). Mit
Rücksicht auf die Frage nach der Stetigkeit oder Discontinuität des elek-
tromotorischen Vorganges bei der tetanischen Contraction gepresster
Muskeln ist es von Wichtigkeit, zu bemerken, dass im Gegensatze zu
der secundären Unwirksamkeit des Schliessungs- und OefFnungstetanus
oft der kräftigste secundäre Tetanus erzielt wird, wenn bei Reizung
des primären, partiell gepressten Sartorius mit einem Kettenstrom der
secundäre Nerv dem aus der Presse hervorragenden Stück des Muskels
angelegt wird. Es scheint hieraus hervorzugehen, dass der den Reiz
überdauernde Tetanus gepresster Muskeln keineswegs als Contractur
aufzufassen ist, sondern bezüglich des elektromotorischen Verhaltens
als ein ähnlich discontinuirlicher Vorgang sich erweist, wie^ bei dem
echten oscillirenden Tetanus durch rhythmische Reizung.
Könnte es noch einem Zweifel unterliegen, dass es sich in allen
erwähnten Fällen um eine elektrische Miterregung des anliegenden
Muskels (oder Nerven) handelt, so würde derselbe mit Rücksicht auf
die Erfahrung hinfällig, dass selbst die dünnste Schicht eines schmieg-
samen Nichtleiters, sowie andererseits eine metallische Zwischenschicht
(Blattgold) das Zustandekommen der secundären Erregung verhindert.
Kühne ist es überdies, wiewohl nur selten, gelungen, die secundäre
Erregung von Muskel zu Muskel auch unter Vermittlung von Elek-
tricitätsleitern (Kochsalzthon) zu erzielen, durch welches Verfahren
seiner Zeit Du Bois-Reymond zuerst den unanfechtbaren Beweis
geliefert hatte, dass die Matteucci' sehe Zuckung auf elektrischen
Die elektromotorischen Wirkimg'en der Muskeln. 365
Vorgängen im primären Muskel beruht. Auf die eigentliche Ursache
des merkwürdigen Einflusses, welchen das Pressen der Muskeln auf
deren secundäre Wirksamkeit besitzt, werfen Versuche Licht, welche
ich selbst über die Folgen des Wasserverlustes durch Eintrocknen
angestellt habe (58).
Lässt man todte, enthäutete Frösche oder auch nur Theile von
solchen mehrere Stunden bei nicht zu hoher Aussentemperatur frei
der Luft ausgesetzt liegen, so dass die Muskeln an der Oberfläche
allmählich eintrocknen, so gewinnen dieselben in einem gewissen
Stadium der Vertrocknung sehr auffallende Eigenschaften, durch
welche sie sich auf das Schärfste von normalen Muskeln unterscheiden,
selbst wenn sich diese im Zustande höchster Erregbarkeit belinden.
Wie bei partiell gepressten Muskeln bewirkt dann jeder auch noch
so localisirte Reiz eine äusserst kräftige und zugleich langanhaltende
Dauerverkürzung des ganzen direct getroffenen Muskels und in
vielen Fällen auch anderer, anliegender Muskeln, so dass es zu höchst
energischen Bewegungen und Lageänderungen der betreffenden Ex-
tremität kommt, die oft ganz den Eindruck reflectorisch oder
willkürlich ausgelöster Bewegungen machen. Nicht selten ist die
Erregbarkeit in solchem Maasse gesteigert, dass schon eine leichte
Erschütterung, etwa durch Aufsetzen des Tellers, auf welchem ent-
häutete Froschreste liegen, genügend erscheint, um gewisse Muskeln
in anhaltende Contractur zu versetzen; immer jedoch reicht eine
leichte Berührung der trocknenden Oberfläche aus, um diesen Erfolg
herbeizuführen. Dass das geschilderte Verhalten vertrocknender
Muskeln hauptsächlich durch den Wasserverlust der oberflächlichen
Faserschichten bedingt wird, lässt sich leicht zeigen, wenn man jene
Stellen eines Präparates, die sich bei mechanischer oder elektrischer
Reizung als die empfindlichsten erwiesen, mit physiologischer Koch-
salzlösung befeuchtet, worauf die charakteristischen Erfolge sehr bald
dauernd verschwinden, obschon es nach wie vor gelingt, dieselben von
andern trockenen Stellen aus zu erzielen.
Legt man einen freipräparirten, im richtigen Stadium der Ver-
trocknung befindlichen Sartorius so auf eine Glasplatte, dass die fas-
cienlose Innenseite nach unten gekehrt ist, so lassen sich sofort und
mit den einfachsten Mitteln eine Reihe von Thatsachen feststellen,
welche ein derartiges Präparat in schärfster Weise von einem nor-
malen, wenn auch noch so erregbaren Muskel unterscheiden lassen.
Reizt man, etwa mit einer Nadelspitze, an irgend einer Stelle des Innen-
oder Aussenrandes die demselben zunächstliegenden Fasern, so tritt
in der Regel sofort eine kräftige Zusammenziehung des ganzen
Muskels ein, so dass kein Zweifel darüber bestehen kann, dass die Er-
regung, die ursprünglich nur auf wenige Primitivfasern beschränkt
war, sich in irgend einer Weise auch den übrigen mittheilt. Auch
hier ist die Contraction nach möglichst kurz dauernder Reizung eine
lang anhaltende, tetanische, ganz wie bei partiell gepressten Muskeln.
Zu einer Totalerregung des ganzen Sartorius kommt es bei beginnen-
der Vertrocknung auch dann, wenn man den Muskel der Länge nach
theilweise schlitzt (Kühne' s „Zweizipfelversuch") und nur den einen
Zipfel direct elektrisch oder mechanisch reizt. Man sieht dann regel-
mässig beide Zipfel sich gleichzeitig contrahiren, und da der Versuch
bisweilen noch gelingt, wenn die verbindende Muskelbrücke kaum
V2 cm lang ist, so dürfte die rein mechanische Wirkung des
3gg Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
direct gereizten Faserbündels auf die benachbarte Hälfte kaum ge-
nügend sein, um innerhalb der kurzen Strecke, in der sie sich allein
noch geltend zu machen vermag, eine wirksame Miterregung herbei-
zuführen. Es besteht also, wie man sieht, fast völlige Ueberein-
stimmung hinsichtlich des Verhaltens eines isolirten, vertrocknenden
und eines frischen, partiell gepressten Sartorius.
Dies zeigt sich ebenso bei Versuchen, bei welchen die Ueber-
tragung der Erregung von einem Sartorius auf einen zweiten ihm
dicht anliegenden bewerksteUigt wird. Legt man zwei geeignete
Muskeln mit den breiten unversehrten Beckenenden derart zusammen,
dass die trockenen Aussenseiten beider sich in einer Aus-
dehnung von etwa 1 cm dicht berühren, so verhalten sich beide
Muskeln nunmehr wie ein Ganzes, wie eine in sich zusammen-
hängende, allseitig leitende, erregbare Masse. Jede durch einen noch
so beschränkten Reiz ausgelöste Erregung des einen Muskels über-
trägt sich nicht nur in diesem selbst von Faser zu Faser, sondern
der in seiner Gesammtheit zuckende, primär gereizte Muskel versetzt
sofort auch den andern in secundäre Miterregung.
Es wurde schon hervorgehoben, dass vertrocknende Muskeln sich
ganz ebenso wie gepresste dadurch auszeichnen, dass sie auf einen
kurzdauernden, einmaligen Reiz nicht wie unter normalen Verhält-
nissen mit einer rasch verlaufenden Zuckung reagiren, sondern fast
regelmässig in eine länger anhaltende Contractur oder wohl auch
einen Zustand dauernder Unruhe gerathen. Letzterenfalls hat man
Gelegenheit, zu beobachten, dass der secundäre Muskel jeder Be-
wegung des primären in allen Einzelheiten auf das Genaueste folgt,
als würde die Erregung von einem Präparat direct auf das andere
tibertragen. Bemerkenswerth ist auch das Verhalten der secundären
Erregung von vertrocknenden Muskeln zu angelegten Nerven, da es
zu Gunsten der Annahme zu sprechen scheint, dass der scheinbar
stetigen Contractur nach einmaliger kurzer Reizung eine rhythmisch-
discontinuirliche Zustandsänderung entspricht. Legt man den Nerven
eines empfindlichen Präparates der Länge nach an einen frei präpa-
rirten vertrocknenden Sartorius, so sieht man bei jeder Contractur
desselben den Schenkel in ruhigen secundären Tetanus verfallen,
gleichgiltig, ob jene durch eine discontinuirliche Erregung oder durch
einen einmaligen, kurzdauernden Reiz ausgelöst wurde. Gepresste
Muskeln zeigen nach Kühne, wie oben erwähnt wurde, ein ganz
gleiches Verhalten.
Die vollkommene Uebereinstimmung vertrocknender und gepresster
Muskeln lässt vermuthen, dass die auffallende Neigung zu secundärer
Erregung in beiden Fällen einer und derselben Ursache zuzuschreiben
ist, nämlich dem Wasser Verlust, der im einen Falle durch langsame
Verdunstung, im andern durch starken Druck herbeigeführt wird. Es
kann dabei kaum in Betracht kommen, dass die Veränderung im
einen Falle den ganzen Muskel, im andern dagegen nur einen
grösseren oder kleineren Abschnitt desselben betrifft, innerhalb dessen
die secundäre Erregung erfolgt. Kühne erwähnt selbst gelegentlich,
dass „der Muskel wie vertrocknet aus der Presse kam", und macht
an anderer Stelle auf das „trockene, glanzlose Aussehen" der ge-
pressten, abgeplatteten Muskelstrecke aufmerksam, deren Verhalten
auch nach Aufhören des Druckes noch bestehen bleibt, so dass noth-
wendig eine durch denselben bewirkte Veränderung der Muskel-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 367
Substanz als die eigentliche Ursache der secundären Wirksamkeit an-
gesehen werden muss. Auch hinsichtlich der Erregbarkeit scheinen
im Allgemeinen gepresste und vertrocknende Muskeln übereinzu-
stimmen, indem dieselbe in beiden Fällen erheblich gesteigert er-
scheint. Freilich ist dies bei langsamem Wasserverlust durch Ver-
dunstung in einem viel höheren Maasse der Fall, als bei dem Pressen,
wo Kühne nur Anfongs eine deutliche Erregbarkeitssteigerung der
Pressstrecke nachzuweisen vermochte, während dieselbe später, un-
geachtet starker secundärer Wirkungen, eine bedeutend verminderte
Anspruchsfähigkeit zeigte. Es kann übrigens die Erregbarkeitssteige-
rung an sich nicht als die alleinige Ursache der secundären Erregung-
angesehen werden, da sich leicht zeigen lässt, dass eine in anderer
Weise herbeigeführte, noch viel bedeutendere Erregbarkeitserhöhung
(etwa durch Einwirkung von Lösungen von Na^COg) den Muskeln
nicht die Fähigkeit ertheilt, in der geschilderten Weise auf einander
zu wirken. Ebenso wenig kann dies ferner durch den veränderten
zeitlichen Verlauf der Erregung bedingt sein, da sonst Vergiftung
mit Veratrin, wodurch die Muskeln bekanntlich auch in einen Zu-
stand gerathen, in welchem sie bei jedem leichten Reize in lang-
dauernde Contractur verfallen, die Fähigkeit der secundären Er-
regung von Muskel zu Muskel bedingen müsste, was nie der Fall ist.
Ein sehr wesentliches Moment scheint mir dagegen in dem Umstände
zu liegen, dass die gegenseitige Berührung der Präparate eine unver-
hältnissmässig innigere ist, wenn die sich berührenden Flächen einen
gewissen Grad von Trockenheit besitzen. Dies hat vielleicht auch
für den einzelnen Muskel Geltung, indem sich die einzelnen Primitiv-
fasern in dem Maasse dichter an einander legen, als der Muskel Wasser
verliert. Doch erscheint es dabei auffallend, dass, ungeachtet der un-
zweifelhaften Verschiedenheit des Wassergehaltes in den oberflächlich
und tiefer gelegenen Faserschichten des Muskels, die Uebertragung
der Erregung sich doch nicht bloss auf die ersteren zu beschränken
scheint , obschon die directe Reizung der feuchteren , fascienlosen
Innenseite weniger sicher zu secundärer Erregung des Muskels führt,
als Reizung der trockenen Aussenseite. Es scheint dies dafür zu
sprechen , dass die trockenen Faserschichten , welche zugleich die
erregbareren sind, sich vielleicht noch in anderer Beziehung (etwa
durch eine stärkere elektromotorische Wirksamkeit) vor den andern
auszeichnen. Jedenfalls dürften mehrere Umstände zusammenwirken,
um das geschilderte Verhalten vertrocknender oder gepresster Mus-
keln herbeizuführen.
Jüngst hat Langender ff (59) interessante Beobachtungen über
ganz analoge Erscheinungen wie an vertrocknenden
Muskeln nach Injection von Glycerin unter die Haut
von Fröschen mitgetheilt, die offenbar ebenfalls auf der durch
Wasserentziehung bedingten Fähigkeit zu secundärer Erregung von
Muskel zu Muskel beruhen. Werden 1,5 — 2 ccm Glycerin unter die
Rückenhaut eines curarisirten Frosches injicirt, so treten nach einiger
Zeit bei jeder Reizung eines Muskels heftige und lang andauernde
Contractionen nicht nur dieses letzteren selbst, sondern auch benach-
barter Muskeln auf, welche durchaus jenen gleichen, die man an ver-
trocknenden Präparaten zu beobachten Gelegenheit hat, und zweifellos
auch in gleicher Weise zu deuten sind.
368 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
III. Die positive Schwankung des Muskelstromes.
Nach Hering's Auffassung würde von den „Actionsströmen" im
Hermann'schen Sinne ^ welche nur durch absteigende Aenderung der
einen abgeleiteten Stelle entstehen, „eine andere Art von Actions-
strömen zu unterscheiden sein, welche durch aufsteigende Aenderung
der einen abgeleiteten Stelle bedingt sind, während die andere dabei
nicht nothwendig in absteigender Aenderung begriffen zu sein braucht".
Man würde, wie leicht ersichtlich, wenn dieser Fall bei Muskeln
wirklich vorkommt, als Folge tetanisirender Reize bei Vorhandensein
eines künstlichen Querschnittes nicht, wie in allen bisher besprochenen
Fällen, eine negative, sondern umgekehrt eine positive Schwankung
des Demarcationsstromes zu erwarten haben, indem jeder abgeleitete
Punkt der unversehrten Oberfläche in Folge der eingeleiteten auf-
steigenden Aenderung sich positiver zum Querschnitt verhalten müsste,
als vorher. In neuerer Zeit sind nun in der That einige Beobachtungen
mitgetheilt worden, welche zu beweisen scheinen, dass der inRede stehende,
theoretisch mögliche Fall wirklich vorkommt. Nachdem zuerst Gas kell
am Herzmuskel der Schildkröte bei Reizung des N. vagus eine aus-
gesprochene positive Schwankung beobachtet hatte, ist es mir selbst
gelungen, die gleiche Erscheinung bei indirecter tetanisirender Reizung
des Schliessmuskels der Ki-ebsscheere nachzuweisen. Auf Grund von
ausgedehnten Untersuchungen über die Innervation und die physio-
logischen Eigenschaften des Herzmuskels gelangte Gas kell (60) zu
der Ansicht, dass derselbe (wie auch andere Gewebe) von zweierlei,
functionell verschiedenen Nervenfasern versorgt wird, von welchen er
die einen (motorische bezw. accellerirende Nerven) als „katabolisch"
bezeichnet, weil es ihre Aufgabe sei, in dem Gewebe eine destruc-
tive Veränderung einzuleiten, die anderen (Hemmungsfasern) als
„anabolisch", weil die Veränderung , die sie hervorrufen , c o n -
structiver Art (assimilatorischer Natur) ist; wie dieser Auffassung
zu Folge „eine Zuckung oder ein Zuwachs in der Kraft der Muskel-
thätigkeit ein Zeichen von Disintegration (Dissimilation) ist oder ein
Zeichen der Thätigkeit eines katabolischen oder motorischen Nerven,
ebenso ist Erschlaffung ein Zeichen der Integration (Assimilation),
d. h. der Thätigkeit eines anabolischen oder Hemmungsnerven". Eine
ähnliche Ansicht hatte schon früher in Anlehnung an H e r i n g ' s Ent-
wicklungen Löwit (61) ausgesprochen. Auch waren bereits vor
G a s k e 1 1 , w^iewohl ohne Erfolg, daraufhin Versuche angestellt worden,
ob etwa der durch Vagusreizung bewirkte diastolische Stillstand des
Herzens von besonderen galvanischen Wirkungen begleitet sei. Mittels
des Telephons untersuchte Wedenski (62), mittels des Capillar-
elektrometers Taljantzeff (63) das Froschherz während des Vagus-
stillstandes; da im einen Falle kein Ton, im andern kein Ausschlag
bemerkbar wurde, so schien der Schluss auf Abwesenheit einer irgend-
wie gearteten galvanischen Wirkung begründet. Bei einer Reizung,
welche keine völlige Aufhebung, sondern nur eine Verlangsamung
der Herzschläge veranlasste, hörte Wedenski eine Reihe von kurzen,
mit den Herzperioden zusammenfallenden Tönen, deren Höhe derjenigen
des Inductoriums entsprach. Die Deutung derselben als Ausdruck
der Wirkung motorischer Vagusfasern muss aber wohl als sehr frag-
lich bezeichnet werden. Es ist nun ohne Weiteres klar, dass es nicht
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 369
wohl angeht, einen beweisenden Versuch über die eventuellen galva-
nischen Folgewirkungen der Vagusreizung wälirend der Fortdauer
der normalen rhythmischen Thätigkeit des Herzens anzustellen; an-
dererseits ist es aber nicht leicht, einen länger anhaltenden Still-
stand zu erzielen , ohne dass die anatomischen und functionellen
Beziehungen des Nerven zum Muskel in erheblichem Grade gestört
sind. Gas kell ist es jedoch gelungen, aus dem Herzen der Schild-
kröte ein Präparat zu gewinnen, welches dem gewöhnlichen Nerv-
Muskelpräparat insofern entspricht, als sich der Muskel dauernd in
Ruhe befindet, während dagegen der Nerv ein H emmungsn erv ist.
Bei der Schildkröte sowohl wie auch beim Krokodil verläuft ein be-
sonderer Nerv („Coronarnerv") mit einer der Coronarvenen vom Venen-
sinus zu der Herzfurche, den man im Zusammenhang mit dem Sinus
von den übrigen Herzabtheilungen völlig freipräpariren kann, so dass
der Nerv' nunmehr die einzige Verbindung zwischen dem vom Sinus
getrennten Vorhof mit seinem Ventrikel bildet. Da beide unmittelbar
nach der Trennung längere Zeit vollkommen ruhig bleiben und erst
später wieder zu pulsiren anfangen, so ist es möglich, während der
Ruhepause den beabsichtigten Versuch auszuführen. Zu diesem
Zwecke wird die Spitze des betreficnden Vorhofes verbrüht, so dass
ein starker Demarcationsstrom entsteht, wenn die ableitenden Elek-
troden einerseits den thermischen Querschnitt, anderseits die unver-
sehrte Basis berühren. Wie der Ventrikelstrom, so nimmt auch der
Vorhofsstrom Anfangs rasch, dann immer langsamer ab. Während
dieser Zeit bewirkt nun jede Vagusreizung eine posi-
tive Schwankung, welche, rasch beginnend, in der Regel schon
nach 10 Sekunden ihr Maximum erreicht, um nach Beendigung der
Reizung mit zunehmender Schnelligkeit zu verschwinden, so dass in
18 — 20 Sekunden der Magnet jene Lage einnimmt, in die er auch
ohne Vagusreizung gelangt sein würde. Es kann nicht bezweifelt
werden, dass diese Wirkung auf Veränderungen beruht, welche in dem
unverletzten Theil des Vorhofes entstehen und „von einem Zuwachs
der Positivität an dieser Stelle begleitet sind , geradeso Avie die Con-
traction des Vorhofes von einer Verminderung der Positivität des un-
verletzten Gewebes begleitet ist". Beginnt daher der Vorhof wieder
zu schlagen , so bewirkt jede Contraction eine in der Regel viel
stärkere negative Schwankung des Demarcationsstromes, doch
kommen auch Fälle vor, wo beide Schwankungsformen annähernd
gleich gross ausfallen ; ein charakteristischer Unterschied macht sich
jedoch stets hinsichtlich der Schnelligkeit des Abklingens beider Wir-
kungen geltend. Immer erfolgt der Rückschwung des Magneten nach
der negativen Schwankung unverhältnissmässig rascher als nach einer
positiven. Wird die Reizung des Vagus längere Zeit fortgesetzt, so
kann noch während derselben die positive Schwankung völlig abklingen.
Durch Atropinvergiftung lässt sich die Fähigkeit des Vagus, die ge-
schilderten galvanischen Wirkungen hervorzurufen, ebenso sicher auf-
heben, wie die bewegungshemmende Function desselben.
Bekanntlich steht das Herz nicht nur unter dem Einfluss hemmen-
der, sondern auch antagonistisch wirkender, erregender Nervenfasern,
und es war daher an die Möglichkeit zu denken, durch Reizung dieser
letzteren auch gegensinnige galvanische Wirkungen zu erzielen. In
der That ist es Gaskell gelungen, hierbei unter gewissen Umständen
eine negative Schwankung am ruhenden Ventrikel hervorzurufen (64).
Biedermann, Elektrophysiologie. 24
370 I^ie elektroniotorischen Wirkungen der Muskeln.
Untersuchungen, welche ich selbst über die Innervationsverhält-
nisse der Scheerenmuskeln des Krebses ausführte (65), deren Resultate
später noch eingehend zu besprechen sein werden, haben ergeben, dass
auch hier jeder der beiden antagonistisch wirkenden Muskeln, ähnlich
wie das Herz, unter dem Eiufluss von zweierlei, functionell verschie-
denen (hemmenden und erregenden) Faserarten steht, die, in dem-
selben Nervenstamm verlaufend, entgegengesetzte mechanische Effecte
hervorzurufen vermögen. Es lag daher der Gedanke nahe, dass den-
selben auch entgegengesetzte elektromotorische Wirkungen als negative
beziehungsweise positive Schwankung des Muskelstromes entsprechen
Avürden. Der Untersuchung standen allerdings nicht unerhebliche
Schwierigkeiten entgegen, die einerseits in dem Umstände begründet
sind, dass es wenigstens beim Flusskrebs nicht möglich ist, den Nei'ven
in erregbarem Zustande zu isoliren, während man andererseits ge-
zwungen ist, auch den Muskel innerhalb der Chitinschaale zu belassen.
Dazu zwingen, abgesehen von allen anderen Gründen, schon die Ur-
sprungsverhältnisse der einzelnen Fasern, welche, von einem sehr
grossen Theil der Innenfläche des Sclieerenendgliedes entspringend, im
Allgemeinen convergent nach der Sehne hin verlaufen. Es liegt daher
hier ein ähnliches Verhältniss vor, wie etwa an dem Sehnenspiegel des
Gastrocnemius vom Frosch. An welcher Stelle der Scheerenbasis man
auch immer die Schaale entfernen mag, immer liegen künstliche Quer-
schnitte der Muskelbündel vor, und nirgends tritt die unversehrte
Oberfläche (der natürliche Längsschnitt) allein zu Tage.
Es erscheint unter diesen Umständen am zweckmässigsten, einer-
seits von einer verletzten Stelle im Bereiche jenes Theiles der Scheere
abzuleiten, innerhalb dessen die Fasern des Schliessmuskels entspringen,
wobei es auf die Lage der betreff'enden Stelle im Allgemeinen nicht
ankommt, und sich anderseits des in elektromotorischer Hinsicht in-
differenten Gewebes zur Ableitung von den unversehrten Theilen des
Muskels zu bedienen, welches das Innere der hohlen Scheerenbranchen
ausfüllt und gewissermaassen als eine Verlängerung der Sehne ange-
sehen werden kann. Man bricht daher, am besten in der Nähe der
Scheerenbasis, ein kleines Stück der Schaale von der äusseren Kante
her nach der Innen- oder Aussenfläche hin mittels einer Knochenzange
weg. Die zweite, zur Ableitung des Demarcationsstromes dienende,
kleinere Oeffnung wird nach gänzlicher Entfernung des kleinen Oeff-
nungsmuskels ebenfalls am Aussenrande, etwa der Mitte der unbeweg-
lichen Scheerenbranche entsprechend, angelegt, so dass die Möglich-
keit besteht, gleichzeitig auch die Gestaltveränderungen des Schliess-
muskels durch die Bewegungen des anderen, frei eingelenkten Scheeren-
armes zu erkennen. Die Reizelektroden (Platinspitzen) werden durch
das längste Glied des Scheereuarmes nahe dem Aussenrande durch-
gestochen. Bei dieser Versuchsanordnung verhält sich natürlich die
der Scheerenbasis nähere Ableitungsstelle immer negativ zu der ent-
fernteren.
Wird nun nach vorgängiger Compensation des Demarcations-
stromes der Scheerennerv tetanisirend gereizt, so beobachtet man bei
allmählicher Annäherung der Rollen des Schlittenapparates in der Regel
zuerst eine mehr oder weniger beträchtliche Ablenkung im Sinne einer
positiven Schwankung des Demarcationsstromes, worauf doppelsinnige
(erst negative, dann positive) und schliesslich rein negative Ausschläge
erfolgen. Im Allgemeinen stehen auch hier die positiven Ablenkungen
Die elektromotorischeu Wirkungen der Muskeln. 371
an Grösse hinter den negativen zurück. Bezüglich des zeitlichen Ver-
laufes der positiven Schwankung ist zu bemerken, dass sie dem Be-
ginn der Reizung in der Regel rasch folgt und während derselben nur
sehr langsam abnimmt. Da der Schliessmuskel der Krebsscheere
häufig in einem mehr oder weniger ausgeprägten, tonischen Con-
tractionszustand sich befindet, welcher, wie später gezeigt werden wird,
durch schwache Reizung des Nerven beseitigt werden kann, während
starke Erregung stets die Contraction verstärkt, beziehungsweise her-
vorruft, so scheint es naheliegend, die erwähnten galvanischen Ver-
änderungen mit den gleichzeitigen Gestaltveränderungen des Muskels
in directeu, ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Doch lässt sich
ein derartiger Parallelismus der beiderlei Reizerfolge durchaus nicht
constatiren. Denn man hat Gelegenheit, sich oft genug davon zu
überzeugen, dass der elektrische Erfolg noch rein positiv oder doppel-
sinnig sein kann, während der Muskel schon dauernd tetanisch verkürzt
bleibt. Es kommen ferner gar nicht selten Fälle vor, wo der Schliess-
muskel sich bei einer gewissen Reizstärke kräftig contrahirt, während
die elektrischen Veränderungen äusserst geringfügig erscheinen, indem
entweder sichtlich ein Kampf gegensinniger Wirkungen besteht oder
überhaupt kein merklicher Erfolg, weder im positiven noch im nega-
tiven Sinne, zu beobachten ist. Stärkere Ströme bewirken in solchem
Falle gewöhnlich einsinnig negative Ablenkungen, die jedoch meist
eine auffallend geringe Grösse zeigen und gewöhnlich von einer starken
positiven Nachschwankung nach Beendigung der Reizung gefolgt er-
scheinen.
Auffallend geringe galvanische Wirkungen oder gänzliches Fehlen
derselben kommen, wie es scheint, besonders häufig bei Thieren vor,
welche vorher längere Zeit bei sehr niedriger Temperatur (0 — 5*^ C.)
gehalten wurden. Unter gleichen Umständen tritt in anderen Fällen
die positive Schwankung bei schwacher Reizung besonders deutlich
und stark hervor. Im Uebrigen gestalten sich jedoch die Versuchs-
resultate an Präparaten verschiedener, scheinbar gleich beschaffener
Krebse überaus wechselnd und mannigfaltig. In einzelnen Fällen ge-
lang es, durch sehr starke Curaredosen bei beliebigen Reizstärken
nur einsinnig positive Wirkungen zu erzielen, obschon sich der Muskel
noch bei jeder stärkeren Reizung tetanisch verkürzt und daher von einer
irgend vollständigen Curarewirkung nicht die Rede sein kann. Immer-
hin findet man auch sonst nach Curarevergiftung die positive Schwan-
kung im Vergleich zu normalen Präparaten stärker entwickelt, wenn-
gleich Ablenkungen im Sinne einer negativen Schwankung bei grösserer
Reizstärke noch hervortreten.
In der Folge ist es mir aber gelungen, rein einsinnige,
positive Wirkungen durch Anwendung eines einfachen Kunstgriffes
zu erzielen, indem durch Ermüdung des Schliessmuskels in Folge
einseitiger Inanspruchnahme seiner Leistungen die Erfolge der Reizung
der motorischen Antheile des Scheerennerven möglichst herab-
gedrückt wurden.
Es gelingt bei frischen, möglichst lebhaften Krebsen leicht und
in verhältnissmässig kurzer Zeit, den Schliessmuskel so weit zu er-
müden, dass eine willkürliche oder reflectorische Contraction desselben
nicht oder nur in sehr unvollkommener Weise möglich ist. Man darf
sich nur die Mühe nicht verdriessen lassen, durch beständig fort-
gesetzte Reizung des Thieres (Einschieben fester Körper und des
24*
372 I^ie elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Fingers zwischen die Scheerenbranchen) möglichst oft wiederholte, kräf-
tige Contractionen des betreffenden Muskels anzuregen. Die Anfangs
sehr bedeutende Kraft und Ausdauer desselben erlahmt dann über-
raschend bald; es werden immer längere Ruhepausen erforderlich,
um den Krebs zu abermaliger, wirksamer Schliessung der Scheeren zu
veranlassen, und schliesslich gelingt dies selbst durch die schmerz-
haftesten Eingriffe nicht mehr.
Wird nun ein so ermüdetes Präparat in der oben angegebenen
Weise auf seine elektromotorische Wirksamkeit während der Reizung
geprüft, so zeigt sich ausnahmslos, dass jede Spur einer nega-
tiven Schwankung fehlt, während starke positive Ab-
lenkungen jede überhaupt wirksame, tetanische Er-
regung des Nerven begleiten. Die Wirkung beginnt an ver-
schiedenen Thieren bei einer ziemlich wechselnden Stromstärke, nimmt
dann bei Annäherung der Rollen des Schlittenapparates bis zu einer
gewissen Grenze zu, um bei weiterer Steigerung der Reizstärke in der
Regel wieder etAvas abzunehmen, was vielleicht zum Theil noch als eine
Interferenzwirkung der beiden gegensinnigen Reizerfolge gedeutet
werden kann, wofür unter Anderem auch der Umstand spricht, dass
bei geringeren Graden der Erschöpfung des Schliessmuskels alle nur
möglichen Uebergänge zwischen doppelsinnigen Wirkungen mit vor-
wiegend positiven Ablenkungen, deren Grösse mit wachsender Strom-
stärke abnimmt, und rein positiver Schwankung vorkommen.
Die mehrfach betonte Unabhängigkeit der galvanischen Reiz-
erfolge von gleichzeitigen Gestaltveränderungen des Muskels ergiebt
sich aus den in Rede stehenden Versuchen mit zweifelloser Sicherheit.
In sehr vielen Fällen treten an ermüdeten Präparaten bei starker
künstlicher Reizung vom Nerven aus noch mechanische Erfolge ein,
die sich durch Verkürzung des Schliessmuskels äussern,
welche dann aber nicht von einer negativen, sondern
stets von einer positiven Schwankung des Muskel ström es
begleitet erscheint. In anderen Fällen wieder fehlen Gestalt-
veränderungen des Muskels selbst bei stärkster Reizung, während
demungeachtet die positive Schwankung in scheinbar unverminderter
Stärke hervortritt. Ich hatte Gelegenheit, dieselbe Erscheinung auch
einmal an einem Schliessmuskelpräparate von einem Krebs zu be-
obachten, dessen sämmtliche Muskeln offenbar pathologisch verändert
waren und Aveisslich getrübt, wie gekocht aussahen. Nach der in der
früher angegebenen Weise herbeigeführten Ermüdung contrahirten sich
die Schliessmuskeln der Scheeren selbst bei Reizung des Nerven mit
übergeschobenen Rollen auch nicht spurweise, obschon die positive
Schwankung des Muskelstromes sehr stark ausgeprägt war. Es er-
giebt sich daher aus den Versuchen mit voller Bestimmtheit, dass eine
positive Schwankung des Muskelstromes als Folgewirkung der Reizung
des Nerven nicht nur dann eintreten kann, wenn der tonisch verkürzte
Muskel erschlafft, sondern auch, wenn er im tonusfreien Zustande
keinerlei Gestaltveränderungen bei der Reizung erkennen lässt oder
sich dabei sogar verkürzt.
Bezüglich des zeitlichen Verlaufes der positiven Schwankung ist
zu erwähnen, dass der Beginn der Ablenkung in der Regel mit dem
Anfang der Reizung zusammenfällt, worauf das Scalenbild bei an-
haltendem Tetanisiren des Nerven zunächst einige Zeit in maximaler
Ablenkung verharrt, um bei Oeffnung des Reizkreises mit abnehmen-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 373
der Geschwindigkeit der Ruhelage sich zu nähern, die es jedoch,
wenigstens bei den ersten Reizungen, nicht vollständig wieder erreicht,
so dass der Muskelstrom in Folge der Nervenreizung zunächst dauernd
zunimmt.
Bewahrt man ein Präparat, das sich in jenem Zustande der Er-
müdung befindet, wo jede wirksame Reizung nur zu einer positiven
Schwankung des Muskelstromes führt, bei niederer Temperatur länger
auf, und prüft man von Zeit zu Zeit den Erfolg der Nervenreizung,
so findet man, dass die Ablenkungen unter sonst gleichartigen Be-
dingungen, bei gleichem Rollenabstand und gleicher Schliessungsdauer
allmählich geringer werden und unter Umständen sogar ihre Zeichen
wechseln, indem bei starker Reizung wieder eine schwache negative
Schwankung entweder als Vorschlag zu einer stärkeren, positiven Ab-
lenkung oder auch allein hervortritt. Es vermag sich daher ein er-
müdetes Muskelpräparat bei längerer Ruhe dem normalen, durch die
Doppelsinnigkeit der galvanischen Reizerfolge charakterisirten Zustande
bis zu einem gewissen Grade wieder zu nähern. Die erwähnten Ver-
änderungen sind unabhängig von der gleichzeitigen Abnahme des
Muskelstromes, die man durch nachti-ägliche weitere Verletzung bis-
her noch unversehrter Theile des Muskels leicht auszuschliessen ver-
mag. Wenn es, wie die vorstehend mitgetheilten, leicht zu bestätigen-
den Thatsachen zeigen, gelingt, den Schliessmuskel der Krebsscheere
einerseits durch anhaltende, erschöpfende Thätigkeit von Seite des
Centralorganes und andererseits, wenn auch minder sicher, durch
Vergiftung mit Curare in einen Zustand zu versetzen, wo derselbe bei
tetanisirender Reizung des zugehörigen Nerven nur positive Schwankung
des Muskelstromes zeigt, ist es noch viel leichter, diese letztere
Wirkung gänzlich auszuschliessen und bei sonst gleicher Versuchs-
anordnung nur einsinnig negative Schwankungen zu erzielen. Es
ist dies leicht begreiflich, wenn man berücksichtigt, dass die negativen
Wirkungen schon unter normalen Verhältnissen beträchtlich über-
wiegen und die entgegengesetzten positiven nur während eines sehr
beschränkten Intervalles der Reizscala rein hervortreten lassen, weiter-
hin aber vollständig decken.
Um nun diese letzteren auch schon bei schwacher Reizung ganz
zu unterdrücken, genügt es in der Regel, die Versuchsthiere vorher
während mehrerer Stunden in Wasser von 20 — 25 ^ C. zu halten oder
auch die abgeschnittenen Scheeren längere Zeit (etwa 1 Stunde) bei
gewöhnlicher Zimmertemperatur im feuchten Räume liegen zu lassen.
Der Schliessmuskel zeigt dann in Bezug auf die bei Nervenreizung
zu beobachtenden elektromotorischen Wirkungen ein gerade entgegen-
gesetztes Verhalten, wie nach anhaltender Thätigkeit.
Während der Muskel dann sowohl bei schwächster wirk-
samer Reizung der Nerven wie auch bei Anwendung der stärksten
Ströme immer nur eine einsinnig negative Schwankung beobachten
lässt und sich daher dann wie alle anderen bisher untersuchten, will-
kürlichen, quergestreiften Muskeln der Wirbelthiere verhält, treten
andernfalls an demselben Muskel unter gleichen Bedingungen der
Reizung und Ableitung gerade gegentheilige elektrische Veränderungen
ein, die sich durch eine positive Schwankung des Demarcationsstromes
äussern, und für welche es bisher nur noch am Herzmuskel der Wirbel-
thiere eine Analogie zu geben scheint.
374 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Beiderlei gegensinnige Schwankungen des Muskelstromes zeigen,
wenn sie unter den eben erwähnten Bedingungen als alleiniger Reiz-
erfolg auftreten, sowohl in Bezug auf ihre Stärke, wie auch hinsicht-
lich des zeitlichen Verlaufes einige bemerkenswerthe Eigenthümlich-
keiten, welche für die Deutung der Erscheinungen nicht ohne
Belang sind. Vor Allem fällt auf, dass im einen wie im andern Falle
die Grösse der am Galvanometer zu beobachtenden Ablenkungen fast
immer viel bedeutender ist, als unter möglichst gleichartigen Be-
dingungen bei einem ganz normalen frischen Präparate eines „Kalt-
krebses". Während hier die Ausschläge im einen oder andern Sinne
nur selten mehr als 50 Scalentheile betragen, gehören an einem er-
müdeten Schliessmuskel positive Ablenkungen von 100 Scalenth eilen
und noch bedeutendere negative Wirkungen an Präparaten von Warm-
krebsen zu den häufigen Befunden. Eine sehr auffallende Thatsache
ist ferner am normalen Schliessmuskel das rasche Zurückschwingen
des im Sinne einer negativen Schwankung abgelenkten Magneten bei
Fortdauer einer stärkeren Reizung, obschon, wie leicht nachzuweisen
ist, die tetanische Zusammenziehung des Muskels bei Weitem länger
anhält. Nicht selten überschreitet dann das Scalenbild sogar den Null-
punkt und bleibt im Sinne einer entgegengesetzten, positiven Schwankung
abgelenkt. Ein vorher erwärmtes Präparat verhält sich in dieser Be-
ziehung wesentlich verschieden : die negative Schwankung erreicht
hier rasch ihren grössten Werth und zeigt bei Fortdauer der Nerven-
reizung nur eine geringe Abnahme. Erst bei Oeffnung des Reizkreises
kehrt der Magnet in die Ruhelage zurück. Die Erscheinung verläuft
also in diesem Falle ähnlich, wie bei quergestreiften Wirbelthier-
muskeln.
Es wurde schon oben erwähnt, dass die positive Schwankung
des ermüdeten Schliessmuskels Anfangs in der Regel zu einer dauern-
den Verstärkung des Demarcationsstromes führt, während sie sich
weiterhin, bei öfter wiederholter Reizung jedes Mal langsam, aber voll-
ständig ausgleicht. Eine negative Nachschwankung, wie sie häufig an
stark curarisirten Präparaten beobachtet wird, fehlt regelmässig am
ermüdeten Muskel.
Die nächstliegende Frage, welche sich an das Auftreten der posi-
tiven Schwankung bei indirecter, tetanisirender Reizung des Schliess-
muskels knüpft, ist die, ob es sich hier um eine ähnliche discontinuir-
liche Zustandsänderung der Muskelsubstanz handelt, wie bei der die
Erregung sonst begleitenden negativen Schwankung. Leider ist es
mir nicht gelungen, diese Frage mit Hülfe eines Nerv-Muskel-Präparates
vom Frosche zu entscheiden, da es auch unter den günstigsten Um-
ständen nicht möglich scheint, secundäre Zuckung oder secundären
Tetanus vom Schliessmuskel aus zu erhalten.
Die Untersuchung der betreffenden Erscheinungen mittels des
Capillarelektrometers, zu der ich bisher nicht Gelegenheit fand, dürfte
wohl auch hier zum Ziele führen.
Die hier mitgetheilten Untersuchungsergebnisse gestatten nun mit
Rücksicht auf andere, später zu erörternde Beobaclitungen an dem-
selben Präparate eine Deutung, Avelche sich unmittelbar an die oben
erwähnte Auffassung G as kell 's anlehnt. Berücksichtigt man, dass der
Schliessmuskel der Krebscheere nachweislich A^on zwei functionell ver-
schiedenen, hemmenden und erregenden (Assimilirungs- und Dissimi-
lirungs-) Nerven versorgt Avird, welche bei ihrer Erregung entgegen-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 375
gesetzte Zustandsänderungen der Muskelsubstanz herbeiführen, die
sich einerseits durch gegensinnige Gestaltveränderungen, andererseits
aber durch gegensätztliche elektromotorische Wirkungen äussern können,
so würde man anzunehmen haben, dass der bei nicht zu ge-
ringer Intensität des künstlichen, auf den Nerven
wirkenden Reizes zu beobachtende galvanische Erfolg
in der Regel das Resultat des Zusammenwirkens von
zwei gegensätzlichen, gleichzeitig angeregten Pro-
cessen ist, deren wechselseitigesVerhältniss einerseits
von der Stärke der Reizung, andererseits aber von dem
jeweiligen Zustande des Muskels abhängig erscheint.
Zu Gunsten der Annahme einer versteckten Doppelsinnigkeit der
galvanischen Reizerfolge auch in dem Falle, wo, wie bei starker
Reizung des normalen Schliessmuskels , thatsächlich nur einsinnige
negative Ablenkungen beobachtet werden, spricht vor Allem deren
überaus wechselnde Grösse unter annähernd gleichen Versuchs-
bedingungen. Es erklärt sich dann auch ohne Weiteres die auffallende
Thatsache, dass gerade an frischen, sehr lebenskräftigen Thieren ent-
nommenen Präparaten die galvanischen Wirkungen der Reizung oft
sehr geringfügig erscheinen und bei einer gewissen mittleren Strom-
stärke gänzlich fehlen können. Es wird dies immer dann der Fall
sein müssen, wenn die beiden entgegengesetzten Processe sich in Be-
zug auf die dadurch bewirkten elektrischen Veränderungen des Mus-
kels gerade aufheben. Endlich stehen auch die früher erwähnten
doppelsinnigen Wirkungen und Interferenzerscheinungen (die positive
Nachschwankung und das Oscilliren des Magneten um eine neue
Gleichgewichtslage) mit der obigen Annahme im Einklang. Wenn
es sich darum handelt, die einsinnigen, aber entgegengesetzten
Wirkungen sehr schwacher und stärkster Reizung zu erklären, so
würde ersterenfalls eine leichtere Anspruchsfähigkeit der hemmenden
(assimilirenden), andererseits ein Ueberwiegen der durch die erregen-
den (dissimilirenden) Fasern im Muskel ausgelösten Processe an-
zunehmen sein.
Es muss ferner noch der Umstand besonders hervorgehoben
werden, dass es, wie die Erfahrung lehrt, durch künstliche Reizung
des Nervenstammes niemals gelingt, jenen Ermüdungszustand des
Muskels , in welchem sich derselbe durch eine besondere Dis-
position für die positiven galvanischen Erfolge auszeichnet, herbei-
zuführen, während der Versuch niemals fehlschlägt, wenn die Er-
müdung durch natürliche Erregung des Nerven von Seite des Central-
organes bewirkt wird. Dieser Unterschied wird begreiflich, wenn
man annimmt, dass letzterenfalls die erregenden Fasern allein oder
doch vorwiegend in Anspruch genommen werden, wähi'cnd bei künst-
licher Reizung nothwendig immer beide Faserarten zugleich erregt
werden, so dass die im einen und im andern Falle resultirenden Zu-
standsänderungen des Muskels auch entsprechend verschieden sein
müssen.
Besonderer Nachdruck muss endlich auch auf die Thatsache ge-
legt werden, dass bei indirecter Reizung des Schliessmuskels die
galvanischen Wirkungen keineswegs in so naher Beziehung zu den
mechanischen Reizerfolgen stehen, wie dies auf Grund zahlreicher Er-
fahrungen an Nerv-Muskel-Präparaten von Wirbelthieren anzunehmen
ist. Es macht sich vielmehr, wie gezeigt wurde, eine sehr weitgehende
376 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Unabhängigkeit beider bemerkbar, indem ungeachtet kräftiger Con-
traction des Muskels der galvanische Erfolg der Reizung unter Um-
ständen nur in geringem Maasse, wenn auch im richtigen Sinne (als
negative Schwankung) entwickelt erscheint, in anderen Fällen aber
gänzlich fehlen kann oder sogar als positive Schwankung hervortritt.
Diese Thatsache nöthigt mit Rücksicht auf die vorstehenden Er-
örterungen zu der Annahme, dass das gegenseitige Verhält-
niss der beiden im Muskel gleichzeitig angeregten
Processe in Bezug auf den mechanischen Erfolg der
Reizung einen anderen Werth besitzen kann, als in Be-
zug auf die elektromotorischen Wirkungen, indem dort
die Folgen der Erregung, hier aber die der gleichzeitigen Hemmung
überwiegen, resp. allein zum Ausdruck gelangen.
Es sei hierbei auf die Analogie hingewiesen, welche zwischen
diesem Verhalten des Schliessmuskels und Beobachtungen von Fano
am Herzmuskel der Schildkröte zu bestehen scheint, wo ebenfalls
keine vollkommene Uebereinstimmung zwischen den Gestaltver-
änderungen des Muskels und den gleichzeitig zu beobachtenden
elektrischen Erscheinungen besteht (66).
IV. Die secundär elektromotorischen Ersclieinungen au
MusIlcIu.
An Muskeln (wie auch Nerven , elektrischen Organen und wohl
überhaupt an irritablem Plasma) treten im Gefolge elektrischer Durch-
strömung gewisse elektromotorische Wirkungen hervor, welche sich
den Actionsströmen auf's Innigste anschliessen und gewissermaassen
nur eine besondere Erscheinungsweise derselben darstellen. Schon
1834 entdeckte P eitler, dass länger durchströmte Froschglied-
maassen, sowie isolirte Muskeln, ja Stücke von solchen einen Strom im
umgekehrten Sinne entwickeln. Er deutete dies darauf, dass an den
Grenzflächen zwischen thierischen Theilen und zuleitender Flüssigkeit,
wie an einer metallischen Zwischenplatte, Sauerstoff und Wasserstoff
ausgeschieden werden.
Du Bois-Reymond (67) , der die Untersuchung dieser Ver-
hältnisse später wieder aufnahm, glaubte sich überzeugt zu haben,
dass der secundäre Strom (Nachstrom), wenn überhaupt, so doch nicht
ausschliesslich von den an den Polen ausgeschiedenen Jonen abhängig
ist, sondern auch von den dazwischen gelegenen Strecken ausgeht,
indem er jeden beliebigen Abschnitt der intrapolaren Strecke eines
längsdurchströmten Muskels nach Oeffnung des polarisirenden Stromes
in gleichem Sinne elektromotorisch wirksam fand ; er vertrat dem-
zufolge die Ansicht, dass es sich hier hauptsächlich um sogenannte
„innere Polarisation" handelt.
Zahlreiche anorganische und organische poröse, mit einem
Elektrolyten getränkte Körper besitzen in der That die Fähigkeit,
negative innere Polarisation anzunehmen. Der polarisirende Strom
theilt sich dann zwischen der schlechter leitenden, tränkenden Flüssig-
keit und dem porösen Gerüst, wobei das letztere durch ausgeschiedene
Jonen polarisirt wird. „Jedes der unzähligen Zwischenplättchen wirkt
nun elektromotorisch im umgekehrten Sinne von dem, in welchem es
durchflössen wurde." Aus der Superposition aller dieser Partialströme
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 377
geht dann der durch den angelegten Bogen sich ergiessende Stromzweig
hervor. Jede gleich lange Strecke eines solchen regelmässig gestalteten
(etwa prismatischen oder cylindrischen) Körpers wirkt im Allgemeinen
nach der Durchströmung gleich stark secundär elektromotorisch. Es
zeigte sich jedoch bald, dass durchströmte lebende Muskeln sich in dieser
Beziehung ganz wesentlich verschieden verhalten, wie todte organische
oder anorganische Körper, vor allen Dingen in dem Punkte, dass
neben den negativen unter Umständen auch positive
Nachströme auftreten. Um die Polarisationserscheinungen an
Muskeln zu untersuchen, bediente sich Du Bois-Reymond in der
Regel der gehörig ausgespannten Musculi gracilis und semimembra-
nosus. Je ein Paar unpolarisirbarer Elektroden dienten einerseits zur
Zuleitung des polarisirenden Stromes, andererseits zur Ableitung des
Polarisationsstromes. Die letzteren wurden in der Regel zwischen
jenen innerhalb der intrapolaren Strecke angelegt. Durch eine be-
sondere Vorrichtung war es möglich, die „Schliessungszeit", d. i. die
Zeit, während welcher der polarisirende Strom durch das Polarisations-
object gesandt wird, von 0,001 — 20 Sekunden zu verändern. Die-
selbe Vorrichtung vermittelte zugleich die Schliessung des Bussol-
kreises nach Oeffnung des Kettenkreises nach möglichst kurzer und
immer gleicher Zeit.
Die secundär elektromotorischen Wirkungen, welche unter den
erwähnten Versuchsbedingungen an Muskeln beobachtet werden,
hängen nun sehr wesentlich ab von der Dichte und Dauer des pri-
mären Stromes, und erscheinen wegen der beständigen Interferenz
negativer und positiver Wirkungen zunächst sehr verworren. „Bei
Stromdichten unter der von zwei Grove und bei ganz kurzer
Schliessungszeit erscheint überhaupt keine an der Bussole bemerkbare
Polarisation. Die ersten Spuren, welche man bei einem Daniell und
einer Sekunde Schliessungszeit auftreten sieht, sind negativ. Die ersten
positiven Spuren dagegen kommen erst bei zwei Grove und ungefähr
0,3 Sek. Schliessungszeit zum Vorschein."
Bei wachsender Schliessungszeit sah Du Bois-Reymond die
positive Polarisation rasch ein Maximum erreichen, um dann langsamer
abzunehmen und in negative Polarisation überzugehen, welche dann
ihrerseits bis zu einem Maximum zunimmt. Als „kritische" Schliessungs-
zeit bezeichnet Du Bois-Reymond jene, bei welcher die positive
Polarisation in die negative übergeht. Die stärkste positive Polari-
sation wurde bei diesen Versuchen durch 0,075 Sek. lange Schliessung
von 20 Grove (!), die stärkste negative Polarisation bei 10 Minuten
langer Schliessung eines Grove beobachtet. Kurz dauernde Strom-
stösse (Inductionsschläge) erzeugen stets nur positive Polarisation.
Sowohl die positive als auch die negative Polarisation sind sehr
nachhaltig und überdauern unter Umständen die Oeffnung des polari-
sirenden Stromes um 20 Minuten und mehr. Erfolgte diese letztere
um die kritische Zeit, so beobachtete Du Bois-Reymond nicht
selten doppelsinnige Ablenkungen, und zwar meist zuerst negativer,
dann positiver Polarisation entsprechend. Es hat dies Verhalten seinen
Grund in dem Umstände, dass vom Augenblick der Schliessung an
stets beide Polarisationen gleichzeitig vorhanden sind, aber nach
verschiedenen Gesetzen wachsen, „indem die negative Polarisation
mehr der Schliessungszeit proportional zunimmt, die positive zuerst
schnell, dann langsam ansteigt".
378 I^iß elektromotorisclien Wirkungen der Muskeln.
Durch Versuche, bei Avelchen abwechselnd die obere und untere
Hälfte regelmässiger Muskeln durchströmt und auf ihren Polarisations-
zustand geprüft wurde, hielt es ferner Du Bois-Reymond für
erwiesen, dass „die obere Hälfte in aufsteigender, die untere in ab-
steigender Richtung stärkere positive Polarisation zeigt".
Abgestorbene Muskeln zeigen zwar noch Spuren negativer
innerer Polarisirbarkeit, die erst durch Kochen ganz vernichtet
werden ; positive Polarisation kommt dagegen ausschliesslich nur
lebenden Muskeln zu.
Du Bois-Reymond gelangt zu dem Schlüsse, „dass in den
positiv - polarisirbaren Gebilden nicht dem primären Strome gleich-
gerichtete elektromotorische Kräfte erzeugt, sondern dass die Träger
schon vorhandener elektromotorischer Kräfte (elektromotorischeMolekeln)
dem primären Strome gleichgerichtet werden".
Wie wenig jedoch auch diese Befunde geeignet sind, der Mole-
kulartheorie als Stütze zu dienen, ergiebt sich sehr schlagend aus den
späteren Untersuchungen von Hering und Hermann (68 und 69).
Hering lieferte in überzeugender Weise den Beweis, dass von
einer inneren positiven oder negativen Polarisation längsdurch-
strömter Muskeln im Sinne Du Bois-Reymond 's zunächst über-
haupt nicht die Rede sein könne, indem der wesentliche Sitz der
durch den Reizstrom bedingten elektromotorischen Veränderungen
diejenigen Stellen der contractilen Substanz sind, an welchen der
Strom ein- und austritt (die physiologischen Pole), so dass die nahe
Beziehung zwischen diesen Erscheinungen und den polaren Stromes-
wirkungen unverkennbar hervortritt.
Wenn im Sinne früherer Auseinandersetzungen jede Veränderung
der chemischen Thätigkeit in irgend einem Theil der Muskelfaser die
allgemeine Bedingung für das Auftreten elektromotorischer Wirkungen
ist, so lässt sich von vornherein erwarten, dass bei Durch-
strömung eines parallelfaserigen Muskels die an der physiologischen
Kathode und Anode voraussichtlich eintretende Alterirung des Chemis-
mus der contractilen Substanz zur Entstehung von Spannungsdifferenzen
führen dürfte, welche sich verrathen müssten , wenn das eine oder
andere alterirte Muskelende mit einer Stelle der im Uebrigen unver-
ändert gebliebenen Muskeloberfläche ableitend verbunden wird. Die
Resultate, zu welchen Hering durch derartige Versuche am Mus-
culus sartorius des Frosches gelangte, entsprechen in der That durch-
aus dieser Voraussetzung.
Wird der genannte Muskel bei massiger Spannung fixirt und von
den beiderseits belassenen Knochonstümpfen her durchströmt, so zeigt
sich bei Ableitung von dem einen oder anderen Sehnenende und
einem Punkte der Längsoberfläche der vor der Durchströmung ge-
messene Muskelstrom nach der Oeffnung des Reizstromes wesentlich
verändert imd je nach der Richtung, Stärke und Dauer des letzteren
und Stärke und Richtung des anfänglichen Muskelstromes vermehrt,
vermindert, ganz verschwunden oder umgekehrt. Hat man den
Muskelstrora zuvor compensirt, so erhält man den positiven oder
negativen Zuwüchsen des Muskelstromes entsprechende „Polarisations-
ströme", welche positiv oder negativ, d. i. dem Reizstrom gleich oder
entgegengesetzt gerichtet sein können. Da dieselben ihre wesentliche
Quelle an den anodischen und kathodischen Stellen der Muskelsubstanz
haben, so untersclieidet Hering eine a n o d i s c h e und kathodische
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 379
Polarisation. Die erstere kann je nach der Stärke und Dauer des
Reizstromes sowohl positiv als negativ sein, die letztere ist in der
grossen Mehrzahl der Fälle nur negativ.
Sehr schwache Ströme geben am frischen Muskel, sofern sich
nur das anodische Sehnenende und ein etwa der Mitte entsprechender
Punkt der Längsoberfläche im Bussolkreise befinden, bei kurzer
Schliessungsdauer stets einen negativen Polarisationsstrom. Mit
stärkeren Reizströmen erhält man dagegen bei nicht allzu kurzer
Schliessungsdauer immer nur positive Polarisation, die um so stärker
wird, je stärkere Ströme man anwendet, und schliesslich selbst die
stärkste negativ-anodische Polarisation bei Weitem übertrifft.
Sehr starke Ströme geben selbst bei möglichst kurzer Schliessungs-
zeit sofort positive Polarisation, während schwächere bei kurzer
Schliessungszeit noch negative oder doppelsinnige (erst negative, dann
positive) Polarisation und erst nach längerem Geschlossenbleiben rein
positive Polarisation geben. Ganz analog den starken Strömen bei
kürzester Schliessungsdauer verhalten sich auch Inductionsströme, in-
dem sie nur positive anodische Polarisation geben.
Alle diese Polarisationserscheinungen (Nachströme)
fehlen vollständig oder treten nur spur weise auf, wenn
beide ableitendeBussolelektroden der Längs Oberfläche
des Muskels anliegen, ohne dem einen oder anderen
Muskelende zu nahe zu kommen.
Da nach der Herman n'schen Alterationstheorie erregte Muskel-
substanz sich in Bezug auf nicht erregte negativ verhält, so kann es,
wenn man die Bedingungen und das Verhalten der Oeffnungserregung
des Muskels berücksichtigt, nicht zweifelhaft sein, dass die positive
anodische Polarisation als Ausdruck derselben zu gelten hat, indem
„der durch die Veränderungen der anodischen Stellen
der contractilen Substanz bedingte positive Polari-
sationsstrom ein Actionsstrom ist, erzeugt durch die
von der Anode ausgehende Oeffnungserregung, ein
Actionsstrom, der sich allerdings wesentlich anders
verhält, als die bisher allein besprochenen, durch
Schliessungsreize bewirkten Actionsstrom e.
In dieser Beziehung ist insbesondere die lange Dauer der Nega-
tivität der anodischen Stellen bemerkenswerth , die sich jedoch leicht
aus dem Umstände erklärt, dass die Oeffnung eines Kettenstromes
unter Umständen zu einer lang andauernden Erregung (Oeffnungs-
dauercontraction) des Muskels führt. Dieselbe klingt allmählich ab,
indem sie sich mehr und mehr auf die anodischen Stellen des Muskels
zurückzieht. Aber auch dann, wenn es, wie bei Anwendung schwä-
cherer oder kurz dauernder stärkerer Ströme, nicht zu einer sicht-
baren Oeffnungsdauercontraction oder nicht einmal zu einer Oeffnungs-
zuckung kommt, steht nichts im Wege, den beobachteten positiven
Polarisationsstrom als den Ausdruck der einige Zeit andauernden
Oeffnungserregung anzusehen, da sich ein geringer Grad von Con-
traction überhaupt nur schwer oder gar nicht nachweisen lässt, ins-
besondere wenn sich dieselbe auf die unmittelbare Nähe der anodischen
oder kathodischen Muskelstellen beschränkt und da ausserdem Nega-
tivität als Ausdruck der Erregung vorhanden sein kann ohne jede
Spur von Contractionserscheinungen.
380 I^i^ elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Hermann weicht in seiner Auffassung der positiv - anodischen
Nachströme nur insofern von Hering 's Anschauung ab, als er,
ausgehend von der Annahme eines interpolaren Elektro tonus, den
Oeffnungsactionsstrom in der ganzen anelektrotonischen Muskelstrecke
entstehen lässt. Es wurde dagegen schon früher gezeigt, dass, wenn
man nicht übermässig starke Ströme anwendet, alle in ihrer Ge-
sammtheit als „Elektrotonus" zu bezeichnenden Veränderungen allein
auf die physiologischen Elektrodenstellen beschränkt sind.
Hinsichtlich der kathodischen Polarisation ist zu bemerken, dass
dieselbe fast ausnahmslos am quergestreiften Muskel negativ ge-
funden wird. Sie wird bei Ableitung des durchströmten Sartorius
vom kathodischen Muskelende und der Muskelmitte und bei An-
wendung sehr schwacher Ströme erst nach einer Schliessungszeit von
mehreren Sekunden merklich, und nimmt stetig zu bei Steigerung der
Stromstärke und der Schliessungszeit. Vergleicht man sie mit den
positiv -anodischen Nachströmen, welche man bei derselben Stärke
des Reizstromes und derselben Stromesdauer am gleichen Muskel-
ende erhält, so sieht man die letzteren bald viel stärker werden,
als die ersteren. Bei sehr starken Strömen und langer Schliessungs-
dauer kann die negative kathodische Polarisation so stark werden,
wie etwa der ebenfalls abterminale Muskelstrom, welcher sich
zeigt, wenn man bei unveränderter Lage der Bussolelektroden das
betreffende Ende des Muskels abgetödtet hat. Inductionsströme geben
ebenfalls negative kathodische Polarisation, welche aber wesentlich
schwächer ist, als die positiv-anodische Polarisation, wie sie von
gleichstarken Inductionsströmen an demselben Muskel (Sartorius) be-
wirkt wird. Das allgemeine Ergebniss ist also, dass mit wachsen-
der Stärke und Dauer des Reizstromes die kathodische
Muskelgegend (physiologische Kathode) zunehmend
negativer im Vergleich mit der Muskelmitte wird.
Würde es sich diesfalls um eine der physikalischen, inneren Polari-
sation gleichwerthige Erscheinung handeln, so müsste, wie schon
früher erwähnt wurde, der negative Polarisationsstrom bei beliebiger
Ableitung innerhalb der interpolaren Strecke in annähernd gleicher
Stärke hervortreten, was jedoch, wie Hering zeigte, niemals der
Fall ist. Vielmehr wird, wenn die beiden Bussolelektroden an der
Grenze zwischen dem oberen und mittleren Drittel des Sartorius an-
gelegt werden, während der Reizstrom wie früher durch die Knochen
zugeleitet wird, entweder gar kein Polarisationsstrom beobachtet, oder
er ist im Vergleich zu der anodischen und kathodischen Polarisation
so geringfügig, dass man ihn füglich vernachlässigen durfte. Die
relativ scii wachen Wirkungen, welche man in der interpolaren Strecke
bei Anwendung sehr starker Ströme und langer Schliessungszeit zu
beobachten Gelegenheit hat, lassen sich hinreichend bei Berücksichti-
gung des Umstandes erklären, dass die polaren Stellen des
Muskels niemals ausschliesslich auf die Muskelenden beschränkt sind,
was unter Anderem schon dadurch bedingt wird, dass der Sartorius
nicht selten kurze Fasern enthält, die im Verlaufe des Muskels endigen,
beziehungsweise beginnen. Andei-erseits bedingt selbstverständlich das
Auftreten der Schliessungs- und Oeffnungsdauercontraction Ungleich-
artigkeiten der einzelnen Theile der interpolaren Strecke. Es liegt
daher vorläufig kein genügender Anlass vor, eine innere Polarisation
der Muskelsubstanz im Sinne Du Bois-Reymond's anzunehmen.
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln, 381
Vielmehr lassen sich auch alle Erscheinungen der nega-
tiven kathodischen Polarisation durch die chemische
Alterirung (Erregung bezw. locale Ermüdung) der Ge-
sammtheit aller kathodischen Faserstellen erklären.
Daran können auch neuere Versuche von Du Bois-Reymond
nichts ändern, bei welchen am curarisirten Sartorius des Frosches
bei Anwendung eines Stromes von 10 Grove'schen Elementen nach
einer Schliessungszeit von 15 — 25 Minuten „in jeder Strecke des
Muskels eine secundär-elektromotorische Kraft im ungekehrten Sinne
des polarisirenden Stromes" erzeugt wurde, deren Grösse mit der
Länge der abgeleiteten Strecke zunimmt. Denn wie sehr durch solche
übermässig starke Ströme die Erregungs- und Leitungsbedingungen
des Muskels verändert werden, beweist zur Genüge das Auftreten des
galvanischen Wogens unter solchen Umständen, sowie jene oft ausser-
ordentlich starke und weit über die intrapolare Mviskelstrecke ver-
breitete Dauererregung in der Umgebung der Anode, die, wie schon
erwähnt, auf dem Wirksamwerden secundärer Elektrodenstellen beruht.
Dass aber Versuche, welche unter so abnormen Bedingungen
angestellt wurden, das einfache und klare Resultat der Untersuchungen
Hering's in keiner Weise zu beeinträchtigen vermögen, dürfte nach
dem Gesagten wohl kaum zweifelhaft sein.
In schlagendster Weise wird aber die Thatsache, dass die secundär-
elektromotorischen Erscheinungen rein polare Wirkungen des Stromes
darstellen, durch den Umstand bewiesen, dass Abtödtuug der ano-
dischen beziehungsweise kathodischen Muskelstellen das Zustande-
kommen sowohl positiv anodischer, wie auch negativ kathodischer
Polarisation in ganz gleicher Weise zu hindern vermag, wie bekannt-
lich die Oeffnungs- und Schliessungserregung. Der negative und
insbesondere der positive Polarisationsstrom sind also
geknüpft an die Integrität der kathodischen beziehungs-
weise anodischen Stellen der erregbaren Substanz.
Hermann hebt dies nur mit Rücksicht auf den positiv anodischen
Nachstrom an Muskeln hervor und bezeichnet denselben daher allein
als einen „irritativen", im Gegensatz zu dem „von wirklicher
Polarisation herrührenden" negativen Nachstrom. Er lässt den letz-
teren, wie Du Bois-Reymond, auf der ganzen interpolaren Strecke
und nach partieller Durchströmung auch in den extrapolaren Strecken
in Folge einer Polarisation entstehen, die er für gleichwerthig hält mit
gewissen, später zu besprechenden Polarisationserscheinungen, welche
man an markhaltigen Nerven, sowie an einem von einem Elektrolyten
umhüllten, polarisirbaren Draht beobachtet, dessen Hülle ein Strom
zugeleitet wird. Er findet die Erscheinungen an derartigen (Kern-
leiter-)Modellen in Uebereinstimmung mit den an Muskeln (und Nerven)
sowohl interpolar wie auch extrapolar zu beobachtenden Polarisations-
erscheinungen, indem der „polarisatorische Nachstrom" ersteren Falls
dem polarisirenden Strome gegensinnig, letzteren Falls aber gleich-
sinnig sei.
Es wird auf diese Verhältnisse bei Besprechung der elektrischen
Nervenreizung noch näher einzugehen sein; vorläufig möge erwähnt
sein, dass, so wenig derartige Wirkungen unter gewissen Bedingungen
geläugnet werden sollen, beim Muskel innerhalb gewisser, so zu sagen
physiologischer Grenzen der Stromstärke auch der negativ kathodische
-Nachstrom, wie der positiv anodische als ein „irritativer", auf
382 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
rein polaren Stromeswirkungen beruhender Nachstrom bezeichnet
werden muss.
Die ursprünglichen, ganz abweichenden Resultate Du Bois-
Reymond's sind, wie Hering gezeigt hat, wesentlich dem Umstände
zuzuschreiben, dass er sich zweier Muskeln bediente, deren einer
gänzlich, der andere wenigstens theilweise von einer sehnigen Inscrip-
tion durchsetzt wird. Leitet man hier von zwei Punkten der inter-
polaren Strecke ab, so werden in der Regel zahlreiche anodische und
kathodische Stellen zwischen den Fusspunkten des ableitenden Bogens
gelegen sein, am meisten natürlich dann, wenn die sehnige, noch dazu
sehr schief zur Muskelaxe verlaufende Scheidewand, welche jeden der
beiden Muskeln so durchtrennt, dass er gleichsam aus zwei hinter
einander liegenden Sondermuskeln besteht, ganz zwischen den beiden
Bussolelektroden liegt. Vor der Inscription tritt der Strom aus den
Fasern des einen Sondermuskels aus, um hinter derselben wieder in
die Fasern des zweiten Sondermuskels einzutreten. Auf der einen
Seite der Inscription liegen also unzählige kathodische, auf der an-
deren gleichviel anodische Stellen, und die einen wie die andern sind
Sitz polarer Veränderungen.
Auch hier versuchte Du Bois-Reymond neuerdings vom Stand-
punkt der Molekulartheorie aus eine andere Deutung zu geben, deren
Unzulänglichkeit jedoch zu augenfällig hervortritt, als dass er nicht
selbst die grossen Schwierigkeiten hätte erkennen müssen, die auch
durch eine ganze Reihe von Hülfshypothesen nicht zu bewältigen
waren. Die Polarisationserscheinungen am Gracilis sollen aus der an
einem „Thonphantom" (hestehend aus einem in der Mitte zerschnittenen,
rundlichen Thonstempel, zwischen dessen beide Hälften die Patellar-
sehne eines Frosches geldemmt wurde) geprüften Annahme hergeleitet
werden, dass „in jedem Flächenelement der Inscription eine axial ge-
richtete Gegenkraft entsteht". Indessen entsprachen die Beobachtungen
dem theoretisch geforderten Verhalten des Muskels nicht in befrie-
digender Weise, so dass sich Du Bois-Reymond zu der Annahme
einer „unechten inneren Polarisation" gedrängt sieht, für welche
eine Erklärung überhaupt nicht gegeben wird. Als Sitz der „echten"
Polarisation an den Faserenden wird wieder die parelektronomische
Schicht oder Strecke bezeichnet. Dieselbe auf negative Schwankung
zu beziehen hält aber Du Bois-Reymond für ausgeschlossen, weil
„zwischen den mechanischen Reizerfolgen und der Polarisation durch-
aus keine solche Beziehung obzuwalten scheint, wie sie nöthig wäre,
um die Polarisation als Nachwirkung negativer Schwankung oder als
negative Schwankung selbst aufzufassen". Dabei wird freilich ganz
ausser Acht gelassen, dass ein derartiger vollkommener Parallelismus
zwischen den sichtbaren Folgen der Oeffnungserregung und dem
positiv anodischen Nachstrom ebensowenig besteht, wobei doch jeder
Zweifel über den ursächlichen Zusammenhang gänzlich ausgeschlossen
erscheint. Du Bois-Reymond geht aber sogar so weit, das Vor-
handensein einer Dauerreguug am Sartorius bei Versuchen zu leugnen,
welche in ähnlicher Weise angestellt wurden, wie die Polarisations-
versuche. Unter diesen Umständen auf weitere Einzelheiten der er-
wähnten Abhandlung näher einzugehen, scheint mir daher an dieser
Stelle kaum gerechtfertigt, und kann auf die jüngst von Hering ge-
gebene eingehende Kritik derselben verwiesen werden (68).
Auf den ersten Blick könnte man einen Grund für Du B o i s -
Die elektromotorischeu Wirkungen der Muskeln. 383
Reyinond's Ansicht und gegen die Auffassung des positiv anodischen
Nachstromes als galvanischen Ausdrucks der Oeffnungserregung in dem
Umstand erblicken, dass die geschilderten Folgewirkungen der Durch-
strömung auch im Zustande tiefster Aethernarkose des Muskels in
gleicher Weise hervortreten, wenngleich selbst die stärkste Reizung
keine Spur sichtbarer Gestaltveränderungen bewirkt. Es scheint
daher, dass die örtliche Reactionsfähigkeit des Muskels durch die
Narkose nicht in merklichem Grade beeinflusst wird, soweit sich dies
durch galvanometrisch nachweisbare Veränderungen zu erkennen giebt,
indem sich immer zeigen lässt , dass die Fähigkeit desselben,
bei Reizung mit dem elektrischen Strome einen positiv
anodischenNach Strom zu liefern, selbst durch einelang
fortgesetzte Aetherbehandlung nicht nur nicht leidet,
sondern zu nach st so gar beträchtlich zunimmt, sich dann
einige Zeit constant erhält und erst sehr spät merklich
abnimmt. Untersucht man in gleicher Weise die negativ katho-
disclie Polarisation des Aethermuskels , so zeigt sich auch diese
während der Narkose nicht vermindert.
In beiden Fällen wird jedoch das Zustandekommen des Nach-
stromes durch Abtödtung der anodischen, resp. kathodischen Faser-
enden ganz wie unter normalen Verhältnissen beeinträchtigt oder ganz
verhindert. An Stelle der positiv anodischen Polarisation beobachtet
man dann eine viel schwächere negative Nachwirkung, während von
der negativ kathodischen Polarisation unter diesen Umständen selbst
bei langer Schliessungsdauer nur Spuren zurückbleiben.
Der Begriff der Erregung erscheint gerade beim Muskel so fest
verknüpft mit der Vorstellung der activen Gestaltveränderung oder
wenigstens der Möglichkeit einer solchen, dass die Annahme eines
Fortbestehens der Erregbarkeit bei gänzlich aufgehobener Contractilität
von vornherein auf Schwierigkeiten stösst. Wir sehen allerdings die
secundär elektromotorischen Erscheinungen auch an einem unbeweg-
lich ausgespannten Muskel hervortreten, allein hier ist auch noch das
Leitungsvermögen und daher auch die negative Schwankung erhalten,
und der Muskel würde sich in toto contrahiren, wenn er nicht
mechanisch daran verhindert wäre. Der Aethermuskel hat aber nicht
nur die Fähigkeit, sich bei Reizung zu verkürzen, vollständig ein-
gebüsst, sondern er ist auch gänzlich leitungsunfähig geworden. Die
grosse Mehrzahl der Erfahrungen der Muskel- und Nervenphysiologie
berechtigt aber zu der Annahme eines nahen Zusammenhanges
zwischen Leitungsvermögen und Erregbarkeit, obschon andererseits
Veränderungen beider Functionen durchaus nicht immer gleichen
Schritt halten, und die eine Fähigkeit bereits erloschen sein kann,
während die andere noch fortbesteht. Es sei in dieser Beziehung nur
an die Thatsache erinnert, dass im Verlaufe des Absterbens die bei
mechanischer oder elektrischer Reizung hervortretenden Contractions-
erscheinungen sich mehr und mehr auf die Stelle der directen Reizung
beschränken und hier noch sehr energisch auftreten, wenn die Fort-
leitung schon ganz aufgehoben ist („idiomusculäre Contraction"). Man
pflegt dies gewöhnlich darauf zu beziehen , dass bei sinkender Erreg-
barkeit das Leitungsvermögen der Muskelsubstanz früher als die
directe Anspruchsfähigkeit schwindet. Auch im Verlaufe der Aether-
narkose macht sich die gleiche Thatsache bemerkbar, indem bei
elektrischer Reizung in der Umgebung der Kathode noch immer eine
384 ^i^ elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
deutlich sichtbare Contraction eintritt, wenn bei Reizung an einem
und Ableitung am anderen Ende bereits jede Spur einer negativen
Schwankung des Demarcationsstromes fehlt, das Leitungsvermögen
daher so gut wie ganz aufgehoben ist. Unter diesen Umständen war
daran zu denken, ob das Fortbestehen der Polarisationserscheinungen
nicht etwa darauf zu beziehen ist, dass sowohl die Schliessungs- wie
die Oeffnungserregung lediglich auf die äussersten Faserenden des
Muskels beschränkt bleiben, deren Verkürzung der Beobachtung ja
leicht entgehen konnte. Indessen lässt sich ein derartiges Verhalten
selbst bei mikroskopischer Betrachtung des durchströmten Muskels
nicht nachweisen, und darf mit Bestimmtheit behauptet werden, dass
bei genügend lange fortgesetzter Aetherwirkung jede merkliche Spur
einer örtlichen Contraction bei Reizung mit dem elektrischen Strome
fehlt, o bschon dann die in Rede stehenden Polarisationserscheinungen
nach wie vor in unverminderter Stärke beobachtet werden können.
Man darf daher wohl bestimmt behaupten, dass das Eintreten der
dem Nachströmen zu Grunde liegenden Veränderungen
gänzlich unabhängig von dem Erhaltensein der Con-
tractilität und des Leitungsvermögens ist.
Dies schliesst nun aber keineswegs die Zulässigkeit derjenigen
Auffassung aus, nach welcher der positiv anodische und negativ katho-
dische Nach Strom als Folgewirkung der Oeffnungs- und Schliessungs-
erregung zu betrachten sind, sondern lässt sich mit derselben in Ein-
klang bringen, wenn man die Möglichkeit einer örtlich beschränkten
Erregung ohne gleichzeitige Gestaltveränderung des Muskels zugiebt.
Diese Möglichkeit wird aber um so weniger geläugnet werden können,
als derartige Erscheinungen auch unter ganz normalen Verhältnissen
vorkommen. Es sei nur an die Thatsache erinnert, dass bei directer
elektrischer Reizung des Muskels stets eine Grenze der Reizstärke
gefunden wird, unter welcher der Strom zwar keine merklichen
mechanischen Reizerfolge mehr auslöst, wohl aber Veränderungen der
Muskelsubstanz bewirkt, die sich in anderer Weise, insbesondere durch
einen geänderten Erregbarkeitszustand an den Aus- und Eintrittsstellen
äussern. So ist ferner auch bekannt, dass, worauf insbesondere
Hering aufmerksam machte, die Oeffnungserregung sich mittels des
Galvanometers als positiv anodischer Nachstrom unter Umständen er-
kennen lässt, wo „dieselbe mit dem Auge gar nicht, vielleicht nicht
einmal mikroskopisch wahrnehmbar ist". Allerdings handelt es sich
hier um Reizungen, welche mit Rücksicht auf die Gestaltveränderungen
des Muskels als subliminal bezeichnet werden müssen, während an
einem in Narkose befindlichen Muskel selbst die stärkste Erregung
keine unmittelbar sichtbare Reaction hervorbringt. Indessen beweisen
jene Thatsachen doch, dass die Beziehungen zwischen Contraction und
Erregung keine so unmittelbaren sind, wie man vielleicht von vorn-
herein anzunehmen geneigt sein möchte, dass vielmehr indirect nach-
weisbare Veränderungen der Muskelsubstanz in Folge einer vorher-
gehenden Reizung eintreten können, ohne gleichzeitig sichtbare
Gestaltsveränderungen. Sehr bemerkenswerth bleibt aber in dem
Verhalten des ätherisirten Muskels immerhin der Umstand, dass die
erwähnten Polarisationserscheinungen während der ganzen Dauer der
Narkose keine merkliche Schwächung erkennen lassen. Es spricht
dies für eine sehr weitgehende Unabhängigkeit der Erregbarkeit des
Muskels von dessen Contractilität und Leitungsvermögen.
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 385
Unter diesen Umständen erscheint es von um so grösserem In-
teresse, dass die Möglichkeit der Erregung auch bei einer ganz anders-
artigen Veränderung der Muskelsubstanz gegeben erscheint, wobei die
Contractilität ebenfalls mehr oder weniger beeinträchtigt ist. Es be-
stehen dann nicht nur die in Rede stehenden Polarisationserscheinungen
fort, sondern es treten auch, falls die betreffenden Veränderungen nur
local, an Stelle der directen Reizung, bewirkt werden, Gestaltver-
änderungen des normalen Muskelabschnittes hervor. Es wurde schon
früher erwähnt, dass der quergestreifte Muskel sehr beträchtliche
Mengen Wasser aufzunehmen vermag, ohne die Fähigkeit zu verlieren,
bei Verletzung elektromotorisch, wie unter gewöhnlichen Verhältnissen,
zu wirken. Beschränkt man die Wasserwirkung auf das eine oder
andere Ende eines Sartorius, so kann dasselbe durch Quellung hin-
sichtlich seiner physikalischen Eigenschaften bereits hochgradig ver-
ändert erscheinen, ohne sich, wie schon bemerkt wurde, negativ zu
dem unversehrten Theil des Präparates zu verhalten. Damit steht in
Einklang, dass auch die Erregbarkeit durch den elektrischen Strom
zu dieser Zeit nicht merklich beeinträchtigt gefunden wird, wenn man
den Muskel derart durchströmt, dass die Stelle der directen Reizung
an das veränderte Muskelende zu liegen kommt. Dies ergiebt sich
einerseits aus der Vergleichung der Zuckungshöhen, andererseits aus
dem Verhalten der secundär-elektromotorischen Erscheinungen vor
und nach örtlicher Wässerung. Da nun ausnahmslos durch alle jene
Eingriffe, welche zu einer tiefer greifenden Schädigung der chemischen
Beschaffenheit der Muskelsubstanz führen, auch bei örtlicher Ein-
wirkung die mechanischen, wie die galvanischen Reizerfolge in gleicher
Weise beeinträchtigt werden, falls die Stelle der directen Reizung
mit dem geschädigten Muskelende zusammenfällt, so sieht man sich
nothwendig zu der Annahme gedrängt, dass in dem hier vorliegenden
Falle die Erregbarkeit der gequollenen Faserabschnitte zunächst nicht
merklich leidet. Dem gegenüber kann es aber nicht bezweifelt werden,
dass die Contractilität derselben in Folge des starreähnlichen Zustandes
schon in der ersten Zeit der Wasserwirkung erheblich vermindert sein
wird. Wenn man nun demungeachtet unter diesen Umständen nicht
nur das Fortbestehen des positiv-anodischen und negativ-kathodischen
Nachstromes, sondern auch kräftige Schliessungs- beziehungsweise
Oeffnungszuckungen beobachtet, wenn der Strom an dem gewässerten
Ende aus- oder eintritt, so muss man nothwendig zu dem Schlüsse
gelangen, dass für die Erregung des Muskels die Fähigkeit der activen
Gestaltveränderung an Stelle der directen Reizung keine nothwendige
Vorbedingung darstellt. Es kann daher auch der vollkommene Ver-
lust der Contractilität des ätherisirten Muskels ebensowenig, wie der
des Leitungsvermögens, unter gleichen Umständen als ein begründeter
Einwand gegen die Deutung der Polarisationserscheinungen , ins-
besondere aber des positiv-anodischen Nachstromes als Folge der Er-
regung angesehen werden, und zwar um so weniger, als diejenigen
Thatsachen, welche am allerentschiedensten zu Gunsten der genannten
Auffassung sprechen, an dem ätherisirten Präparate ganz ebenso wie
an einem normalen beobachtet werden können. Dies gilt insbesondere
bezüglich der Folgen der Verletzung der Faserenden. Immer lässt sich
zeigen, dass durch eine irgendwie bewirkte Abtödtung des anodischen
Muskelendes das Zustandekommen des positiven Nachstromes unmög-
lich gemacht wird.
Biedermann, Elektrophysiologie. 25
386 I-^iö elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Als Resultat der vorstehenden Erörterungen ergiebt sich daher der
Satz, dass der quergestreifte Muskel durch Einwirkung
von Aetherdämpfen in einen Zustand geräth, in welchem
er bei Einwirkung eines äusseren Reizes keinerlei
direct wahrnehmbare Veränderungen, weder örtlich,
noch entfernt von der Reizstelle, erkennen lässt, wäh-
rend dagegen an dieser letzteren galvanisch nachweis-
bare Veränderungen, und zwar in gleicher Stärke wie
vor der Narkose, als Ausdruck der Erregung hervor-
treten, die sich jedoch in Folge des aufgehobenen
Leitungsvermögens nur local zu äussern vermögen.
Mit dem Nachweis der positiv-anodischen und negativ-kathodischen
Polarisation quergestreifter Muskeln ist nun aber der Kreis der
secundär-elektromotorischen Erscheinungen noch nicht geschlossen.
Erinnert man sich der so auffälligen polaren Hemmungs-
wirkungen, welche unter gewissen Umständen nicht nur an tonisch
Contrahirten glatten, sondern auch an quergestreiften Muskeln unter
dem Einflüsse des Kettenstromes entstehen, so ist ohne Weiteres klar,
dass die Folgen der elektrischen Reizung eines solchen Muskels mit
Rücksicht auf die secundär-elektromotorischen Erscheinungen sich
unter Umständen als positiv- kathodisch er, beziehungsweise
negativ-anodischer Nachstrom geltend machen müssten. In
der That, denkt man sich einen parallelfaserigen Muskel in allen seinen
Theilen gleichmässig erregt (contrahirt), so würde sich derselbe elektro-
motorisch ebenso unwirksam nach aussen zeigen, wie im ganz un-
versehrten Zustande; wird er nun der Länge nach durchströmt, so
tritt während der Schliessungsdauer an der Anode eine Erschlaffung
durch Hemmung der bestehenden Erregung ein, während an der
Kathode eventuell noch eine Zunahme der Contraction erfolgen kann.
Nach Oeffnung des Kreises kehrt sich Alles um, und die Hemmung
ist nun an der Kathode localisirt. Denkt man sich daher das der-
selben entsprechende Muskelende mit der Mitte durch einen ableiten-
den Bogen verbunden, so wird in demselben ein Strom vom Ende
zur Mitte, im Muskel daher umgekehrt, d. h. im Sinne des polari-
sirenden Stromes (also positiv), fliessen (70).
Wie sich die polare Hemmung der Contraction am besten
nach Veratrinvergiftung zeigen lässt, so gelingt es mittels derselben
auch leicht, die unter dem Einfluss eines elektrischen Stromes ein-
tretenden galvanischen Veränderungen einer abwechselnd ruhen-
den und erregten Muskelstrecke zu untersuchen. Statt den ganzen
Muskel mit Veratrin zu vergiften, erscheint es für den vorliegenden
Zweck besser, bloss das eine Ende des vSartorius zu vergiften. Es
entsteht dann bei jeder Momentreizung, wie schon an anderer Stelle
bemerkt wurde, eine sehr starke und ziemlich lang anhaltende Nega-
tivität der vergifteten Strecke. Handelt es sich um das untere
Sartoriusende, und schliesst man nach möglichst rascher Compensation
des durch eine kurzdauernde Reizung entwickelten Veratrin-Actions-
stromes einen absteigend gerichteten Kettenstrom (2 Daniell) für kurze
Zeit (1 — 4 Sekunden), so sieht man ausnahmslos einen mehr oder
minder beträchtlichen Rückschwung im Sinne eines gleich-
gerichteten, also positiven Nachstromes erfolgen, ent-
sprechend einer vorübergehenden oder dauernden Ver-
minderung der Negativität der kathodischen Faser-
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 387
enden. Wird die Schliessungsdauer auch nur wenig verlängert, so
schlägt die Wirkung bald in ihr Gegentheil um oder wird zum
Wenigsten doppelsinnig (positiv mit negativem Vorschlag). Es kann
keinem Zweifel unterworfen sein, dass der positiv-kathodisclie
Nachstrom in diesem Falle durch eine im Augenblick
der Oeffnung des Reizstromes an der physiologischen
Kathode sich entwickelnde Hemmung der daselbst be-
stehenden Dauererregung und dadurch bewirkte rela-
tive Pos itivität der betreffenden Faserstellen bedingt
wird.
Wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, gleichen die Folge-
erscheinungen der unter dem Einfluss der Anode während der
Schliessungsdauer des Stromes erzeugten Veränderungen der erregten
Muskelsubstanz in jeder Beziehung denen, welche man unter denselben
Umständen an der Kathode bei Oeffnung des Stromes wahrnimmt.
Es gilt dies nicht nur bezüglich der Gestaltveränderungen des Mus-
kels, die sich in beiden Fällen als eine örtlich beschränkte Ev-
schlafFung kennzeichnen, sondern auch hinsichtlich der begleitenden
elektromotorischen Erscheinungen, charakterisirt durch relative Posi-
tivität der Ein- beziehungsweise Austrittstellen des Stromes, wodurch
einerseits ein negativ-anodischer, andererseits ein positiv-kathodischer
Nachstrom erzeugt wird. Da die Methode der Untersuchung der
secundär-elektromotorischen Erscheinungen nur gestattet, die Folgen
der elektrischen Reizung nach O e f f n u n g des polarisirenden Stromes
festzustellen, so ist klar, dass, sobald die Bedingungen für die Aus-
lösung deutlicher Oeffnungserregung gegeben sind (also insbesondere
bei Anwendung stärkerer Ströme und längerer Schliessungsdauer) der
durch dieselbe bedingte positiv-anodische Nachstrom in den Vorder-
grund treten wird, während der negative Nachstrom nur bisweilen
als Vorschlag sich geltend machen kann. Nur in dem Falle, wenn
das Zustandekommen der Oeffnungserregung irgendwie erschwert oder
verhindert ist, darf man erwarten, stärkere Wirkungen im Sinne eines
negativ -anodischen Nachstromes zu beobachten, wie es z. B. der
Fall ist an erschöpften Präparaten oder nach Abtödtung der anodischen
Faserenden.
Es kann nach dem Gesagten nicht Wunder nehmen, dass Muskeln,
welche sich von vornherein in einem dauernden Erregungszustande
befinden (tonisch contrahirt sind), dem Strome gegenüber sich sowohl
in Bezug auf die sichtbaren Gestaltveränderungen, wie auch hinsicht-
lich der galvanischen Nachwirkungen ähnlich wie veratrinisirte Mus-
keln verhalten. So ist ohne Weiteres klar, dass den während der
Schliessung an der Anode, nach der Oeffnung an der Kathode, auf-
tretenden Hemmungserscheinungen am contrahirten Herzmuskel, sowie
an Holothurienmuskeln Positivität der betreffenden Stellen gegenüber
allen anderen entsprechen müsste, und auch am Schliessmuskel von
Anodonta, der durch einen starken Tonus ausgezeichnet ist, gehört
nach meinen Beobachtungen nicht nur negativ-anodische, sondern
auch positiv-kathodische Polarisation zu den regelmässigen Folge-
wirkungen elektrischer Durchströmung (71).
Handelt es sich um Präparate, welche möglichst tonusfrei (er-
schlafft) sind, so zeigt sich in der Regel, wie beim quergestreiften
Muskel, bei Ableitung vom kathodischen Ende und der Muskelmitte
ein Vorherrschen negativer Nachströme, die in Folge des langsamen
25*
388 Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Schwindens der Schliessungsdauercontraction sehr nachhaltig sind und
immer dann am stärksten erscheinen, wenn auch die Bedingungen
für die Schliessungserregung am günstigsten sind. An frischeren,
stärker tonischen Präparaten macht sich dagegen ein positiv-kathodischer
Nachstrom vorherrschend geltend, der entweder rein hervortreten
kann oder von einem negativen Vorschlag eingeleitet wird. In ähn-
licher Weise wie die positiv anodische Polarisation zeigt sich auch
die positiv-kathodische abhängig von der Stärke und Dauer des Reiz-
stromes, derart, dass sie im Allgemeinen mit beiden zunimmt. Auch
besteht zwischen den antagonistischen Polarisationserscheinungen an
der Kathode ein ganz ähnliches Wechselverhältniss wie zwischen jenen
an der Anode, indem der negative Nachstrom um so mehr in den
Hintergrund tritt, je stärker der positive ist, und umgekehrt. In der
Regel ist es nicht schwer, in einem gegebenen Falle eine Stromstärke
und Schliessungsdauer ausfindig zu machen, wo man auf Seite der
Kathode nur einsinnig positive Wirkungen beobachtet. Aber auch
dann treten bei wiederholter Reizung mit gleichgerichtetem Strome
sehr bald doppelsinnige Ausschläge auf, indem der positive Nachstrom
immer schwächer wird, während gleichzeitig die negative Polarisation
zunimmt.
Hinsichtlich der anodischen Nachströme besteht eine fast vollkommene
Uebereinstimmung zwischen dem monomeren quergestreiften und dem
glatten Muschelmuskel, nur dass alle, also auch die galvanischen Folge-
erscheinungen der Reizung, erst bei einer viel grösseren Stromesinten-
sität hervortreten als dort. Im Allgemeinen nimmt die negativ ano-
dische Polarisation des Muschelmuskels mit wachsender Stromesinten-
sität zu, doch nur bis zu einer gewissen Grenze, indem sich weiterhin
bald ein positiver, rasch wachsender Nachstrom hinzugesellt, so dass
zunächst wieder doppelsinnige Ausschläge mit abnehmender negativer
Phase und schliesslich rein positive Wirkungen erfolgen. Diese letz-
teren hängen wie beim quergestreiften Muskel wesentlich mit von
dem jeweiligen Erregbarkeitszustande des Präparates ab, derart, dass
sie um so früher, d. i. bei um so geringerer Stromstärke und
Schliessungsdauer hervortreten, je erregbarer der Muskel ist. Mit
Berücksichtigung aller Eigenthümlichkeiten der positiv -anodischen
Polarisation, ihrer Abhängigkeit von dem Erregbarkeitszustande des
Präparates, von Stärke und Schliessungsdauer des Reizstromes, ihrer
Localisation an der Anode und ihrer grossen Beständigkeit, kann es
keinem Zweifel unterworfen sein, dass sie, wie beim quergestreiften
Muskel lediglich als Ausdruck der Oeffnungserregung anzusehen ist.
Dies spiegelt sich auch in dem Umstände wieder, dass bei ganz
frischen, stark tonischen Präparaten die positiv-anodische Polarisation
gerade wie die Oeffnungsdauercontraction gegenüber der negativ-
kathodischen Polarisation als Ausdruck der Schliessungserregung in
den Vordergrund tritt (besonders bei erstmaliger Reizung) ; auch wird
die Entwicklung des positiv-anodischen Nachstromes durch Abtödtung
des anodischen Muskelendes wie beim quergestreiften Muskel er-
schwert oder ganz verhindert.
Nicht das Gleiche gilt hier bezüglich des positiv-katho-
dischen Nachstromes, der beim quergestreiften wie beim glatten
Muskel durch Abtödtung des betreffenden Muskelendes nicht nur
nicht geschwächt, sondern sogar oft nicht unwesentlich ver-
stärkt wird.
Die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln. 389
Für die Auffassung der positiv- kathodischeu Polarisation ist es
von Wichtigkeit, dass, wie schon Hering fand, bisweilen auch an
ganz frischen Sartorien von R, esculenta und besonders temporaria
gleich nach der ersten Reizung mit dem Kettenstrome schwache Aus-
schläge des Magneten im Sinne eines positiv - kathodischen Nach-
stromes hervortreten, die unter Umständen auch eine erheblichere
Stärke erreichen können. Wesentlich ist hierfür eine gewisse Kürze
der Schliessungszeit, da sonst doppelsinnige oder rein negative
Wirkungen hervortreten. Nach Abtödtung des der physiologischen
Kathode entsprechenden Muskelendes werden diese Wirkungen er-
heblich verstärkt, und es gelingt dann selbst an weniger empfindlichen
Präparaten gewöhnlich leicht, noch ziemlich starke positive Nach-
ströme bei Reizung mit atterminal (admortal) gerichteten Ketten-
strömen auftreten zu sehen. Man kann daher dieselben auf diese
Weise so zu sagen künstlich durch Abtödtung des kathodischen
Muskelendes hervorrufen. Da in diesem Falle die Schliessungs-
erregung ganz oder theilweise ausgeschaltet ist, so scheint mir auch,
abgesehen von andern Gründen, die neuerdings von Locke (17)
versuchte Deutung der positiv -kathodischen Nachströme als Folge-
wirkungen einer in der Continuität (Mitte) des Muskels länger als
am Kathodenende anhaltenden Dauererregung nicht zulässig^ zumal
ich mich überzeugt habe , dass genau dieselben Wirkungen auch
dann hervortreten, wenn die Sartoriuspräparate vorher nicht mit
physiologischer Kochsalzlösung behandelt wurden, wodurch nach
Locke eine Neigung des Muskels zu tetanischer Contraction be-
dingt wird.
Nach wie vor erscheint mir bei Berücksichtigung aller Umstände
und insbesondere der auffallenden Uebereinstimmung, welche hin-
sichtlich der Bedingungen des Eintretens und der Erscheinungsweise
der positiv-kathodischen Polarisation einerseits am partiell veratrini-
sirten Muskel und andererseits nach Abtödtung der kathodischen
Faserenden des normalen quergestreiften und glatten Muskels besteht,
meine ursprüngliche Auffassung als die wahrscheinlichste, der zu
Folge es sich hier wie dort um einen bei Oeffnung des Reizstromes
an der physiologischen Kathode sich entwickelnden , der Erregung
entgegengesetzten Zustand und eine dadurch bewirkte relative Posi-
tivität der Austrittsstellen des Stromes gegen andere Muskelpunkte
handelt.
Dass nach einseitiger Abtödtung der Faserenden eines normalen,
regelmässig gebauten Muskels die nächstangrenzenden, erregbaren
Querschnitte desselben sich in einem Zustande mehr oder weniger
starker Dauererregung befinden, verräth sich oft schon makroskopisch
durch die daselbst nachweisbare locale Contraction, welche mittels
des Mikroskopes in allen Fällen leicht zu erkennen ist.
Unter dieser Voraussetzung verliert aber das Hervortreten positiv
kathodischer Nachströme sofort alles Befremdende; es ergiebt sich
vielmehr dann unmittelbar als nothwendige Folge jedes derartigen
Eingriflfes unter der Voraussetzung einer kathodischen Oeffnungs-
hemmung. Ein solches Präparat verhält sich eben im Wesentlichen
nicht anders, wie ein örtlich mit Veratrin behandelter Muskel un-
mittelbar nach einem Momentreiz.
Es bleibt jetzt nur noch die Frage zu beantworten, wie die posi-
tiv-kathodische Polarisation an möglichst unversehrten, stromlosen
390 I^iö elektromotorischen Wirkungen der Muskeln.
Muskeln aufzufassen ist. Der Ansicht von Locke (1. c), wonach
dieselbe auf einem Ueberdauern der Erregung in der Gegend der
Muskelmitte an Kochsalzmuskeln beruhen soll, wurde schon oben ge-
dacht. Ich halte dieselbe für ausgeschlossen durch gleichartige Ver-
suche an ganz frischen, nicht benetzten Präparaten.
Man wird aber die positiv-kathodischen Nachströme, welche dann
unter Umständen hervortreten, auch nicht ohne Weiteres mit der ent-
sprechenden Erscheinung am unversehrten Muschelmuskel vergleichen
dürfen; denn letzterenfalls handelt es sich um ein Gebilde, das sich
in allen seinen Theilen im Zustande dauernder (tonischer) Erregung
befindet, während dies beim normalen quergestreiften Muskel nicht
der Fall ist. Handelt es sich dort nur um die Folgeerscheinungen
einer an bestimmten Stellen eintretenden Hemmung der tonischen Er-
regung und eine dadurch bewirkte relative Positivität jener Stellen,
so muss hier nothwendig eine locale Veränderung der „ruhenden"
Muskelsubstanz angenommen werden, welche sich im gegebenen Falle
durch ein Positivwerden derselben gegenüber anderen, nicht alterirten
Faserstellen verräth. Wie sofort ersichtlich ist, kann eine solche Ver-
änderung an der Kathode unter den obwaltenden Umständen nur als
Folgeerscheinung der vorhergehenden Schliessungserregung betrachtet
werden, durch welche dieselben Faserstellen zweifelsohne zunächst
stark negativ wurden , so dass der Gedanke , es handle sich hier so
zu sagen um eine Reaction der lebendigen Substanz gegen die vor-
ausgehende Erregung, sich unmittelbar aufdrängt.
Die Resultate, zu denen wir fi'üher bei Erörterung der sichtbaren
Folgewirkungen der elektrischen Erregung des Herzmuskels, sowie
verschiedener glattmuskeliger Theile (Holothurien und Echinusmuskeln)
gelangt waren, gewinnen durch die zuletzt besprochenen secundär-
elektromotorischen Erscheinungen noch wesentlich an Bedeutung und
Beweiskraft. Denn diese gestatten nunmehr mit Sicherheit die Verall-
gemeinerung derjenigen Folgerungen, zu denen insbesondere die Be-
obachtungen der Reizerfolge an dem in wechselnden Contractions-
zuständen befindlichen Herzmuskel führten.
Die Annahme zweier, den polaren Erregungsprocessen antago-
nistischer Hemmungsvorgänge, die für den Herzmuskel im Zustand
der Systole unabweisbar schien, erweist sich nun, wie gezeigt wurde,
auch als diejenige, welche die Folgeerscheinungen der elektrischen
Reizung des quergestreiften Stammesmuskels in einfachster Weise zu
erklären vermag. Dies gilt ebensowohl bezüglich der mechanischen
Reizerfolge, wie hinsichtlich der elektromotorischen Nachwirkungen.
Beide Untersuchungsmethoden, die Prüfung der Gestaltveränderungen
des gereizten Muskels einerseits und die Feststellung des Polarisations-
zustandes nach Beendigung der Reizung andererseits ergänzen sich
aber hierbei wechselseitig in erwünschter Weise, so dass ein befriedi-
gender Einblick in das Wesen der durch den Strom bewirkten Ver-
änderungen in der That erst durch die Combinirung beider Unter-
suchungsmethoden zu gewinnen ist. Dabei ist insbesondere zu
bemerken, dass ein directer Beweis für das Vorhandensein eines der
Erregung folgenden oder ihr vorangehenden antagonistischen Vor-
ganges durch entsprechende Gestaltveränderungen des Muskels selbst-
verständlich nur während einer bereits bestehenden dauernden Con-
traction desselben möglich ist, anderenfalls aber höchstens indirect,
etwa durch Untersuchung der Erregbarkeitsveränderungen erschlossen
Die elektromotorischen WirkiiDgen der Muskeln. 391
werden könnte. Dagegen gestattet die Untersuchung der secundär-
elektromotorischen Erscheinungen, auch an dem ruhenden Muskel mit
aller Sicherheit den Nachweis für das Vorhandensein polarer anta-
gonistischer Vorgänge zu führen.
Der positiv-anodische und negativ-kathodische Nachstrom einer-
seits, der positiv-kathodische und negativ-anodische Nachstrom anderer-
seits verdanken hiernach, paarweise zusammengehörig, polaren anta-
gonistischen Veränderungen der Muskelsubstanz ihre Entstehung, von
denen die einen zu Negativität der betreffenden Faserstellen, die an-
deren zu Positivität derselben führen. Den ersteren entspricht als
mechanischer Reizerfolg die Schliessungs- und Oeffnungscontraction,
den letzteren (bei Vorhandensein eines tonischen Contractionszustandes)
die Schliessungs- und Oeffnungserschlaffung, Wie jene sind wohl auch
diese durch chemische, unter dem Einflüsse des Stromes entstehende
Veränderungen der erregbaren Muskelsubstanz bedingt, über deren
Natur allerdings etwas Bestimmtes vorläufig noch nicht gesagt werden
kann. Während aber die bei Schliessung des Stromes eintretenden
Veränderungen direct durch diesen veranlasst sind, handelt es sich
bei den Folgen der Oeffnung wesentlich um Reactionserscheinungen
der veränderten Muskelsubstanz selbst, und ist nicht nur die anodische
Oeffnungserregung , sondern auch die kathodische üeffnungshemmung
in diesem Sinne zu deuten.
E. Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel-
und Drüsenzellen.
Wenn sich schon beim Muskel eine scharfe Trennung zwischen
„Ruhestrom" und „Actionsstrom" nicht durchführen lässt, in-
dem beide Erscheinungen in gewissem Sinne nur gradweise verschieden
sind, so ist dies noch viel weniger möglich in Bezug auf die elektro-
motorischen Wirkungen anderer thierischer und pflanzlicher Zellen,
bei welchen Spann ungsdifFerenzen, gleichgiltig, ob sie vor oder wäh-
rend einer künstlichen Reizung hervortreten, beziehungsweise Ver-
änderungen im einen oder anderen Sinne erleiden, immer nur der
Ausdruck einer Verschiedenheit des Chemismus benachbarter Theile
des lebenden Continuums sind. Von diesem Gesichtspunkte aus er-
scheint es daher auch völlig willkürlich, ja geradezu unrichtig, von
dem „Ruhestrom" einer drüsigen Schleimhaut oder eines pflanzlichen
Zellaggregates im Gegensatz zum Actionsstrom zu sprechen, da es sich
in beiden Fällen um Wirkungen handelt, welche derselben Ursache,
d. h. der Fortdauer gewisser chemischer Stoffwechselprocesse an be-
stimmten Stellen der Plasmamasse, ihre Entstehung verdanken, die
durch directe oder indirecte Reizung nur quantitativ oder qualitativ
verändert werden. Dies schliesst natürlich keineswegs aus, dass bei
anfänglicher Stromlosigkeit solcher Theile SpannungsdifFerenzen gerade
wie beim „parelektronomischen" Muskel durch die Reizung über-
haupt erst hervorgerufen werden. Es empfiehlt sich daher, auch die
hier zu besprechenden elektromotorischen Wirkungen der Drüsen
und Epithelzelleu im Zusammenhang zu behandeln und nicht, wie es
bei Muskeln aus Zweckmässigkeitsgründen passend erschien, die
während der Ruhe und während der „Thätigkeit" hervortretenden
Erscheinungen einer gesonderten Besprechung zu unterziehen.
Es darf vielleicht als eine Folge der Schwierigkeiten bezeichnet
werden, welche die theoretische Behandlung der im Folgenden zu be-
sprechenden Thatsachen vom Standpunkte der lange Zeit ausschliess-
lich herrschenden Molekulartheoi'ie darbot, dass auch die experimentelle
Bearbeitung des fraglichen Gebietes ganz unverhältnissmässig hinter
der Entwicklung der Muskel- und Nervenphysik zurücksteht, obschon
einige grundlegende Erfahrungen bis in die Zeit der Entdeckung des
Muskelstromes zurückreichen.
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 393
Es bestand lange geradezu eine gewisse Abneigung, Zellen, bei
welchen eine regelmässige Molekularstructur, wie man sie bei Muskeln
voraussetzte, nicht wohl angenommen werden konnte, überhaupt
elektromotorische Wirksamkeit zuzuschreiben. So äusserte Engel-
mann noch 1872 (72) bei Gelegenheit einer Erörterung der Frage,
ob etwa die elektromotorischen Wirkungen der Froschhaut auf die
Drüsenepithelien bezogen werden dürften, sein Widerstreben, „bei Zellen,
welche, wie die vorliegenden, nichts von einer regelmässigen, nach
bestimmten Axenrichtuugen erfolgenden Anordnung ihrer kleinsten
Theilchen zeigen, einen regelmässigen, zu jnerkbaren Wirkungen nach
aussen befähigten elektromotorischen Bau anzunehmen", und hält die
Drüsenmuskeln für die einzige wesentliche Quelle der elektrischen
Ströme im Innern der Drüsenschicht.
Wie schon erwähnt, wurde Du Bois-Reymond, dessen Name
auch hier wieder an der Spitze genannt werden muss, bei seinen Be-
mühungen, den vermeintlichen Ruhestrom unversehrter, in situ be-
findlicher Muskeln durch* die Haut hindurch nachzuweisen, zur Ent-
deckung der starken elektromotorischen Wirksamkeit der Froschhaut
geführt. Bei ungleichzeitiger Berührung zweier beliebiger Stellen der
unversehrten Oberfläche eines ausgeschnittenen, auf einer Glasplatte
ausgebreiteten Hautstückes mit den ableitenden Kochsalzbäuschen er-
hielt er stets einen Strom, welcher innerhalb der Haut von dem zu-
letzt angelegten Bausche nach dem anderen hinfliesst. Wurden beide
Bäusche möglichst gleichzeitig aufgelegt, so blieb die Nadel vergleichs-
weise ruhig.
Du Bois-Reymond erkannte denn auch sofort den Grund
dieser Ausschläge wegen ungleichzeitiger Berührung. „Jede Berührungs-
stelle ist der Sitz einer elektromotorischen Kraft in der Richtung von
dem Bausch in die Haut hinein; allein die Berührung der Salzlösung
beeinträchtigt zugleich die Ursache dieser elektrischen Triebkraft.
Daher bei ungleichzeitiger Berührung der Strom im Sinne der Trieb-
kraft an der jüngsten BerUhrungsstelle, der so lange anhält, bis der
Unterschied der Triebkräfte an beiden Stellen unmerklich geworden ist."
Sehr viel stärkere Ablenkungen erhielt dann DuBois-Reymond bei
Ableitung von der äusseren und inneren Hautfläche, und zwar stets
in der Richtung von der ersteren zur letzteren. Auch hier wurde
aber die Triebkraft durch die Kochsalzlösung sehr bald vernichtet
und war von vornherein gleich Null, wenn die Hautoberfläche vor
der Ableitung mit NaCl bepinselt worden war. Ebenso werden die
Ströme vernichtet durch Abschaben der Epithel- und Drüsenschicht.
Da Du Bois-Reymond den Hautstrom bei der Kröte, wo die Haut-
drüsen sehr mächtig entwickelt sind, besonders stark fand, während
sich die drüsenlose Haut der Fische (Aal, Schleie, Hecht, Barsch)
als gänzlich stromlos erwies, so war die Vermuthung naheliegend,
„dass die elektromotorische Wirksamkeit der Haut in Verbindung
stehe mit der den nackten Amphibien eigenthümlichen Hautabsonde-
rung". Diese Vermuthung erhielt in der Folge eine wesentliche Stütze
durch Beobachtungen von Rosenthal (75) und Röber (76). Der
Erstere fand, dass nicht nur die Hautdrüsen des Frosches und anderer
nackter Amphibien der Sitz elektromotorischer Kräfte sind, welche
stets von der Mündung nach dem Drüsengrunde gerichtet erscheinen,
sondern dass das Gleiche auch bezüglich der Drüsen der Magen-
schleimhaut gilt, so dass diese elektromotorischen Kräfte „mit grosser
394 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
Wahrscheiulichkeit als eine wesentliche Eigenschaft der Drüsensubstanz
zu betrachten Avären, nicht anders, als Avir die elektromotorischen
Kräfte zu den wesentlichen Lebensäusserungen der Nerven und Mus-
keln zu zählen gewohnt sind".
Mit dieser Auffassung steht eine später von Engelmann
(72, p. 97) geäusserte Ansicht im Widerspruch, der zu Folge die
angeblichen „Drüsenströme" „myogenen" Ursprunges sein sollten,
vermittelt durch den Belag contractiler Faserzellen, welcher jeden
Drüsenkörper aussen umgiebt. Diese Deutung, welche natürlich mit
der Präexistenslehre steht und fällt, suchte Engel mann durch eine
grosse Reihe trefflicher Beobachtungen zu stützen, auf die im Folgen-
den noch vielfach zurückzukommen sein wird. Doch lässt sich nicht
läugnen, dass selbst vom Standpunkte der Präexistenzlehre aus das
Verhalten der Hautströme des Frosches eher gegen als für Engel-
m a n n ' s Anschauung spricht.
Hermann glaubt neuerdings, „dass nicht, oder nicht in erster
Linie, die Drüsen, sondern die Epithelschicht der Sitz der
elektromotorischen Hautwirkung (während der Ruhe) ist". Die Gründe,
welche seiner Zeit Du Bois-Reymond veranlassten, gerade die
Drüsen für die wesentliche Ursache der Hautströme nackter Amphibien
zu halten, nämlich das Fehlen derselben bei der „drüsenlosen" Haut
der Fische, glaubte Hermann als nicht stichhaltig erweisen zu können
durch den Nachweis eines regelmässigen, einsteigenden Hautstromes
bei einer grossen Zahl daraufhin untersuchter Fische (75). Hiergegen
Hesse sich freilich der Einwand geltend machen, dass die Fischhaut
thatsächlich nicht drüsenlos ist, sondern zahllose einzellige Schleim-
drüsen („Becherzellen") enthält und in manchen Fällen geradezu als
eine grosse, flächenhaft ausgebreitete Schleimdrüse bezeichnet werden
könnte (vgl. F. E. Schnitze, 78). Da man nun weiss, dass weder
in morphologischer Hinsicht noch auch bezüglich der physiologischen
Function ein durchgreifender Unterschied zwischen ein- und mehr-
zelligen Schleimdrüsen besteht, so liegt es gewiss nahe, den Ruhe-
strom der Fischhaut auf die als einzellige Drüsen fungirenden „Becher-
zellen" zu beziehen. Dies that Hermann auch thatsächlich, indem
er im Sinne der Alterationstheorie jede partielle Mucinmetamorphose
einzelner Zellen, sowie der Elemente der schleimabsondernden Drüsen
als eine Quelle gesetzmässiger elektromotorischer Wirkungen be-
zeichnet, einer Kraft, „welche, an den freien Epithelien einsteigend,
an den Drüsen vom Lumen gegen die Matrix gerichtet ist". Solche
Ströme sind denn auch thatsächlich überall nachgewiesen worden, wo
immer schleimbildende Zellen oder Drüsen sich linden (Haut der
Fische und nackten Amphibien, Zunge, Rachenschleimhaut, Magen und
Cloake der letzteren). Dass übrigens im Sinne Hermann 's auch
andere, nicht drüsige Epithelzellen elektromotorische Wirkungen ver-
anlassen können, scheint durch neuere Untersuchungen von E. W.
Reid (88) genügend sichergestellt.
Da zur Zeit mit Ausnahme der später noch näher zu besprechen-
den Pflanzenströme die elektromotorischen Wirkungen ein- und mehr-
zelliger Schleimdrüsen fast allein allen unseren Erfahrungen über „Zell-
ströme" zu Grunde liegen, so müssen die betreffenden Thatsachen
hier auch noch eingehender behandelt werden. Das vielleicht ge-
eignetste Untersuchungsobject bildet die an Becherzellen und Schleim-
drüsen überaus reiche Zunge des Frosches, an welcher ausserdem die
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 395
secretorischen Nerven mit Leichtigkeit präparirt werden können. Mit
Rücksicht auf die seiner Zeit von Engelmann geäusserte, oben
schon erwähnte Vermuthung betreffs des Ursprungs der Hautströme
ist es bemerkenswerth, dass die mit charakteristischen iSchleimzellen
ausgekleideten Zungendrüsen f r e i v 0 n M u s k e 1 n im bindegewebigen
Strome dicht unter der Oberfläche liegen, deren Papillen mit einem
einschichtigen, aus Becher- und Flimmerzellen zusammengesetzten
Epithel überkleidet sind. Der schleimige, zähflüssige Inhalt der Drüsen-
schläuche steht, wie sich an Querschnitten leicht erkennen lässt, allent-
halben mit der die Zungenoberfläche in der Regel überziehenden
Schleimschicht in directem Zusammenhang, Avas bei der Weite der
Drüsenmündungen leicht begreiflich ist. Auch das Epithel der unteren,
dem Mundboden zugcAvendeten Zungenfläche enthält reichlich Becher-
zellen.
Um den „Ruhestrom" der Zunge zu untersuchen, kann man
sich verschiedener Methoden bedienen, die im Verlaufe der folgenden
Erörterungen zu besprechen sein werden. Wir können uns die Zungen-
oberfläche im Allgemeinen als eine vielfach und unregelmässig gefaltete
Fläche vorstellen, die in ihrer ganzen Ausdehnung von schleim-
absondernden Zellen, untermischt mit verhältnissmässig spärlichen Flim-
merzellen, in einfacher Schicht überzogen wird. Die Drüsen erscheinen
so nur als mehr oder weniger tiefe Einstülpungen in der Continuität
des Zellbelages, von deren innerer Oberfläche eine Ableitung möglich
erscheint, da, wie schon erwähnt, die die Zunge bedeckende Secret-
schicht fast allerorts in umittelbarem Zusammenhang mit dem flüssigen
Inhalt der Drüsenschläuche steht. Denkt man sich daher die an der
Wurzel abgeschnittene Zunge auf einer indifferenten leitenden Unter-
lage, wie etwa einem Block aus Kochsalzthon, ausgebreitet, so würde
off'enbar die elektromotorische Wirkung des gesammten, nicht nur die
Drüsen auskleidenden, sondern auch die dazwischen gelegenen Papillen
überziehenden Oberflächenepithels ohne Weiteres zu prüfen sein, wenn
nicht auch die untere Fläche der Zunge von einer ähnlich zusammen-
gesetzten, ebenen Zelllage bekleidet wäre, deren einzelne Elemente
im Allgemeinen symmetrisch zu jenen der Oberfläche gelagert sind.
Zwischen beiden schiebt sich eine dicke Lage von Bindegewebe und
quergestreiften Muskeln ein, die wir unter normalen Verhältnissen als
elektromotorisch unwirksam betrachten dürfen.
Sie vermittelt daher in jedem Falle die Ableitung von dem basalen
Theile der einzelnen Zellelemente der Ober- wie der Unterseite der
Zunge. Unter der Voraussetzung völlig gleicher elektromotorischer
Wirkungen des Epithels beider Flächen, einer Annahme, die übrigens
schon durch die so sehr verschiedene Massenentwicklung der be-
treß'enden Zelllagen als ausgeschlossen gelten darf, würde off'enbar
bei Ableitung von zwei symmetrisch einander gegenüber liegenden
Punkten der Ober- und Unterseite keinerlei Wirkung nach aussen
resultiren. So geben beispielsweise auch die Schwimmhäute der
Hinterbeine des Frosches bei Ableitung von beiden Seiten in Folge
des symmetrischen Baues nur sehr schwache und unregelmässige
elektrische Wirkungen. Die Zunge dagegen liefert unter denselben
Bedingungen fast regelmässig einen sehr kräftigen, im ableitenden
Bogen von der Unterseite zur Oberfläche gerichteten, also im Sinne
Hermanns „einsteigenden" Strom, der das Scalenbild oft weit aus
dem Gesichtsfelde treibt.
396 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
Da, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird, die Zungenströme
selbst schon durch äusserst geringfügige mechanische Insulte sehr er-
hebliche Veränderungen erleiden, so erscheint es von vornherein ge-
boten, mit möglichster Schonung vorzugehen und jede, auch die
leiseste Berührung oder Zerrung zu vermeiden. Als zweckmässigstes
Verfahren der Ableitung von der ausgeschnittenen, nicht mehr blut-
durchströmten Zunge hat sich mir schliesslich das folgende bewährt.
Der Frosch wird schwach, nur eben bis zur Bewegungslosigkeit,
curarisirt; hierauf entfernt man vorsichtig die äussere Haut in der
ganzen Ausdehnung des Unterkiefers, um jede Einmischung der
elektromotorischen Wirkungen derselben auszuschliessen, exarticulirt
jenen und trennt ihn durch einen queren Schnitt unterhalb der
Zungenspitze ab ; dabei werden freilich Muskeln verletzt, deren Stümpfe
eventuell Stromschleifen in den Galvanometerkreis senden können ;
doch ist ihr Einfluss gegenüber der Mächtigkeit des Zungenstromes
sicher zu vernachlässigen, wie besondere Controllversuche an dem-
selben Präparat nach Entfernung der Zunge lehren. Die Ableitung er-
folgt nun in der Weise, dass der Unterkiefer mit seiner unteren Fläche
auf einen Block aus Kochsalzthon von entsprechender Grösse gelegt
wird, der unter Vermittlung des Mundbodens die Ableitung von der
Zungenunterseite ermöglicht, wenn die eine Pinselelektrode ihn be-
rührt, während die andere an beliebigen Punkten der Zungenober-
fläche angelegt werden kann. Es ist dabei noch zu berücksichtigen,
dass auch der Mundboden selbst, auf welchem die Zunge aufliegt, mit
einer reichlich Becherzellen enthaltenden Schleimhaut bekleidet und
daher elektromotorisch wirksam ist. Schneidet man aber die Zunge
an der Wurzel ab und leitet wie früher von dem Thonblock und der
vorher von der Zunge bedeckten Schleimhautfläche ab, so erhält man
in der Regel nur sehr geringfügige Ablenkungen im einen oder anderen
Sinne, so dass hieraus keine erhebliche Störung resultirt.
Es kann somit keinem Zweifel unterworfen sein, dass, wie immer
auch die Ableitung von der Zunge erfolgen möge, die beobachteten
Wirkungen ihrem Sinne nach durch die elektromotorische Thätig-
keit des Oberflächenepithels im weitesten Wortsinne (Drüsen-
und Papillenepithel) bedingt werden, wenngleich die absolute In-
tensität derselben durch die bei der Ableitung nicht wohl zu ver-
meidende Einmischung anderer elektromotorisch wirkender Theile in
einem nicht immer genau zu bestimmenden Grade beeinflusst wird.
Dies ergiebt sich am klarsten aus dem Umstände, dass bei jedem in
der eben beschriebenen Weise angestellten Versuche der unter Um-
ständen äusserst kräftige einsteigende Strom, welcher die Scala weit
aus dem Gesichtsfelde treibt, nach Zerstörung des Oberflächenepithels
bis auf unregelmässige Spuren verschwindet, obschon dabei weder
das Epithel der Zungenunterfläche noch das des Mundbodens merklich
beeinflusst sein konnte. Andererseits kann man sich leicht davon
überzeugen, dass selbst noch kleine Schleimhautstückchen,
welche durch einen flachen Scheerenschnitt von der Oberfläche der
Froschzunge losgetrennt und nach kurzer Zeit der Ruhe wieder auf
einer Unterlage von Kochsalzthon untersucht werden, noch ebenso
wie die ganze Zunge der Sitz eines starken einsteigen-
den Stromes sind. Es darf hiernach wohl als feststehend be-
trachtet werden, dass der normale „Ruhestrom" der Zunge vor Allem
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 397
durch die elektromotorische Wirkung des Oberflächenepithels ein-
schliesslich der Drüsen bedingt wird.
Was nun die Stärke des „Ruhestromes" unter verschiedenen Um-
ständen anlangt, so lehrt schon eine kurze Beschäftigung mit dem in
Rede stehenden Objecte, dass die elektromotorischen Wirkungen des-
selben in einem ungleich höheren Maasse von äusseren Einflüssen und
inneren Veränderungen abhängig sind, als dies etwa für den Muskel-
strom gilt. Die Individualität der Frösche, der Ernährungszustand,
Temperaturverhältnisse, Jahreszeit und andere noch zu erwähnende
Momente beeinflussen den Schleimhautstrom in einem so hohen Grade,
dass das Bild ein ausserordentlich Wechsel volles wird.
Was bei Vergleichung des Muskelstromes mit jenem der Zungen-
schleimhaut vor Allem auffällt, ist die grosse Inconstanz des
letzteren, die sich bei jeder Art der Ableitung äussert, am
stärksten allerdings, wenn man in der von Hermann vorge-
schlagenen Weise am gänzlich unversehrten, schwach curari-
sirten Frosch von der Oberfläche der Zunge einerseits und von
irgend einem enthäuteten, sonst aber gänzlich unversehrten elektrisch
indiff'erenten Körpertheil, etwa der Muskulatur des Ober- oder Unter-
schenkels, ableitet. Ist der unter diesen Umständen hervortretende
einsteigende „Ruhestrom" nur einigermaassen kräftig, so bleibt nach
Compensation desselben das Scalenbild in der Regel kaum einen
Augenblick ruhig stehen, sondern bewegt sich bald im Sinne einer
Zunahme, bald einer Abnahme des bestehenden Stromes. Diese Os-
cillationen, welche bisweilen nur angedeutet erscheinen, können sich
in anderen Fällen über viele Scalentheile erstrecken, und es kann
sich im Laufe der Beobachtung ein ganz neuer Mittelwerth des Ruhe-
stromes bilden. Zuweilen scheinen die gegensinnigen Ablenkungen
zeitweise einen ziemlich regelmässigen Rhythmus inne zu halten, in
der Mehrzahl der Fälle lässt sich dies jedoch nicht erkennen. Mit
Rücksicht darauf, dass nachgewiesenermaassen die Zungendrüsen vom
Centralorgan aus innervirt werden können, liegt die Vermuthung
nahe, dass es sich im vorliegenden Falle um derartige centrale
Erregungsimpulse handelt*, indessen treten die geschilderten Oscil-
lationen, wenngleich meist schwächer ausgeprägt, auch an dem
früher beschriebenen Unterkieferpräparate hervor, so dass jedenfalls
in der Zunge selbst die nächsten Ursachen dafür gesucht werden
müssen.
Leitet man den Ruhestrom der Zunge in der oben erwähnten
Weise am ganzen unversehrten Frosch ab, wobei man den Unter-
kiefer des auf dem Rücken liegenden Thieres mittels eines neben der
Zunge durchgezogenen Fadens möglichst weit nach hinten zieht, so
findet man den Strom unmittelbar nach Anlegen der
Elektroden fast regelmässig in rascher Zunahme be-
griffen, und es kann geschehen, dass der gleich nach dem Oeffhen
des Rachens äusserst schwache Strom wenige Minuten später die
Scala weit aus dem Gesichtsfeld treibt. Auch beim Abrücken und
Wiederanlegen der die Zungenoberfläche berührenden Elektrode an
derselben oder einer anderen Stelle macht sich regelmässig eine
Schwächung mit darauffolgendem Wiederansteigen des Stromes be-
merkbar. Die Erklärung dieser Erscheinungen kann erst im Zu-
sammenhang mit anderen, später mitzutheilenden Thatsachen gegeben
werden.
398 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
Einer eingehenderen Erörterung bedarf der sehr auffallende Ein-
fluss, welchen Aenderungen der Temperatur auf die elektro-
motorischen Wirkungen der Froschzunge ausüben. Werden curarisirte
Frösche längere Zeit (mehrere Stunden) bei niederer Temperatur
aufbewahrt, so bietet die Zunge bei der darauffolgenden, mög-
lichst rasch vorgenommenen Untersuchung oft einen verkehrten,
d. i. „aussteigenden" Ruhestrom dar, dessen Stärke manchmal
nicht weit hinter der des sonstigen, normal einsteigenden Stromes
zurückbleibt. In der Regel nimmt dann bei fortschreitender Erwär-
mung des Präparates der verkehrte Strom ziemlich rasch ab, es
kommt ein kurzes Stadium, während dessen unter den gegebenen
Ableitungsbedingungen (Zungenoberfläche und blossgelegte Muskulatur
des Unterschenkels) keinerlei Spannungsdifferenz nachweisbar ist, wor-
auf sich allmählich der normale, einsteigende Strom entwickelt.
Die stärksten verkehrten Wirkungen lassen sich erzielen, wenn
schwach curarisirte Frösche für mehrere Stunden ganz in Schnee ge-
packt werden.
Untersucht man dann den Zungenstrom in der angegebenen
Weise am unversehrten Thier, und zwar möglichst rasch, ehe merk-
liche Erwärmung eingetreten ist, so erhält man oft ausserordentlich
starke, weit über die Scala gehende Ablenkungen im Sinne eines
aussteigenden Stromes. Bleibt ein solcher Kaltfrosch im warmen
Zimmer liegen, so entwickelt sich, wie schon erwähnt, mehr oder
weniger rasch der normale einsteigende Strom. Diese Erfahrungen
gaben Veranlassung, auch an der ausgeschnittenen Zunge den Einfluss
der Abkühlung und Erwärmung näher zu prüfen, und ich bediente
mich hierbei durchwegs des schon beschriebenen Unterkieferpräpa-
rates. Da sich 0,5 ''.o NaCl-Lösung als ziemlich indifferent für die
elektromotorische Wirksamkeit der Zunge erwies, indem selbst
stundenlanges Liegen in derselben keine wesentliche Beeinträchtigung
jener zur Folge hatte, so bot sich als einfachstes Mittel der Ab-
kühlung resp. Erwärmung das Einlegen in verschieden temperirte
Lösungen von gleichem Salzgehalt dar. In der That zeigt sich aus-
nahmslos, dass jedes vorher noch so stark im normalen
Sinne wirksame Präparat in kürzester Zeit stromlos
wird und hierauf in den meisten Fällen einen ver-
kehrten (aussteigenden) Strom entwickelt, wenn es in
einem Schälchen mit physiologischer Kochsalzlösung
auf Schnee gestellt und mit einer Glasglocke bedeckt
einige Stunden bei niederer Temperatur (0 — 2*^ C.) auf-
bewahrt wird. Dasselbe Resultat lässt sich übrigens auch dann
erzielen, wenn das auf dem Thonblock liegende Präparat einfach in
einer feuchten Kammer einige Stunden in einem kalten, aber frost-
freien Raum (bei etwa 2 — 4 " C.) aufgestellt wird. In allenFällen
kann man dann den aussteigenden Ruhestrom fast
momentan umkehren, wenn man das Präparat in
physiologische Kochsalzlösung von etwa 25 — 30 "^ C.
taucht.
Man wird bei diesen Versuchen unwillkürlich an den seiner Zeit
von Matteucci behaupteten Einfluss der Abkühlung auf den Muskel-
strom erinnert. Ohne denselben leugnen zu wollen, muss gleichwohl
auf den enormen gradweisen Unterschied hingewiesen werden, der
sich in der erwähnten Richtung in beiden Fällen geltend macht.
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 399
Der „Ruhestrom" des Muskels (d. i, der Demarcationsstrom im Sinne
Hermann 's) lässt sich zwar durch intensive Abkühlung merklich
schwächen, niemals aber beseitigen, geschweige denn umkehren.
Es wollte mir scheinen, dass Zungenpräparate, welche frisch
untersucht sehr stark im normalen Sinne elektromotorisch wirken,
bei Abkühlung weniger leicht verkehrte Ströme geben, als solche,
deren Wirksamkeit in Folge längeren Liegens bei nicht zu hoher
Temperatur schon erheblich abgenommen hat. So fand ich auch
durchwegs solche Frösche zu allen diesen Versuchen besser geeignet,
welche während des Winters längere Zeit im warmen Zimmer ge-
halten wurden. Kaltfrösche liefern fast stets Präparate, welche
frisch untersucht sehr starke und zugleich verhältnissmässig be-
ständige Ströme geben, die dem Einfluss der Abkühlung so zu sagen
einen grösseren Widerstand entgegenstellen, als gleichstarke oder
selbst stärkere Ruheströme von Warmfröschen. Damit hängt es viel-
leicht auch zusammen, dass Frühlingsfrösche in Schnee gepackt in
der Regel einen viel stärkeren aussteigenden Zungenstrom geben, als
Winterfrösche. Die letzteren kann man aber nach meinen Erfah-
rungen jederzeit leicht in eine ähnlich günstige Disposition versetzen,
wenn man sie vor dem Versuche 2 — 3 Tage im warmen Zimmer in
der Nähe des Ofens hält. Man erhält dann bei Ableitung des Zungen-
stromes oft ebenso starke Ablenkungen in demselben Sinne, wie von
Kaltfröschen, doch befindet sich derselbe so zu sagen in einem labilen
Gleichgewichtszustand-, er macht bei Abkühlung viel rascher dem
Gegenstrome Platz, als es bei frisch untersuchten Kaltfröschen der
Fall ist, wo es bisweilen nicht einmal gelingt, den normalen ein-
steigenden Strom durch die bisher besprochenen Methoden der Ab-
kühlung selbst nur auf Null herabzudrücken.
Dies ist jedoch ausnahmslos der Fall, wenn man
schmelzenden Schnee oder Eis direct mit der Schleim-
hautoberfläche in Berührung bringt, und es ist mir
überhaupt kein Fall vorgekommen, wo unter diesen
Bedingungen nicht eine wirkliche Umkehr des nor-
malen Ruhestromes eingetreten wäre. Im Einzelnen sind
allerdings die betreffenden Wirkungen bei verschiedenen Präparaten
von sehr wechselnder Stärke, wobei sich wieder der Einfluss der
schon erwähnten Momente sehr deutlich geltend macht. Am zweck-
mässigsten fand ich es, kleine, ebene und nicht zu dicke Eisblättchen,
wie man sie durch Gefrieren dünner Wasserschichten leicht gewinnt,
zwischen die Zungenoberfläche und die ableitende Elektrode mit mög-
lichster Vorsicht einzuschalten. Man sieht dann fast momentan den
Strom auf Null sinken, und in der Regel tritt auch in wenigen
Sekunden schon die Umkehr ein. Der neu hervortretende ausstei-
gende Strom kann dann unter Umständen so bedeutend werden, dass
die Scala weit aus dem Gesichtsfeld fliegt. Genügt das einmalige
Auflegen von Eis nicht, so kommt man doch sicher durch Wieder-
holung des Verfahrens zum Ziele; nach dem Schmelzen des Eises
nimmt der verkehrte Strom in der Regel sehr rasch ab, um schliess-
lich wieder einsteigend zu werden. Diese Abnahme, welche Anfangs
schneller als später erfolgt, findet bisweilen nicht gleichmässig stetig,
sondern mit mehr oder weniger beträchtlichen Oscillationen statt.
Wenn auch die früher mitgetheilten Thatsachen entschieden zu
Gunsten der Annahme sprechen, dass es sich hier wie dort im Wesent-
400 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
liehen um eine Folgewirkung der Abkühlung handelt, so bleibt doch
der naheliegende Einwand auszuschliessen, es möchte etwa durch die
Berührung der einen Elektrode mit dem schmelzenden Eise Anlass
zur Entstehung eines „Thermostromes" gegeben sein. Diese Ver-
muthung schien um so begründeter, als Ströme in Folge ungleich-
artiger Erwärmung der ableitenden, unpolarisirbaren Elektroden in der
That bekannt sind, indem nicht nur ungleiche Temperatur der beiden
die Zinkstäbe enthaltenden Glasröhren mächtige thermoelektrische Er-
scheinungen verursacht, sondern es kann, wie Wo rm-Müller fand
und Grützner bestätigte, auch ein schwächerer und umgekehrt ge-
richteter „Thermostrom" zwischen dem mit physiologischer NaCl-Lösung
durchtränkten Thonpfropf und der Zinkvitriollösung entstehen. Der-
selbe geht vom Zinkvitriol zum Thon und hatte bei 35*^ Temperatur-
differenz eine elektromotorische Kraft von 0,002 Daniell. Controlver-
suche, welche ich in grosser Zahl mit dem Thonblock allein, sowie
mit aufgelegten abgestorbenen, elektromotorischen, nicht mehr wirk-
samen Zungenpräparaten anstellte, ergaben nun allerdings schwache
Ablenkungen in demselben Sinne, wie bei den vorerwähnten Ver-
suchen, d. h. die abgekühlte Elektrode wurde so zu sagen schwach
positiv; doch kann nicht im Entferntesten davon die Rede sein, die
so überaus starken Wirkungen normaler Präparate darauf zurück-
führen zu wollen; abgesehen von allen anderen schon erwähnten
Gründen, sei nur noch darauf hingewiesen, dass auch in dem
Falle die volle Wirkung des aussteigenden Stromes zum Vorschein
kommt, wenn man erst einige Zeit nach dem Auflegen des Eises und
nach Absaugen des Schmelzwassers die Pinselspitze mit der Zunge in
Berührung bringt; man sieht dann sofort eine starke Ablenkung in
dem erwarteten Sinne erfolgen, die eventuell die Scala aus dem Ge-
sichtsfeld treibt, und der hier sicher keine hinreichenden Temperatur-
differenzen entsprechen. Ich habe übrigens oft genug an Unterkiefer-
präparaten, welche durch Gefrieren und Wiederaufthauen gänzlich
stromlos geworden waren und einige Zeit in zimmerwarmer Kochsalz-
lösung gelegen hatten, selbst nach wiederholtem Auflegen von Schnee
oder Eis kaum Spuren eines aussteigenden Stromes gefunden.
Ich halte es daher auf Grund der mi tgetheilten Be-
obachtungen für sicher erwiesen, dass der regelmässige
einsteigende Schleimhautstrom der Froschzunge durch
hinreichend starke Abkühlung nicht nur sehr rasch auf
Null herabgedrückt, sondern auch umgekehrt werden
kann, wobei der verkehrte Strom unter Umständen die
gleiche Stärke erreichen kann, wie vordem der „nor-
male".
Da bei den zuletzt besprochenen Versuchen die Oberfläche der
Zungenschleimhaut von dem Schmelzwasser des Eises benetzt wird, so
war daran zu denken, ob die beobachteten Versuchsresultate nicht
wenigstens zum Theil darauf zu beziehen sind. Dass dies der Haupt-
sache nach sicher nicht der Fall ist, geht freilich aus den vorstehenden
Mittheilungen unmittelbar hervor. Doch konnte die so auffallend
rasche Umkehr des Stromes, sowie die Kraft desselben wenigstens
theilweise auf Wasserwirkung beruhen. Dies führte zur Unter-
suchung des Einflusses, welchen der wechselnde Wasser-
gehalt der Zungenschleimhaut auf deren elektromoto-
rische Wirksamkeit während der „Ruhe" besitzt. Ueber
Die elektromotorisd en Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 401
denselben Gegenstand liegt bereits eine Reihe trefflicher Beobachtungen
von Engelmann (72) an der Froschhaut vor, auf welche später
noch zurück zu kommen sein wird. Es beziehen sich dieselben
auf die Wirkung des Wassers, sowie verschieden concentrirter Salz-
lösungen auf den ebenfalls einsteigenden „Ruhestrom" der Haut. Da,
wie sich später zeigen wird, in jeder Hinsicht eine nahezu voll-
kommene Uebereinstimmung der elektromotorischen Wirkungen der
äusseren Haut und der Zunge des Frosches besteht, so war von vorn-
herein zu vermuthen, dass dies auch in Bezug auf die Folgen der
Wasserzufuhr und Wasserentziehung gelten würde. Bei der später
noch zu erwähnenden ausserordentlichen Empfindlichkeit der Zungen-
schleimhaut für alle, auch die geringfügigsten mechanischen Reize
darf die Flüssigkeit, deren Einwirkung man prüfen will, nicht einfach
aufgeträufelt oder gar mit dem Pinsel aufgetragen werden, was leicht
zu den grössten Irrthümern Anlass geben könnte, sondern es empfiehlt
sich, das Präparat nach einander in Schälchen zu bringen, welche
mit den betreffenden Lösungen gefüllt sind. Nach kürzerem oder
längerem Verweilen in denselben untersucht man den Zungenstrom in
der früher geschilderten Weise bei Ableitung von einer Thonunter-
lage und der Oberfläche der Schleimhaut. Während die gewöhnlich be-
nützte 0,6 "/o NaCl-Lösung sich auch für die Froschzunge insofern als
indifferent erweist, als die Fähigkeit, elektromotorisch zu wirken, in
derselben bei nicht zu hoher Temperatur viele Stunden, ja Tage lang
erhalten bleibt, wird die Kraft des einsteigenden Schleim-
hautstromes stets sehr erheblich gesteigert, wenn man,
sobald sich nach längerem Liegen des Präparates in ge-
Avöhnlicher physiologischer NaCl-Lösung die Ablenkung
bei wiederholter Prüfung als nahezu constant erweist,
eine halbverdünnte (also etwa 0,2 — 0,3 *^/o) Kochsalz-
lösung einwirken lässt, und noch mehr ist dies der Fall, wenn
Brunnen- oder destillirtes Wasser einwirkt. Es genügt schon, unter
Vermittlung des ableitenden Pinsels einen Tropfen aq. destill, auf die
Oberfläche einer vorher in physiologischer NaCl-Lösung aufbewahrten
Zunge fliessen zu lassen, um sofort eine starke positive Schwankung
des Schleimhautstromes zu erzielen, obschon dabei der Widerstand im
Kreise zweifellos erheblich zunimmt. Selbst längeres Verweilen des
Präparates in Brunnenwasser schwächt nicht nur nicht den normalen
Strom, sondern vermag dessen Kraft dauernd auf einer grösseren Höhe
zu erhalten als 0,6 ^lo Kochsalzlösung; es kann daher auch nicht die
Rede davon sein, die oben erwähnten gegensinnigen Wirkungen
bei Abkühlung der Schleimhaut durch aufgelegten Schnee oder Eis
auf die Einwirkung des Schmelzwassers als solchen zu beziehen.
Umgekehrt wie Wasser oder sehr stark verdünnte Salz-
lösungen wirken solche, deren Salzgehalt voraussicht-
lich zu einer mehr oder weniger hochgradigen Ent-
wässerung der damit in Berührung kommenden Gewebe
führt. Stets beobachtet man unter diesen Umständen
(bei Anwendung von 0,8 — l,5%NaCl-Lösungen) ein ver-
hältnissmässig rasches Sinken der Kraft des einsteigen-
den Zungen Stromes, die innerhalb gewisser Grenzen
durch Wasser zu fuhr rasch wieder gehoben werden kann.
Besonders bemerkenswerth scheint mir zu sein, dass es auch in
Biedermann, Elektrophysiologie. 26
402 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
diesem Falle, wie beienergischerAbkühlungder Zunge,
zu einer wirklichen Umkehr des normalen einsteigen-
den Stromes kommen kann, wobei die Stärke des Gegen-
stromes allerdings meist hinter der durch Kältewirkung
erreichbaren merklich zurückbleibt. Es gelingt, an einem
und demselben Präparate durch abwechselndes Versenken in 1 <^/o und
2 "/o Kochsalzlösung dem Strom der Schleimhaut mehrmals hinter ein-
ander bald aussteigende, bald einsteigende Richtung zu geben. In
der Regel genügten wenige Minuten, um diese Veränderungen herbei-
zuführen. Wie Engelmann auch an der Froschhaut fand, ent-
sprechen schon sehr geringen Unterschieden in der Concentration der
angewendeten Salzlösung oft ausserordentlich bedeutende Aenderungen
der elektromotorischen Kraft, was auf eine ungemein grosse Empfind-
lichkeit der betreffenden wirksamen Elemente für Veränderungen des
Wassergehaltes schliessen lässt.
Bekanntlich kann man auch schon während des Lebens den Ge-
weben des Froschkörpers in sehr energischer Weise Wasser entziehen,
indem man stärkere Lösungen von Kochsalz oder Glycerin unter die
Haupt spritzt. Ein halber Cubikcentimeter der letzteren Flüssigkeit,
bei einem curarisirten Frosch in den Rückenlymphsack injicirt, genügt,
um binnen kurzer Zeit (1 — 2 Stunden) dem wasserreichen Gewebe der
Zunge so viel Wasser zu entziehen, dass dieselbe sehr erhebhch ge-
schrumpft und dunkler gefärbt erscheint, als unter normalen Verhält-
nissen. In diesem Zustande findet man den einsteigenden Schleira-
hautstrom stets sehr schwach oder sogar fehlend.
Die zuletzt erwähnten Erscheinungen leiten unmittelbar hinüber
zu einer Besprechung der Wirkungsweise andersartiger, den Chemis-
mus der lebenden Zellen beeinflussender Substanzen. Hier sind vor
Allem jene beiden Gase zu nennen, die bei dem Lebensprocess aller
Organismen eine so überaus wichtige Rolle spielen, der Sauerstoff
und die Kohlensäure, deren Bedeutung speciell auch für gewisse
elektromotorische Wirkungen pflanzlicher und thierischer Theile fest-
gestellt ist. Engelmann zeigte, dass bei Verdrängung des Sauer-
stoffs durch ein indifferentes Gas (N oder H) die Kraft des Haut-
stromes allmählich sinkt, um bei Wiederzutritt atmosphärischer Luft
rascher wieder anzusteigen, wobei die anfängliche Höhe nicht nur er-
reicht, sondern sogar überschritten werden kann ; Kohlensäure bewirkt
dagegen ein ausserordentlich schnelles Sinken der Kraft, die selbst
dann schon vorübergehend geschwächt wird, wenn die umgebende
Atmosphäre nur wenige Procente des Gases enthält. Für Pflanzen-
ströme ist eine analoge Wirkung des O-Mangels in neuerer Zeit von
Haacke (Flora 1892, Heft IV) nachgewiesen worden. Ich bin in
der Lage, einen gleichartigen Einfluss der genannten beiden Gase auch
für die Froschzunge constatiren zu können. Das Versuchsverfahren
war im Wesentlichen dem von Engel mann benützten nachgebildet;
das Präparat (Unterkiefer und Zunge auf einem Block von Kochsalz-
thon liegend) befand sich nebst den ableitenden Elektroden in einer
Gaskammer, bestehend aus einer vierfach tubulirten Glasflasche, durch
welche die betreffenden Gase hindurchgeleitet werden konnten. Stets
nahm sowohl bei Verdrängung des O wie bei Zufuhr von CO-g die
Kraft des einsteigenden Zungenstromes ab, ersteren Falls später und
langsamer, letzteren Falls dagegen sehr schnell. Dieselbe einfache
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 403
Vorrichtung kann auch dazu dienen, den Einfluss der Anästhe-
t i c a (Aether , Chloroform) zu prüfen ; schon kleine Mengen dieser
Substanzen in Dampfform bedingen eine erhebliche Verminderung der
Kraft des einsteigenden Stromes, die, wenn die Einwirkung nicht allzu
lange dauerte, bei Durchsangen von reiner Luft sich wieder hebt.
Ganz ähnliche Verhältnisse wie die Zunge bieten auch die
Rachen- und Cloakensch leim haut des Frosches.
An diesen beiden Objecten hatte schon Engelmann (77) elektro-
motorische Wirkungen nachgewiesen. Wieder handelt es sich in
beiden Fällen um einen unter normalen Verhältnissen „einsteigenden"
Strom, dessen Kraft oft eine sehr beträchtliche ist und hinter der des
Zungenstromes kaum zurücksteht. Gleichwohl ist der histologische
Bau sehr wesentlich verschieden. Sowohl die Rachen- wie die Cloaken-
schleimhaut sind im gewöhnlichen Wortsinne als „drüsenlos" zu be-
zeichnen, da in beiden Fällen nur ein einschichtiges Cylinderepithel
vorhanden ist, welches bei dem erstgenannten Objecte aus Flimmer-
zellen mit zwischengelagerten Becherzellen, bei dem anderen fast
nur aus diesen letzteren besteht. Mehrzellige Drüsen fehlen in
der That gänzlich. Gerade aus diesem Grunde bieten jedoch die ge-
nannten Objecte viel übersichtlichere und einfachere Ableitungsbedin-
gungen dar, als die Zungenschleimhaut, so dass gewisse Einwände,
welche hier möglicher Weise gemacht werden könnten, dort von
vornherein wegfallen. Da der Cloakenschleimhaut Flimmerzellen
vollkommen fehlen, ihre elektromotorischen Wirkungen aber dem-
ungeachtet in jeder Beziehung mit denen der flimmernden Rachen-
schleimhaut einerseits, der nur spärlich mit Flimmerzellen ausgestatteten
Zungenschleimhaut andererseits übereinstimmen, so erscheint es kaum
zweifelhaft, dass als die eigentlichen elektromotorisch wirk-
samen Elemente in allen drei Fällen die schleimbilden-
den Zellen anzusehen sind, sei es nun, dass dieselben
als Bestandtheile zusammengesetzter Drüsen oder als
„Becher Zellen" auftreten. Gleichwohl bedurfte diese Ansicht
einer besonderen Prüfung, da Engelmann die Flimmerzellen an sich
für elektromotorisch wirkende Elemente hielt und den Rachenstrom
darauf zurückzuführen geneigt war. Auch Hermann weist auf
die Möglichkeit hin, die Flimmerbewegung „unter dem Gesichtspunkt
einer in den äusseren Zellschichten stattfindenden („irritativen")
Alteration" zu betrachten. Meine eigenen Beobachtungen stimmen
hierzu jedoch in keiner Weise. Die Methode der Untersuchung ge-
staltet sich sowohl bei der Rachenschleimhaut wie bei der Cloake
äusserst einfach. Engelmann präparirte die erstere in der Regel
von ihrer natürlichen Unterlage los und leitete von der äusseren und
inneren Oberfläche der über ein Korkrähmchen gespannten Membran
ab. Es gelingt dies aber selbst bei grösster Sorgfalt doch nicht ganz
ohne mechanische Schädigung, und da, wie ich mich des Oefteren
überzeugt habe, die Stärke der elektromotorischen Wirkungen der
Schleimhaut in ausserordentlich hohem Grade von jeder noch so ge-
ringfügigen Dehnung oder Zerrung beeinflusst wird, so ist es vor-
zuziehen, von der in situ befindlichen Schleimhaut abzuleiten. Zu
diesem Zwecke ist es nur erforderlich, die äussere Kopfhaut bis an
den Rand des Oberkiefers zu entfernen, um eine etwaige Einmischung
ihrer eigenen elektromotorischen Wirkungen zu verhüten, und
404 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
hierauf den ganzen Oberkiefer durch einen möglichst tief geführten
Querschnitt abzutrennen; wird derselbe dann mit der Schleimhaut-
fläche nach oben in ein Uhrschälchen mit ein wenig 0,5 °/o Koch-
salzlösung gelegt, so braucht man nur in diese letztere die eine
Pinselelektrode zu tauchen, während die Spitze der anderen beliebige
Punkte der Schleimhautoberfläche berührt, um in möglichst schonen-
der Weise die Ableitung zu ermögHchen. Unter diesen Umständen
ist der einsteigende Strom viel stärker, als an der abpräparirten
Membran, und es fragt sich nur, ob nicht etwa unter den erwähnten
Bedingungen elektromotorische Wirkungen anderer Theile (etwa ver-
letzter Muskeln etc.) mit ins Spiel kommen. Es lässt sich dies leicht
ausschliessen, wenn man dasselbe Präparat nach Zerstörung des Ober-
flächenepitheis oder nach gänzlicher Ablösung der flimmernden Schleim-
haut in gleicher Weise wie vorher untersucht; dabei habe ich niemals
irgend erhebliche Spannungsdifl'erenzen Avahrgenommen , so dass die
erwähnten Bedenken wohl als unbegründet anzusehen sind. Die
Cloakenschleimhaut wurde gewöhnlich in der Weise untersucht, dass
die durch einen Längsschnitt aufgeschlitzte Cloake möglichst vor-
sichtig und ohne die Schleimhautfläche selbst zu berühren auf einem
Thonblock ausgebreitet wurde, worauf die Ableitung in bekannter
Weise erfolgte.
Bis zu einem gewissen Grade kann man im einen wie im anderen
Falle schon durch den blossen Anblick der Schleimhaut erkennen, ob
sie einen starken oder schwachen einsteigenden Strom liefern wird.
Erscheint die Rachenschleimhaut (wie meist im Winter)
in situ röthlich durchscheinend und feucht, und ist die
Cloake mit breiigem oder auch dünnflüssigem Inhalt
erfüllt, so darfman mit ziemlicher Sicherheit auf einen
starken Strom rechnen; ist dagegen, wie mei st im Sommer,
bei langegefangengehaltenenFröschen, die flimmernde
Schleimhaut weisslich getrübt, oder finden sich in der
Cloake nur spärliche feste Bröckel, wobei die Schleim-
haut blass und trocken erscheint, so ist der einsteigende
Strom, wenn überhaupt vorhanden, in der Regel sehr
schwach. Dies weist, wie mir scheint, ohne Weiteres daraufhin,
dass in beiden Fällen die secretorische Thätigkeit zu den
elektromotorischen Wirkungen der Schleimhaut in einer
unmittelbaren und nahen Beziehung steht. Dazu kommt
noch, dass sehr häufig die Flimmerbewegung ganz normal
gefunden wird — soweit sich dies durch die Fortbewegung auf-
gelegter kleiner Blutgerinnsel oder ähnlicher Körper verräth —
während der einsteigende Strom fast oder gänzlich
fehlt, und umgekehrt habe ich, wiewohl seltener, auch Fälle
beobachtet, wo ungeachtet einer sehr matten Flimme-
rung die S tromkraft eine ungeAvöhnlich hohe war. Immer
zeigte sich dann die Schleimhaut mit einer ziemlich dicken Schicht
schleimigen Secretes bedeckt. Es scheint, dass die mit dem Abpräpariren
und Aufspannen verbundenen mechanischen Schädigungen die Flimmer-
bewegung der Rachenschleimhaut viel weniger ungünstig beeinflussen,
als die elektromotorischen Wirkungen ; wenigstens ist es mir bei meinen
Versuchen auffallend oft begegnet, dass bei derartigen Präparaten die
Flimmerung noch stundenlaug mit äusserster Lebhaftigkeit fortdauerte,
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 405
während nur minimale Ablenkungen das Vorhandensein eines schwachen
einsteigenden Stromes anzeigten. Auch die Resultate der Pilocarpin-
vergiftung dürfen wohl zu Gunsten der hier vertretenen An-
schauung bezüglich der Bedeutung des einsteigenden „Ruhestromes"
der Rachenschleimhaut als eines „Secretionsstromes" geltend gemacht
werden. Wie der Strom der Zunge in einem gewissen Stadium der
Pilocarpinvergiftung (zwei Stunden nach Injection von 1 ccm einer
2 °/o Lösung von Pilocarp. niuriat.) gewöhnlich äusserst kräftig ge-
funden wird, so gilt dasselbe nach meinen Erfahrungen auch hinsicht-
lich des Rachen- und Cloakenstromes. Die Ablenkung ist dann meist
so stark, dass die Scala aus dem Gesichtsfelde verschwindet. Da den
vorstehenden Erfahrungen zu Folge keinerlei Proportionalität zwischen
der Lebhaftigkeit der Flimmerbewegung und der Intensität der elektro-
motorischen Wirkung der Rachenschleimhaut zu bestehen scheint, und
da die scheinbar dafür sprechenden Beobachtungen von Engelmann
sich ganz ungezwungen in anderer Weise deuten lassen, so sehe ich
bis auf Weiteres keinen Grund, den einsteigenden Strom der genannten
Schleimhaut auf eine andere Ursache zurückzuführen, als den gleich-
sinnigen Zungen- und Cloakenstrom, es sei denn, dass in der Folge
an einer nur Flimmer zellen tragenden Membran ähnliche elektro-
motorische Wirkungen nachgewiesen würden.
Es wurde schon erwähnt, dass die Uebereinstimmung in Bezug auf
das elektromotorische Verhalten der beiden in Rede stehenden Objecte
mit der Zungenschleimhaut eine fast vollkommene ist. Dies gilt auch
hinsichtlich der Inconstanz des Stromes, sowie der Wirkungen der
Abkühlung und Reizung. In fast allen Fällen, wo die Kraft eine ge-
wisse Höhe erreicht hat, beobachtet man Oscillationen des Magneten,
welche auf das Vorhandensein gegensinniger Kräfte schliessen lassen,
deren Resultirende der augenblicklichen Ablenkung entspricht. Und
wie deren Grösse an einer und derselben Stelle mit der Zeit wechselt,
so ist dieselbe auch an verschiedenen Stellen der Schleimhaut zur
selben Zeit verschieden. Im Allgemeinen ist unter sonst gleichen
Umständen der einsteigende Strom der Cloakenschleimhaut bei Weitem
kräftiger als der Rachenstrom, was von vornherein zu erwarten war,
wenn die einzelligen Drüsen (Becherzellen) dafür verantwortlich zu
machen sind.
Dass der Letztere durch Abkühlung geschwächt wird , hat
Engel mann bereits hervorgehoben, doch war es ihm entgangen,
dass unter gleichen Umständen auch eine vollkommene
Umkehr möglich ist. In der That ist nichts leichter, als sich
davon zu überzeugen, dass durch Einlegen eines Oberkieferpräparates
in 0,5 ^/o, auf 0 ^ abgekühlte NaCl-Lösung auch der stärkste einsteigende
Strom in kürzester Zeit (5—10 Minuten) zum Verschwinden gebracht
werden kann. Eintauchen in erwärmte Kochsalzlösung (von etwa
25 — SO*' C) ruft den normalen Strom fast momentan wieder hervor.
Um an demselben Präparat einen „aussteigenden" Strom von erheb-
licher Stärke zu erzielen, muss man in der Regel schmelzendes Eis
oder Schnee anwenden; auch kommt es dann sehr wesentlich mit auf
eine gewisse Disposition der Schleimhaut an, die ihrerseits wieder von
den Bedingungen abhängt, unter denen der Frosch vorher gelebt hat.
Wie bei der Zunge, so erhält man auch bei der Rachenschleimhaut
die besten und überzeugendsten Resultate, wenn das Präparat von
406 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
einem „Warmfrosch" stammt und der unsprüngliche einsteigende Strom
nicht allzu stark ist. Ich habe daher die zu diesen Versuchen
bestimmten (nicht curarisirten) Temporarien in der Regel 2 — 3 Tage
vorher im Avarmen Zimmer in der Nähe des Ofens gehalten.
Um den Einfluss mechanischer Reizung der Schleimhaut durch
Druck oder Reibung möglichst zu beschränken, empfiehlt sich die
Anwendung von schmelzendem , lockerem Schnee am meisten , von
dem ein Klümpchen auf die Schleimhaut des enthäuteten Ober-
kiefers gelegt und eventuell mehrmals erneuert wird , nachdem
vorher der „Ruhestrom" geprüft wurde; das Schmelzwasser saugt
man vorsichtig mit einem Pinsel ab und legt die ableitende Elek-
trode nun zum Zwecke der Prüfung derart an, dass dieselbe durch
eine nicht zu dicke Schichte schmelzenden Schnees von der darunter
liegenden Schleimhautoberfläche getrennt ist. Unmittelbar nach der
Ablesung wird der Galvanometerkreis durch Entfernung der Schleim-
hautelektrode wieder geöffnet, um die EntAvicklung etwaiger „Thermo-
ströme" möglichst zu vermeiden. Ganz in gleicher Weise verfährt
man auch, wenn es gilt, die Wirkung der Kälte auf den Cloaken-
strom zu untersuchen. Im einen wie im anderen Falle macht sich
zunächst ein sehr rasches Sinken der ursprünglichen Stromkraft be-
merkbar, worauf sich in der Regel alsbald der Strom umkehrt und
oft eine so erhebliche Stärke erreicht, dass das Ende der Scala aus
dem Gesichtsfelde verschwindet. Nach dem völligen Schmelzen des
Schnees kehrt in Folge der zunehmenden Erwärmung die ursprüng-
liche Stromkraft bald wieder zurück. Man kann auf diese Weise
an demselben Präparat den Versuch mit gleichem Erfolge mehrfach
wiederholen.
Es kann daher hier ebensowenig wie bei der Zunge ein Zweifel
darüber bestehen, dass die Abkühlung des Oberflächen-
epithels an sich das Hervortreten einer gegensinnigen
elektromotorischen Kraft zur Folge hat.
Ein nicht minder günstiges Object für das Studium der elektro-
motorischen Wirkungen flächenhaft ausgebreiteter einzelliger Schleim-
drüsen bildet die Haut des Blutegels. Man kann dieselbe nach
Entfernung der Eingeweide mittelst der Scheere leicht von allen
anhängenden Geweberesten befreien, so dass nur der Hautmuskel-
schlauch zurückbleibt. Stets findet man dann bei Ableitung von
Aussen und Innen einen starken einsteigenden Strom , dessen Ver-
halten unter verschiedenen Umständen dem früher geschilderten
entspricht.
Auch die seit lange bekannten, gleichsinnigen elektromotorischen
Wirkungen der Haut niederer Wirbelthiere (Amphibien und Fische)
dürften der Hauptsache nach auf die gleichen Ursachen zu beziehen
sein, wie die der eben besprochenen Organe.
Bei Weitem die eingehendsten Untersuchungen liegen über die
elektromotorischen Wirkungen der äusseren Haut des
Frosches vor und wir verdanken hier insbesondere E n g e 1 m a n n (72)
eine Reihe treflflicher Beobachtungen, deren Werth durch die, wie
man zur Zeit wohl sicher behaupten darf, unrichtige Deutung in
keiner Weise geschmälert wird. In neuerer Zeit hat dann Hermann,
geleitet von gewissen, schon oben hervorgehobenen theoretischen Ge-
sichtspunkten, auch die Haut der Fische wieder zum Gegenstande
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 407
einer Untersuchung gemacht, deren Resultate für seine Auffassung
und Deutung des Froschhautstromes bestimmend wurden.
Da der Bau der Haut gewisser Fische gerade in dem , wie ich
glaube, auch für die elektromotorische Wirksamkeit derselben wesent-
lichsten Punkte sich unmittelbar an die zuletzt behandelten Objecte
anschliesst, so mögen einige Bemerkungen hierüber Platz finden.
Durch die Untersuchungen von F. E. Schnitze (78) ist es seit
lange bekannt, dass in der Oberhaut zahlreicher Fische einzellige
Schleimdrüsen in Form von Becherzellen in mehr oder weniger grosser
Menge vorkommen und in manchen Fällen das Epithel fast aus-
schliesslich zusammensetzen (Cobitis). Die einzelnen Elemente er-
reichen oft geradezu colossale Dimensionen und liefern ein schleimiges
Secret, welches die Oberhaut glatt und schlüpfrig macht. Wie in
allen Fällen ist der protoplasmatische, kernführende Theil der Zellen
basal gelegen, d. h. der Cutis zugewendet, während der obere in
Mucinmetamorphose begriffene Abschnitt direct auf die freie Fläche
der Oberhaut mündet. An der secretorischen Function dieser Zellen
kann zur Zeit nicht im Geringsten gezweifelt werden , da man den
Absonderungsvorgang selbst direct unter dem Mikroskope beobachtet
hat. In Bezug auf die elektromotorische Wirksamkeit der Fisch! aut
hat Hermann durchaus zutrefi"ende Angaben gemacht. Gegenüber
den Fröschen sind die Fische insofern weniger geeignete Unter-
suchungsobjecte , als ihre Oberhaut nicht wie dort durch grosse
Lymphräume von dem Muskelkörper getrennt, sondern vielmehr fest
mit demselben verwachsen ist. In vielen, ja den meisten Fällen bleibt
daher nichts Anderes übrig, als die Spannungsdifferenz zwischen einer
geätzten und dadurch elektromotorisch unwirksam gemachten und
einer normalen Hautstelle zu prüfen, wobei sich gewöhnlich ein ziemlich
starker Strom in dem Sinne ergiebt, dass, wie unter gleichen Um-
ständen auch an der Froschhaut und den früher behandelten Schleim-
häuten, die geätzte Hautstelle sich „kräftig positiv gegen
die nicht geätzte" verhält.
Mit Hermann muss man aus dieser Thatsache schliessen,
„dass die Fischhaut oder richtiger jede Oberflächenstelle des Fisches
gerade wie die Froschhaut überall Sitz einer von Aussen nach Innen
gerichteten elektromotorischen Kraft ist, welche durch Aetzung sehr
schnell zerstört wird". Beim Aal ist es nicht schwierig, die Haut
selbst in toto abzustreifen oder Stücke davon abzupräpariren. Es ist
aber durchaus erforderlich, dass der Fisch möglichst unversehrt und
frisch zur Untersuchung kommt, da die elektromotorische Wirksam-
keit sehr leicht schon durch geringfügige Schädigungen der Haut-
oberfläche eine dauernde Einbusse erfährt. Auch E. W. R e i d und
A. Tolputt (83) haben neuerdings an ermüdeten Thieren Umkehr
des Stromes beobachtet.
Dem Sinne nach stimmt unter normalen Verhältnissen der „Ruhe-
strom" der Froschhaut, abgesehen von der in der Mehrzahl der Fälle
beträchtlicheren Stärke, durchaus mit dem der Fischhaut überein, ob-
schon der histologische Bau beider Objecte sehr wesentliche Ver-
schiedenheiten darbietet, Schleimzellen kommen hier nicht wie bei
den Fischen als Hauptbestandtheile des eigentlichen Oberflächen-
epithels, sondern fast ausschliesslich als solche der bekannten viel-
zelligen Hautdrüsen vor; das erstere besteht dagegen ganz vorwiegend
408 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Driisenzellen.
aus vieleckigen Stachel- und RifFzellen, von denen die der Cutis auf-
sitzenden eine mehr cylindrische Form besitzen, während sie nach
oben hin sich immer mehr abflachen und schliesslich zu äusserst von
einer einfachen Lage Plattenepithel überdeckt werden. Nur sehr ver-
einzelt finden sich im Epithel nahe der Oberfläche kleine flaschen-
förmige Becherzellen, welche jedoch nach F. E. Schnitze nicht auf
derselben münden.
In Bezug auf das Verhalten des normalen einsteigenden „Ruhe-
stromes" der Froschhaut , der wohl zum grössten Theil auf die in
grosser Zahl vorhandenen Hautdrüsen zu beziehen sein dürfte, sind
vor Allem die ausgezeichneten Beobachtungen Engelmann' s zu er-
wähnen, welche ich durchwegs zu bestätigen in der Lage war.
Am auffallendsten macht sich wieder die Abhängigkeit der elektro-
motorischen Kraft des Hautstromes von dem Wassergehalt des Ge-
webes geltend. Begreiflicher Weise wird der Strom um so schwächer ge-
funden, je trockener die Epidermis ist, da in Folge dessen der Leitungs-
widerstand ausserordentlich zunimmt. Einfaches Befeuchten mit Wasser
oder verdünnter Kochsalzlösung steigert die Kraft in jedem solchen
Falle rasch und sehr bedeutend. Die grössten bleibenden Kraftwerthe
erhält man immer mit reinem Wasser. „Lässt man, wenn nach dem
Abspülen mit Wasser die Kraft eine constante Höhe erreicht hat, einen
Tropfen Kochsalzlösung von 0,2 ^lo auffliessen, so nimmt die Kraft
im Laufe einiger Minuten ab. Bei wiederholtem Auftröpfeln derselben
Salzlösung pflegt sie dann noch weiter zu sinken, um allmählich
auf beständiger Höhe anzukommen. Wiederaufgiessen von Wasser
erhöht die Kraft schliesslich, oft bis genau zur selben Höhe wie
vor dem Aufbringen der Salzlösung" (Engel mann). Rascher und
energischer wirken noch stärkere Salzlösungen (0,4—0,8 ^i'o). Diese
Erfahrungen über den ausserordentlich bedeutenden Einfluss selbst
schon sehr geringer Concentrationsänderungen auf die Grösse der
Kraft des Hautstromes lassen sich selbstredend nicht auf Veränderungen
des Leitungswiderstandes zurückführen, sondern beruhen zweifellos
auf Schwankungen der elektromotorischen Thätigkeit der wirksamen
Zellen, welche mit den Veränderungen des Wassergehaltes derselben
Hand in Hand gehen. Mechanischen Insulten (Druck, Zerrung) gegen-
über ist die Froschhaut viel weniger empfindlich als etwa die Zunge.
Immerhin sah Engelmann (1. c.) die Kraft nach starker Zerrung
in wenigen Augenblicken von 0,1 Daniell auf 0,006 Daniell sinken.
Durch anhaltende Kältewirkung nimmt der einsteigende normale
„Ruhestrom" stets mehr oder weniger ab, ohne sich jedoch umzu-
kehren. Bei einer Temperatur von -|- 4° C. beobachtete Engelmann
noch Kraftwerthe von 0,08 Daniell. Plötzlichen positiven Wärme-
schwankungen, welche bereits von einer höheren Temperatur ausgehen,
entsprechen in der Regel negative Kraftschwankungen, deren Dauer
und Grösse mit zunehmender Grösse, Dauer und räumlicher Aus-
breitung der Temperatursteigerung wächst. Von chemischen Agentien
erwies sich vor Allem die Kohlensäure als eine Substanz ,_ bei
deren Einwirkung die Kraft des Hautstromes „mit ausserordentlicher
Schnelligkeit" sinkt. Oft sah Engelmann dieselbe schon im Laufe
der ersten halben Minute auf ein Sechstel und weniger der ursprüng-
lichen Höhe fallen. Wird das giftig wirkende Gas früh genug wieder
entfernt (Durchsaugen von Luft oder Wasserstoff"), so kann die Kraft
wieder zu ihrer ursprünglichen Höhe ansteigen. Aehnlich, nur grad-
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 409
weis verschieden wirken auch Anaesthetica, wie Chloroform und
Aether, welche ebenfalls schon in kleinster Menge starke negative
Schwankungen hervorbringen.
Auch bei Sauersto f f m a n g e 1 wird der Hautstrom nach längerer
Zeit schwächer und kann nachl — 2 Stunden bis auf Null gesunken sein.
Bei Wiederzutritt der Luft steigt die Kraft dann rascher an, als sie
vorher gesunken war, vorausgesetzt, dass die Sauerstoffentziehung
nicht allzu lange andauerte.
Die grosse Variabilität der Haut- und Schleimhautströme, ihre
ausserordentliche Abhängigkeit von den verschiedensten äusseren Ein-
flüssen lässt von vornherein auch erwarten, dass der Erfolg künst-
licher Reizung, sei es direct, sei es vom Nerven aus, sich je nach
Umständen sehr mannigfaltig gestalten dürfte. Auch hier bietet
wieder die Froschzunge bei Weitem die günstigsten Bedingungen für
den Versuch, da ihre Drüsen von leicht darstellbaren Nerven versorgt
werden.
Es wurde schon erwähnt, in wie hohem Grade die Stärke des
normalen einsteigenden „Zungenstromes" von mechanischen Ein-
wirkungen selbst der leichtesten Art, welche die Oberfläche der
Schleimhaut treffen, abhängig ist. Fast regelmässig findet man den
Strom unmittelbar nach erfolgter Berührung mit der Spitze der ab-
leitenden Elektrode in rascher Zunahme begriffen, und zwar ebenso-
wohl am ausgeschnittenen, wie an dem noch in situ befindlichen Prä-
parat. Dass es sich hierbei nur um die Ausgleichung einer durch
den mechanischen Reiz der Berührung bedingten negativen Schwan-
kung des Ruhestromes handelt, geht überzeugend aus dem Umstände
hervor, dass bei geschlossenem Galvanometerkreise jede kleinste
Verschiebung der Pinselspitze an der Zungenoberfläche
oder gar ein leichtes Reiben der Ableitungsstelle so-
fort ein rasches Sinken der Kraft zur Folge hat, das in
der Regel um so beträchtlicher ausfällt, je stärker der
voll entwickelte Ruhestrom ist. Immer gleicht sich diese
„negative Schwankung" sehr rasch wieder aus, um beliebig oft hervor-
zutreten, wenn die Reizung wiederholt Avird. Versuche, welche eigens
darauf abzielen, den Grad der erforderlichen Reizstärke zu bestimmen,
lehren, dass hierzu unter sonst günstigen Umständen in der That
äusserst geringfügige Eingriffe genügen. Das Hinstreifen mit der
Spitze eines Haares oder Auffallenlassen eines Tröpfchens physiologi-
scher Kochsalzlösung bewirken fast immer schon eine deutliche
Schwankung. Bei stärkerer, sich über eine grössere Fläche der
Schleimhaut erstreckender Reizung nimmt dieselbe natürlich an Intensität
zu, und es kann unter diesen Umständen bei nicht allzu starkem
Ruhestrom leicht zu einer Umkehr desselben kommen, besonders wenn
dazu von vornherein, etwa durch massige Abkühlung, eine gewisse
Tendenz gegeben ist. Schwach curarisirte Temporarien zeigen, bei
kühler Temperatur in wenig Wasser aufbewahrt, oft einen verkehrten
(aussteigenden) Ruhestrom von beträchtlicher Stärke, wenn man, un-
mittelbar nachdem der Unterkiefer mittels eines vorher durch-
gezogenen Fadens zurückgezogen wurde, die ableitenden Elektroden
einerseits an die Zungenoberfläche, andererseits an die blossgelegten
Schenkelmuskeln anlegt. Oft ist dieser zum Theil sicher auf die Ab-
kühlung zurückzuführende, aussteigende Strom fast ebenso stark wie
der normale einsteigende,, nimmt aber stets rasch ab, wenn die
410 Die elektromotorischen Wirkimg-en von Epithel- und Driisenzellen.
Elektroden ruhig liegen bleiben, um schliesslich umgekehrt, d. h.
normal zu werden. Während dieser ganzen Zeit genügt die geringste
Reibung mit der die Zunge berührenden Pinselspitze, um sofort einen
Rückschwung des Magneten im Sinne einer Verstärkung des aus-
steigenden Stromes, beziehungsweise einer Verminderung des ein-
steigenden herbeizuführen, worauf immer wieder rascher Rückgang
erfolgt. Es ist zweifellos, dass in solchem Falle der verkehrte Strom
unmittelbar nach dem Oeffnen des Rachens nur th eilweise durch die
vorhergehende Abkühlung bedingt Avird, grösstentheils aber auf die
nicht zu vermeidende mechanische Reizung der Schleimhaut beim
Ablösen der Zunge vom Gaumen, dem sie in der Ruhelage adhärirt,
zurückzuführen ist.
Auch der normale einsteigende Strom zeigt sich unter gleichen
Umständen fast immer, offenbar aus gleichem Grunde, erheblich ver-
mindert, zuweilen sogar fast gleich Null. Wenn man eine und die-
selbe Stelle der Zungenschleimhaut, die zunächst auf leichtes Reiben
mit der Pinselspitze sehr stark reagirt (im Sinne einer Abnahme der
Negativität) , wiederholt in gleicher Weise reizt, so fällt die negative
Schwankung bei jeder folgenden Reizung schwächer aus, und schliess-
lich tritt gar keine Reaction mehr ein; der normale Ruhestrom bleibt
ungeachtet der Reizung in seiner Stärke unverändert. Bisweilen
macht es den Eindruck, als ob die Kraft des letzteren in Folge
vorhergehender localer mechanischer Reizung merklich zunehmen
würde; indessen ist zur Feststellung dieser und anderer Fragen das
angewendete Verfahren wenig geeignet, und es erscheint wünschens-
werth, einen in seiner Intensität und Dauer besser abstufbaren Reiz
zu verwenden. Als solcher empfiehlt sich natürlich am meisten der
elektrische Strom , und zwar in Form tetanisirender Wechselströme
eines Inductionsapparates.
Verbindet man die secundäre Spirale mit zwei Elektroden
aus Platindraht und bringt dieselben bei einer Spannweite von
etwa 3 — 5 Millimetern mit der feuchten Oberfläche eines Blockes
aus Kochsalzthon, wie er auch zur Untersuchung der Zungenströme
benützt wird, in Berührung, während die eine Pinselelektrode die
Seitenfläche, die andere dagegen die Oberfläche des Blockes zwischen
beiden Platindrähten ableitend berührt, so beobachtet man an dem
im Kreise befindlichen Galvanometer keine Spur von Ablenkung,
wenn bei spielendem Wagner'schen Hammer der Kreis der secundären
Spirale geschlossen wird und die Rollen nicht übereinandergeschoben
sind; aber selbst im letzteren Falle treten gewöhnlich nur ganz
schwache Wirkungen auf das Galvanometer hervor, welche die später
zu schildernden Reizerfolge in keiner Weise zu beeinträchtigen ver-
mögen. Ehe ich dazu schritt, diese letzteren an der lebenden Zunge
zu prüfen , habe ich mich natürlich durch wiederholte Versuche auch
vergewissert, dass das vorerwähnte Resultat mit dem Thonblock keine
Aenderung erfährt, wenn ein elektromotorisch unAvirksames , abge-
storbenes Zungenpräparat aufgelegt wird.
Stellt man derartige Reizversuche dagegen an nor-
malen Zungen Präparaten an, welche in der früher ge-
schilderten Weise hergerichtet und abgeleitet werden,
so beobachtet man unter Umständen enorm starke Wir-
kungen, und zwar fast ausnahmslos im Sinne einer
negativen Schwankung des einsteigenden Ruhestromes.
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 411
Wieder zeigt sich in sehr auffallendem Grade die Abhängigkeit der
Grösse des Reizerfolges von der Stärke des Ruhestromes , was sieh
ebenso sehr in dem Grade der Ablenkung bei einer gegebenen Reiz-
intensität, wie in dem Umstände äussert, dass ein um so geringerer
Rollenabstand erforderlieh ist, um eine Ablenkung von gewisser Grösse
zu erzielen, je geringer die Kraft des Ruhestromes ist. Bei sehr be-
trächtlichen Werthen der letzteren habe ich nach vorhergehender
Compensation oft schon bei einem Rollenabstand von 160 (im primären
Kreise befand sich ein Daniell) eine negative Schwankung be-
obachtet, welche die Scala weit aus dem Gesichtsfelde warf. Dabei
war die Gestalt- und Lageveränderung der Zunge in Folge directer
Muskelreizung noch so geringfügig, dass schon hierdurch der Ver-
dacht ausgeschlossen erscheint, die erwähnten Wirkungen möchten
etwa durch jene bedingt oder wenigstens mitbedingt sein. Immerhin
lässt sich nicht leugnen , dass die genannten , bei stärkeren Strömen
unvermeidlichen Nebenwirkungen eine recht unerwünschte Complica-
tion bilden, und ich habe mich daher noch durch besondere Controll-
versuche davon überzeugen wollen, bis zu welchem Grade die am
Galvanometer zu beobachtenden Reizerfolge hierdurch beeinflusst
werden. Es ist nicht schwer, die elektromotorische Wirksamkeit der
Zungenschleimhaut local an der Ableitungsstelle oder auch an der
ganzen Oberfläche zu vernichten, ohne dass dabei zunächst die tiefer
gelegenen Muskeln und damit die Beweglichkeit der Zunge be-
einträchtigt werden. Hat man sich in einem gegebenen Falle von
dem Eintreten der negativen Schwankung bei einem bestimmten
Rollenabstand überzeugt und bringt nun ein Kochsalzkörnchen an die
Pinselspitze der Zunger. elektrode, so folgt dem unmittelbar (zum Theil
in Folge chemischer Reizung) eine sehr rasche und starke Abnahme
der Kraft des einsteigenden Ruhestromes. Dieselbe Reizung wie
vorher ist nun unwirksam, obschon sich die Zungenmusculatur
nach wie vor contrahirt. Dasselbe Resultat lässt sich auch bei vor-
sichtiger Behandlung der Schleimhaut mit gasförmigem oder gelöstem
NH3 erzielen. Kann es demnach auch wohl keinem Zweifel unter-
liegen, dass die durch Verschiebung der unter der ableitenden
Elektrode sich contrahirenden Zunge bedingte mechanische Reizung
mit in Betracht kommt, so kann doch andererseits als ebenso fest-
stehend betrachtet werden, dass der Haupterfolg in diesem Falle der
elektrischen Erregung der Schleimhaut zuzuschreiben ist. Als
ein Beweis hierfür darf auch das Verhalten kleiner Fragmente der-
selben gelten, welche durch flache Scheerenschnitte leicht von der dar-
unterliegenden Muskelschicht abzutrennen sind. Dieselben liefern,
Avie schon erwähnt, auf Thon untersucht, nach einer kurzen Zeit der
Ruhe in der Regel wieder einen kräftigen einsteigenden Strom, der
bei tetanisirender Reizung ohne wesentliche Gestaltveränderung des
Stückes eine starke negative Schwankung erfährt.
Von Interesse ist das Verhalten der abgekühlten, im entgegen-
gesetzten Sinne elektromotorisch wirkenden Zungenschleimhaut; es er-
folgt nämlich auch in diesem Falle in der Regel eine negative
Schwankung, d. i. eine Schwächung der Kraft des aussteigenden
Stromes; doch ist diese Wirkung immer viel geringer, und es bedarf
dazu auch viel stärkerer Ströme, als bei normalem einsteigenden
„Ruhestrom". Während dieser Befund die Regel bei Anwendung
schwächerer Wechselströme bildet, beobachtet man bei geringerem
412 I^ie elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
Rollenabstande unter sonst gleichen Umständen sehr oft nach einem
negativen grösseren oder kleineren Vorschlag eine positive Schwankung,
d. i. eine vorübergehende Zunahme des im Rückgange befindlichen
aussteigenden Stromes.
Was nun schliesslich den zeitlichen Verlauf der Schwankung be-
trifft, so ist derselbe bei einsteigendem Ruhestrom sehr charakteristisch.
Ausnahmslos lässt sich ohne alle feineren Hülfsmittel ein Latenz-
stadium („Stadium der latenten elektromotorischen Wirkung", Engel -
mann) constatiren, dessen Grösse vor Allem von der Stärke der
Reizung und zwar in dem Sinne abhängt, dass es mit wachsender
Stromstärke abnimmt. Die Ablenkung beginnt dann zunächst lang-
sam, um weiterhin rasch ihren grössten Werth zu erreichen; in der
Regel beginnt der Rückschwung des Magneten noch während der
Forldauer der Reizung und verläuft, wenn der secundäre Kreis ge-
schlossen bleibt, sehr oft zögernd und stockend, ab und zu unter-
brochen durch kurze Rückbewegungen im Sinne der negativen
Schwankung. Wird dagegen die Reizung beendet, sobald das Maxi-
mum der Ablenkung erreicht ist, so erfolgt immer ein rascher und
gleichmässiger Rückschwung des Magneten, wobei die Stromkraft
nicht nur ihre anfängliche Höhe wieder erreicht, sondern fast regel-
mässig in erheblichem Grade übersteigt, so dass man wohl berechtigt
ist, zu sagen, der negativen Schwankung schliesse sich weiterhin eine
schwächere positive Nachschwankung an, die sich verhältnissmässig
langsam entwickelt und noch langsamer wieder zurückbildet. Schaltet
man zwischen je zwei Reizungen hinreichend lange Ruhepausen ein,
so kann man die Versuche mit immer gleichem Erfolge oft hinter
einander wiederholen , anderenfalls dagegen nimmt die Grösse der
negativen Schwankung ziemlich rasch ab, indem jedesmal eine nega-
tive Nachwirkung zurückbleibt, so dass schliesslich die Stromkraft
dauernd vermindert wird. Sehr wesentlich ist es auch, um eine allzu
rasche Ermüdung des Präparats zu vermeiden, dass die einzelnen
Reizungen nicht zu lange dauern; anhaltendes Tetanisiren schwächt
den einsteigenden Sti'om bald und dauernd. Es Avurde schon erwähnt,
dass die negative Schwankung des einsteigenden Ruhestromes in
ausserordentlich hohem Grade von der Stärke dieses letzteren abhängt
und mit der Kraft desselben sehr rasch abnimmt. Es lässt sich dies
am besten an Präparaten untersuchen, deren normale elektromotorische
Wirksamkeit vorher in verschiedenem Grade durch Behandlung mit
wasserentziehenden Salzlösungen verändert wurde.
Es zeigt sich dann ausnahmslos, dass die negative Schwan-
kung bei directer Reizung der Zungenschleimhaut um
so geringer ausfällt, je schwächer der einsteigende
Strom ist. Bald tritt aber auch noch eine andere Erscheinung
hervor, indem sich allmählich ein positiver Vorschlag und eine posi-
tive Nachwirkung entwickeln, zwischen welchen die negative Schwan-
kung so zu sagen eingeschlossen liegt. Bisweilen fehlt die letztere ganz,
und es erfolgt selbst bei starker Reizung nur eine einsinnig-posi-
tive Ablenkung von oft sehr erheblicher Stärke. Doch ist dies nur
bei sehr weit vorgeschrittener Wasserentziehung der Fall,
Mit Rücksicht auf die eben mitgetheilten Thatsachen, welche sich
ausschliesslich auf die Erfolge der directen Reizung der Zungen-
schleimhaut beziehen, darf ich mich bei Erörterung der folgenden, die
indirecte Erregung vom Nerven aus betreffenden Erscheinungen
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen, 413
um so kürzer fassen, da dieselben, wie gleich hier bemerkt sein mag,
in allen wesenthehen Punkten mit jenen übereinstimmen. Hermann
und Luchsinger (79), welche die „Secretionsströme" der Frosch-
zunge bei Ableitung von zwei symmetrischen Öchleimhautpunkten und
Reizung des N. glossopharyngeus oder hypoglossus untersuchten,
drücken das „völlig regelmässige" Resultat ihrer Versuche folgender-
maassen aus: „Die Reizung eines Glossopharyngeus bewirkt in der
erregten Schleimhaut nach einem deutlichen Latenzstadium einen
zuerst einsteigenden Strom, der aber sofort einem aussteigenden Platz
macht; dann aber stellt sich, gleichgültig, ob die Reizung schon be-
endet ist oder fortgesetzt wird, wieder ein mächtiger einsteigender
Strom ein, der die Reizung, falls sie nicht fortgesetzt wird, lange
überdauert, langsam ein Maximum erreicht und dann äusserst langsam
wieder schwindet." Wie man sieht, stimmt dies Ergebniss im Allge-
meinen mit den Resultaten der directen Reizversuche überein,
wenn man von dem positiven Vorschlag und der nach meinen Er-
fahrungen immer viel weniger stark ausgeprägten positiven Nach-
wirkung der negativen zweiten Phase absieht, die ich in der von
Hermann geschilderten Weise nur an Präparaten beobachtete, deren
normale elektromotorische Wirksamkeit schon erheblich abgeschwächt
war. Meine eigenen Versuche beziehen sich durchwegs auf über-
winterte Exemplare von R. temporar ia während der Monate Januar
und Februar. Ich hielt es namentlich auch mit Rücksicht auf die
Vergleichbarkeit der schon besprochenen und im Folgenden noch zu
erörternden Versuchsreihen für zweckmässig, an der Ableitung von
der oberen und unteren Fläche der Zunge festzuhalten und den unter
diesen Umständen fast ausnahmslos vorhandenen starken einsteigenden
Strom zu compensiren. Meist wurden die Frösche kurz vor dem
Versuche ganz schwach, nur eben bis zur Bewegungslosigkeit,
curarisirt, da es mir schien, dass durch eine länger vorhergehende
Vergiftung die Reizwirkungen sehr wesentlich geschwächt Averden,
wenngleich die Circulation in ganz normaler Weise erfolgte und das
Herz kräftig schlug. In Uebereinstimmung mit Hermann und
Luchsinger fand ich sowohl den N. glossopharyngeus wie auch
den Hypoglossus wirksam, und es machte sich höchstens ein gradweiser
Unterschied zu Gunsten des ersteren bemerkbar. Da derselbe ausser-
dem rascher und bequemer zu präpariren ist, so beziehen sich die
folgenden Angaben fast durchwegs auf ihn. Ich fand bei nor-
malem, kräftig entwickeltem einsteigenden Ruhestrom
als Erfolg der Reizung des Nerven ausnahmslos eine
einsinnige negative Schwankung, deren Grösse allerdings
in der schon mehrfach erwähnten Weise von der Kraft des compen-
sirten Stromes abhiingig ist; dieselbe macht sich kurze Zeit (1 — 3
Sekunden) nach Beginn der Reizung bemerkbar und erreicht oft sehr
beträchtliche Grade. Niemals sah ich aber einen starken normalen
Strom sich in Folge der Reizung umkehren. In der Regel beginnt
bei länger fortgesetzter Reizung des Nerven der Rückschwung des
Magneten noch während derselben, und wieder zeigen sich dann häufig
Oscillationen , indem der Rückgang durch neuerliche Anstösse im
Sinne der negativen Schwankung unterbrochen wird. Oeffnet man
den Reizkreis in dem Momente, wo der Magnet eben umzukehren im
Begriffe steht, oder auch schon etwas früher, so erfolgt die Ent-
wicklung des ursprünglichen Stromes wesentlich rascher als bei Fort-
414 Pie elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen,
dauer der Keizung ; auch lässt sich leicht und regelmässig constatiren,
dass die Rückbildung der negativen Schwankung mit zunehmender
Geschwindigkeit erfolgt und ebenso ist es Regel, dass durch die
Reizung der ursprüngliche Ruhestrom verstärkt wird, wie dies auch
Hermann angiebt. Niemals aber war bei meinen Versuchen diese
positive „Nachschwankung" stärker oder auch nur annähernd so stark wie
die vorhergehende negative Schwankung; eine diese letztere einleitende
positive Phase habe ich unter normalen Verhältnissen nur wenige Mal
angedeutet gesehen und kann derselben ebensowenig wie der positiven
Nachschwankung jene Bedeutung zuerkennen, die ihr nach Hermann
zukommen würde; meinen Erfahrungen zu Folge bildet viel-
mehr gerade die negative Schwankung des einsteigen-
den Ruhestromes in jedem Falle unzweifelhaft den
eigentlichen und charakteristischen Reizerfolg, wäh-
rend die positiven Wirkungen dagegen stets in den
Hintergrund treten. Damit soll nun allerdings keineswegs ge-
sagt sein, dass nicht unter anderen Umständen das öegentheil der
Fall sein könnte. Der vorstehende Satz bezieht sich nur auf Zungen-
präparate, welche das gewöhnliche Verhalten, d. h. einen kräftigen
einsteigenden Schleimhautstrom, zeigen. Dann ist es aber auch gleich-
gültig, in welcher Weise die Ableitung desselben erfolgt. Ich habe
entweder am ganzen, unversehrten Frosch von der Musculatur des
Schenkels und der Zungenoberfläche abgeleitet oder bediente mich
des schon beschriebenen Unterkieferpräparates, das leicht im Zusammen-
hang mit dem Nervus glossopharyngeus hergestellt werden kann, so
dass die betreffenden Versuche mit den früheren direct vergleichbar
sind. Das letzterwähnte Verfahren ermöglichte es nun auch, den Er-
folg der Nervenreizung an solchen Zungenpräparaten zu prüfen, deren
einsteigender „Ruhestrom" durch Behandlung mit stärkeren (0,8— 1,5 "/o)
NaCl-Lösungen geschwächt oder gar umgekehrt wurde. Da der Nerv
bei nicht zu langer Einwirkung durch Lösungen von der erwähnten
Concentration kaum wesentlich geschädigt wird, so dürften die dann
zu beobachtenden Reizerfolge (Erscheinungen) der Hauptsache nach
auf die zweifellos vorhandenen Veränderungen der gereizten Drüsen-
zellen zurückzuführen sein. In solchen Fällen habe ich
wiederholt Reizerfolge beobachtet, welche den von
Hermann und Luch sing er geschilderten durchaus ent-
sprachen, indem eine stärkere positive Wirkung durch
eine schwächere negative zeitweise unterbrochen wurde.
Wie man sieht, herrscht hinsichtlich der elektro-
motorischen Wirkungen, welche bei directer oder in-
directer Reizung der Zungen seh leim haut hervortreten,
fast in allen Punkten völlige Ueber ein Stimmung, und es
liegt hierin zugleich ein neuer Beweis dafür, dass es sich bei der an-
gewendeten Methode der directen Reizung nur um Wirkungen handelt,
welche von der Schleimhaut als solcher ausgehen. Eine andere, vor-
läufig allerdings nicht mit voller Sicherheit zu lösende Frage ist da-
gegen die, ob nicht wirklich im vorliegenden Falle die directe und
indirecte Erregung insofern als identisch anzusehen sind, als auch bei
der ersteren nur die in der Schleimhaut selbst gelegenen Nerven gereizt
werden. Wir müssten ein Gift anwenden können, welches ähnlich
Avie Curare bei den quergestreiften Muskeln ohne Schädigung der
Drüsenzellen selbst den Nerveneinfluss gänzlich aufhebt. Es liegt
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 415
nahe, an das Atropin zu denken, von dem es ja lange bekannt ist,
dass es bei den verschiedensten Drüsen den Erfolg der Reizung
secretorischer Nerven gänzlich und dauernd beseitigt; auch zeigten
Hermann und Luchsinger bereits, dass dies in der That auch
in Bezug auf die galvanischen Reizerfolge an der Froschzunge gilt;
sowohl nach directem Aufträufeln auf die Zunge, wie nach subcutaner
Injection bleibt jede, auch die stärkste Nervenreizung alsbald unwirk-
sam, obschon, wie ich mich wiederholt überzeugt habe, die direete
Erregung der Schleimhaut nach wie vor eine starke
negative Schwankung des vorhandenen „Ruhestromes"
zur Folge hat. Nach grossen Dosen und längerer Vergiftungszeit
fand ich allerdings mehrfach nicht nur den einsteigenden Ruhestrom
erheblich geschwächt, sondern auch den Erfolg der directen elektrischen
Reizung auffallend gering. Immerhin wird man wohl annehmen
dürfen, dass Atropin zunächst hauptsächlich die D r ü s e n n e r v e n
lähmt, ohne die Zellen noch wesentlich zu schädigen.
Man darf es als festgestellt betrachten, dass nicht nur die Drüsen
der äusseren Haut, sondern fast sämmtliche drüsige Organe durch
Pilocarpin in ihrem Thätigkeitszustand ganz wesentlich beeinflusst
werden , und zwar im Sinne einer langandauernden, energischen
Reizung. Da ich selbst seiner Zeit die Wirkung der Pilocarpinver-
giftung auf das morphologische Verhalten der Zungendrüsen des
Frosches zum Gegenstand einer eingehenderen Untersuchung gemacht
hatte (80), so war es mir von um so grösserem Interesse, die begleitenden
galvanischen Erscheinungen kennen zu lernen. In mehrfach wieder-
holten Versuchen, wobei die Frösche (nicht curarisirt) 1 ccm einer
2 "/u Lösung von Pilocarp. muriat. unter die Rückenhaut erhielten,
fand ich bei der etwa 2 Stunden später vorgenommenen Untersuchung
ausnahmslos den einsteigenden Schleimhautstrom der mit einer deut-
lichen Secretschicht bedeckten Zunge ungewöhnlich kräftig und oft
geradezu colossal entwickelt. Dementsprechend war auch die negative
Schwankung bei directer Avie indirecter Reizung ausserordentlich stark,
und ich Avüsste kein Mittel, welches geeigneter wäre, das oben als
normal geschilderte Verhalten der Zunge so zu sagen in noch ver-
stärktem Maasse vor Augen zu führen, als gerade die Pilocarpinver-
giftung.
Mit Rücksicht auf die Wirkungsweise derselben war von vorn-
herein zu erwarten, dass auch eine längere Zeit hindurch fortgesetzte
Reizung der secretorischen Nerven einen ähnlichen Erfolg haben würde.
Wie bei den Speicheldrüsen, so gelingt es bekanntlich auch bei den
Schleimdrüsen der Froschzunge, durch Einschaltung eines Metronoms
in den Kreis der secundären Spirale die Reizung der entsprechenden
Absonderungsnerven über Stunden auszudehnen, ohne eine allzu rasche
Ermüdung der Drüsen befürchten zu müssen. Dabei treten in beiden
Fällen tiefgreifende histologische Veränderungen hervor, welche mit
dem Absonderungsvorgange in engstem Zusammenhang stehen (80).
Beobachtet man während einer solchen rhythmischen Dauerreizung
die elektromotorischen Erscheinungen an der dann am besten in situ
befindlichen blutdurchströmten Zunge, so zeigt sich ausnahmslos nach
einer kürzeren oder längeren Periode, während welcher der anfäng-
liche Ruhestrom in Folge des Ueberwiegens der gegensinnigen Strom-
kraft (negative Schwankung) geschwächt erscheint, ein allmähliches,
meist ungleichmässig erfolgendes Anwachsen des ursprünglichen ein-
416 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
steigenden Stromes, das offenbar der positiven Nachwirkung bei kurz-
dauernder Reizung entspricht und unter Umständen einen bedeuten-
den Grad erreichen kann. Stets bleibt aber auch nach lange
fo rtgesetzter Reizung de rSchleimhautstrora einsteigend.
Directer elektrischer oder mechanischer Reizung sind natürlich
auch die Rachen- und Cloakenschleira haut fähig, und es zeigen
sich hier im Wesentlichen dieselben Erscheinungen wie bei der Zunge,
nur ist die Empfindlichkeit im Allgemeinen eine geringere. Während,
wie oben gezeigt wurde, jede leiseste Berührung der Zungenschleim-
haut sofort eine nach Aufhören der Reizung sich rasch wieder
ausgleichende negative Schwankung des normalen einsteigenden
Stromes zur Folge hat, ist dies bei Weitem nicht in dem Maasse bei
der Rachen- oder Cloakenschleimhaut der Fall-, hier bedarf es schon
verhältnissmässig stärkerer Druck- oder Zugwirkungen, um eine er-
heblichere Schwächung des „Ruhestromes" herbeizuführen, die sich dann
allerdings in derselben Weise äussert, wie an der Zunge. Viel bessere
und für genauere Untersuchungen allein brauchbare Resultate liefert
locales Tetanisiren mit Inductionsströmen. Bezüglich der angewendeten
Methode kann ich durchaus auf das oben hierüber schon Mitgetheilte
verweisen. Handelt es sich um ein Präparat der Rachenschleimhaut
mit sehr starkem einsteigenden Strom, und reizt man bei allmählich
sich verringerndem Rollenabstand, so beobachtet man in der Regel
schon bei schwachen Strömen (RA = 180) eine ganz deutliche ein-
sinnig-negative Schwankung des compensirten „Ruhestromes", deren
Betrag bei weiterer Annäherung der Rollen rasch zunimmt, aber selbst
im günstigsten Falle nicht so weit geht, dass, wie so häufig unter
gleichen Umständen an der Zunge, die Scala aus dem Gesichtsfelde
verschwindet. Durch ein leichtes Zögern bei Beginn der Ablenkung
verräth sich bisweilen das Vorhandensein einer gegensinnigen Kraft,
die, wie gleich zu erwähnen sein wird, unter anderen Umständen
ihrerseits zu einer positiven Schwankung führt. Wird die Reizung
unterbrochen, ehe noch das Scalenbild vollständig zur Ruhe gekommen
ist, so erfolgt der Rückschwung des Magneten Anfangs rasch, später
langsamer bis auf Null, bisweilen sogar darüber hinaus im Sinne
einer Verstärkung des ursprünglichen Stromes (positive Nachschwan-
kung). Ganz wesentlich ändert sich das Bild der Reizwirkungen,
wenn die Kraft des einsteigenden „Ruhestromes" minder bedeutend
ist. Wie bei der Zunge, nur vielleicht in noch höherem Maasse, hängt
die Stärke der negativen Schwankung von der anfänglichen Intensität
der normalen elektromotorischen Wirkung der Schleimhaut ab. Sinkt
dieselbe unter einen gewissen Grenz werth herab, so
tritt ganz regelmässig an Stelle der einsinnig-negativen
Schwankung eine doppelsinnige und bei sehr schwacher
Reizung eine einsinnig-positive Schwankung auf. Im
Einzelnen gestalten sich dann die Reizerfolge sehr verschiedenartig
und zum Theil recht complicirt. Im Allgemeinen lässt sich sagen,
dass erstlich die positive Schwankung um so mehr über-
wiegt, je schwächer von vornherein der vorhandene ein-
steigende Schleimhautstrom ist, Avährend andererseits
die negativen Wirkungen bei zunehmender Reizstärke
mehr und mehr in den Vordergrund treten, so dass bei sehr
angenäherten Rollen des Induction sapparates in der Mehrzahl der Fälle
nur oder doch sehr vorwiegend negative Schwankung erfolgt, deren
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 417
mehr oder weniger verzögerter Eintritt dann oft noch das versteckte
Vorhandensein der Gegenkraft verräth; in gleichem 8inne ist sicher
auch das rasche Zurückschwingen des Magneten nach der Ruhe-
lage hin, ja über dieselbe hinaus zu deuten, wie man es besonders
häufig bei geringerer Reizintensität zu beobachten Gelegenheit hat; die
primäre, zunächst eintretende, negative Schwankung übertrifft dann
immer an Grösse die darauf folgende positive, welche sich deutlich
durch die (bei geschlossenem Reizkreis erfolgende) rasche Umkehr
des im Sinne der negativen Schwankung abgelenkten Magneten ver-
räth; von da ist nur noch ein Schritt zu jenem Verhalten, wo sich
das Grössenverhältniss der beiden gegensinnigen Ablenkungen um-
kehrt und die negative Schwankung nur noch als kurzer Vorschlag
zu der darauffolgenden positiven erscheint, welche unter diesen Um-
ständen oft recht erhebliche Grade erreichen kann, wenn die durch
sie verursachten Ablenkungen auch niemals den stärkeren negativen
gleichkommen. Schliesslich kann (bei der geringsten wirksamen Reiz-
intensität) jeder direct sichtbare Ausdruck der negativen Schwankung
gänzlich fehlen, und nur ein mehr oder weniger ausgeprägtes Zögern
der positiven Ablenkung deutet ihr Vorhandensein noch an. An ab-
gekühlten Präparaten, deren einsteigender Strom gleich Null war, habe
ich selbst bei übergescliobenen Rollen des Inductionsapparates nur
rein positive Ablenkungen (im Sinne der ursprünglichen Stromkraft)
von nicht sehr beträchtlicher Stärke erzielt. In einfachster Weise
lässt sich natürlich der Verdacht beseitigen, dass die geschilderten
Reizerfolge etwa durch Fehlerquellen irgend welcher Art bedingt
seien; man braucht nur, wie dies auch oben schon eingehend er-
örtert wurde, die Schleimhaut elektromotorisch unwirksam zu machen
oder gänzlich zu entfernen, um sich sofort zu überzeugen, dass dann
selbst bei Anwendung der stärksten Ströme alle Reizwirkungen gänz-
lich fehlen.
Ganz ähnlich wie die flimmernde Rachenschleimhaut verhält sich
bei elektrischer Reizung auch die flimmerlose Cloakenschleimhaut, so-
wie die Haut des Blutegels. Wie dort, ja vielleicht in noch höherem
Grade, macht sich der Einfluss der anfänglichen Kraft des einsteigen-
den Stromes auf den Reizerfolg auch hier geltend. Die Reizschwelle
liegt in der Regel noch wesentlich höher als bei der Rachenschleim-
haut. Ehe es zu einem deutlich ausgeprägten Ausschlag in der
einen oder andern Richtung kommt, macht sich oft ein unruhiges
Oscilliren des Magneten bemerkbar, welches durchaus den Eindruck
hervorbringt, als ob zwei gegensinnige Wirkungen mit einander
kämpften. Schliesslich überwiegt bei schwach'en Strömen
fast regelmässig die Ablenkung im Sinne einer posi-
tiven Schwankung, während bei sehr genäherten oder
garübergeschobenenRollen ausnahmslos das Gegentheil
der Fall ist. Oft macht sich dann wohl auch ein kurzer positiver
Vorschlag bemerkbar, dem erst die sehr viel stärkere negative Schwan-
kung folgt. Nach Beendigung der Reizung gleicht sich die letztere
fast immer sehr schnell und vollständig aus. In mehreren Fällen, wo
der einsteigende „Ruhestrom" eine ganz ungewöhnliche Intensität
zeigte, sah ich, von den schwächsten überhaupt wirksamen Strömen
angefangen bis hinauf zu den stärksten, immer nur rein einsinnige
negative Schwankungen, die dann Grade erreichten, wie man sie sonst
Biedermann, Elektrophysiologie. 27
418 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
unter gleichen Umständen nur an der Zunge zu sehen gewohnt ist.
So h'eferte mir in einem Falle die über ein Korkrähmchen ausge-
spannte, von beiden Flächen abgeleitete Cloakenschleimhaut einer nicht
curarisirten R. temporaria einen einsteigenden Strom von solcher
Stärke, dass die Scala weit aus dem Gesichtsfelde flog; nach Compen-
sation derselben erfolgte schon bei einem Rollenabstand von 180 eine
ganz deutliche negative Schwankung von mehreren Scalentheilen, und
bei Rollenabstand 100 verschwand bei der Reizung das Ende der
Scala aus dem Gesichtsfelde. Im Gegensatze zu der Rachenschleim-
haut bleibt die Ablenkung, abgesehen von kleinen Oscillationen, ziem-
lich constant, solange die Reizung dauert, um sich nachher rasch
auszugleichen. Ist die Cloakenschleimhaut, wie es immer der Fall zu
sein scheint, wenn kein flüssiges Secret geliefert wird, stromlos oder
nur sehr schwach einsteigend wirksam, so erhält man selbst bei
stärkstem Tetanisiren mit tibergeschobenen Rollen keine deutliche
negative Schwankung, sondern entweder keine Wirkung oder meist
schwache Ablenkungen im Sinne eines einsteigenden Stromes. Es be-
Aveist dies zugleich, dass die Reizerfolge von der Schleimhaut selbst
abhängen und nicht etwa von den darunter liegenden Muskeln her-
rühren.
Im Wesentlichen übereinstimmend gestalten sich auch die Erfolge
directer oder indirecter Reizung der drüsenreichen Amphibienhaut.
Schon Engelmann (1. c. p. 136) hatte Versuche angestellt, bei
welchen Hautstücke (von R. temporaria) durch einen einzelnen
Schliessungs- oder Oeffnungsschlag eines gewöhnlichen Schlitten-
apparates gereizt wurden, wobei die Inductionsströme durch die ab-
leitenden Elektroden selbst zugeführt wurden. Im Momente der
Reizung war das Galvanometer ausgeschaltet und Avurde auch zuvor
festgestellt, dass die Inductionsströme die Elektroden nicht merkbar
polarisirt zurückliessen. „Jede Reizung verräth sich sofort durch eine
steile Abnahme der Kraft. Die Abnahme ist nicht nur relativ,
sondern auch absolut um so grösser, je geringer der Rollenabstand,
und bei gleicher Entfernung der Spiralen viel stärker für den Oeff-
nungs- als für den Schliessungsschlag. Nach der ersten, zweiten und
dritten Erregung folgt (in einem speciellen Falle) der negativen eine
positive Schwankung; der vierte Reiz aber schwächt die Kraft
dauernd in beträchtlichem Grade, und der letzte, kräftigste Oeffnungs-
schlag drückt die Kraft beinahe auf Null herab und hinterlässt sie
dauernd um etwa die Hälfte geschwächt.*' Mit diesen Befunden
stimmen im Wesentlichen auch meine eigenen Beobachtungen überein,
wenn Hautstücke, gleichgültig, von welchem Körpertheil stammend,
auf einem Thonblock ausgebreitet, tetanisirend gereizt und
während der Reizung gleichzeitig abgeleitet wurden. Handelte
es sich dabei um Frösche (Temporarien) , die in einem kühlen, frost-
freien Räume in Gefässen gehalten wurden, deren Boden mit Wasser
bedeckt war, so war die elektromotorische Wirksamkeit im Sinne
eines „einsteigenden" Stromes regelmässig und ausnahmslos eine sehr
kräftige, und dem entsprach, wie in früheren Fällen, eine schon bei
verhältnissmässig geringen Stromstärken hervortretende einsinnig-
negative Schwankung, welche nach einer Latenzzeit von 1 — 2 Se-
kunden begann und ziemlich rasch ihren grössten Werth erreichte;
als Nachwirkung der Reizung macht sich dann in der Regel eine
mehr oder weniger beträchtliche Verstärkung des ursprünglichen
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsehzellen. 419
„Ruhestromes" bemerkbar, die sich nur langsam abgleicht und nie-
mals auch nur annähernd der negativen Schwankung an Stärke
gleichkommt.
Bei directer elektrischer Reizung der bloss Becherzellen ent-
haltenden Haut der Aalschnauze zeigte sich nach den Beobach-
tungen von Reid und Tolputt (83) ein ganz analoges Verhalten
wie bei der Cloakenschleimhaut des Frosches, d. h. bei schwacher
Reizung und wenig entwickeltem Ruhestrom eine positive, bei starker
eine negative Schwankung des bestehenden einsteigenden Stromes, die
stets sehr nachhaltig war. In der übrigen Haut des Aales kommen
neben den in der Minderzahl vorhandenen Schleimzellen noch anders-
artige secretorische Elemente (Keulenzellen) vor, welche sich in Bezug
auf elektromotorische Wirkungen bei der Reizung entgegengesetzt zu
verhalten scheinen. Nach Reid und Tolputt (1. c.) beobachtet
man hier nämlich bei stark entwickeltem einsteigenden Strom und
starker Reizung regelmässig eine Verstärkung (positive Schwankung)
desselben, und umgekehrt scheint schwache Reizung und geringe In-
tensität der bestehenden Stromkraft das Zustandekommen einer nega-
tiven Schwankung zu begünstigen.
Mit den Erfolgen der directen Reizung der Froschhaut stimmen
nach meinen Erfahrungen die unter sonst gleichen Umständen ge-
wonnenen Resultate der indirecten Erregung vom Nerven aus fast
vollkommen überein, R o e b e r (1. c, p. 3) bediente sich einer
Methode, welche es ermöglicht, in einer sehr schonenden Weise
an der Haut des Unterschenkels zu experimentiren , und es dürfte
diesem Verfahren der Vorzug vor dem von Hermann später be-
sonders empfohlenen Rückenhautpräparat einzuräumen sein. Es er-
möglicht unter allen Umständen eine viel schonendere Behandlung der
Haut und gestattet ausserdem, abgesehen von der grösseren Resistenz-
fähigkeit des Präparates, viel leichter, die Einwirkung verschiedener
Agentien auf den Erfolg der Reizung zu prüfen. Man kann sich ent-
weder des ursprünglichen Verfahrens von R o e b e r bedienen, wobei nach
Herstellung eines gewöhnlichen „stromprüfenden Froschschenkels" die
Haut desselben, „welche bis über das Kniegelenk hinauf noch den ganzen
Unterschenkel bedeckt, durch einen Zirkelschnitt am Fussgelenk von
den unterliegenden Theilen getrennt, durch einen Längsschnitt an der
vorderen Fläche gespalten und vom ganzen Unterschenkel bis in die Nähe
des Kniegelenkes abpräparirt und zurückgeschlagen wird. Nunmehr
wird der Unterschenkel unterhalb des Knies quer durchschnitten und
entfernt, so dass man nur den Nervus ischiadicus, in Verbindung mit dem
Kniegelenk und der Haut des Unterschenkels, zurückbehält". Um den
Hautstrom abzuleiten, wird der freipräparirte Lappen auf einem Thon-
block vorsichtig ausgebreitet, worauf die eine Elektrode an diesen
letzteren, die andere in der Mitte der Aussenfläche der Haut angelegt
wird. Noch bequemer und schonender ist die von Hermann (75)
vorgeschlagene Modification ; man benützt den ganzen, gerade nur bis
zur völligen Bewegungslosigkeit curarisirten Frosch und kann so bei
völlig erhaltener Circulation nach Freilegung des Beckenabschnittes
beider Ischiadici (vom Rücken her) entweder von symmetrischen
Punkten beider behäuteten Beine oder, was mehr zu empfehlen ist,
von einer beliebigen Stelle der Unterschenkelhaut und der bloss-
gelegten, unversehrten Muskeloberfläche des Oberschenkels der-
selben Seite ableiten. Letzterenfalls hat man es mit dem vollen
27*
420 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsienzellen.
Hautstrom zu thun, welcher daher in der Regel vorher compensirt
werden muss.
Bei Roeber's Versuchen zeigte sich nun, dass, wenn der
einsteigende Hautstrom nur irgend beträchtlich war,
durch die Reizung der Nerven stets eine mehr oder minder grosse
Abnahme der Kraft bedingt wurde, und „da dies in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle eintrat", so steht Roeber nicht an, „diese »nega-
tive Schwankung« des Drüsenstromes im Allgemeinen
als die Folge der Reizung der Drüsennerven zu be-
zeichnen. Bei ursprünglich unbedeutender Grösse des
Stromes hingegen wurde bisweilen statt der Abnahme
eineZunahme, statt der negativen eine positive Schwan-
kung beobachtet". Auch Engelmann sah an demselben Object
fast ausschliesslich eine Verminderung des Hautstromes als Folge
der Nervenreizung hervortreten , mochte dieselbe elektrisch , chemisch
oder mechanisch verursacht sein. Schon bei Einwirkung eines
einzelnen kräftigen Schliessungsinductionsschlages auf den peripheren
Ischiadicusstumpf beobachtete er ein vorübergehendes Sinken der
Kraft um 25 — 30 Procent , das natürlich bei tetanisirender Reizung
noch viel erheblicher ist. Der Verlauf einer so zu sagen elementaren
Schwankung bei Erregung des Nerven durch einen einzelnen Moment-
i'eiz gestaltet sich nach Engelmann derart, dass „nach einem Latenz-
stadium, das bei schwachem Reize bis vier Sekunden, bei starkem
weniger als ^k Sekunde dauert, die Kraft mit Anfangs zunehmender,
später abnehmender Schnelligkeit sinkt und bei schwachem Reize
nach wenigen Sekunden, bei starkem nach 10 — 20 Sekunden ein
Minimum erreicht ; sofort nun steigt sie wieder, Anfangs mit wachsen-
der, dann mit abnehmender Geschwindigkeit, und kommt nach einiger
Zeit auf der anfänglichen Höhe wieder an". „Hierauf bleibt sie nun
aber oft nicht stehen, namentlich nicht, wenn die Haut vor der
Reizung längere Zeit geruht hatte. Sie steigt dann vielmehr im Laufe
der nächsten Minute oder Minuten weiter, um so höher, je stärker
die vorausgegangene Erregung war" (positive Nachschwankung), um
nachher meist wieder langsam abzusinken. Bei öfters wiederholter
Reizung fehlt die positive Nachschwankung, und es tritt jedesmal
nur negative Schwankung auf. „Bei anhaltend tetanischer Reizung
des Nerven hält die Schwächung der Kraft viel länger an: sie über-
dauert die Reizung. Nachher kann dann, falls die Reizung sehr stark
war, die positive Nachschwankung fehlen, auch wenn sie sonst nach
kürzerer Reizung sicher eingetreten sein würde. Die Kraft bleibt
dann dauernd herabgesetzt, und neue Reizung giebt dann auch nur
geringere Verminderung der Kraft."
Dem gegenüber fand Hermann (82) sowohl an der Haut des
Unterschenkels, wie insbesondere an der Rückenhaut des Frosches als
Erfolg der Nervenreizung entweder eine rein positive Schwan-
kung, oder es ging dieser letzteren ein negativer Vorschlag
voraus, „der aber meist sehr viel schwächer ist, als die positive
Schwankung selbst", welche daher immer „die eigentliche Haupt-
wirkung" darstellt. Rein negative Schwankung sah Hermann an
der Rückenhaut überhaupt nur zweimal, aber auch am Unterschenkel
„nur in einer verschwindend kleinen Anzahl von Fällen" (drei unter
80 Fröschen). Der Gang der Ablenkung ist (an der Rückenhaut bei
tetanisirender Reizung) nach Hermann folgender: „Zuerst bleibt das
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 421
Scalenbild einige Sekunden (2 — 4) vollkommen in Ruhe; nach dieser
Latenz entwickelt sich eine ziemlich schnelle Ablenkung (im positiven
Sinne), bleibt dann meist stehen, und nun folgt noch ein weiteres,
langsames Anwachsen bis zum Maximum. Wird die Reizung fort-
gesetzt, so tritt gewöhnlich bald Umkehr und langsamer Rückgang
ein; wird sie auf der Höhe der Ablenkung unterbrochen, so bleibt
die Scala in der abgelenkten Stellung noch eine Zeit lang stehen oder
setzt sogar ihren Gang noch eine kleine Strecke fort und kehrt dann
langsamer, als sie abgelenkt wurde, in ihre ursprüngliche Stellung
zurück." Dieselbe positive Ablenkung sah Hermann auch nach
ganz kurz dauernder Reizung erfolgen: „Man sieht dann nach Be-
endigung derselben die Scala noch eine Weile still stehen und dann
ihre Ablenkung in positiver Richtung ausführen, die aber in diesem
Falle beträchtlich kleiner ist, als bei anhaltender Reizung.'' Man
sieht, es handelt sich in der That um einen totalen Gegensatz der
Resultate Hermann's und der früheren, der durch das häufigere
Vorkommen eines „negativen Vorschlages" an der Haut des Unter-
schenkels nur wenig vermindert wird. Nun haben allerdings auch
R o e b e r und Engelmann schon rein positive Reizerfolge an dem
letztgenannten Präparate beobachtet, allein nur ganz ausnahmsweise
und unter Umständen, wo es fraglich schien, ob die Erscheinung „als
eine normale" aufzufassen ist. Es war dies nämlich insbesondere
dann der Fall, wenn die Präparate nach langem Unbedecktsein im
feuchten Räume „ausnehmend schwache" (einsteigende) Ströme zeigten
und sehr bald aufhörten, reizbar zu sein. Später haben dann Bach
und 0 eh 1er unter der Leitung Hermann's gefunden (81), dass
erstlich die negative Schwankung des einsteigenden
„Ruhestromes" der Haut ganz wesentlich von der Stärke
des letzteren abhängt, eine Thatsache, auf welche oben schon
wiederholt hingewiesen wurde, und dass andererseits in allen
Fällen, wo, sei es durch Erwärmung über eine gewisse
Grenze hinaus oder durch Bepinseln der Haut mit
starker Kochsalzlösung, der „Ruhestrom" erheblich ge-
schwächt wird, die negative Schwankung desselben
bei Nervenreizung sich rasch vermindert und schliess-
lich einem „einsteigenden Secretionss trom", d. i. einer
positiven Schwankung, Platz macht. Man möchte hiernach
vermuthen, dass Hermann es bei seinen Versuchen fast durchwegs
mit Fröschen zu thun hatte, deren Hautstrom nur sehr wenig ent-
wickelt war. Indessen hat Hermann neuerdings (82) Beobachtungen
mitgetheilt, welche zeigen, dass in gewissen Fällen auch bei kräftig
entwickeltem einsteigendem „Ruhestrom" vorwiegend oder ausschliess-
lich positive Schwankung bei Reizung der Hautnerven erfolgt.
Dies zeigte sich auch an der Unterschenkelhaut des Laubfrosches,
sowie an der Haut des 01m es (Proteus anguineus).
Wenn jede Schwächung des normalen einsteigenden Hautstromes
das Zustandekommen gleichsinniger (positiver) Reizwirkungen be-
günstigt, so war von vornherein die Möglichkeit gegeben, dass auch
bei gänzlich fehlendem „Ruhestrom" ein „aussteigender Secretions-
strom" zu Stande kommt. In der That zeigten Bach und Oehler,
dass nach ganz kurz (6—8 Sekunden) dauernder Einwirkung einer
gesättigten Sublimatlösung die Haut fast gar nicht elektromotorisch
wirksam war, während dem ungeachtet Nervenreizung noch ziemlich
422 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
starke Ausschläge, und zwar immer im Sinne eines einsteigenden
Stromes, gab. Ich kann Hermann nicht beipflichten, wenn er in
dieser Thatsache einen zwingenden Beweis dafür erblickt, dass im
Wesentlichen nur die Epithelschicht der ungereizten Haut der Sitz
ihrer elektromotorischen Wirksamkeit ist, während nur die bei Nerven-
reizung hervortretenden Erscheinungen (die „Secretionsströme") wirk-
lich eine Leistung der Drüsen darstellen. Denn abgesehen davon,
dass schon von histologischen Gesichtspunkten aus diese Annahme
wenig Wahrscheinlichkeit besitzt, ist es auch ganz gut denkbar, dass
ungeachtet der kurzen Dauer des Sublimatbades doch Spuren der
Substanz bis zu den Drüsenzellen vordrangen und deren normale
elektromotorische Wirksamkeit im Sinne eines einsteigenden Stromes
fast auf Null herabdrückten, ohne jene vollständig abzutödten. Dass
aber unter Umständen, wo durch irgend welche Schädlichkeiten der
einsteigende Strom Schleim secernirender Zellen mehr oder weniger
geschwächt erscheint, bei directer oder indirecter Reizung gleich-
sinnige Wirkungen auftreten können, geht aus dem früher Mit-
getheilten zur Genüge hervor.
Da, wie Engelmann gezeigt hat, der Feuchtigkeitszustand der
Haut in Bezug auf die Stärke ihrer normalen elektromotorischen
Wirksamkeit den bei Weitem wichtigsten Einfluss besitzt, wie dies
übereinstimmend auch bei echten Schleimhäuten der Fall ist, so war
von vornherein zu erwarten, dass es möglich sein würde, durch Ver-
änderung des Wassergehaltes auch die bei Reizung der Haut hervor-
tretenden galvanischen Wirkungen derselben ihrem Sinne nach in der
schon angedeuteten Weise zu verändern. Einen Fingerzeig in dieser
Richtung lieferten bereits die oben mitgetheilten Erfahrungen an der
Zunge, Rachen- und Cloakenschleimhaut.
Bekanntlich verlieren Frösche, wenn sie nur einfach trocken ge-
halten werden, durch die Haut allmählich sehr viel Wasser, doch
dauert es lange, ehe sie auf diese Weise in einem für die beabsich-
tigten Versuche hinreichenden Grade entwässert sind. Viel rascher
kommt man zum Ziele, wenn man die Wirkung wasserentziehen-
der Substanzen zu Hülfe nimmt. In kürzester Zeit kann man
den Geweben des Froches sehr viel Wasser einfach dadurch entziehen,
dass man eine stärkere Kochsalzlösung oder Glycerin in genügender
Menge unter die Rückenhaut injicirt. Ich combinirte beide erwähnten
Methoden in folgender Weise. Die Frösche werden, nachdem sie
vorher gut abgetrocknet sind, in ein grosses, offenes, nur mit Draht-
gitter bedecktes Glas gesetzt, dessen Boden und Wände mit einem
trockenen, reinen Tuch ausgekleidet sind. Sie bleiben hier im warmen
Zimmer mindestens 24 Stunden. Sodann werden sie möglichst schwach,
doch bis zu völliger Bewegungslosigkeit, curarisirt und nach Eintritt
der Lähmung 1 — 2 ccm einer 3^ — 5 "/o Kochsalzlösung oder besser
0,5 — 1 ccm Glycerin in den Dorsallymphsack gespritzt. Nach zwei,
höchstens drei Stunden ist dann die Entwässerung in der Regel ge-
nügend weit vorgeschritten, um die Untersuchung vornehmen zu
können. Ich will hier auf alle sonst noch an derartig behandelten Fröschen
hervortretenden Erscheinungen nicht näher eingehen, da dieselben zur
Genüge bekannt sind und mit den hier zu schildernden Thatsachen
in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen.
Prüft man in bekannter Weise die elektromotorische Wirksam-
keit der Haut derartig „entwässerter" Frösche, sei es an einzelnen
Die elektromotorischeu VVirkungeu von Epithel- und Drüsenzellen. 423
ausgeschnitteneu Stücken, sei es am ganzen unversehrten Thier, so
fällt vor Allem die geringe Stärke des „einsteigenden"
Stromes auf, der manchmal fast gänzlich fehlt. Es liegt
dies sicher nicht allein an dem grösseren Widerstände der trockenen
Haut, denn die Kraft hebt sich lange nicht, auch wenn die abgeleitete
Hautstelle mit Wasser oder dünner Kochsalzlösung reichlich benetzt
Avird. Wird nun ein ausgeschnittenes Hautstück, gleichviel von welchem
Körpertheile es stammen möge, direct gereizt, oder reizt man bei Ab-
leitung von der äusseren Oberfläche der Haut des Unterschenkels
und der blossgelegten Muskeloberfläche des gleichseitigen Oberschenkels
den vom Becken her freigelegten Ischiadicus , so beobachtet man
unter allen Umständen einen einsteigenden Strom, also
eine positive Schwankung des „Ruhestromes", die ent-
weder allein hervortritt oder von einem kurzen nega-
tiven Vorschlag eingeleitet wird. Niemals kommt es
unter diesen Umständen, wie sonst, zu einsinnig nega-
tiven Ausschlägen. Hinsichtlich der Stärke der positven Wir-
kungen (immer im Sinne des einsteigenden „Ruhestromes") kommt es
vor Allem auf das richtige Stadium der Entwässerung an, das zu
treffen allerdings mehr Sache des Zufalls ist. In günstigen Fällen kann
dann die positive Schwankung ebenso stark werden, wie sonst die
stärkste negative Schwankung. Ich habe wiederholt Ablenkungen be-
obachtet, welche bei compensirtem Ruhestrom die Scala aus dem Ge-
sichtsfelde trieben. Ist der letztere aber noch irgend erheblich, so
fällt die positive Schwankung stets geringer aus, und der negative
Vorschlag wird dementsprechend grösser. Bisweilen findet man den
einsteigenden Hautstrom am Unterschenkel, unmittelbar nach der Prä-
paration der N. ischiadici im Becken , ungeachtet der vorgängigen
Wasserentziehung, auffallend stark, worauf dann im Verlauf des Ver-
suches gewöhnlich eine ziemlich rasche Abnahme erfolgt. Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass es sich dabei um eine (positive) Nachwirkung
der durch das Abbinden bedingten Nervenreizung handelt. Man lässt
in solchen Fällen am besten erst abklingen und reizt dann erst den
Nerven elektrisch. Man erhält so viel stärkere positive Schwankungen
als sonst.
Der Gang der durch diese letzteren bedingten Ablenkungen ist
fast immer derart, dass nach Ablauf des Latenzstadiums und eventuell
des negativen Vorschlages die positive Schwankung rasch einsetzt und
dann allmählich langsamer wird, als ob eine Gegenwirkung sich geltend
machte, unter Umständen selbst kurz anhält oder sogar im Sinne einer
negativen Schwankung um ein Weniges zurückgeht; schliesslich bricht
aber bei Fortdauer der Reizung die positive Wirkung wieder durch,
und die Ablenkung wird noch eine beträchtlich stärkere. Ich bin
geneigt, dieses Zögern im Fortgang der positiven SchAvankung in der
That auf die Gegenwirkung einer gleichzeitig angeregten negativen
Schwankung zu beziehen, so dass hier wie überhaupt die wirklich be-
obachtete Ablenkung nur die resultii'ende aus zwei gegensinnigen
Componenten darstellt. Es kommt stets nur auf das Ueber wiegen
der einen oder anderen Kraft an.
Auf diesen Umstand dürfte es auch zu beziehen sein, dass in einem
gewissen Stadium der Entwässerung, wie es am sichersten durch ein-
fache Austrocknung des Frosches bei längerem Aufenthalt im ganz
trockenen Räume ohne Wasser zu erzielen ist, die Reizung des Ischiadicus
424 Die elektromotorisclien Wirkungea von Epithel- und Drüsenzellen.
bei Ableitung- der Unterschenkelhaut^ die dann in der Regel noch einen
starken einsteigenden Strom giebt, bei der ersten Reizung gewöhnlich
noch von einer deutlichen und ziemlich starken negativen Schwan-
kung gefolgt ist, an die sich eine schwächere positive anschliesst. Bei
Wiederholung der Reizungen in einem späteren Stadium beobachtet
man dann manchmal gar keine ausgeprägte Wirkung ; nur ein geringes
Schwanken des Magneten nach der einen oder anderen Seite oder ein
Oscilliren um die Ruhelage deutet auf einen Kampf antagonistischer
Kräfte hin, die sich hier nahezu die Waage halten. Unter diesen Um-
ständen kann es auch vorkommen, dass als Folgewirkung der tetani-
sirenden Reizung eine complicirte Schwankung resultirt, die aus vier
Phasen besteht, einer anfänglichen negativen Ablenkung, die sehr bald
durch eine wesentlich stärkere positive Phase unterbrochen wird, der
schliesslich wieder ein Rückgang im Sinne einer negativen Schwan-
kung sich anschliesst, worauf endlich der Magnet nochmals umkehrt
und langsam im Sinne einer positiven Schwankung vorwärts geht.
Dieser ganze complicirte Vorgang spielt sich dann während der Fort-
dauer der Reizung ab. Es gelingt am sichersten die Aufeinanderfolge
aller einzelnen Phasen, um die es sich in solchen Fällen handelt, zu
beobachten, wenn man einen Frosch in jenem Stadium der Ent-
wässerung, wo die Unterschenkelhaut noch stark einsteigend wirkt
und jede Reizung von einer deutlichen negativen Schwankung be-
gleitet ist, der eine schwächere positive folgt, verbluten und mit prä-
parirten Nerven im Zimmer liegen lässt, während von Zeit zu Zeit
der Erfolg der Reizung geprüft wird; man sieht dann allmählich den
einsteigenden Hautstrom abnehmen, wobei die negativen Reizerfolge
immer geringer, die positiven dagegen immer stärker werden, und
schliesslich (nach einem rasch vorübergehenden Stadium gänzlicher
Wirkungslosigkeit) dominirend hervortreten.
Stets macht sich, wie schon Hermann hervorhob, bei den posi-
tiven Schwankungen im Gegensatz zu den negativen eine oft ziemlich
anhaltende Nachwirkung geltend, indem die Ablenkung noch einige
Zeit nach Beendigung der Nervenreizung zunimmt; auch erfolgt das
Abklingen immer viel langsamer als das der negativen Schwankung.
Ein interessantes Verhalten boten Frösche (Temporarien) dar,
welche während der zweiten Hälfte des Februar frisch eingefangen
worden waren. Beliebige Hautstellen wirkten zunächst immer stark
und im normalen Sinne elektromotorisch, so dass der Ausschlag oft
über die Scala hinausging; Reizung des N. ischiadicus bewirkte dem-
entsprechend an der Unterschenkelhaut eine starke und einsinnig
negative Schwankung; dieselbe glich sich aber nur sehr langsam und
unvollständig wieder aus, so dass eine starke und dauernde Schwächung
des ursprünglichen Stromes resultirte, der dann in Folge einer aber-
maligen kui-zen Reizung fast gänzlich schwand. Bei einem dritten
Versuch erfolgte nun eine positive, von einem kurzen negativen Vor-
schlag eingeleitete Ablenkung. Bei einem anderen Frosch derselben
Gruppe bewirkte gleich die erste Reizung eine so starke Schwächung
des ursprünglichen einsteigenden Hautstromes, dass schon beim zweiten
Versuch statt der negativen eine positive Schwankung hervortrat. Es
ist dies abermals ein Beweis dafür, wie sehr der Charakter der
Schwankung von der Stärke des „Ruhestromes" mitbedingt Avird. Zu-
gleich lehren diese Erfahrungen aber auch, dass die von Engelmann
versuchte Erklärung der positiven Reizwirkungen, wonach es sich
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 425
darum handelt, dass der positive Zuwachs, den in Folge der Befeuch-
tung der Hautoberfläche mit dem während der Nervenreizung ent-
leerten Drüsensecret die freien Spannungen an der Aussenfläche der
Epidermis erhalten, den negativen, von der Abnahme der Drüsenkräfte
herrührenden, übercorapensirt , nicht zutrifft. Dies hat zur Voraus-
setzung, dass die oberflächlichen Zellenlagen in Folge von Wasserverlust
eine relativ isolirende Schicht bilden, „an deren Aussenfläche nur ein
sehr kleiner Theil der durch die Drüsenkräfte gesetzten elektrischen
Spannungen zu Tage tritt". Darum konnte es sich aber weder in den
vorerwähnten Fällen, noch auch bei meinen Versuchen mit entwässerten
Fröschen handeln. Denn ersteren Falls hatte überhaupt keine Wasser-
entziehung stattgefunden, und der starke anfängliche Hautstrom weist
ausserdem darauf hin, dass die Drüsen von vornherein bei dem Zu-
standekommen desselben betheiligt waren. Letzteren Falls aber konnte
ich selbst bei Lupenvergrösserung keine Spur von Absonderung wäh-
rend der Reizung an der Oberfläche der trockenen Haut entdecken,
was unter normalen Verhältnissen so leicht ist. Auch bleibt das
Resultat ungeändert, wenn die Hautoberfläche mit Wasser oder Q,b^lo
Kochsalzlösung befeuchtet Avird, Hermann hat übrigens später den-
selben Vorgang der Secretauspressung gerade umgekehrt zur Er-
klärung der negativen Schwankung des einsteigenden „Ruhestromes"
der Haut (und Zunge) des Frosches herangezogen , indem er von der
Voraussetzung ausging, dass die Hautdrüsen für gewöhnlich „nahezu
als nach aussen abgeschlossen, also ohne galvanische Wirkung nach
aussen" gelten können. Wird nun während der Reizung plötzlich
durch Auspressen des flüssigen Inhaltes eine „vorher nicht vorhandene"
Ableitung des einsteigenden Stromes des Drüsenepithels geschaffen,
so kommt es unter der weiteren Voraussetzung einer gleichsinnigen
elektromotorischen Wirksamkeit des übrigen Hautepithels für den
Charakter des Reizerfolges nur darauf an, „in welchem Verhältniss
die Kraft des Drüsenepithels zu der des Hautepithels steht". Ist die
erstere grösser als die letztere, so entsteht ein positiver Zuwachs
des Ruhestromes, ein „einsteigender Secretionsstrom". „Ist aber die
Kraft des Drüsenepithels kleiner als die des Hautepithels, wie wir es
für den Ruhezustand der Drüsen vermuthen dürfen, so wird der blosse
mechanische Vorgang der Secretauspressung eine Verminderung des
Ruhestromes machen, welcher aber sogleich die Vermehrung folgt, so-
bald die Nervenreizung die Zellen zur secretorischen Thätigkeit ge-
bracht hat." Die Gründe, welche gegen diese Erklärung sprechen,
muss ich ungeachtet der von Hermann neuerdings geltend gemachten
Einwände (82) aufrecht erhalten und bin nach wie vor der Meinung,
dass die Ableitungsbedingungungen ähnliche wie bei der Frosch-
zunge sind.
Eine besondere Berücksichtigung verdienen die elektromoto-
rischen Wirkungen d e r M a g e n s c h 1 e i m h a u t ebensowohl vom
rein theoretischen Standpunkte aus, wie mit Rücksicht auf die viel-
umstrittene Frage nach der Existenz besonderer, die Drüsen ver-
sorgender, secretorischer Nerven. Es wurde früher bereits erwähnt,
dass, wie zuerst Rosenthal (73) fand, die Magenschleimhaut des
Frosches in derselben gesetzmässigen Weise elektromotorisch wirksam
ist, wie die äussere Haut der Fische und nackten Amphibien, indem
bei Ableitung von der freien Innenfläche und der Muscularis meist
ein kräftiger einsteigender Strom hervortritt, dessen Beziehungen zu
426 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
den Schlauchclrüsen R o s e n t h a 1 kaum zweifelhaft schienen. Dem-
ungeachtet wird man im Hinblick auf die bisher mitgetheilten Er-
fahrungen noch eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen müssen,
da ja das gesammte Oberflächenepithel aus Elementen besteht, welche
unzweifelhaft als einzellige Schleimdrüsen in demselben Sinne, wie die
Becherzellen der Rachen- oder Cloakenschleimhaut oder wie die Drüsen-
zellen der Zunge des Frosches zu betrachten sind. Da diese nun
zweifellos elektromotorisch wirksam sind , so darf man fast mit Be-
stimmtheit behaupten, dass, falls überhaupt die eigentlichen Magen-
drüsen elektromotorisch wirken, der beobachtete einsteigende Schleim-
hautstrom sich aus mindestens zwei Componenten zusammensetzt.
Um diese Frage womöglich zu entscheiden, stellte F. Bohlen (84)
auf meine Veranlassung eine Reihe von Versuchen (zunächst am
Frosch) an, deren Ziel es war, eventuell einen Einfluss der ver-
dauenden Thätigkeit des Magens auf dessen elektromotorische Wir-
kungen nachzuweisen. Hängen diese letzteren wirklich von den Lab-
drüsen ab, so durfte man erwarten, eine wesentliche Aenderung im
nüchternen Zustande und während der Verdauung zu finden. Dies
war nun allerdings der Fall, aber nicht in dem erwarteten Sinne
einer Verstärkung des „Ruhestromes" bei gefütterten Thieren, sondern
im Gegentheil emer erheblichen Verminderung der Kraft. Nur in
dem Falle, wenn unverdauliche, die Schleimhaut mechanisch
reizende Stoflfe, wie Steinchen, Holz u. s. w., in den Magen ge-
bracht wurden, liess sich neben einer stark vermehrten Schleimab-
sonderung eine oft sehr beträchtliche Zunahme des normalen, ein-
steigenden Stromes nachweisen. In besonders auffallendem Grade
zeigte sich dies nach Verabreichung von Bismuthum subnitricum,
dessen scharfkantige Kryställchen als intensiver mechanischer Reiz
zu wirken scheinen und in geradezu specilischer Weise die Schleim-
bildung befördern. Ist das unlösliche Salz bis in die Cloake vor-
gedrungen, so bewirkt es auch hier starke Schleimabsonderung und
dementsprechend Zunahme des einsteigenden Stromes, der dann wie
beim Magen die Scala meist weit aus dem Gesichtsfelde treibt. Im
Uebrigen zeigt sich die elektromotorische Kraft der Magenschleim-
haut in ähnlicher Weise von verschiedenen Umständen abhängig, wie
die der früher besprochenen, nur Schleim absondernden Objecte.
Dies gilt hinsichtlich der Temperatur, der Wasserentziehung und
Quellung, der Anaesthetica u. A. Directe elektrische Reizung mit
den rasch wechselnden Inductionsschlägen eines Schlittenapparates be-
wirkt erst bei geringem Rollenabstand eine negative Schwankung, der
meist ein positiver Vorschlag vorausgeht. Die Stärke des ursprüng-
lich vorhandenen Stromes ist dabei von wesentlicher Bedeutung, in-
dem die der negativen Schwankung entsprechende Ablenkung so zu
sagen im directen Verhältniss zur elektromotorischen Kraft des Prä-
parates steht.
Auch bei Warmblütern (Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten)
konnte Bohlen das Vorhandensein eines starken einsteigenden „Ruhe-
stromes" constatiren. Nach Eröffnung der Bauchhöhle wurde durch
ein Loch in der Magenwand eine unpolarisirbare, mit einem Thon-
pfropf verschlossene Röhrenelektrode eingeführt, während die andere
der Aussenfläche des Magens anlag. Da dieser bei Kaninchen und
Meerschweinchen fast immer reichlich mit Futtermassen gefüllt ist, so
erfolgt die Ableitung von der Schleimhaut in diesem Falle unter Ver-
Die elektromotoriscben Wirkungeu von Epithel- uud Drüseuzelleu. 427
mittlung des Inhaltes, so dass gewisse Einwände naheliegend er-
scheinen. Zunächst ist daran zu denken, ob nicht durch die Er-
wärmung der immer ziemlich tief in das Innere des Magens vorge-
schobenen einen Elektrode Anlass zur Entstehung von Thermoströmen
gegeben wird, während andererseits durch den Mageninhalt selbst
Spannungsdifferenzen verursacht werden könnten, die das Resultat der
Beobachtung in unberechenbarer Weise zu trüben im kStande wären.
Was zunächst die erste Frage angeht, so überzeugt man sich
leicht, dass die durch den Temperaturunterschied eventuell ent-
stehenden Ströme nicht in Betracht kommen gegenüber den oft ge-
waltigen Wirkungen des physiologischen Schleimhautstromes. Die
zweite Frage erledigt sich durch die Beobachtung, dass fast un-
mittelbar nach dem Tode des Thieres ein Absinken der
elektromotorischen Kraft eintritt, das bald zu einer
Umkehr des Stromes führt, dann aber auch dadurch, dass der
Strom in gleicher Weise und in derselben Intensität hervortritt, wenn
man entweder den Magen ausräumt und ausspült und direct von der
Oberfläche der Schleimhaut ableitet, oder wenn der Magen an sich
schon leer ist, was man bei Ratten leicht durch einige Hungertage
erreicht.
Wie beim Frosch, schwankt auch beim Warmblüter die Intensität
des Ruhestromes individuell innerhalb weiter- Grenzen. Bisweilen, ja
in der Regel ist derselbe so stark, dass die Scala weit aus dem Ge-
sichtsfeld getrieben wird; in andern Fällen wieder beobachtet man
nur Ablenkungen von wenigen Scalentheilen. Fast immer treten
auch hier Oscillationen auf, deren Grösse sehr wechselt.
In sehr auffallender Weise beeinflusst beim Säugethier eine tiefe
Narkose die Stärke des Stromes der Magenschleimhaut. Mit einiger
Vorsicht gelingt es bei Anwendung von Chloroform oder Aether, den-
selben so weit zu schwächen, dass die Ablenkung kaum 10 Scalen-
theile beträgt. Es ist dann immer eine längere Zeit erforderlich, um
den Strom wieder auf seine frühere Höhe zu bringen. Ob es sich
dabei um eine directe oder indirect vermittelte Wirkung handelt, soll
hier zunächst nicht weiter erörtert werden.
Wie beim Frosch, wird auch beim Warmblüter durch Einbringen
von Wismuth (2 — 5 gr in Emulsion) die elektromotorische Kraft der
Magenschleimhaut immer in einer ganz auffälligen Weise gesteigert,
womit wieder eine leicht zu constatirende Vermehrung der Schleim-
absonderung Hand in Hand geht.
Ein sehr auffallendes Ergebniss liefert die k ü n s 1 1 i c h e R e i z u n g
des N. vag US. Während" beim Frosch der Erfolg nur in einer
schwachen positiven Schwankung des einsteigenden Stromes besteht,
die ebensowohl am ausgeschnittenen, wie an dem in situ befindlichen
Magen hervortritt, entwickelt sich beim Säugethier nach
einer rasch vorübergehenden Zunahme der einstei-
genden Stromkraft regelmässig eine negative Schwan-
kung, die so stark werden kann, dass der Strom nicht
nur bis auf Null sinkt, sondern sich bisweilen sogar
umkehrt, wobei der nunmehr aussteigend gewordene
Strom unter Umständen die Stärke des ursprünglichen
einsteigenden erreichen kann. Es lässt sich in sehr einfacher
Weise zeigen, dass es sich hier nicht, wie man zunächst glauben
könnte, um eine Wirkung secretorischer Nerven handelt, sondern nur
428 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
um eine Folgeerscheinung der durch die Verlangsamung resp. den
Stillstand des Herzens bedingten Circulationsstörung, in erster Linie
also wohl der starken Blutsdruck Senkung. Es ergiebt sich dies
nicht nur aus der zeitlichen Coincidenz der letzteren und der nega-
tiven Schwankung, sondern insbesondere aus dem Umstände, dass
alle Momente, welche allgemein oder local den Blutdruck herabsetzen,
auch den einsteigenden Magenstrom zu vermindern geeignet sind.
Dies gilt in erster Linie von jeder stärkeren Blutentziehung und
natürlich in noch höherem Grade dann, wenn durch Abklemmung der
Aorta zeitweise eine völlige Anaemisirung des Magens herbeigeführt
wird. Fast unmittelbar mit der beginnenden Anaemie sinkt der Strom,
ganz ähnlich wie bei Vagusreizung, rasch ab, um sich sofort wieder
zu erheben, wenn der Blutstrom freigegeben wird. Es macht hier,
wie im ersteren Falle, keinen Unterschied , ob die Vagi am Halse
vorher durchschnitten wurden oder nicht. Durch langsames, rhyth-
misches Comprimiren und Wiederfreigeben der Aorta, die man am
besten am curarisirten, künstlich ventilirten Thier durch Resection
einiger Rippen zugänglich macht, lassen sich auf diese Weise analoge
rhythmische Schwankungen des Magenstromes erzeugen. Jede länger
dauernde Anaemie der Schleimhaut verzögert sehr erheblich das An-
steigen des Stromes, bis schliesslich eine Erholung überhaupt nicht
mehr möglich ist. Auch im Verlaufe einer Dyspnoe erfolgt nach vor-
übergehender Steigerung der normalen elektromotorischen Wirkung
immer eine sehr ausgeprägte negative Schwankung. Bei gleichzeitiger
Verzeichnung des Blutdruckes am Kymographion nach doppelseitiger
Vagusdurchschneidung zeigt sich bald, dass durchaus keine unmittel-
bare Coincidenz zwischen den Veränderungen des arteriellen Mittel-
druckes in der Carotis und den Stromschwankungen besteht, indem
die negative Phase in der Regel schon bei Beginn der dyspnoischen
Drucksteigerung entwickelt ist und auch noch andauert, wenn der
Blutdruck bei Wiedereinsetzen der künstlichen Athmung schon die
normale Höhe erreicht hat. Die positive Schwankung fällt dagegen
in die Zeit zwischen dem Beginn der Dyspnoe und dem ersten An-
steigen des Druckes. Es ist leicht ersichtlich, dass dieses Verhalten
nicht ohne Weiteres in dem Sinne gedeutet werden kann, dass etwa
die fortschreitende Venosität des Blutes die Abnahme der Stromkraft
verursacht habe, denn wenn in Folge von Dyspnoe das vasomotorische
Centrum gereizt wird, und dabei der Aortendruck ansteigt, so geht
das natürlich Hand in Hand mit einem Sinken des Druckes in den
kleinen Arterien und Capillaren vieler peripherer Organe und speciell
auch des Magens, dessen Gefässe sich wie die der Eingeweide über-
haupt verengen. Aehnliche Erwägungen lassen sich auch hinsichtlich
eines andern Versuches geltend machen, bei welchem an Kaninchen
durch Abklemmung der vier zum Kopfe aufsteigenden Arterien nach
dem von Sigm. Mayer (85) angegebenen Verfahren eine Anaemie
des Gehirns und in Folge dessen eine ausserordentlich starke Steige-
rung des Aortendruckes herbeigeführt wird. Ganz wie im Verlaufe
einer dyspnoischen Reizung des vasomotorischen Centrums erleidet
der Magenstrom auch in diesem Falle nach einer kurzen positiven
Vorschwankung eine sehr bedeutende Abnahme und erscheint in
der Regel schon verkehrt (aussteigend) zur Zeit, wo
der Blutdruck seine grösste Höhe erreicht hat. Wird,
bevor noch eine dauernde Schädigung des Centrums eingetreten war,
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 429
die Klemme gelöst, so erreicht der Blutdruck rasch wieder seinen
normalen Stand, der Strom dagegen braucht längere Zeit, um seine
ursprüngliche Stärke wieder zu erlangen. Lässt man dagegen die
Anaemie so lange dauern, bis in Folge der Lähmung des Centrums
der Blutdruck „paralytischen" Stand erreicht hat, so stellt sich zwar
auch jetzt die einsteigende Richtung des Schleimhautstromes allmählich
wieder her, doch erreicht derselbe nicht annähernd mehr seine ur-
sprüngliche Stärke und bewirkt meist nur eine Ablenkung von
wenigen Scalentheilen.
Mit Rücksicht auf das Ergebniss des letzterwähnten Versuches,
bei welchem am künstlich ventilirten, schwach mit Curare vergifteten
Thier eine venöse Beschaffenheit des dem Magen zuströmenden Blutes
gänzlich ausgeschlossen erscheint, gewinnt die Ansicht an Wahr-
scheinlichkeit, dass auch bei der Dyspnoe die locale Drucksenkung
in Folge verminderter arterieller Blutzufuhr die eigentliche Ursache
der negativen Stromesschwankung ist. Man durfte dann erwarten,
eine entgegengesetzte Wirkung, d. h. Zunahme des einsteigenden
Stromes zu erzielen, wenn der Druck im Gefässsystem irgend höhere
Werthe erreicht. Ein Weg hierzu schien in der Transfusion
grösserer Flüssigkeitsmengen gegeben zu sein. Durch die
Untersuchungen von C o h n h e i m und L i ch t h e i m (86) ist es allerdings
bekannt, 'dass selbst dann, wenn enorme Qantitäten von 0,6 *'/o Koch-
salzlösung in die Vena jugularis von Kaninchen oder Hunden ein-
fliessen, der Blutdruck stets nur unerheblich ansteigt und nur gerade
hohe Normalwerthe erreicht. „Von einem Ansteigen, das in be-
stimmter Beziehung zu den infundirten Flüssigkeitsmengen gestanden
hätte, war keine Rede. Erhebliche Drucksteigerungen im Verlaufe
eines Versuches fanden sich nur dann, wenn der Anfangsdruck ausser-
gewöhnliche (niedere) Werthe gezeigt hatte; dann hatte die Flüssig-
keitsinfusion ein rasches Ansteigen des Blutdruckes bis zu der mittleren
Druckhöhe zur Folge." Dagegen lässt sich bei allen derartigen Ver-
suchen eine hochgradige Beschleunigung des Blutstromes
leicht schon durch mikroskopische Untersuchung nachweisen. Dazu
kommt noch der ausserordentlich gesteigerte Wassergehalt des
Blutes, wodurch tiefgreifende Ernährungsstörungen in den Geweben
bedingt werden, die sich unter Anderem durch das Auftreten reich-
licher Transsudate in verschiedenen Organen und insbesondere auch
im Magen-Darm-Tractus verrathen. Aus dem Ersteren entleert sich,
wie schon Cohnheim und Lichtheim fanden, nach jeder reich-
licheren Infusion von Kochsalzlösung eine grosse Flüssigkeitsmenge,
während die Schleimhaut manchmal bis auf eine Dicke von 2 cm
anschwillt und der Darm prall mit Transsudat gefüllt erscheint.
Fast regelmässig zeigt sich nun bei Kaninchen schon
kurze Zeit nach Beginn der Kochsalzinfusion eine
starke Zunahme des einsteigenden Magenstromes, der
im weiteren Verlaufe des Versuches immer mehr wächst
und oft ganz ungewöhnliche Grade erreicht, so dass nach
vorheriger Compensation der Spiegel der Bussole wieder weit aus dem
Gesichtsfelde getrieben wird. Sehr bemerkenswerth ist die Thatsache,
dass in diesen Fällen ein starker einsteigender Strom noch längere
Zeit nach dem Tode des Thieres beobachtet werden kann, was
unter normalen Verhältnissen niemals der Fall ist.
Auf die Deutung dieser sowie der anderen, im Vorstehenden be-
430 r*ie elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
sprochenen Erfahrungen kann erst später im Zusammenhang näher
eingegangen werden. Hier sei nur hervorgehoben, dass die weit-
gehende Ueberein Stimmung, welche hinsichtlich der elektromotorischen
Eigenschaften der Magenschleimhaut des Frosches mit dem ent-
sprechenden Verhalten der Zunge, sowie der Rachen- und Cloaken-
schleimhaut besteht, vor Allem aber der Umstand, dass alle die
Schleimbildung fördernden Momente zu einer oft ganz ausserordent-
lich bedeutenden Steigerung der einsteigenden Stromkraft führen, ganz
entschieden darauf hinweisen, dass die elektromotorischen Wirkungen,
wenn auch nicht allein, so doch in erster Linie von den Schleim
secernirenden Elementen des Magens, d. h. vom Oberflächenepithel, ab-
hängen. Ob und inwieweit auch die eigentlichen Verdauungsdrüsen
dabei betheiligt sind, wird sich vielleicht durch eine genauere Unter-
suchung der den Verdauungsvorgang beim Warmblüter begleitenden
Veränderungen der elektromotorischen Wirkungen entscheiden lassen.
Jedenfalls liegt aber zur Zeit nicht der geringste Grund vor, im Sinne
der bisherigen Auffassung die „Labdrüsen" des Magens für den Strom
der Schleimhaut allein verantwortlich zu machen ; es ist dies um so
weniger der Fall, als sich ganz regelmässig ein sehr bedeutender
quantitativer Unterschied der elektromotorischen Wirksamkeit des
Magens und Darmes herausstellt, der nicht recht verständlich sein
M-^ürde, wenn, wie man doch wohl voraussetzen müsste. die zahlreich
vorhandenen Drüsen der Darmschleimhaut ebenso elektromotorisch
wirksame Gebilde wären, wie man dies von den Magendrüsen an-
genommen hat. Dagegen wird die Differenz leicht verständlich, wenn
man die geringe Zahl schleimproducirender Becherzellen im einen, die
continuirliche Obei-flächenlage solcher Elemente im anderen Falle be-
rücksichtigt.
Die mitgetheilten Erfahrungen lassen, wie ich glaube, kaum be-
zweifeln, dass die hier besprochenen elektromotorischen Erscheinungen
an gewissen Schleimhäuten und der äusseren Haut nackter Amphibien
und Fische auf die daselbst in grösserer oder geringeer Menge vor-
handenen einzelligen und mehrzelligen Schleimdrüsen , also in letzter
Instanz auf die einzelne Zelle zu beziehen sind.
Vom Standpunkte der früher entwickelten theoretischen Auf-
fassung der elektromotorischen Wirkungen lebender Zellen ist nun
ohne Weiteres klar, dass, wenn es sich nur allein um die Erklärung
des „einsteigenden Ruhestromes" handeln würde, diese leicht und be-
friedigend gegeben werden könnte. Jede Becher- oder eigentliche
Schleimdrüsenzelle lässt schon bei der mikroskopischen Untersuchung
in der Regel deutlich zwei von einander wesentlich verschiedene Ab-
schnitte erkennen, einen basalen, kernführenden, protoplasmatischen
Theil und einen in der Regel durch körnige Einlagerungen getrübten,
nach Behandlung mit Reagenzien dagegen hyalinen, gequollenen
Vordertheil, dessen Inhalt unzweifelhaft in Mucinmetamorphose be-
griffen ist. Man darf daher sicher annehmen, dass das „chemische
Geschehen" in beiden Theilen einer und derselben Zelle ein nicht
nur quantitativ, sondern auch qualitativ verschiedenes sein wird, wor-
aus sich, wie dies auch schon Hermann ausführte, sofort die dem
„ einsteigenden " Strom zu Grunde liegende Spannungsdifferenz
zwischen der Basis und der freien Zellfläche erklärt, wenn man die
Mucinmetamorphose als einen chemischen Process gelten lässt, welcher
mit der Entwicklung negativer Spannung Hand in Hand geht. Dies
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 431
gilt natürlich ebensowohl für einfach flächenhaft ausgebreitete Zell-
aggregate (Rachen- und Cloakenschleimhaut, äussere Haut vieler
Fische), wie auch in solchen Fällen, wo es zu mehr oder weniger
complicirt gestalteten Einstülpungen (Drüsenbildung) gekommen ist;
denn es ist klar, dass^ sotern diese Drüsen nach aussen münden, eine
Componente ihres Stromes mit zur Ableitung kommen muss, welche
natürlich „einsteigend" sein wird, wie der Strom der oberflächlich ge-
legenen Schleimzellen selbst. Die in der Regel erheblich grössere
Kraft der drüsenreichen Sehleimhäute (Zunge) und der Froschhaut
gegenüber der nur mit Becherzellen ausgestatteten Fischhaut, sowie
der Rachen- und CJoakenschleimhaut kann wohl nur auf den oben-
erwähnten Umstand bezogen werden ; denn es liegt durchaus kein
Grund vor, den spärlich vorhandenen Becherzellen, noch weniger
aber den Riffzellen der Froschepidermis eine so wesentliche elektro-
motorische Wirkung zuzumuthen. Wenn, wie Hermann hervorhebt,
die Form der Froschhautdrüsen wenig geeignet erscheint, galvanisch
nach aussen zu wirken, so möchte demgegenüber doch zu bemerken
sein, dass die capillare Flüssigkeitsschichte, welche die Oberfläche der
Haut unter normalen Verhältnissen fortdauernd überzieht und wohl
zum grössten Theil als Drüsensecret aufzufassen ist, in unmittelbarem
Zusammenhang mit dem flüssigen Inhalt der Drüsen stehen und so
eine Ableitung vermitteln dürfte. Bei der Zunge ist das wenigstens
sicher der Fall. Dass auch die anderen Gründe, insbesondere die
Versuche von Bach und Oehler an der geätzten Haut, welche
Hermann gegen eine Betheiligung der Drüsen am „Ruhestrom" der
Froschhaut geltend machte, keineswegs als stichhaltig anzusehen sind,
wurde schon früher hervorgehoben. Immerhin soll keineswegs ge-
läugnet werden , dass auch das Oberflächenepithel eine Componente
des „Ruhestromes" liefert, umsomehr als neuerdings elektromotorische
Wirkungen in völlig drüsenloser Haut thatsächlich nachgewiesen
wurden (88).
Wollte man mit Rücksicht auf die von Hermann entwickelten
Anschauungen über die Ursache der einsteigenden Haut- und Schleim-
hautströme von vornherein den Erfolg bezeichnen, welcher bei directer
oder indirecter Reizung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein dürfte,
so würde man wohl sicher zunächst eine positive Schwankung, d.i.
eine Verstärkung des „Ruhestromes" vermuthen und dieselbe aus dem
durch die Reizung verstärkten oder überhaupt erst eintretenden Alte-
rationsprocess der Drüsenepithelien erklären. Aus den vorstehenden
Mittheilungen geht aber hervor, dass gerade im Gegentheil eine
negative Schwankung um so ausschliesslicher als unmittelbare
Folgewirkung der Reizung hervortritt, je grösser die Kraft des ein-
steigenden Ruhestromes ist.
Dass aber auch dieser letztere selbst durchaus nicht in so ein-
facher Weise erklärt werden kann, wie oben angedeutet wurde, er-
giebt sich ganz überzeugend aus dem früher geschilderten Verhalten
bei energischer Abkühlung. Es ist hier ganz besonders zu betonen,
dass in dieser Beziehung die complicirteren, drüsenreichen Objecte
(Zunge) mit ganz einfach gebauten (Rachen- und Cloakenschleimhaut)
übereinstimmen, so dass nicht davon die Rede sein kann, die dem
Sinne nach gerade entgegengesetzten elektromotorischen Wirkungen
A^or und nach der Abkühlung etwa auf anatomisch verschiedene Ele-
mente zu beziehen. Es bleibt somit keine andere Annahme übrig als
432 I^ie elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzelleu.
die, dass eine und dieselbe Epithelzelle, und zwar in fast
gleichem Grade, bald in dem einen und bald in dem an-
deren Sinne elektromotorisch zu wirken vermag. In
dieser, wie in mancher anderen Hinsicht unterscheiden sich die in
Rede stehenden Zellströme sehr wesentlich von den an Muskeln und
Nerven zu beobachtenden elektrischen Erscheinungen. Hier lässt sich
auch durch stärkste Abkühlung höchstens eine Schwächung, nie aber
eine Umkehr des Demarcationsstromes bewirken. Es zeigt dies so
recht, wie wenig das Galvanometer im Stande ist, uns über die Qua-
lität der chemischen Processe, welche in beiden Fällen gleichsinnige
SpannungsdifFerenzen verursachen, Aufschluss zu verschaffen. „Nur
über Veränderungen und Verschiedenheiten des chemischen Ge-
schehens in verschiedenen Theilen eines lebendigen Continuums, so-
wie über quantitative und zeitliche Verhältnisse dieses Geschehens"
vermag es uns, wie Hering treffend bemerkt, etwas auszusagen.
Mancherlei Erscheinungen, insbesondere der so häufig zu beob-
achtende Wechsel der Richtung der Ablenkungen, welcher sich spontan
ohne jede nachweisbare Veranlassung, bisweilen sogar in rhythmischer
Weise, vollzieht, scheinen darauf hinzuweisen, dass jede Zelle als
Sitz von zwei verschiedenen chemischen Processen an-
zusehen ist, die, gleichzeitig vorhanden, zur Ent-
stehung gegensinnigerSpannungen führen. Die jeweils
zu beobachtende Ablenkung würde dem gemäss immer
nur die Resultirende aus zwei antagonistischen Kräften
sein.
Um die rasche Abnahme und schliessliche Umkehr des normalen
einsteigenden Stromes der Haut und Schleimhäute in Folge von Ab-
kühlung zu erklären, muss man annehmen, dass einer der beiden
stromerzeugenden Processe und zwar der jenige, welcher
mit der Entwicklung negativer Spannung verknüpft ist,
früher und in höherem Maasse durch die Kälte ge-
schädigt wird, als der andere, so dass durch das Ueberwiegen
des letzteren ein aussteigender Strom bedingt wird, der alsbald wieder
einem einsteigenden weicht, sobald durch Wärmezufuhr die normalen
Verhältnisse wieder hergestellt werden. Auch anderen Einwirkungen
gegenüber scheint sich der „negative Process" viel weniger resistent
zu verhalten, als der „positive". So gelingt es, wie gezeigt wurde,
auch durch vorsichtige Wasserentziehung, den einsteigenden Strom
umzukehren ; dagegen scheint Sauerstoffmangel, sowie Behandlung mit
CO2 oder anaesthetisch wirkenden Substanzen (Alkohol, Aether,
Chloroform) beide stromerzeugenden Processe in gleicher Weise zu
schädigen und endlich zu vernichten. Auch in dieser Beziehung muss
auf das ganz abweichende Verhalten der Muskel- und Nervenströme
hingewiesen werden, welche unter den zuletzt erwähnten Bedingungen
erst verhältnissmässig spät eine Verminderung erfahren.
Ueber die Natur der angenommenen chemischen Vorgänge in den
secretorischen Zellen etwas Näheres auszusagen, ist zur Zeit nicht
wohl möglich, obschon es ja nahe liegt, an die Absonderung des
Wassers einerseits und der organischen, specifischen Secretbestand-
theile andererseits zu denken. Zu Gunsten dieser Ansicht Hesse sich
vielleicht auch noch geltend machen, dass der einsteigende Cloaken-
strom immer dann am stärksten gefunden wird, wenn die Schleimhaut
mit reichlichem, dünnflüssigem Secret bedeckt ist, und dass überhaupt
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 433
die negative Spannung der Oberfläche im Allgemeinen mit steigendem
Wassergehalte zunimmt, bei Wasserentziehung dagegen sich rasch
vermindert.
In ganz unerwarteter Weise wird diese Anschauung auch durch
die bereits besprochenen Versuche am Säugethiermagen gestützt.
In diesem Sinne wenigstens dürfte wohl der so ausserordentlich
auffallende Einfluss von Blutdruckänderungen auf die Grösse der
elektromotorischen Kraft der Magenschleimhaut zu deuten sein. Dass
die Wasserabsonderung drüsiger Organe, abgesehen von anderen
Momenten, auch wesentlich mit vom jeweiligen Drucke abhängt, kann
nicht bezweifelt werden, und so könnte es höchstens überraschen,
dass beim Frosch weder Vagusreizung, noch auch das gänzliche Auf-
hören der Circulation eine ähnliche Wirkung auf die elektromotori-
schen Eigenschaften des Magens ausübt, wie es erfahrungsgemäss beim
Säugethier der Fall ist, wo schon ein verhältnissmässig geringfügiges
Absinken des Druckes in den Magengefässen zu einer sehr aus-
geprägten negativen Schwankung des einsteigenden Stromes führt.
Indessen wird dies begreiflich, wenn man die ungleich grössere Wider-
standsfähigkeit der Froschgewebe gegen alle wie immer gearteten
Schädlichkeiten berücksichtigt. Werden daher in Folge einer Ver-
minderung des Druckes in den Gefässen der Magenschleimhaut die
Bedingungen für die Wasserabsonderung ungünstiger, so muss eine
negative Schwankung erfolgen, wenn, wie man anzunehmen berechtigt
ist, die jeweils vorhandene Spannungsdifferenz als Resultirende von
zwei antagonistischen, elektromotorischen Vorgängen aufgefasst werden
kann, deren einer überwiegt, sobald überhaupt ein Strom vorhanden
ist. Darauf scheint unter Anderem auch der Umstand hinzuweisen,
dass unter normalen Verhältnissen nach dem Tode des Thieres, wie
immer auch derselbe erfolgen mag, ein rasches Absinken und darauf-
folgende Umkehr des Stromes die Regel ist. Es scheint hiernach die
Abnahme des Blutdruckes beim Warmblüter ähnlich zu wirken, wie
starke Abkühlung auf die Schleimdrüsen des Kaltblüters, indem, wenn
dieser Ausdruck gestattet ist, der negative Process in beiden Fällen
rascher abnimmt, als der entgegengesetzte positive.
Von diesem Gesichtspunkte aus erklären sich nun nicht nur leicht
die übereinstimmenden Wirkungen der Vagusreizung, stärkerer Blut-
entziehungen, sowie aller eine Druckverminderung bedingenden Gifte
(Amylnitrit, Pilocarpin, Chloral, Curare u. s. w.), sondern auch der
spätere Erfolg dyspnoischer oder anaemischer Reizung des vasomotori-
schen Hirncentrums.
Eine Aveitere Bestätigung der hier vertretenen Anschauungen be-
züglich der eigentlichen Ursache des normalen einsteigenden Magen-
stromes ist ferner durch das Resultat der Kochsalzinfusionen gegeben.
Hier lässt sich die unter Umständen enorm verstärkte Wasserabsonde-
rung von Seite der Magenschleimhaut direct beobachten, und wenn
dementsprechend ungeachtet der hochgradigen Verdünnung des Blutes
und der dadurch veranlassten schlechteren Ernährung der Gewebe
die elektromotorischen Wirkungen der Schleimhaut im Sinne des
normalen einsteigenden Stromes in so gewaltigem Grade zunehmen,
wie dies wiederholt in solchen Fällen beobachtet wird, so wird man
sich füglich nicht wohl eine andere Vorstellung bilden können, als die,
dass die beobachtete Spannungsdiflferenz und die verstärkte Wasser-
absonderung in einer ursächlichen Beziehung zu einander stehen.
Biedermann, Elektrophysiologie. 28
434 I^iß elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
Ganz analoge Anschauungen wurden schon früher von W. M.
Bayliss und J. R. Bradford bezüglich der Abhängigkeit der
elektromotorischen Wirkungen der Speicheldrüsen von der Beschaffen-
heit des Secretes geäussert (87).
Der bereits von Hermann und Luchsinger (79) versuchte
Nachweis von Secretionsströmen an den genannten Drüsen scheint
Bayliss und Bradford gelungen zu sein. Sie fanden während der
Ruhe die Oberfläche der blossgelegten Submaxillardrüse des Hundes
in der Regel negativ gegen den Hilus. Die elektromotorische Kraft
dieses „Ruhestromes", welcher nicht etwa der verletzten Umgebung
(Muskeln) , sondern hauptsächlich der Drüse selbst zuzuschreiben ist,
wechselt innerhalb weiter Grenzen bei verschiedenen Individuen, wie
auch bei einem und demselben Thier zu verschiedenen Zeiten. Es
scheint, dass wechselnde Zustände der Drüse dabei die wesentlichste
Rolle spielen. Dafür spricht der Umstand, dass nicht nur eine vorher-
gehende Reizung der Drüsennerven, sondern auch Atropinvergiftung
zu dauernden Veränderungen des Ruhestromes führt. Die Richtung
des letzteren ist bei der Submaxillaris der Katze viel wechselnder,
und zwar in der Mehrzahl der Fälle entgegengesetzt, wie beim Hunde
(Oberfläche positiv zum Hilus). Bei der weitgehenden morphologi-
schen Uebereinstimmung der gleichnamigen Speicheldrüsen des Hundes
und der Katze ist diese Thatsache um so auffallender, als der „Ruhe-
strom" der zu den „serösen" Drüsen gehörigen Parotis des Hundes
hinsichtlich seiner Richtung mit dem der Submaxillaris desselben
Thieres meist übereinstimmt.
Es wird hierdurch wahrscheinlich, dass für die zu beobachtenden
Spannungsdifferenzen functionelle Verschiedenheiten der Drüsen von
maassgebender Bedeutung sind. In gleichem Sinne spricht auch das
Verhalten der „Actionsströme" bei Reizung der secretorischen Nerven.
Nach Compensation des Ruhestromes bewirkt Reizung der Chorda-
fasern beim Hunde stets ein Negativwerden der äusseren Oberfläche
der Submaxillardrüse. Sehr oft ist der Verlauf dieser Schwankung
durch eine gegensinnige, zweite Phase unterbrochen, die sich bisweilen
nur durch eine Verzögerung oder einen vorübergehenden Stillstand
der Ablenkung verräth und manchmal durch die erste, wesentlich
stärkere Hauptphase ganz verdeckt wird. Die Ablenkung beginnt
nach einem kurzen Latenzstadium , ehe noch Secret im Gange er-
scheint, und bildet bei schwacher Reizung überhaupt den einzigen
Erfolg.
Auch Reizung des Halssympathicus hat beim Hunde stets elektro-
motorische Wirkungen der Unterkieferdrüse zur Folge, die aber gegen-
über den eben besprochenen durch geringere Stärke, grössere Latenz-
periode und der Hauptphase bei Chordareizung entgegengesetztes
Zeichen der einsinnigen Schwankung (Oberfläche positiv zum Hilus)
ausgezeichnet sind.
An der gleichnamigen Drüse der Katze tritt bei Chordareizung
umgekehrt wie beim Hunde die zweite Phase (Oberfläche positiv zum
Hilus) in der Regel stärker hervor. Es bestehen nun nach Bayliss
und Bradford unverkennbar nahe Beziehitngen zwischen der Stärke
der beiden Phasen und der Beschaffenheit des von der Drüse ge-
lieferten Secretes, indem sich regelmässig zeigt, dass die erste Phase
bei reichlichem wässerigen Secret, die zweite dagegen bei spärlicher,
dabei aber sehr mucinreicher Absonderung überwiegt, beziehungsweise
Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 435
allein hervortritt. Die beobachteten Unterschiede im elektrischen Ver-
halten der Submaxillardrüse des Hundes und der Katze würden sich
daher durch die in der That vorhandenen Verschiedenheiten des in
beiden Fällen bei Chordareizung gelieferten Secretes erklären lassen,
das beim Hunde stets wässeriger ist, als bei der Katze.
Während beim Hunde die Sympathicusreizung nur sehr geringe
Mengen eines äusserst zähen Secretes liefert, ist der Sympathicus-
speichel der Katze reichlich und dünnflüssig. Dem entsprechend sind
die elektrischen Veränderungen ersterenfalls gering und im Sinne
der zweiten Phase, letzterenfalls dagegen viel bedeutender und meist
sogar die Wirkung der Chordareizung übertreffend. Eine wesentliche
Mitbetheiligung der gleichzeitigen vasomotorischen Wirkungen an den
beobachteten galvanischen Erscheinungen halten Bayliss und Brad-
ford durch die Atropinvergiftung für ausgeschlossen, welche die
Gefässveränderungen nicht beeinträchtigt, während die secretorischen
und elektrischen Wirkungen dadurch meist rasch vernichtet oder doch
wesentlich beeinflusst werden.
Erwähnenswerth ist ferner auch noch folgende Beobachtung der
genannten englischen Forscher an der Submaxillaris und Parotis des
Hundes. In der Regel bewirkt Reizung des Sympathicus keine merk-
liche Absonderung der letztgenannten Drüse und liefert auch nur
wenige Tropfen eines zähen Submaxillarspeichels. Unter gewissen
Umständen jedoch, besonders nach oft wiederholter Reizung der
cerebralen Drüsennerven, tritt eine reichlichere Secretion ein und dem-
entsprechend ändern sich auch sofort die elektromotorischen Wir-
kungen. Während in der Regel die Oberfläche beider Drüsen durch
Sympathicusreizung positiv zum Hilus wird, tritt in den erwähnten
Ausnahmefällen eine gegensinnige Schwankung hervor, welche bei der
Reizung der cerebralen Drüsennerven allein auftritt oder dort als
erste Phase bedeutend überwiegt. Bradford ist daher geneigt, die
ersterwähnte elektrische Veränderung (zweite Phase) mit der Bildung
der organischen Bestandtheile des Speichels in ursächlichen Zusammen-
hang zu bringen, während die gegensinnige, meist stärkere Schwankung
durch die Vorgänge der Wasserabsonderung bedingt wäre.
Sollten die hier vertretenen Anschauungen sich als richtig er-
weisen, so würden natürlich sowohl ein- wie aussteigende „Ströme"
der Drüsen als „Secretionsströme", d. h. als galvanischer Ausdruck
einer fortdauernden chemischen Thätigkeit absondernder Zellen, an-
zusehen sein, und wir hätten es bei der Reizung nicht mit dem
Hervortreten einer neuen, aus anderer Quelle oder anderen Elementen
stammenden elektromotorischen Kraft zu thun, sondern lediglich mit
Veränderungen der galvanischen Wirkungen derselben
Elemente, welche a u c h w ä h r e n d d e r „ R u h e " a 1 s U r s a c h e
der bestehenden S pannungsdifferenz zu betrachten
sind.
Eine Erklärung der thatsächlich zu beobachtenden Reizerfolge
bietet nun mit Rücksicht auf die vorstehenden Auseinandersetzungen
selbst in solchen Fällen keine erheblichen Schwierigkeiten, wo es sich
um complicirte doppel- oder selbst mehrsinnige Schwankungen handelt.
Nehmen wir zunächst den einfachsten Fall, dass, wie etwa an der
Froschzunge, von vornherein ein sehr starker einsteigender Strom be-
steht, so würde offenbar eine Verstärkung, d. i. eine positive
Schwankung desselben nur unter der Voraussetzung zu erwarten sein,
28*
436 Die elektromotorisclien Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
dass bei der directen oder indirecten Heizung der „negative Process"
in höherem Maasse gesteigert würde, als der „positive", was im ge-
gebenen Falle, wo jener überhaupt schon so stark überwiegt, nicht
gerade wahrscheinlich ist; vielmehr erscheint es durchaus verständlich,
wenn derjenige Vorgang, welcher von vornherein viel schwächer ent-
wickelt ist, durch die Reizung mehr gefördert wird, als der andere.
Von diesem Gesichtspunkte aus wird es daher auch begreiflich, dass
eine „negative Schwankung" um so ausschliesslicher und in um
so höherem Grade als Reizerfolg hervortritt, je stärker der ursprüng-
liche einsteigende Strom ist. Wenn sich dann oft noch eine positive
Nach Schwankung bemerkbar macht, so ist auch diese Erscheinung
leicht erklärlich, sobald man berücksichtigt, dass erfahrungsgemäss die
positiven, auf einer Verstärkung des „negativen Processes" beruhenden
Wirkungen immer viel träger wieder abklingen, als die gegensinnigen
Reizerfolge, so dass zur Zeit, wo diese ihren normalen Werth bereits
wieder erreicht haben, jene vermöge ihrer grösseren Beständigkeit
einen positiven Zuwachs des ursprünglichen Stromes bedingen.
Die Bedingungen für das Hervortreten einer positiven Schwankung
während der Reizung, wobei dieselbe entweder für sich allein oder
als Vorschlag zu einer darauffolgenden negativen Schwankung auftritt,
werden sich dem Gesagten zu Folge im Allgemeinen um so günstiger
gestalten, je schwächer die gleichsinnige, einsteigende Stromkraft von
vornherein entwickelt ist, je weniger daher der „negative Process"
überwiegt. Denn um so eher wird offenbar Aussicht vorhanden sein,
diesen letzteren durch die Reizung so weit zu verstärken, dass er
seinerseits ins Uebergewicht kommt. Dabei spielt übrigens (bei
tetanisirender Reizung) die Stromstärke insofern eine Avesentliche
Rolle, als, wie es scheint, der zur Entwicklung negativer Spannung
an der Oberfläche führende Process unter sonst gleichen Umständen
leichter angeregt wird, als der gegensinnige Vorgang, so dass, wie
insbesondere an der Rachen- und Cloakenschleimhaut, bei schwächerer
Reizung positive, bei stärkerer doppelsinnige oder rein negative
Wirkungen beobachtet werden. Im Einzelnen kann sich natürlich
ein doppelsinniger Reizerfolg in Bezug auf die Aufeinanderfolge der
beiden Phasen sehr wechselnd gestalten. Während an der Cloake bei
nicht zu stark entwickeltem einsteigenden Schleimhautstrom eine positive
Schwankung der stärkeren negativen in der Regel als Vorschlag vor-
angeht, wird dagegen unter gleichen Umständen bei der Rachen-
schleimhaut die negative Schwankug sehr oft von einer positiven
unterbrochen. Es ist klar, dass auch bei völliger Gleichheit der
beiden angenommenen stromerzeugenden Processe, wobei dann nach
aussen ableitbare Ströme gänzlich fehlen, die Möglichkeit des Zu-
standekommens eines „Secretionsstromes" vorliegt, vorausgesetzt, dass
der eine oder andere Vorgang bei der Reizung ins Uebergewicht
kommt. Da dies mit Rücksicht aijf das oben erwähnte Verhalten für
den „negativen Process" eher zu erwarten ist als für den positiven,
so erscheint es begreiflich, dass dann bei nicht allzu starker Reizung
in der Regel positive Ablenkungen, im Sinne eines einsteigenden
Stromes, beobachtet werden. Häufig fehlt aber auch jeder galvanische
Reizerfolg, woraus natürlich keineswegs auch auf das Fehlen
secretorischer, durch die Reizung angeregter Processe geschlossen
werden darf, indem nur ein bestimmtes physikalisches Symptom der-
selben im gleichen Falle nicht zum Ausdruck kommt. Dass endlich
Die elekti-omotori sehen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen. 437
bei Vorhandensein eines „verkehrten", aussteigenden Stromes als Er-
folg der Reizung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Ab-
lenkungen des Magneten im Sinne eines einsteigenden Stromes, das
ist : negative Schwankung des bestehenden Stromes, beobachtet werden,
erscheint nach dem Gesagten fast selbstverständlich, Avenigstens gilt
dies fast ausnahmslos bei schwächerer Reizung, während starke Reize
auch unter diesen Umständen noch eine positive Schwankung bedingen
können.
Viel weniger genau als die elektromotorischen Wirkungen der
ein- und mehrzelligen Schleimdrüsen sind jene der Hautdrüsen
(Schweissdrüsen) der Säugethiere und des Menschen gekannt. Seit
Du Bois-Reymond seinen berühmten, zunächst auf Actionsströme
des Muskels bezogenen Versuch am Menschen anstellte, wobei von
beiden Händen oder Füssen symmetrisch abgeleitet und dann durch
willkürliche Anstrengung des einen Armes oder Beines eine Ablenkung
der Magnetnadel des Multiplicators bewirkt wurde, lag die Vermuthung
nahe, dass es sich dabei um die Entwicklung einer einsteigenden
Stromkraft der Haut in Folge der Reizung handeln möchte. Durch
die Untersuchungen von L. Hermann darf es als bewiesen gelten,
dass musculäre Actionsströme dabei sicher keine Rolle spielen, und
könnte noch ein Zweifel in dieser Hinsicht bestehen, so würde er
durch die Versuche von Hermann und Luchsinger über
Secretionsströme der Haut bei der Katze endgültig widerlegt. Wie
früher schon hervorgehoben wurde, kommt es bei dem Du Bois-Rey-
mond 'sehen Versuche keineswegs auf das Vorhandensein des
Secretes, sondern vielmehr auf den See retionsvor gang selbst
an, wobei nicht einmal Schweiss sichtbar hervorzuquellen braucht.
Ganz ebenso verhält es sich nun auch mit den Pfotenballen der
Katze, welche reichlich Schweissdrüsen enthalten. Bei symmetrischer
Ableitung von den beiden Plantarballen zeigt sich in der Regel kein
irgend erheblicher Strom, der jedoch alsbald entsteht, wenn auf der
einen Seite der N. ischiadicus durchschnitten Avird. Derselbe ist im
Thier stets von der normalen zur gelähmten Seite gerichtet (ein-
steigend). Nach Durchschneidung des zweiten Ischiadicus verschwindet
die Spannungsdifferenz fast gänzlich, tritt aber sofort wieder hervor,
wenn nach vorgängiger Curarisirung der eine oder andere Nerv künst-
lich gereizt wird. Dass es sich hier wirklich um einen Secretionsstrom
handelt, lässt sich leicht durch Vergiftung mit Atropin erweisen, wobei
zunächst die Latenzzeit der galvanischen Wirkung erheblich zunimmt,
während die Intensität des Stromes immer geringer und bald Null wird.
Auch bei Ableitung von der unversehrten Oberfläche blossgelegter
Muskeln und der unverletzten Epidermis tritt der einsteigende „Ruhe-
strom" hervor, dessen Kraft durch Abtragung der Epithelschicht sinkt.
„Pilocarpininjection in eine Pfote bewirkt bei symmetrischer Ableitung
von beiden Pfoten — stets einen kräftigen Strom von der Injections-
seite zur andern, verstärkt also den einsteigenden Hautstrom". Auch
Reizung eines centralen Ischiadicusendes bewirkt reflektorisch einen
Strom von der ungereizten zur gereizten Seite, deren Drüsen durch
die Nervendurchschneidung vom Centralorgan abgetrennt sind. Ebenso
wirkt centrale Reizung des Cruralis (Hermann). Offenbar bildet
der Versuch mit symmetrischer Ableitung von einer gelähmten und
einer nicht gelähmten Pfote einer in Folge der Fesselung durch cen-
trale Erregung oder im Wärmekasten befindlichen, schwitzenden Katze
438 Die elektromotorischen Wirkungen von Epithel- und Drüsenzellen.
SO ZU sagen ein Gegenstück zu dem Du Bois-Reymond' sehen Ver-
such am Menschen, dessen Deutung ersterenfalls nicht dem geringsten
Zweifel unterliegen kann, indem Curare trotz aufgehobener Muskel-
contraction den Strom bestehen lässt, während Atropin ungeachtet der
Fortdauer der letzteren die Spannungsdifferenz beseitigt.
Auch an der Haut der Oberlippe und Nase vom Rind, sowie an
der Nase von Schaaf und Ziege lässt sich immer eine sehr deutliche
und nachweislich unter Nerveneinfluss stehende Secretion beobachten,
als deren Sitz wahrscheinlich die daselbst vorhandenen, grossen, traubigen
Drüsen zu betrachten sind. Reizung des Vago-Sympathicus bewirkt
stets das Auftreten, beziehungsweise Steigerung der Secretion. Ebenso
verhält es sich auch mit der haarlosen Rüsselscheibe des Schweines,
an welcher bei Reizung des peripheren (Kopf-)Endes des durch-
schnittenen Sympathicus an der betreffenden Seite grosse Secrettropfen
aus den Mündungen der hier vorhandenen Rüsseldrüssen hervor-
quellen. Bei symmetrischer Ableitung von zwei Punkten der Ober-
fläche zeigt sich dann ein starker einsteigender Secretionsstrom,
dessen Kraft bis zu 0,07 Dan. ansteigen kann. Wesentlich schwächer
sind die Spannungsdifferenzen an der Nase der Ziegen und noch ge-
ringer bei Hunden oder Katzen, Avas mit der verhältnissmässig spär-
lichen Secretion im letzteren Falle zusammenhängt.
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F. Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
Dass es gelingt, unter Umständen von gewissen Pflanzentheilen
elektrische Ströme abzuleiten, ist eine schon lange bekannte Thatsache,
und schon B e q u e r e 1 , Wa r t m a n n und B u ff verdanken wir hierüber
beachtenswerthe Angaben. Der Letztere (1) glaubte, aus seinen Ver-
suchen, die mit verhältnissmässig unvollkommenen Hülfsmitteln ange-
stellt waren, den Satz ableiten zu dürfen, „dass die Wurzeln und alle
inneren, mit Luft erfüllten Theile der Pflanzen sich in einem dauernd
negativ elektrischen Zustand belinden, während die feuchten oder be-
feuchteten Aussenflächen der frischen Zweige, Blätter, Blumen und
Früchte dauernd positiv elektrisch sind". Zur Erklärung Avird darauf
hingewiesen, dass durch die Epidermis der Pflanze eine scharfe Grenze
zwischen dem äusseren befeuchtenden Wasser und den Salze, Säuren
und dergleichen enthaltenden Pflanzensäften gegeben sei, an welcher
eine Elektrizitätserregung stattflndet, so dass in einem ableitenden
Bogen ein Strom in der thatsächlich zu beobachtenden Richtung fliesst.
An querdurchschnittenen Blättern von Vallisneria spiralis fand
auch Jürgen sen (2) die unversehrte Oberfläche positiv zum Quer-
schnitt, wie er meint, in Folge der chemischen Verschiedenheit des
blossliegenden Zellsaftes und der Blattoberfläche. Dieselbe That-
sache der Negativität von Verletzungsstellen (künstlichen Quer- oder
Längsschnitten) constatirte in der Folge L. Hermann (3) an leben-
digen Stengeln der verschiedensten Pflanzen. Stets verhielt sich der
Querschnitt oder künstliche Längsschnitt deutlich negativ gegen die
unversehrte Oberfläche. Die Litensität dieser Ströme zeigt sich „im
Allgemeinen, dem Feuchtigkeitsgehalt der Pflanze und der dadurch
bedingten Leitungsfähigkeit entsprechend, sehr verschieden; von Ab-
lenkungen von 20 sc. bis zum Verschwinden der ganzen Scala aus dem
Gesichtsfelde. Die stärksten Ströme pflegen die Pilzstiele zu zeigen".
Die elektromotorische Kraft schwankt zwischen O.Ol und 0.08 Dan. und
ist daher von etwa gleicher Ordnung mit der des Muskelstromes,
obschon die Ablenkungen oft wegen des grossen Widerstandes nur
gering sind. In der Mehrzahl der Fälle nimmt der Längsquerschnitt-
strom durchschnittener Pflanzenstengel sehr rasch an Stärke ab und kann
sich eventuell umkehren, was Hermann, der diese Ströme nach
Analogie des Muskel- und Nervenstromes durch den unmittelbaren
Contact chemisch veränderten (absterbenden) und normalen Plasmas
Biedermann, Elektrophysiologie. 29
442 I^ie elektromotorischen Wirkung-eu pflanzlicher Zellen.
der vei- letzten Zellen erklärt, darauf zurückführt, dass diese letzteren
für sich allein absterben (wie nach Engelmann auch glatte Muskel-
zellen). „Gingen die eröffneten oder sonstigen verletzten protoplas-
matischen Röhren continuirlich durch die ganze Länge des Gebildes,
wie die Muskel- und Nervenfasern durch den Muskel und Nerven,
so würde das Absterben immer weiter fortkriechen, und es müsste sich
der Querschnitt fortdauernd negativ gegen die Oberfläche der Pflanze
verhalten. In Wahrheit sind aber meist die Protoplasmabehälter kurze,
wenn auch in die Länge gestreckte Zellen, und so erklärt es sich,
dass die Negativität eines Querschnittes vergänglich ist, ein w^eiter
hinein angelegter Querschnitt aber neue Wirksamkeit zeigt." (1. c.)
Von wesentlich grösserem Interesse sind die elektrischen Wirkungen,
welche unter Umständen an gewissen Pflanzentheilen in völlig un-
versehrtem Zustande hervortreten. Hier rauss vor Allem Burdon-
Sander so n genannt werden, dessen ausgezeichnete Untersuchungen
über das reizbare Blatt von D i o n a e a m u s c i p u 1 a weitaus das Beste
sind, was bisher auf diesem Gebiete geleistet worden ist. Wir werden
uns im Folgenden noch ausführlich mit den betreftenden Beobachtungen
zu beschäftigen haben, hier mag es vorläufig genügen, darauf hinzu-
weisen, dass auch an dem gänzlich unversehrten Blatt insbesondere
zwischen Ober- und Unterseite Spannungsdifi'erenzen auftreten, welche
ausserdem bei den Reizbewegungen ganz gesetzmässige Veränderungen
erleiden.
A. J. Kunkel (4), welcher unter der Leitung von Sachs
arbeitete, glaubte, sich an den grünen Laubblättern der verschiedensten
Pflanzen davon überzeugt zu haben , dass sich bei Ableitung mittels
unpolarisierbarer Elektroden unter sonst gleichen Bedingungen die
Blatt nerven positiv gegen die grüne Blattfläche ver-
halten. „Der starke Mittelnerv ist schwach positiv wirksam gegen die
dünneren Seitennerven : an letzteren sind die Vereinigungspunkte zweier
Nerven stark positiv wirksame Stellen." Das Zeichen dieser Spannungs-
differenzen würde aber nach Kunkel ganz wesentlich von dem
jeweiligen Imbibitionszustand der Ableitungsstellen abhängen, indem
sich jede, etwa d urch Aufbringen eines Tropfens längere
Zeit benetzt gewesene Stelle (anfänglich) stets positiv
gegen die nur kürzereZeit benetzte verhält, was schon bei
ungleichzeitigem Anlegen der ableitenden Elektroden hervortritt. Schienen
schon diese Erfahrungen für die grosse Bedeutung der Wasserver-
theilung resp. Wasserverschiebung in den pflanzlichen Theilen bezüglich
des Zustandekommens elektromotorischer Wirkungen zu sprechen , so
war dies in noch höherem Grade der Fall bei Kunkel s Versuchen
über den Einfluss von Verletzungen und Biegungen auf die Entwicklung
von Spannungsdifferenzen. Bei Ableitung von 2 an sich stromlosen
Punkten eines grünen Stengels entsteht jedesmal eine Spannungs-
differenz, w^enn in der Nähe der einen Elektrode eine Verletzung
(Schnitt, Quetschung) angebracht wird, und zAvar verhält sich die
betreffende Elektrode negativ zur anderen. Dieselbe Erscheinung tritt
beim Abbiegen des Stengels ein, wenn dieses plötzlich mit einem Ruck
geschieht. Gleichmässig langsames Biegen beeinflusst das Galvanometer
dagegen in keiner Weise. Durch umgeschlungeue Fäden war jede
Verschiebung der Elektroden an dem Stengel verhindert.
Die theoretische Verwerthung dieser später auch von 0. Haake
(5) bestätigten Erfahrungen, welche, wie seinerzeit die von Grün-
Die elektromotorischen Wirkung'en pflanzlicher Zellen. 443
hagen aufgestellte Theorie der thierisch elektrischen Erscheinungen,
von den sogenannten Diaphragmaströmen ausgeht, hat sich in der Folge
als ebensowenig stichhaltig erwiesen wie diese. Es zeigt sich eben auch
hier wieder sehr klar, dass es zur Erklärung einer physiologischen
Erscheinung nicht genügt, ein einzelnes rein physikalisches Merkmal
für sich in den Vordergrund zu stellen , sondern dass man vor Allem
im Auge zu behalten hat, dass es sich um Leb enserscheinungen
handelt, deren eigentliches Miesen durch ein complicirtes Zusammen-
wirken physikalischer und chemischer Kräfte bedingt wird.
Kunkel glaubte, ein allgemein anwendbares und in allen Fällen
geltendes Erklärungsprincip der an pflanzlichen Theilen unter Um-
ständen zu beobachtenden elektrischen Erscheinungen in dem Auftreten
von „Wa sserver Schiebungen" gefunden zu haben. Was zunächst
seinen Grundversuch mit grünen Blättern anlangt, so wird als Ursache
der beobachteten Spannungsdifferenzen der verschiedene Widerstand
der abgeleiteten Gewebepartien gegen das von den feuchten Elektroden
her eindringende Wasser bezeichnet, wodurch es eben zu den erforder-
lichen „Wasserverschiebungen" kommen soll. In der That ist die
verschiedene Benetzbarkeit der Rippen und des Mesophylls eine an
vielen Blättern leicht zu constatirende Thatsache. Aber man kann
dieselbe, wie Haake bemerkt, sofort aufheben, wenn man das Blatt
feucht abwischt oder gar mit einer bleibenden Wasserschicht überzieht, .
ohne dass sich dann etwas im elektrischen Verhalten
änderte. Noch viel beweisender ist das gleichartige Verhalten an-
dauernd untergetauchter Blätter (Vallisneria, Nitella), „von denen
man, selbst wenn sie unter Wasser liegen (bei V2 — 1 mm Dicke der
Wasserschichte), regelmässige Ströme ableiten kann". Ferner ist nach
Haake auch zu beachten, „dass das normale, elektrische Verhalten
nur am lebenden Blatte sich zeigt. Ein durch momentanes Ein-
tauchen in siedendes Wasser getödtetes Blatt zeigt, wenn es etwa
1 — 2 Tage im feuchten Räume aufbewahrt wird, keinen Ausschlag,
ebensowenig wie ein freiwillig abgestorbenes, und doch sind die Be-
dingungen für quantitativ verschiedene Wasserbewegung immer noch
vorhanden".
Auch gegen die Beweiskraft des „Tropfenversuches" wendet
Haake ein, dass derselbe auch dann gelingt, wenn er an einem
Blatte angestellt wird, dessen Gewebe durch längeres Einlegen in
Wasser völlig imbibirt sind, „sodass gar kein Anlass zur Wasserauf-
nahme von den Elektroden her vorliegt".
Als die für seine Ansicht beweisendste Thatsache bezeichnet
Kunkel den Umstand, dass nur bei raschem, nicht bei r langsamem
Abbiegen eines grünen Stengels elektromotorische Wirkungen hervor-
treten. Ohne indessen leugnen zu wollen, dass bei rein mechanisch
bedingten raschen und genügend ausgiebigen Wasserverschiebungen in
todten oder lebenden Pflanzentheilen elektrische Erscheinungen auftreten
können, muss doch entschieden dagegen Verwahrung eingelegt werden,
dass solche unter allen Umständen bloss auf Wasserbewegung
beruhen. Die später mitzutheilenden Versuche an reizbaren Blättern
beweisen dies zur Genüge. Vor Allem handelt es sich um die Er-
klärung der in manchen Fällen hervortretenden dauernden und
oft sehr beträchtlichen Spannungsdifferenzen an gewissen Pflanzen-
organen, deren Deutung von dem erwähnten Standpunkte aus auch
Kunkel unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Denn man wird es
29*
444
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
wohl kaum als eine ausreichende oder auch nur wahrscheinliche Er-
klärung gelten lassen wollen, wenn der starke „Ruhestrom", welchen
Kunkel an dem Mimosenblatte bei Ableitung einerseits vom oberen
Umfang des an der Basis des gemeinsamen (primären) Blattstieles ge-
legenen reizbaren Wulstes und andererseits von einem der beiden
starken Stacheln neben der Insertionsstelle des Blattes erhielt (bis zu
0,1 Dan.) darauf zurückgeführt wird, dass man an Gebilden, „die be-
sonders zu dem Zwecke gebaut sind, ihren Wasserbestand rasch zu
variiren, schnell grosse Mengen aufzunehmen und wieder abzugeben,
schon in der Ruhestellung bei Benetzung gewisser Theile ausgiebige
Diffusionsströrae einleitet". Freilich fanden aber gerade die für die
theoretische Auffassung wichtigsten, ja schliesslich allein maass-
gebenden elektromotorischen Wirkungen reizbarer Pflanzentheile
von Seite K unk eis nur wenig Beachtung, und sind seine diesbezüg-
lichen Angaben durch die späteren Arbeiten Burdon- Sandersons
Aveit überholt.
Aber auch die von Kunkel an den verschiedensten grünen
Blättern beobachteten, an sich geringfügigeren SpannungsdifFerenzen
müssen nach den Untersuchungen von Haake als vitale, physio-
Fio;. 137.
logische Vorgänge aufgefasst Averden. Es ergab. sich vor Allem eine
überaus deutliche Abhängigkeit der in Rede stehenden
elektromotorischen Wi r ku n g e n v o n d e r A t h m u n g. Werden
geeignete Blätter oder Stengel in ein tubulirtes Glasrohr eingeschlossen,
in welches einerseits die Elektroden hereinragen und das andererseits
die Durchleitung von Gasen gestattet (Fig. 137), so zeigte sich stets
eine rasche Verminderung der ursprünglich vorhandenen Spannungs-
differenz zwischen der Mittelrippe (dicht bei deren Uebergang in den
Stiel) und dem Mesophyll etwa in der Mitte des Blattes , wenn der
Sauerstoff völlig durch feuchten Wasserstoff verdrängt wurde. Bei
neuerlicher Zuleitung von Luft erreicht der Strom bald wieder an-
nähernd seine frühere Stärke. Ebenso verhielten sich Keimpflänzchen
von Bis um sativum bei Ableitung vom Wurzelhals und Stengel, an
welchen vorher schon Hermann (3) einen völlig regelmässigen und
kräftigen Strom gefunden hatte, indem sich das Würzelchen negativ
gegen den Körper (die Cotyledonen) verhält. (Die Kraft geht oft bis
über ^lio Dan.) Johannes Müller-Hettlingen (3), welcher auf
Veranlassung JHermanns diese Erscheinung näher untersuchte, for-
mulirte folgendes Gesetz: „Denkt man sich die eine der ab-
leitenden Elektroden beständig an den Cotyledonen an-
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 445
gelegt, Wcälirend man mit der anderen successive von
den übrigen Stellen des Keimlings hypercotyl oder
hypo CO tyl ableitet, so tritt immer eine elektromotorische
Kraft aufj die sich herleitet von der Elektro positivität
der Samenschalen resp. Cotyledonen gegenüber der
Elektro negativität aller übrigen T heile des pflanzlichen
Keimlings, und zwar ist diese Kraft um so geringer, je
näher den Co tyledonen die wandernde Elektro de hyper-
oder hypocotyl angelegt wird." Die beistehende Fig. 138 giebt
eine schematische Uebersicht dieses Verhaltens.
Unter Umständen beobachtete Haake bei Unterbrechung der
Athmung nicht nur Abnahme, sondern Umkehr oder auch Zunahme
des ursprünglichen Stromes. „Auch Pflanzentheile, die von Natur aus
eine bedeutende Athmungsdifferenz zeigen, geben aussergewöhnlich
starke Ströme, so vor Allem die Sexualorgane der BUlthe , z. B. bei
Ableitung vom Pistill oder einer Anthere und dem Blüthenstengel."
In solchen Fällen beobachtete Haake am Capillarelektrometer Aus-
schläge von 50 — 80 sc, während an grünen Blättern der Erfolg sich
im Ganzen um 15 — 20 sc. herum bewegte.
Relativ sehr beträchtliche Spannungsdifferenzen treten auch dann
auf, wenn die Athmungsthätigkeit eines Pflanzentheils nur im Bereich
der einen ableitenden Elektrode durch Abschluss der Sauerstoffzufuhr
gehemmt wird, wie dies Haake dadurch erzielte, dass er Keimpflänzchen
von P i s u m oder F a b a in ein zweitheiliges Rohr einschloss und nur in
der einen Hälfte die Luft durch Wasserstoff verdrängte (vergl. Fig. 137).
In einem gegebenen Falle stieg an einem 14 Tage alten Pisum- Keim-
ling bei Ableitung vom Wurzelhals und der Stengelspitze der anfäng-
liche Ausschlag von + 5 sc. nach Verdrängung des Sauerstoffs an der
Wurzel und unteren Stengelparthie auf -f- 57 sc, um bei erneutem
Luftzutritt wieder auf -\- 14 sc zu sinken. Aehnlich wirkt bei un-
gehindertem Luftzutritt jede etwa durch Abkühlung oder Temperatur-
steigerung zu erzielende locale Aenderung der Athmungsintensität eines
Pflanzentheiles im Bereich der einen oder anderen Elektrode.
Auch der Assimilationsprocess scheint nach Haakes Versuchen
die Grösse der an grünen Blättern .zu beobachtenden Spannungs-
diff^renzen mitzubedingen , indem sich bei Sistirung der Kohlensäure-
zersetzung durch Verdunkelung regelmässig eine Verminderung des
anfänglichen Stromes geltend machte. „Stellt man die normalen Be-
dingungen wieder her (durch Belichtung), so tritt dem Sinne nach
die frühere Spannung wieder ein; aber an Grösse fast niemals, sie
bleibt entweder kleiner oder wird grösser." Chlorophyllfreie Blätter
(Blumenblätter) zeigen bei Abschluss des Lichtes keinerlei Veränderungen
in ihrem elektrischen Verhalten. Als wesentlichstes und wichtigstes
Ergebniss der mitgetheilten Untersuchungen dürfte wohl die Thatsache
zu iDezeichnen sein, dass zwischen Zellen oder richtiger Zell-
territorien eines Pflanzenorganes oder einer ganzen
Pflanze, welche sich, ganz allgemein ausgedrückt, hin-
sichtlich ihres Chemismus verschieden verhalten, elek-
trische Spannung sdiff er enzen auftreten.
Ein wesentlich erhöhtes Interesse gewinnen die in der Mehrzahl
der Fälle, wenigstens im Vergleich mit den entsprechenden Wirkungen
thierischer Theile, recht geringfügigen elektromotorischen Erscheinungen
durch die viel auffälligeren Phänomene an reiz-
446
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
baren Pflanzen, deren Untersuchung mit der schönen Entdeckung-
Burdon- Sanders ons beginnt, dass die Reizbewegungen des
Blattes von Dionaea muscipula von höchst charakteristischen
Veränderungen der ursprünglich zwischen Ober- und Unterseite vor-
handenen Spannungsdifferenzen begleitet sind (6).
Ehe jedoch hierauf näher eingegangen werden kann, erscheint es
erforderlich. Einiges über Bau und Struktur der betreffenden Pflanzen-
theile, sowie über die
\
u^<
Art und Ursache der
Reizbewegungen vor-
auszuschicken.
Von dem Gesammt-
habitus der Dionaea
muscipula mag bei-
stehende Fig. 139 eine
Anschauung geben,
welche zugleich zeigt,
in welcher Weise H.
M u n k , dem wir eine
ausführliche Arbeit
über die elektromoto-
rischen Wirkungen
und die Reizbewegun-
gen dieser Pflanze ver-
danken (7), die zur
Untersuchung benütz-
ten Exemplare setzen
Hess, um von den
Blättern in bequemer
Weise ableiten zu
können.
Das Blatt, dessen
Länge im ausgewach-
senen Zustande zwi-
schen 2 und 12 Ctm.
schwankt, zerfällt sei-
nen äusseren Umrissen
nach in 3 Abschnitte :
den geflügelten Blatt-
stiel, den ungeflügelten Theil desselben und die Blattspreite. Die
letztere besteht aus zwei scharf getrennten Hälften, die sich wie die
Flügel des Blattstieles an die stark nach unten vorgewölbte Mittel-
rippe anschliessen. Am Rande verlängert sich die Blattspreite in
ziemlich regelmässigen Zwischenräumen in borstenartige Fortsätze,
welche beim Zuklappen des Blattes alternirend in einander greifen.
Auf der Oberfläche jeder Blatthälfte stehen drei kleine Haare, von
denen eines nahe der Mittelrippe, die beiden andern etwas mehr nach
aussen stehen und hauptsächlich der Sitz der Reizbarkeit sind.
Ausserdem ist die innere Oberfläche des Blattes mit zahlreichen
scheibenförmigen Drüschen ausgestattet. „Während die Flügel des
Blattstiels aus einem weichen, schnell welkenden Gewebe bestehen,
zeigen die Blattflügel eine knorpelartig spröde, saftige, resistente
Beschaffenheit." Von dem das Centrum der Mittelrippe durchziehenden
Fig. 139.
Die elektromotorisclien Wirkungen pflanzlicher Zellen.
447
Fibrovasalstrang laufen in ziemlieh gleichen
aus , welche in der Nähe des Blattrandes ei
bilden (Fig. 140). Das Parenchym
der Blattflügel besteht durchweg
aus länglichen oder langgestreckten
Zellen, deren Längsaxen parallel
den Hauptsträngen der Seitennerven
und senkrecht zur Mittelrippe ver-
laufen (Fig. 141), und deren Quer-
schnitt (am Längsschnitt des Blattes)
kreisförmig erscheint. Zwischen den
einzelnen Zellen bestehen grosse
Intercellularlücken.
Un!er der Epidermis der Blatt-
oberfläche, deren länglich 6eckige
Zellen reichlich Stärke enthalten,
liegt eine Schicht etwas kürzerer,
dünnwandiger Zellen, auf Avelche un-
gefähr 2 — 3 Lagen grosserer, langer,
cylindrischer Zellen folgen, welche
fast gar keinen geformten Inhalt
zeigen (Fig. 141). „Die innerste
Schicht dieser Zellen stösst an die
langen, schmalen Zellen, welche
die Fibrovasalstränge in den Blatt-
flügeln begleiten. Unterhalb des
Gefässbündels liegen 2 — 3 Reihen
Zellen von derselben Beschaff'enheit
wie die eben beschriebenen, dann
3 — 4 Schichten bedeutend schma-
lerer, kleinerer, chlorophyllreicher
Abständen Seitennerven
1 zierliches Bogensystem
Seitenansicht eines Blattes von
, die Nervatur darstellend.
(Nach F. Kurtz.)
Fig. 141.
Querschnitt durch die
Lamina eines Dionaea-
hlattes parallel den
Seitennerven.
(Nach F. Kurtz.)
m^
Zellen, und auf diese folgt schliesslich die Epidermis der Blattunter-
seite" (F. Kurtz).
An der Stelle, wo ein sensibles Haar entspringt, durchbricht das
Blattparenchym die Epidermis der Blattinnenfläche. Die der Epidermis
448 Diß elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
zunächst liegenden Parenchymzellen sind hier kleiner und bilden
einen, aus 4 — 5 Etagen von polygonalen Zellen bestehenden, im Quer-
schnitt kreisrunden Cylinder, der sich über die Blattoberfläche erhebt
und ungefähr ^/lo der Gesammtlänge des Haares beträgt. Auf dem
Cylinder erhebt sich das eigentliche, schlank kegelförmige Haar, welches
kein Gefässbündel enthält und aus langen, schmalen Zellen besteht.
(F. Kurtz 8.)
Legt man unpolarisirbare Elektroden an die entgegengesetzten
Enden eines frischen unversehrten D i o n a e a - Blattes an, so lässt sich,
wie zuerst Burd on- Sander son fand, mittels eines eingeschalteten
Galvanometers ganz regelmässig ein Strom constatiren, Avelcher im
Blatte selbst vom Stielende (nach H. Munk dem vorderen Ende)
zu dem vom Stiel abgewendeten (hinteren) Ende fliesst (Sand er -
sons „normaler Blattstrom"). Bei Ableitung von symmetrisch ge-
legenen Punkten der äusseren (unteren) Fläche der Blattflügel fand
Munk entweder keinen Strom oder nur ganz schwache, regellose
Wirkungen. Denkt man sich in der Fläche eines Blattflügels Linien
senkrecht auf die Mittelrippe gezogen („Querlinien" Munk), so
verhält sich jeder Punkt einer solchen negativ gegen den zugehörigen
Punkt der Mittelrippe und zwar bis zu einer gewissen Grenze um so
stärker, je näher der betreö'ende Punkt der Querlinie dem Blattrande
liegt. An der mittelsten Querlinie ist der negativste Punkt nur wenig
von der Mitte der Linie entfernt. Je mehr aber eine Querlinie dem
vorderen oder hinteren Blattrande nahekommt, nähert sich der negativste
Punkt dem äusseren Blattrand. Die Verbindungslinie der negativsten
Punkte aller Q,uerlinien, welche der Mittelrippe nahezu parallel ver-
läuft, bezeichnet Munk als Haup tlän gslini e des Blattflügels; ihr
steht als positivster Punkt des Blattes das vordere Ende des hintersten
Drittels der Mittelrippe gegenüber. Die Vertheilung und Grösse der
Spannungen an der oberen (inneren) Blattfläche entspricht nach Munk
durchaus der an der äusseren (unteren), so dass bei Ableitung von 2
gleich gelegenen Punkten beider Flächen im Allgemeinen
kein Strom r e s u 1 1 i r t , was aber , wie B u r d o n - S a n d e r s o n
später fand, keineswegs der Fall ist. Die beschriebenen elektromoto-
rischen Wirkungen des Dionaea-Blattes sind an das Leben desselben
geknüpft und nehmen beim Absterben bis auf Null ab. Die absolute
Grösse der in Betracht kommenden elektromotorischen Kräfte ist ziem-
lich beträchtlich. „Den Spannungsunterschied zwischen einem Punkte
in der Gegend der Haupt-Längslinie und einem Punkte in der hinteren
(vom Stiel abgewendeten) Hälfte der Mittelrippe = 0.04 — 0.05 Dan.
zu finden, ist nichts Ungewöhnliches."
Bei dem Versuch einer Erklärung aller dieser elektromotorischen
Wirkungen am „ruhenden" Blatte gelangt Munk zur Aufstellung einer
„Molekulartheorie", in welcher die Parenchymzellen selbst als cylin-
drische Molekeln fungiren und derart elektromotorisch wirken, „dass
die positive Elektrizität von der Mitte der Zelle nach jedem der
beiden Pole hingetrieben wird, die letzteren also positiv sind gegen
die Mitte".
Bekanntlich theilt Dionaea mit einigen wenigen anderen Pflanzen
die auffallende Fähigkeit, unter gewissen Umständen unmittelbar sicht-
bare Bewegungen ausführen zu können, welche im gegebenen Falle
in einem raschen Zusammenklappen der beiden Blattflügel bestehen,
wodurch angeflogene Insekten eventuell gefangen werden. Diese Art
Die elektromotorischeu Wirkungen pflanzlicher Zellen. 449
von Bewegung (Reizbewegung) lässt sich durch ihre Schnelligkeit und
Energie leicht von den langsamen „Resorplionsbewegungen" unter-
scheiden, welche, häufig an die ersteren sich anschliessend, nur dann
rein hervortreten, w^enn resorbirbare Substanzen (Fleisch, Eiweiss etc.)
sorgsam und ohne Berührung der empfindlichen Haare auf die innere
Blattfläche gebracht Averden. Während die Schliessung des gereizten
Dionaea -Blattes sehr rasch (längstens in einer Minute) erfolgt,
kann die Wiederöffnung sich über viele Stunden (24 — 36) erstrecken.
Ist es aber eine resorbirbare Substanz, welche die Schliessung ver-
anlasst hat, so beginnt die Öffnung eventuell erst nach mehreren Tagen.
Reizempfindlich erweist sich die ganze Innen(Ober-)fläche des
Blattes, doch sind es, wie erwähnt, vor Allem die 6 Haare, welche zu
je drei auf jedem Blattflügel stehen, deren Reizbarkeit so auffallend
hervortritt, dass man sie eine Zeit lang für allein empfindlich hielt.
Abschneiden des Blattstieles oder Durchschneiden des Zwischengliedes
zwischen Blatt und Stiel wirkt nicht als Reiz, so lauge der Schnitt nicht
die untere Grenze der Blattmittelrippe erreicht, wo unter der Epidermis
der Oberseite die Vertikalreihen der reizbaren Parenchymzellen auf-
treten. Auch Abschneiden der Randborsten bleibt wirkungslos. Da-
gegen bringt jeder Schnitt durch die Dicke des Blattes an beliebiger
Stelle das Blatt zur Schliessung.
Während leichter Druck auf die obere Blattfläche wirkungslos
bleibt, führt stärkeres Drücken zur Auslösung einer Reizbewegung,
ebenso Ritzen mit einer spitzen Nadel. Die Unterfläche des Blattes
erweist sich allen diesen Eindrücken gegenüber ganz unempfindlich.
Es ergiebt sich hieraus, dass nur die obere Schicht des Blatt-
flügel- und Mittelrippenparenchyms reizbar und reiz-
leitend ist, womit auch der Umstand in Uebereinstimmung steht,
dass die an sich nicht reizbaren Haare auf je einem, die Epidermis
durchbrechenden Zapfen reizbarer Parenchymzellen sitzen und gewisser-
maassen als Hebel (wie etwa die Tasthaare IdcI Thieren) auf jenen wirken.
Man kann mit scharfer Scheere jedes Haar von der Spitze nach der
Basis abtragen, ohne eine Reizbewegung hervorzurufen, bis man in
die Nähe des knopfförmigen Zapfens von Blattflügelparenchym kommt,
dessen Berührung das Blatt sofort zum Schliessen bringt.
Neben mechanischen Einwirkungen ist auch Wa s s e r e n t z i e h u n g
als Reiz für das reizbare Parenchym an der Haarbasis anzusehen.
Brachte Darwin (9) Blätter von Dionaea in concentrirte Zucker-
lösung oder auch nur ein Tröpfchen derselben an ein reizbares Haar,
so schlössen sich die Blätter rasch. Munk beobachtete denselben
Erfolg mit Alkohol und concentrirter Kochsalzlösung, sowie auch dann,
wenn die Pflanzen plötzlich rascher Verdunstung in trockener Luft
ausgesetzt werden.
Bei den Bewegungen des Dionaea- Blattes handelt es sich, wie
überhaupt bei allen Pflanzenbewegungen, um Vorgänge, welche sich in
keiner Weise mit Contractionserscheinungen von Muskeln oder über-
haupt wirklich contractilen Gebilden vergleichen lassen. Vielmehr hat
man es mit sehr eigenartigen Beispielen von Zellencoordination zu thun,
wobei ganz andere mechanische Principien zur Geltung gelangen wie
dort. Am anschaulichsten lässt sich das eigentliche Wesen pflanzlicher
Bewegungsvorgänge an dem altberühmten Beispiel der Mimosa
pudica erläutern. Jeder Blattstiel der „Sinnpflanze'" trägt 4, mit je
2 Reihen Blättchen besetzte secundäre Blattstiele. Am Tage sind die
450 Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
Hauptblattstiele gehoben und die seeundären ausgebreitet wie die ge-
spreizten Finger einer Hand. Die einzelnen Blättehen sind flach aus-
einandergelegt, so dass sie mit ihren Flächen eine Ebene bilden. Des
Nachts aber sinken die Blätter nach abwärts, die Blattstiele 2. Ordnung
legen sich an einander, und die Blättchen richten sich auf, so dass
die zugekehrten Oberseiten derselben sich berühren. Dieselbe Lage-
veränderung aller Blätter kann man auch am Tage jederzeit sofort
herbeiführen, wenn man entweder die ganze Pflanze stark erschüttert
oder in eine Atmosphäre bringt, welche Chloroform oder Aetherdämpfe
enthält. Aber auch ganz local oder doch nur in beschränkter
Ausbreitung lassen sich dieselben Wirkungen durch mechanische
Reizung (Berührung, Stechen, Schneiden) einzelner Theilblättchen und
vor Allem der Stelle erzielen, wo der Hauptblattstiel sich an den
Stamm ansetzt. Hier befindet sich eine wulstförmige Verdickung,
welche in ähnlicher Weise auch an der Basis der seeundären und tertiären
Blattstiele entwickelt ist. In jedem Falle wird eine Reizbewegung
nur ausgelöst bei Berührung der Unterseite eines solchen Gelenk-
wulstes, Avährend die Oberseite fast ganz unempflndlich erscheint. Bei
anatomischer Untersuchung eines solchen Wulstes findet man ihn
durchzogen von einem Gefässbündel und zwischen demselben und der
grünen Rinde eine Lage sehr succulenter Zellen, die auf der oberen
(unempfindlichen) Seite des Gelenkwulstes ziemlich dickwandig, an der
Unterseite dagegen relativ dünnwandig sind. Wenn man einen solchen
Wulst quer durchschneidet, so zieht sich, wie schon Brücke (10) be-
merkt, auf beiden Seiten ein Trichter ein, der dadurch zu Staude kommt,
dass von Hause aus in der lebenden Pflanze eine Spannung zwischen
den succulenten Zellen des Gelenkwulstes und dem Gefässbündel be-
steht, „so dass also, wenn man durchschneidet, der zellige Theil sich
in der Richtung der Längsaxe auszudehnen sucht, während das centrale
Gefässbündel sich nicht über seine frühere Länge verlängern kann.
Es ist, als ob man durch ein durchbohrtes Kautschukstück einen
unausdehnsamen Draht hindurchgezogen und nun mittels einer Schrauben-
mutter an dem Ende des Kautschukstückes dasselbe zusammengepresst
hätte" (Brücke). Wenn also ein Blattstiel seine Lage ändert, so
kann dies geschehen, indem die Spannung in der oberen Wulsthälfte
stärker wird oder umgekehrt in der unteren abnimmt.
Es lässt sich leicht zeigen, dass bei der Reizung stets das Letztere
der Fall ist. Vergleicht man die Farbe der reizbaren Unterseite eines
Blattwulstes vor und nach der Reizung, so zeigt sich ein sehr auf-
fallender Unterschied. Ersterenfalls erscheint sie hellgrün, dann dunkel-
grün. Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, dass dieser Wechsel
lediglich durch den Austritt von Flüssigkeit aus den Zellen in die
vorher mit Luft erfüllten, grossen Intcrcellularräume bedingt wird, und
man sieht leicht, wie hierdurch nothwendig eine Entspannung und Er-
schlaffung der betreffenden Gewebsschichten zu Stande kommen muss.
Die Thatsache, dass auch bei möglichst localisirter Reizung der Unter-
seite des Bewegungsorganes (Wulstes) von Mimosa Wasser aus allen
dort gelegenen Zellen des Parenchyms austritt , beweist an sich die
Fortleitung gcAvisser, in den direct gereizten Zellen ausgelöster Ver-
änderungen des Plasmas, die eben den Wasseraustritt zur Folge haben,
auf alle andern Zellen der Unterseite des Wulstes. Li der That sah
Pfeffer von dem gereizten Punkte aus die dunklere Färbung sich
„blitzschnell" ausbreiten. Wir müssen also schon innerhalb eines und
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 451
desselben Wulstes eine Reizleitung von Zelle zu Zelle annehmen.
Bei Weitem auffiülender ist aber noch die Thatsache der Reizfort-
pflanzung auf weite Strecken hin, ja über alle Theile einer Pflanze.
Das Aeussere dieser Erscheinung ist zu bekannt, um hier näher darauf
einzugehen, dagegen müssen die sich dabei abspielenden inneren
Vorgänge in Kürze besprochen werden. Ich halte mich dabei im
Wesentlichen an die Darstellung, welche Haberland t (11) in seiner
Abhandlung über das reizleitende Gewebesystem der Sinnpflanze
gegeben hat.
Schon Du t röchet (12) suchte zu entscheiden, in welchen Theilen
der Pflanze überhaupt die Reizleitung erfolge. Dass die Rinde dabei
unbetheiligt ist, ergab sich aus dem Umstände, dass Abschälen eines
Ringes derselben die Reizfortpflanzung in einem Astchen nicht behinderte.
Ebensowenig ist dies der Fall nach Entfernung des Markes. Es zeigte
sich ausnahmslos nur der Holzkörper, oder richtiger das Fibro-
vasalsystem (Gefäss- und Basttheil), betheiligt.
Dutrochet selbst deutete schon an, dass die Reizfortpflanzung
auf Bewegung der in den leitenden Elementen enthaltenen Flüssigkeit
beruhe. In der Folge wurde diese Anschauung dann wesentlich ge-
stützt durch Versuche von Meyen (13), Sachs (14) und Pfeffer
(15). Dem Ersteren war schon aufgefallen, dass beim Einschneiden
eines Stengels der Mimosa aus der Wunde sehr rasch ein Flüssig-
keitstropfen hervorquillt, worauf dann sofort die Reizbewegung der
Blätter erfolgt. Dieser Flüssigkeitstropfen, welcher bei Verwundung
von Blatt oder Stamm, der Mimosa ganz plötzlich zum Vorschein
kommt, hat bei fast allen Erklärungsversuchen der Reizleitung eine
grosse Rolle gespielt und zur Aufstellung einer „physikalischen" Theorie
derselben geführt. Sachs (1. c. p. 482) erblickt in dem raschen Hervor-
schiessen eines Wassertropfens aus dem angeschnittenen Holzkörper einen
Beweis dafür, dass bei einer sehr reizbaren M i m o s e das Wasser im
Holzkörper unter einem hohen Drucke steht, während anderseits auch
die reizbaren Parenchymzellen der unteren Hälfte des Gelenkpolsters
im höchsten Grade turgescent sind. „Das Wasser wird also einerseits
durch die endosmotische Ueberfüllung der Zellen des Schwellkörpers
ein Streben haben, durch die Wände derselben hinauszufiltriren, ander-
seits wird der Druck, unter Avelchem das Wasser im Holzkörper steht,
dahin wirken, das Wasser von aussen her in die Zellwände des Schwell-
körpers hineinzutreiben". In der ungereizten Pflanze halten beide
Druckkräfte einander das Gleichgewicht. Durch einen Schnitt in den
Stamm wird dieser Gleichgewichtszvistand gestört, das Wasser bewegt
sich im Holze gegen die Wunde zu, der Druck in demselben ver-
mindert sich, und nun flltrirt aus dem stark turgescirenden, reizbaren
Parenchym des Gelenkwulstes das Wasser in die Zellwände hinein;
hier folgt es der Richtung, in welcher die Spannung abnimmt und
fliesst dem Holzbündel des axilen Stranges zu. Mit der Turgorab-
nahme des unteren Gelenkwulstes tritt dann die Reizbewegung ein.
Nach dieser Anschauung hätten wir es mit wirklich reizbaren
Zellen nur im Parenchym der Unterseite der Gelenk wülste zu thun,
deren Plasma durch irgendwelchen Reiz durchlässig für Wasser wird,
welches nun durch die Zellhaut in die Intercellularräume flltrirt. D i e
Beziehung zwischen entfernten Gelenk Wülsten würde
aber nur eine rein physikalische sein, vermittelt durch
eine gespannte, continuir liehe Wa ssermasseimHolztheil
452 Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
der Pflanze. Demgegenüber wäre nun aber noch eine andere
Möglichkeit zu erwägen , die vielleicht von vorneherein sogar an-
sprechender scheinen möchte. Es könnten in den Gefäss-
bündeln auch reizbare Zellen vorhanden sein, welche
die Fortpflanzung des Eeizes von Gelenk zu Gelenk
vermitteln. Diese Annahme erhielt eine wesentliche Stütze durch
die Entdeckungen Tangls, Russow's und Gardiner' s (Arb. d.
bot. Inst, zu Würzburg. III. Bd. 1884), betreffs der Verbindung
der Plasmakörper benachbarter Zellen durch zarte Plasmafäden.
Solche Verbindungen wurden in der That auch zwischen den Zellen
des reizbaren Parenchyms der Gelenkwülste gefunden, und was lag
näher, als ähnliche Leitungsbrücken auch zwischen ihnen und den
Zellen der reizleitenden Gefässbündel anzunehmen. Ein einfaches
Mittel, um diese Frage zu entscheiden, schien in der Anwendung
localer Narcose (mit Aether oder Chloroform) zu liegen. Seit
Cl. Bernard weiss man, dass die Reizbarkeit der Mimose vorüber-
gehend aufgehoben werden kann durch Aetherisiren. Wenn dies für
das reizbare Parenchym der Gelenkpolster gilt, so Hegt es nahe, an-
zunehmen, dass die etwa vorhandenen reizbaren Zellen in den Gefäss-
bündeln das gleiche Verhalten zeigen. Die Reizfortpflanzung müsste
durch locale Narcose sistirt werden. Die Versuche, welche Pfeffer
(15) in dieser Richtung anstellte, schienen jedoch ein gegentheiliges
Resultat zu ergeben. Wurde nämlich das mittlere Stück
eines secundären Blattstieles chlor oformirt oder äthe-
risirt, so pflanzte sich dennoch ein Wundreiz regel-
mässig, ein S 1 0 s s r e i z wenigstens bisweilen über die
narkotisirte Strecke fort. Hiernach hält es Pfeffer für be-
wiesen, „dass Wasserbewegung die alleinige Ursache der Fortpflanzung
des Reizes ist. Diese Wasserbewegung findet in den Gefässbündeln
statt. Wird die Reizung durch Einschneiden in ein Gefässbündel be-
werkstelligt, wobei aus der Wunde Flüssigkeit hervorquillt, so beruht
die Störung des Gleichgewichtes in der Wasservertheilung des Gefäss-
bündels auf Wasser entziehung. Wenn dagegen ein einfacher
Stossreiz einwirkt, so tritt aus dem gereizten Parenchym des Gelenkes
ein gewisses, wenn auch geringes Flüssigkeitsquantum in das Gefäss-
bündel über, so dass in diesem Falle die Wasserbewegung durch eine
Zufuhr von Wasser bewirkt wird (Pfeffer 1. c. p. 315). In jedem
Falle führt also Pfeffer auch die Uebertragung des Reizes von dem
Gefässbündel auf das reizbare Parenchym des Gelenkpolsters, sowie
umgekehrt auf Wasserbewegung zurück. Die Störung des Gleich-
gewichtes pflanzt sich im ersteren Falle bis auf die innersten, an das
Bündel unmittelbar angrenzenden Zelllagen des reizbaren Parenchyms
fort, wo sie „wie ein mechanischer Reiz" wirkt und die Bewegung
auslöst.
Eine weitere Stütze für diese Anschauungen scheint in den Be-
obachtungen von Haberlandt gegeben zu sein, welcher rindet, dass
bei Mimosa der Reiz sich auch über abgestorbene Blattstiel-
strecken fortpflanzt, wenn dieselben durch Abbrühen getödtet wurden.
War dies wirklich völlig der Fall, so wäre damit in der That ein
zwingender Beweis gegeben, dass bei Mimosa die Reizleitung
nicht durch ein System z u s a m m e n h ä n g e n d er , reizbarer
r e s ]3. r e i z 1 e i t e n d e r P r o t o p 1 a s t e n d e s G e f ä s s b ü n d e 1 s ver-
mittelt Av i r d , sondern auf eine r d u r c h die Verletz u n g
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 453
bewirkten S törung des hydrostatischen Gleichgewichtes
beruht, welche sich auch über die getödtete Blattstiel-
zone fortpflanzt. In diesem Sinne würde also eine Saftbewegung
die Reizleitung vermitteln.
Haberlandt verlegt dieselbe in bestimmte schlauchförmige Zellen,
welche im Leptomtheil der Gefässbündel (Weichbast) liegen; ihr Bau
ist insofern bemerkenswerth, als jede ihrer Querwände einen einzigen
sehr grossen Tüpfel besitzt, dessen Schliesshaut porös und von Plasma-
fäden der benachbarten Zellkörper durchzogen ist. Obschon nun diese
„reizleitenden" Zellen dem das centrale Gefässbündel des Gelenk-
polsters umgebenden Collenchymring dicht angrenzen, dessen Zellen
wieder mit den Elementen des reizleitenden Parenchyms durch Piasraa-
brücken zusammenhängen, so besteht doch nach Haberlandt keine
derartige directe Verbindung zwischen jenen und dem Collenchym,
Man hätte es demgemäss mit 2 Systemen von Zellen zu thun, die
einander functionell coordinirt sind , aber doch in keiner directen
leitenden, d. h. plasmatischen, Verbindung stehen.
Nach Haberlandt würde man sich vorzustellen haben, dass
in den intacten reizleitenden Zellenzügen des Leptoms ein sehr
hoher hydrostatischer Druck des Zellsaftes besteht, durch welchen
die Längswände der reizleitenden Zellen elastisch gedehnt werden;
die dadurch bedingte Wandspannung repräsentirt nun die unmittelbare
Kraftquelle, welche bei einer Verletzung des reizleitenden Systemes
die nach dem Orte des plötzlich verminderten Druckes gerichtete
Saftbewegung hervorruft. Es ist klar, dass dieselbe nur unter der
Voraussetzung einer Filtration des Zellsaftes d u r c h d i e intacten
Querwände der aneinanderstossenden Zellen möglich ist. Man muss
dann aber noch die weitere, ziemlich unwahrscheinliche Annahme
machen, dass die Hautschicht des Plasmabeleges der Tüpfel unter
allen Umständen und dauernd einen hohen Grad von Permeabilität
besitzt; denn nur so wäre es einigermassen verständlich, dass sich die
reizleitenden Zellenzüge wie ein System communicirender, fusionirter
Hohlräume verhalten.
Die nächste sich hier anschliessende Frage betrifft die Art, wie
unter den gemachten Voraussetzungen die Wasserbewegung in den
besprochenen Zellschläuchen als Reiz auf das reizbare Parenchym des
Gelenkpolsters wirkt.
Nach Haberlandt wird die Reizübertragung nur durch die mit
der Druckschwankung verbundene Volum- und Gestaltveränderung
des reizleitenden Gewebes resp. des reizbaren Parenchyms bewirkt.
„Wenn nach einer Verletzung des Blattstiels oder Stengels in Folge
des Ausgleichs der Druckdifferenzen in den an den Collenchymring
eines Gelenkes grenzenden Reizleitungszellen der Turgor plötzlich
sinkt, so üben die sich contrahirenden Zell wände der ihren Durch-
messer verkleinernden Reizleitungszellen auf das benachbarte Collen-
chym einen kräftigen Zug aus; wegen der Geschmeidigkeit dieses
letzteren pflanzt sich diese Zerrung durch den aus 2 — 3 Zelllagen
bestehenden Ring leicht bis auf die innerste Schicht des reizbaren
Parenchyms fort. Ist hier die mechanische Intensität der einem ein-
zelnen Stosse gleichkommenden Zerrung gross genug, so wird die
Reizbewegung ausgelöst, und die unter Wasseraustritt sich contra-
hirenden Zellen bewirken durch die von ihnen ausgehende Zerrung
die Reizung aller übrigen reizbaren Zellen des Gelenkes." (Haber-
454 Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
lanclt 1. c. p. 53.) Noch viel schwieriger ist es, den Mechanismus
der Reizübertragung von dem erschlaffenden Parenchym des sich
krümmenden Gelenkpolsters auf die Reizleitungszellen und wiederum
von diesen auf das reizbare Parenchym eines benachbarten Gelenkes
nach einem einfachen Stoss reize oder bei chemischer oder
thermischer Reizung zu erklären. In diesem Falle könnten nur die
mit der Erschlaffung der reizbaren Gelenkhälfte, sowie der sich an-
schliessenden Krümmung des Gelenkes verbundenen Pressungen
möglicherweise eine zur Vermittlung der Reizfortpflanzung ausreichende
Störung des hydrostatischen Gleichgewichtes im reizleitenden System
bewirken. Wenn allerdings Haberlandt von einer dabei statt-
findenden Bewegung des Zellsaftes spricht, „genau so, wie sich in einer
Kautschukröhre, in welcher sich Wasser unter einem bestimmten
hydrostatischen Drucke befindet, eine locale Drucksteigerung in Form
einer Berg- oder Spannungswelle von einem Röhrenende zum andern
fortpflanzt", so scheinen mir die anatomischen Verhältnisse der „reiz-
leitenden" Zellen für eine solche Vorstellung nicht eben sehr zu
sprechen. Unter allen Umständen dürfte eine abermalige Untersuchung
der Reizleitung bei M i m o s a durchaus erforderlich sein , ehe ein ab-
schliessendes Urtheil gefällt werden kann und würden sich vielleicht
gerade die galvanischen Folgewirkungen der Reizung als ein zweck-
entsprechendes Hülfsmittel der Untersuchung verwerthen lassen.
Wie dem immer sein mag, sicher beruht in andern Fällen die
Reizleitung auf Plasmaerregung unter einander zusammen-
hängender Zellen und dürfte dies unter Anderem wohl auch für
D i o n a e a gelten.
Wie bei Mimosa werden auch hier die sichtbaren Reizbe-
wegungen durch Wasserverschiebung bewirkt und ist die normale
Stellung des ungereizten Blattes das Resultat des Gleichgewichtes
zwischen 2 Kräften: einer, die sich bestrebt, das Blatt zu schliessen,
und einer andern, die dasselbe zu öffnen strebt. Die Zellen der Ober-
seite des ruhenden (offenen) Blattes sind stark turgescent, ähnlich jenen
der Unterseite der Gelenkwülste von M i m o s a. Denkt man sich, wie
Munk bemerkt, den Gelenk wulst des primären Blattstieles der Mimosa
flächenhaft ausgebreitet und mit dessen eigenthümlicher Nervatur an
Stelle seines Holzkörpers ausgestattet, so erhält man in physiologischer
Hinsicht einen Dionaea-Blattflügel, nur mit der reizbaren Seite
nach unten gekehrt, und man gewinnt im Wesentlichen das ganze
Blatt, wenn man sich zwei derartig veränderte Gelenkwülste unter
rechtem Winkel so mit einander verbunden denkt, dass das reizbare
Parenchym der Wülste ununterbrochen über das Verbindungsstück
hinwegzieht.
Es übt daher die obere Zellenlage einen Druck auf die untere
aus, so dass sich das GleichgCAvicht in folgender Weise bestimmt: auf
der unteren Seite das Streben des zusammengepressten Gewebes
sich auszudehnen, länger zu Averden, und auf der oberen starke
Turgescenz, welcher jedoch die Elastizität der Zellhäute entgegenwirkt,
die sich bestreben, sich zusammenzuziehen. Wenn nun in Folge der
Reizung Wasser aus den Zellen der Oberseite austritt, so wird das
Gleichgewicht gestört (Ba talin 16) und ein neuer Zustand herbei-
geführt, der durch eine wesentliche Erschlaffung und Verkürzung der
oberen Schichten charakterisirt ist, die allerdings auch am geschlossenen
Blatte nie bis zu völliger Gleichgewichtslage geht, da dies durch die
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 455
Berührung der sich begegnenden Blattflügel gehindert wird. Es ergiebt
sich dies sehr klar aus dem Umstände, dass nach Abschneiden eines
Flügels nahe der Mittelrippe, der andere bei seiner Reizbewegung
beträchtlich über die Stellung hinausschlägt, welche er am unversehrten
geschlossenen Blatte zeigt. Mit der Verkürzung der oberen Schichten
bei der Schliessung geht eine entsprechende Verlängerung der unteren
Hand in Hand, so dass jeder Blattflügel aus der nach unten concaven
Form in die nach oben concave übergeht. Bei der Oeff"nung des Blattes
verhält sich natürlich alles umgekehrt, wie bei der Schliessung. Das
vorher erschlaffte und verkleinerte obere Parenchym dehnt sich jetzt
unter Wachsen des Turgors seiner Zellen aus und gewinnt dadurch
seine Spannung wieder. Nach Messungen von Darwin bedingt die
Verkürzung der oberen Schichten an einem Blattflügel von 10 mm
Breite nur eine Verschmälerung um ca. 0,6 mm. Besonders deutlich
lässt sich dies zeigen, wenn man nach Abtragung einer Blatthälfte an
der Ober- und Unterfläche der anderen 2 Punkte markirt und dann
eine Reizbewegung auslöst; der Abstand jener Marken ändert sich
hierbei in entgegengesetztem Sinne.
Mit den geschilderten Reizbewegungen des Dionaeablattes (sowie
auch der Blätter vonMimosa) verknüpfen sich nun sehr bemerkens-
werthe elektromotorische Wirkungen, die, wie schon erwähnt, zuerst
von Burdon- Sander so n als „negative Schwankung" be-
schrieben worden sind. Als Resultat seiner ersten Beobachtungen
theilte Burdon-Sanderson Folgendes mit:
a) „Wenn das Blatt so auf die Elektroden aufgelegt wird, dass
der normale Strom bei Ableitung von den beiden Blattenden durch
eine Ablenkung der Nadel nach links angezeigt wird und man gestattet
einer Fliege, in dasselbe zu kriechen, so schwingt die Nadel in dem
Momente, wo die Fliege das Innere erreicht und so die sensitiven
Haare der oberen Fläche berührt, nach rechts, während gleichzeitig
das Blatt sich über der* Fliege schliesst.
b) Nachdem die Fliege gefangen ist, schwingt die Nadel jedesmal,
Avenn jene sich bewegt, nach rechts.
c) Dieselbe Reihe von Erscheinungen tritt ein, wenn die sensitiven
Haare mit einem feinen Pinsel berührt werden, oder wenn 2 Platin-
elektroden von oben her in das Blatt eingestochen und demselben die
Ströme eines Schlitteninductoriums zugeführt werden. Die Erscheinungen
variiren, je nachdem das Blatt an verschiedeneu Stellen seiner oberen
Fläche gereizt wird. Am wirksamsten erweist sich Reizung der mitt-
leren Partie, worauf negative Schwankung nach einem Intervall von
^U — ^12 See. folgt.
Bei Ableitung von den beiden Enden der Mittelrippe an der
Unterseite des Blattes ohne oder auch mit Compensation des be-
stehenden, von der Basis zur Spitze gerichteten Stromes beobachtete
Munk als Folge der Reizung eines der empfindlichen Haare stets
eine Doppelschwankung, und zwar eine positive Seh wan-
kung mit negativem Vorschlag, und es ist dies selbst dann
der Fall, wenn jede sichtbare Reizbewegung des Blattes gänzlich
ausbleibt. Bisweilen sah Munk dem negativen Vorschlag noch einen
positiven vorausgehen, so dass eine complicirte dreitheilige Schwan-
kungscurve resultirt, doch war dies blos bei wirklicher Bewegung
des gereizten Blattes der Fall. Besteht von vorne herein keine Span-
nungsdiff"erenz beider Ableitungspunkte, so tritt nichtsdestoweniger
456 Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
eine Doppelschwankung bei der Reizung hervor, indem der Spiegel
zuucächst sehr rasch im Sinne eines aufsteigenden Stromes ausschlägt,
Avoran sich eine Avesentlich schwächere, entgegengesetzte Ablenkung
anschliesst. Bei Ableitung von 2 in derselben „Querlinie" nach Innen
von der „Haupt-Längslinie" gelegenen Punkten der unteren ßlattfläche
tritt als Keizerfolg eine rein positive Schwankung ein, oder es geht
ihr höchstens ein spurweiser negativer Vorschlag voraus. Alle diese
elektrischen Vorgänge fallen zum grossen Theil in die Zeit des mecha-
nischen, immer leicht wahrnehmbaren Latenzstadiums , d. h. in die
Periode, welche sich zwischen dem Reizmoment und dem Beginn der
eventuellen Blattbewegung einschiebt. Vom Standpunkte seiner theo-
retischen Anschauungen über den Aufbau des Dionaeablattes aus
elektromotorisch wirksamen Elementen (den „peripolaren" Zellen) liegen
zur Erklärung der 2 aufeinanderfolgenden, entgegengesetzten Phasen
jeder einzelnen Reizschwankung offenbar 3 Möglichkeiten vor, deren
Erörterung mit der Darstellung der beobachteten Thatsachen in der
M u n k ' s c h e n Abhandlung so innig verwebt ist, dass es , wie schon
Bur don- Sander son hervorhebt, in der That sehr schwer ist, Be-
obachtung und Theorie zu trennen.
Die Doppelschwankung könnte in ähnlicher Weise zu Stande
kommen, Avie etwa die phasischen Actionsströme bei Muskeln und Nerven,
d. h. dadurch, dass die elektromotorischen Elemente an beiden Ableitungs-
stellen nicht gleichzeitig dieselbe durch die Reizung bewirkte Ver-
änderung (etwa eine negative Kraftschwankung) erleiden, oder es könnten
alle Elemente gleichzeitig und in gleichem Sinne, in beiden Phasen aber
entgegengesetzte Veränderungen erfahren, oder endlich, und dies ist
die Annahme, zu Avelcher Munk durch Ausschliessung der beiden
anderen gelangt, es könnten 2 verschiedene Arten elektromotorischer
Elemente vorhanden sein, Avelche durch die Reizung in entgegenge-
setztem Sinne verändert werden, wobei die Veränderung in den einen
ihren Höhepunkt später erreicht, als in den anderen. „In Folge der
Reizung erfahren nach M u n k die Zellen der oberen Hälfte der Blatt-
flügelparenchyme und des oberen Mittelrippenparenchyms eine negative,
die Zellen der unteren Hälfte der BlattflUgelparenchyme und des
unteren Mittelrippenparenchyms eine positive Schwankung; d. h, die
Negativität der Mitte der Zellen gegen ihre Pole nimmt in Folge der
Reizung bei den ersteren Zellen ab, bei den letzteren Zellen zu. Mit
grosser Geschwindigkeit müssen diese Veränderungen sich von
dem Orte der Reizung aus durch die ganze Zellenmasse fortpflanzen
in einer Zeit, die nur klein ist gegen die Dauer des Vorganges in der
einzelnen Zelle, da anderenfalls Unterschiede in den elektrischen Er-
scheinungen je nach dem Orte der Reizung sich hätten kundgeben
müssen." Munk glaubt daher, ohne Avesentlichen Fehler den elek-
trischen Vorgang in allen zusammengehörigen Zellen als gleichzeitig
annehmen zu können , was , soferne die Leitung eine plasmatische ist,
bei der zweifellos geringen Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung
im pflanzlichen Plasma an sich höchst unwahrscheinlich ist. Aber
auch die Grundanschauung Munks von der peripolaren Beschafi"en-
heit der Zellen des Blattparenchyms bedarf zur Zeit Avohl nicht erst
einer Widerlegung, da sie der Du Bois'schen Molekulartheorie nach-
gebildet, dieselbe auf sichtbare Elemente überträgt, deren Bau und
Beschaffenheit jede derartige Vorstellung Avohl von vorneherein aus-
schliesst. Es ist eine durchaus Avillkürhche Annahme, die Mitte der
Die elektromotorischen "Wirkungen pflanzlicher Zellen. 457
in Betracht kommenden Zellen für dauernd negativ gegen die beiden
Enden zu halten, die geradezu unmöglich wird, wenn etwa das Plasma
Strömungen zeigt.
Die neueren Untersuchungen von B u r d o n - S a n d e r s 0 n (17)
haben die betreffenden Erscheinungen dem Verständniss wesentlich
näher gebracht.
Um die Reizbewegungen des Blattes von vorneherein auszu-
schliessen, wurden die beiden Flügel durch erhärtenden Gyps, welcher
an beiden Enden der Mittelrippe aufgetragen wurde, sowie durch ein
Stückchen trockenen Holzes lixirt, welches zwischen beiden Rändern
der Blattflügel mit Gyps an die Randstacheln befestigt wurde (Fig. 142).
Ausserdem wurde für Erhaltung der günstigsten Temperatur (32—
35 "^ C.) gesorgt und die Pflanze in einer feuchten Kammer gehalten.
In Bezug auf die elektromotorischen Wirkungen während der
Ruhe stellte sich nun im Gegensatz zu den früheren Angaben von
Munk vor Allem die wichtige Thatsache heraus, dass in der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle die beiden entgegengesetzten
Flächen jedes Blatt flüg eis, die äussere und die innere
Fig. 142.
(resp. obere und untere), sich zu einander elektrisch
different verhalten, so dass bei Ableitung von entgegen-
gesetzten Punkten der Ober- und ünterfläche ein Strom angezeigt
wird , entweder in dem Sinne , dass die letztere sich zur ersteren
positiv verhält (was Burdon-Sanderson ursprünglich für normal
hielt) oder umgekehrt. Der Grad der Positivität und damit die Grösse
der Spannungsdifferenz und des Blattstromes im ersteren Falle hängt,
wie sich bald zeigte, ganz wesentlich von dem physiologischen Zustande
des Blattes ab, und zwar vor Allem von vorhergehenden Reizungen.
Lässt man nach Compensation des Ruhestromes mechanische oder
andersartige Reizungen hintereinander in ziemlich rascher Folge auf
ein Blatt wirken, dessen Unterfläche bereits positiv ist, so findet man
ausnahmslos eine erhebliche Zunahme der Positivität der betreffenden
Blattfläche. Nur ganz allmählich tritt dann während der folgenden
Ruhezeit eine Abnahme des Stromes ein, die bei gleicher Ableitungs-
weise bis zu völliger Stromlosigkeit führt und schliesslich tritt, Avie
schon bemerkt, ein entgegengesetzter Strom hervor, entsprechend
Negativität der unteren (äusseren) und Positivität der
oberen (inneren) Blatt fläche, ein Zustand, den man nach
Burdon-Sandersons späteren Mittheilungen als den eigentlich
normalen des längere Zeit nicht gereizten Blattes anzusehen hat. An
einem solchen ist also der Blattstrom mit Rücksicht auf die innere
Oberfläche aussteigend. Reizt man in einem solchen Falle, so sieht
man, wie zu erwarten war, die umgekehrten Veränderungen erfolgen,
Biedermann, Elektrophysiologie. 30
458
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
wie bei von vorneherein einsteigendem Blattstrom : die positive Ober-
seite wird plötzlich negativ gegen die Unterfläche, so dass der Blatt-
strom wieder einsteigend wird. Es lässt sich also sagen, dass die
untere Blatt fläche um so weniger positiv resp. um so
mehr negativ erscheint, je längere Zeit seit der letzten
Reizung verflossen ist. Der Ruhestrom erscheint daher
durchaus abhängig von vorhergehenden Reizungen des
Blattes und ist bei einsteigender Richtung in gewissem
Sinne als Nachwirkung derselben aufzufassen.
Es ist klar, dass unter diesen Umständen das Studium der Reiz-
erfolge dem der Ruhewirkungen eigentlich vorausgehen muss. Leitet
man von der Ober- und Unterfläche eines
Blattflügels ab, indem die eine unpolarisir-
bare Elektrode zwischen den 3 sensitiven
Haaren, die andere gerade gegenüber auf
der unteren (äusseren) Fläche angelegt
wird, und reizt man den anderen Blattflügel
mechanisch oder elektrisch, wie dies in bei-
stehender Figur 143 angedeutet ist, so tritt
jedesmal eine doppelsinnige Schwankung
auf, welche mittels des Capillarelektrometers
Fig. 144. Photographische Darstellung der Schwankungen des einsteigenden Blattstromes
bei elektrischer Reizung des einen Flügels. Die Unterbrechungen der schwarzen Linie
entsprechen Oetifnungen des primären Kreises des Inductionsapparates. Zeitintervall je
zweier Reizungen etwa 5 See. Geschwindigkeit der Platte im Mittel 1 cm in 2 See.
(Nach B u r d o n - S a n d e r s 0 n.)
leicht photographisch dargestellt werden kann (Fig. 144). Geht man
von dem Falle eines durch vorhergehende Reizung „modificirten"
Blattes aus, wo die untere Blattfläche sich bereits positiv zur oberen
verhält, so sieht man zunächst kurze Zeit nach der Reizung den Strom
sich umkehren , indem die untere Fläche rasch negativ wird ; nach
ungefähr einer halben Secunde erreicht diese erste Phase ihr Maximum
und es beginnt die zweite, etwas längere und gegensinnige Phase,
welche aber weniger Kraft hat und in etwa V'z Secunden nach der
Reizung ihren grössten Werth erreicht. Sie nimmt, Avie die photo-
graphische Curve unmittelbar erkennen lässt, nur ganz allmählich ab
und verliert sich in die schon erwähnte Nachwirkung, welche durch
gesteigerte Positivität der unteren Blattfläche charakterisirt ist, und es
bedingt, dass nur bei der ersten Reizung die zweite Phase deutlich
ausgeprägt erscheint, während die unmittelbar darauffolgenden nur
Die elektromotorischeu Wirkungen pflanzlicher Zellen. 459
einfache, monophasische Schwankungen bedingen. Es ist dann wieder
längere Ruhe erforderlich , während deren die Positivität der Unter-
fläche langsam abnimmt, ehe wieder die zweite Phase deutlich hervor-
treten kann. Je stärker daher die Positivität der Unterfläche von
vorneherein entwickelt ist, desto weniger wird sie durch Reizung des
Blattes noch gesteigert werden können, desto deutlicher wird dagegen
die primäre, gegensinnige Schwankung sich bemerkbar machen müssen.
Auch an einem nicht „modificirten" Blatte mit aussteigendem
(nach Burdon - Sandersons Bezeichnung „absteigendem")
Blattstrom ist die der Reizung folgende Schwankung bei Ableitung
von gegenüberliegenden Punkten der entgegengesetzten Blattflächen
doppelsinnig. Der ersten im Blatt einsteigenden (im ableitenden
Bogen aufsteigenden) Phase, welche etwa eine Secunde dauert, und
wobei die obere vorher positive Blattfläche plötzlich negativ wird, geht
oft noch eine momentane Aenderung in entgegengesetzter Richtung
voraus, wie auch in Fig. 145 zu bemerken ist. Auch hier tritt der
Fig. 145. Photographische Darstellung der Schwankungen des aussteigenden Blattstromes
bei Reizung des einen Flügels und Ableitung vom andern (wie bei Fig. 143). 10 Striche
der Zeitmarkirung entsprechen 1 See. (Nach Burdon-Sanderson.)
gegensinnige (aus- resp. absteigende) „Nachefi*ect" (die zweite Phase) in
Folge des sehr langsamen Abklingens nur bei der ersten Reizung
deutlich hervor und bleibt bei der unmittelbar folgenden aus.
Es ergiebt sich aus diesen Beobachtungen vor Allem die wichtige
Thatsache, dass das Dionaeablatt unabhängig von der Richtung des
„Ruhestromes" sowohl im nicht „modificirten" wie im modificirten
Zustande reizbar erscheint, nur kehrt sich pari passu mit der
Umkehr des „Ruhestromes" auch die Richtung des galva-
nischen Reizerfolges um.
Man sieht leicht, dass die durch wiederholte Reizungen zu er-
zielende „Modification" des Blattstromes lediglich als Nach-
wirkung der nur sehr langsam abklingenden zweiten
Phase der Reizschwankung aufzufassen ist.
Zu genaueren Zeitbestimmungen, sowie zur Messung der elektro-
motorischen Kraft der Schwankung bediente sich Burdon-Sander-
son eines als Rheotom eingerichteten Pendelmyographions, durch dessen
Schwingung der Reihe nach 3 Contacte geöffnet wurden, wie dies
Fig. 146 zeigt. Durch Kj wird der reizende Oeffnungsinductionsschlag
ausgelöst (0.1" nach Beginn der Schwingung); die Oeffnung von Kg
beseitigt eine Nebenschliessung zum Galvanometer und Kg endlich
öffnet den Boussolkreis definitiv. Der Abstand zwischen Ki und Kg
sowie zwischen Kg und K3 ist variabel zu machen. Auf die Resultate
derartiger Versuche wird später noch zurückzukommen sein; hier sei
30 *
460
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
nur bemerkt, dass Burdon-Sanderson mit Hülfe des Compensations-
verfahrens die elektromotorische Kraft der 1. Phase zu etwa 0.08 Dan.
bestimmte, während die der 2. 0.82 Dan. nicht überstieg.
Benützt man zur Reizung der einen oder andern Blatthälfte Oeflfnungs-
inductionsschläge, wobei die Elektroden gewöhnlich so, wie es Fig. 143
andeutet, an entgegengesetzten Punkten der beiden Blattflächen, etwa
deren Mitte entsprechend, angelegt werden, so müssen die Rollen des
Schlittenapparates einander ziemlich weit genähert werden (gew. auf
etwa 10 cm), um eine Wirkung zu erzielen. Dabei ist die Richtung
des inducirten Stromes keineswegs gleichgiltig, indem eine solche viel
früher erfolgt, wenn der Strom von der oberen nach der unteren Fläche
fliesst, als im umgekehrten
Falle. Dasselbe gilt übrigens
auch bei Anwendung von
Kettenströmen. Wird ein
solcher von massiger, zu
wirksamer Reizung eben
genügender Stärke in der
Richtung von der Ober- zur
Unterseite (einsteigend) quer
durch eine Blatthälfte ge-
schickt, so erfolgt bei Ab-
leitung von der anderen, in
der Regel nur bei der
Schliessung eine Reiz-
schwankung des Blatt-
stromes. Stärkere Ströme
(1 Dan. bis 2 Grove) wirken
dagegen auch bei der Oeff-
nung erregend und führen bei langer Schliessungszeit (30") als sicht-
bares Zeichen der Dauererregung noch während der Schliessung
zur Auslösung einer ganzen Reihe von Schwankungen des Blattstromes,
welche sich in unregelmässigen Intervallen folgen.
In sehr ausgezeichneter Weise lässt sich am D i o n a e a b 1 a 1 1 e
auch die Thatsache der Reizsummation nachweisen, wenn man
Reize (Oeffnungsinductionsschläge) von so geringer Intensität benützt,
dass ein einzelner für sich nicht genügt, um einen Erfolg zu bewirken
und das Intervall zwischen je 2 Reizen kleiner als 0.4" macht. Bei
0.5" wird der Erfolg schon unsicher. Dies gilt übrigens ebensoAvohl
für den mechanischen wie für den galvanischen Reizerfolg.
Der „modificirte" Zustand des Blattes, wobei, wie schon erwähnt,
die Unterfläche sich positiv zur oberen verhält, tritt nicht nur in Folge
öfters wiederholter mechanischer oder elektrischer Reizungen, sondern
auch als Nachwirkung andauernder Durchströmung mit dem Ketten-
strom hervor. Wird ein solcher mittels unpolarisirbarer Elektroden
durch einen Blattflügel senkrecht zu dessen Fläche hindurchgeleitet
und dienen jene wie unter Umständen auch bei Polarisationsversuchen
an Muskeln gleichzeitig als ableitende Bussolelektroden, so beobachtet
man, wenn in geeigneter Weise der Bussolkreis sofort nach Oeffnung
des Reizkreises geschlossen wird, stets einen einsteigenden, im Blatte
von oben nach unten gerichteten Nachstrom, welche Richtung auch
immer der polarisirende Strom haben mag. Allerdings erweist sich
Fig. 146.
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 461
aber ein dem Nachstrom gleichgerichteter Reizstrom unter sonst
gleichen Umständen viel wirksamer.
Burdon-Sanderson bediente sich bei diesen Versuchen eines
eigens zu dem Zweck construirten Rheotoms, das nur 3 Umdrehungen
in der Minute machte und daher den polarisirenden Strom in 20 See.
einmal für ^lo — ^/lo See. schloss; nach einer Uebertragungszeit von
^lo" wurde dann der Bussolkreis für die Dauer von ^/lo" geschlossen
und der eventuelle Ausschlag beobachtet,
„Wenn der (polarisirende) Strom relativ schwach ist, so nimmt
die Nachwirkung allmählich ab und verschwindet in wenigen Secunden,
wenn jedoch etwas stärkere Ströme angewendet werden, so verschwindet
die Nachwirkung nur theilweise und hinterlässt eine permanente
Aenderung (Modification) im elektromotorischen Verhalten des Blattes."
Bei mehrfach in regelmässigen Intervallen von etwa 20" wieder-
holter Schliessung des polarisirenden Stromes entwickelt sich der modifi-
cirte Zustand sehr rasch und erreicht sehr erhebliche Grade. „Bei
einem Blatte war z. B. vor der Durchströmung die untere Fläche der
oberen gegenüber negativ (Spannungsunterschied = 140 Compensator-
grade); es reducirten 4 Durchströmungen den Spannungsunterschied
auf Null, hiernach wurde die untere Fläche der oberen gegenüber
positiv und jede Durchströmung vergrösserte die Wirkung, bis sie
320 Compensatorgrade erreichte." Aehnlich wie an Muskeln secundär
elektromotorische Erscheinungen als galvanischer Ausdruck polarer
Stromeswirkungen ganz unabhängig von sichtbaren Erregungserschei-
nungen auftreten , so sah auch Burdon-Sanderson schon so
schwache Ströme „modiiicirend" wirken, dass auf deren Schliessung
keine Spur von Erregungsreaction erfolgte. Auch bleibt dann die
„Modification" local und wird nicht fortgeleitet, so dass ein Blattflügel
oder gar nur ein Theil eines solchen verändert sein kann, ohne dass
auch die Umgebung daran Theil nähme. Auch in dieser Beziehung
darf an das Verhalten der polaren Nachströme an Muskeln erinnert
werden.
Es wird so auch verständlich, dass je nach der Lage der abge-
leiteten Punkte auf den entgegengesetzten Flächen eines nur theilweise
„modificirten" Blattes die durch eine fortgeleitete Erregung ausgelösten
Reizschwankungen sich gerade entgegengesetzt verhalten können, in-
dem jene in dem modiflcirten Gebiete eine Doppelschwankung mit
anderen Zeichen auslöst, wie in dem nicht modiflcirten (normalen).
Wie oben erwähnt wurde, hatte H. Munk seinerzeit die Be-
hauptung aufgestellt, dass die Lage des Reizortes am D i o n a e a blatte
ohne jede Bedeutung für den Charakter der dadurch ausgelösten elek-
trischen Schwankung sei und aus diesem Umstände gefolgert, dass sich
die Fortpflanzung der dem Reizeftekt (der Bewegung) zu Grunde
liegenden Veränderungen so rasch vollziehe, dass dieselben so zu sagen
gleichzeitig an allen Punkten beginnen. Die Untersuchungen von
Burdon-Sanderson haben gezeigt, dass diese Vorstellung, Avelche,
wenn es sich bei den Reizbewegungen der Pflanzen überhaupt um
Etwas handelt, was der Erregung plasmatischer Theile entspricht,
von vornherein im höchsten Grade unwahrscheinlich ist, in der
That nicht als zutrefl^end erweist. Ofl"enbar dürfte unter der Voraus-
setzung der Richtigkeit der Ansicht von M u n k bei symmetrischer
Ableitung von der Ober- oder Unterseite beider Blattflügel ein
galvanischer Reizerfolg überhaupt nicht hervortreten, auch wenn nur
462
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
einseitig gereizt wird (Fig. 147). Das Auftreten einer Schwankung unter
diesen Umständen würde sich nur dann erwarten lassen, wenn entweder
die Intensität oder das zeitliche Auftreten der Erregung beider Flügel
Verschiedenheiten darbieten würde, etwa in gleicher Weise, wie zwischen
2 Muskelpunkten nur dann eine elektrische Spannungsdiflferenz ent-
stehen kann, wenn entweder der physiologische Zustand beider ab-
geleiteter Punkte verschieden ist oder wenn derselbe Zustand sich
an beiden Stellen ungleichzeitig entwickelt.
In der That lehrt nun die Erfahrung, dass bei der genannten Art
der Ableitung ausnahmslos galvanische Reizwirkungen beobachtet
werden, wie dies ein Blick auf die beistehenden Curvenbeispiele,
Fig. 148 a. h, ohne Weiteres zeigt. Es handelt sich hier um ein Blatt,
welches in der Fig. 147 dargestellten Weise von der Unterseite symme-
trisch abgeleitet und durch Oeffnungsschläge gereizt wurde. An Stelle
der Bussole befand sich ein Capillarelektrometer , dessen Ausschläge
photographisch fixirt wurden. Stets wird
~ der direkt gereizte Flügel zuerst
negativ, dann positiv gegen den
anderen, so dass eine diphasische Schwan-
kung entsteht von ähnlichem Charakter, Avie
etwa bei Ableitung von zAvei Punkten der an
sich stromlosen Oberfläche des Herzventrikels.
Die gleiche Thatsache lässt sich natürlich
auch mittels des Galvanometers unter An-
^'^' ^^'^" Wendung des Rheotomverfahrens nachweisen.
Fig. 148.
Um zu einer befriedigenden Deutung dieses „phasischen Actions-
stromes" zu gelangen, erscheint es natürlich vor Allem wichtig, die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung (des Reizeffectes?) im
Blattparenchym zu bestimmen.
Um dieses Ziel zu erreichen, bediente sich Burdon-Sanderson
des Pendelrheotoms, mittels dessen es leicht gelingt, die Zeit zwischen
dem Moment der Reizung und dem ersten Beginn der darauffolgenden
elektrischen Schwankung des Blattstromes genau festzustellen. Der
letztere wurde wieder wie früher von der Mitte der gegenüberliegenden
Flächen eines Blattflügels abgeleitet. Bei einer ersten Versuchsreihe
wurden nun die Reizelektroden beiderseits von der einen ableitenden
Elektrode an der Blattoberfläche angelegt, so dass eine sie verbindende
gerade Linie durch die Ableitungsstelle führte. Dabei ergab sich, dass die
erste merkliche Spur der 1. Phase der Reizschwankung im Mittel 0,041"
nach dem Moment der Reizung hervortritt. Braucht nun die Erregung
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 463
Zeit zu ihrer Fortpflanzung, so ist klar, class bei unveränderter Lage
der ableitenden Elektroden das „Latenzstadium" merklich grösser aus-
fallen muss, wenn die Reizung an dem andern nicht abgeleiteten Blattflügel
erfolgt. In der That zeigte sich dies bei den Versuchen B u r d o n - Sander-
sons, indem dann das Intervall zwischen Reizung und Beginn der
Schwankung im Mittel auf 0,073" stieg. Hieraus ergiebt sich, wenn man den
Abstand der beiden nacheinander gereizten Stellen zu 6 mm rechnet, eine
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung von etwa
200 mm in der Secunde (bei einer Temperatur von 30—32*^ C. in wasser-
dampfgesättigter Luft). Man hätte vielleicht eine noch aufi'allendere
Verschiedenheit der Latenzstadien in beiden Fällen erwarten können
unter der Voraussetzung, dass wie auch beim Muskel an der Reiz-
stelle selbst eine wirkliche Latenzzeit des galvanischen Reiz-
erfolges fehlt. Indessen dürften der einwandfreien Ausführung eines
solchen Versuches, bei welchem Reiz- und Ableitungsstelle völlig zu-
sammenfallen , kaum überwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen,
unter denen nicht die geringste jene sein wird, wirklich den allerersten
Anfang der Schwankung zeitlich mit hinreichender Genauigkeit zu
bestimmen.
Gegen die Annahme von B u r d o n - S a n d e r s o n , dass die elek-
trische Schwankung mit dem ersten Anfang des Erregungsprocesses
zeitlich nicht zusammenfällt, möchten Avohl dieselben Gründe geltend
zu machen sein, welche schon bei Erörterung der Beziehungen zwischen
Reiz- und Contractionswelle des Muskels hervorgehoben wurden. Ist
die galvanische Veränderung wirklich der Ausdruck der durch den
Reiz gesetzten chemischen, so muss sie auch gleichzeitig mit dieser,
d. h. im Momente der Einwirkung des Reizes, beginnen.
Auf Grund aller mitgetheilten Erfahrungen kann es keinem
Zweifel unterworfen sein, dass die primäre Phase der Reizschwankung
als eine Begleiterscheinung und unmittelbare Folge der Erregung
des Protoplasmas der reizbaren Blattparenchymzellen anzusehen ist,
als eine Erscheinung durchaus vergleichbar den galvanischen Folge-
wirkungen der Erregung irritabler t h i e r i s c h e r Gebilde , der
negativen Schwankung der Muskel, Nerven oder Drüsenströme; man
darf daher erwarten, dass auch die zeitlichen Beziehungen zwischen
den galvanischen und mechanischen Reizerfolgen beim Dionaeablatt
ähnliche sein werden, wie beim Muskel, wobei allerdings die princi-
pielle Verschiedenheit der Bewegungs Ursache in beiden Fällen wohl
zu berücksichtigen bleibt. Zunächst ergiebt sich aus dem Vorstehenden
unmittelbar, dass die Reiz seh wankungen des „Ruhe Stromes"
von grob wahrnehmbaren Bewegungen der Blatt flügel
gänzlich unabhängig sind und sich sowohl am lixirten offenen
wie am gänzlich geschlossenen Blatte nachweisen lassen. Dabei bleibt
freilich, wie Burdon-San derson richtig bemerkt, zu erwägen, „ob
die interstitielle Bewegung der (bei der Reizung aus den Zellen aus-
tretenden) Flüssigkeit, welche in allen reizbaren Pflanzenorganen die
bewirkende Ursache der Formänderung ist, nicht beginnen kann, ohne
sich durch irgend eine Veränderung in der Curvatur des Flügels zu
zeigen, wie fein die Beobachtungsmittel auch sein mögen". Es würde
dies unter der Voraussetzung anzunehmen sein, dass jede Reizung,
welche überhaupt eine elektrische Veränderung veranlasst, auch immer
schon einen merklichen Wasseraustritt aus den gereizten Zellen ver-
ursacht. Dass ferner zwischen dem Moment der Reizung und der
464 Diß elektromotorischeu Wirkungen pflanzlicher Zellen.
darauffolgenden Schliessung des Dionaeablattes eine merkliche Zeit
verfliesst, lässt sich in der Regel leicht durch die unmittelbare Be-
obachtung constatiren, da bei nicht zu hoher Temperatur das mechanische
Latenzstadium so zu sagen makroskopisch ist und beispielsweise bei
20 ^^ C. ungefähr 1" beträgt. Unter allen Umständen geht die
elektrische Schwankung der Reizbeweg ung lange vor-
aus. Zur genaueren Untersuchung bediente sich Burdo n- Sande r-
son zweier verschiedener Methoden. Im einen Falle „wird ein leichter
Strohhebel an zwei der Randstacheln eines Blattflügels gekittet, während
der gegenüberliegende Flügel an einem Träger befestigt wird. Der so
befestigte Flügel wird mechanisch auf eine solche Weise gereizt, dass
die Zeit des reizenden Stosses auf eine sich horizontal bewegende,
berusste Glasfläche unterhalb der von dem Strohhebel markirten Curve
aufgezeichnet wird".
Bei der zweiten Methode wird das Blatt auf dieselbe Weise befestigt —
aber ein kleiner Spiegel an die untere Fläche des beweglichen Flügels
gekittet, mittels dessen das Bild eines horizontalen Spaltes auf eine
verticale Scala geworfen wird, welche so angeordnet ist, dass die Hebel-
bewegung des Flügels genau gemessen werden kann.
Es stellte sich heraus, dass bei einer Temperatur von 15 — 20" C.
die einer einmaligen, hinreichend kräftigen Reizung folgende Schliess-
bewegung des Blattflügels etwa 5—6" dauert und derart verläuft, dass
sie anfangs rasch und dann mit abnehmender Geschwindigkeit erfolgt.
Bei wiederholten, an sich sehr schwachen mechanischen Reizen
(zarte Berührung eines der sensitiven Haare), von denen jeder einzelne
nicht zu völliger Schliessung des Blattes führt, beobachtete Burdon-
Sanderson eine Erscheinung, welche in gewisser Hinsicht an die
„Treppe" bei directer Muskelreizung erinnert, indem der mechanische
Effekt der Bewegung bei jeder folgenden Reizung grösser war als bei
der vorhergehenden. Man Avird dieses Verhalten mit Burdon-
Sanderson aber wohl nur dem Umstände zuschreiben müssen, dass
der durch den Turgor der Zellen der Blattoberseite bedingte Wider-
stand für die Schliessbewegung mit jeder neuen Reizung sich ver-
mindert. „Der Betrag jeder durch Reizung veranlassten Verminderung
des Widerstandes wächst mit jeder Wiederholung der Reizung, bis am
Ende das Blatt zusammenklappt."
Man darf mit Bestimmtheit annehmen, dass galvanische Reiz-
wirkungen ganz ähnlicher Art, wie beim Dionaeablatte, auch an den
Gelenkpolstern der nicht minder reizbaren Mimosenblätter nach-
weisbar sein werden. Leider Hegen aber bisher nur wenige Be-
obachtungen vor. Kunkel, welcher, wie schon erwähnt, bei der von
ihm benützten Ableitungsmethode einen auffallend starken „Ruhestrom'"
am Wulste des primären Blattstieles fand, indem sich der Stachel
positiv zum oberen Umfang des Gelenkpolsters verhält, beobachtete
mittels des Capillarelektrometers eine aus mehreren alternirend ge-
richteten Oscillationen bestehende Schwankung dieses Stromes in dem
Momente, wo durch Berühren der reizbarsten Stelle des unteren Um-
fanges des Blattstielwulstes die Bewegung des Blattstieles nach unten
beginnt.
Zuerst kommt ein rasch verlaufender kleiner Vorschlag, dem un-
mittelbar ein meist viel bedeutenderer, entgegengesetzt gerichteter
Ausschlag folgt. Von der äussersten Grenze dieses letzteren kehrt die
Quecksilbersäule langsam wieder zurück und erreicht entweder ihre
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 465
Ruhestellung oder zeigt noch mehrere kleinere und immer länger ge-
zogene Oscillationen.
Die Schwierigkeiten einer Deutung dieser komplicirten Reiz-
schwankungen auf Grund seiner Theorie hat Kunkel sehr wohl ein-
gesehen und erklärt sich „nicht entfernt im Stande", dieselben „auf
einzelne Phasen prävalirender Wasserverschiebung zurückzuführen".
Den ersten raschen negativen Vorschlag möchte er auf „Alterationen"
des Protoplasma beziehen, welche die durch das Anlegen der feuchten
Elektroden verursachten und dem Ruhestrom zu Grunde liegenden
Diffusionsvorgänge stören. Der grosse positive Ausschlag ist ihm da-
gegen „der Ausdruck der grossartigen Wasserverschiebungen, die die
Bewegung des ganzen Blattes zur Folge haben; der (negative) Rück-
schlag entspricht der Restitution des Organes zum früheren Zustand.
Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass, wie auch schon Kunkel
bemerkte, bei Mimosa gerade wie bei Dionaea elektrische
Schwankungen auch dann noch beobachtet Averden, wenn nach wieder-
holten Reizungen keine merklichen Bewegungen des Blattes mehr er-
folgen und daher wohl auch von irgend erheblichen Wasserver-
schiebungen kaum die Rede sein kann.
Versucht man es, sich auf Grund der mitgetheilten Erfahrungen
am Dionaeablatte eine Vorstellung zu bilden, hinsichtlich der etwa
möglichen Ursachen der Spannungsdifferenzen im „ruhenden" Zustande
und bei künstlicher Reizung, so ist vor Allem klar, dass dieselben
Principien, welche wir früher für das Auftreten von „Zellströmen" als
maassgebend angenommen haben, in gleicher Weise für die pflanzliche
wie für die thierische Zelle gelten müssen. Es fragt sich nur, ob wir
berechtigt sind, in dem hier vorliegenden Falle, wie bei den ein- und
mehrzelligen thierischen Drüsen, die einzelne Zelle für sich als
elektromotorisch wirksam zu betrachten oder ihr diese Eigenschaft nur
im Zusammenhange mit andern, ungleichartigen Elementen zuzuer-
kennen, ob es sich mit anderen Worten um elektromotorisch wirkende
Zellen oder Zell compl exe handelt. Munk hat bekanntlich eine
Theorie zu entwickeln versucht, welcher die erstere Vorstellung zu
Grunde lag. Freilich in wesentlich anderem Sinne, wie etwa die
einzelne Schleimzelle als elektromotorisch wirksam zu betrachten ist.
Er dachte sich, wie schon erwähnt, dass die Pole jeder Zelle gegen
die Mitte sich positiv verhalten und dass infolge einer Reizung der
Spannungsunterschied zwischen den Polen und der negativen Aequator-
zone entweder abnimmt (und dies sollte in den oberen Parenchym-
schichten der Fall sein) oder zunimmt (in den Zellen der Unterseite).
Da in dem Bau der betreffenden Zellen nicht der geringste Anlass für
eine derartige, völlig willkürliche Hypothese gegeben ist, und die
Theorie ausserdem nicht im Stande ist, die von Burdon -Sander son
entdeckten regelmässigen Spannungsdifferenzen zwischen Ober- und
Unterseite zu erklären, so bliebe höchstens noch die kaum minder will-
kürliche Annahme einer stetigen (chemischen) Verschiedenheit und
dadurch bedingten elektrischen Differenz zwischen der oberen und
unteren Hälfte jeder Parenchymzelle der Blattoberseite übrig, etwa
vergleichbar der Spannungsdifferenz zwischen dem freien Ende und
der Basis von Schleimzellen. Man sieht leicht, dass auch für eine der-
artige Vorstellung der Bau und die Anordnung der einzelnen Zellen
in keiner Weise spricht. Vielmehr wird man es mit Bu rdon -Sande r-
s 0 n wohl zweifellos für das Wahrscheinlichste halten müssen, dass die
466 Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen.
Oberfläche einer einzelnen Zelle für sich betrachtet in jedem Zustand
isoelektrisch ist. Es bedarf ferner kaum der besonderen Erwähnung,
dass auch aus der blossen Berührung zweier von Cellulosehüllen um-
schlossener und daher völlig von einander getrennter Plasmakörper
ein Strom auch dann nicht resultiren würde, wenn der eine in allen
seinen Th eil en gleichmässig im Verhältniss zum andern verändert wäre.
Es würde dies ebensowenig der Fall sein, wie ein Muskelstrom entsteht,
wenn etwa eine in allen Punkten gleichstark erregte Muskelfaser mit
einer andern im Ruhezustand befindlichen in Berührung gebracht würde.
Sind aber die Plasmakörper benachbarter Zellen durch Fortsätze irgend-
wie mit einander direct verbunden und so im physiologischen Sinne ein
Ganzes bildend, besteht mit anderen Worten Continuität der Substanz,
so wird stets ein ableitbarer Strom vorhanden sein müssen, wenn inner-
halb der Plasmamasse des Zellaggregates Verschiedenheiten des Chemis-
mus entstehen.
Durch zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre darf es nun
in der That als festgestellt gelten, dass in sehr vielen Fällen und
vielleicht sogar ganz allgemein die Plasmakörper der Pflanzenzellen
durch ihre Cellulosehüllen hindurch mittels zarter Fortsätze miteinander
in unmittelbarem Zusammenhang stehen, wie dies ja auch bei vielen,
thierischen Geweben der Fall ist. Darf man dies auch für die Zellen
des D i 0 n a e a blattes annehmen (für die Zellen der reizbaren Gelenk-
wülste beiMimosa haben Gardin er und Haberland t ein solches
Verhalten direkt nachgewiesen) und besteht demgemäss Continuilät
zwischen dem reizbaren Plasma der oberen und dem nicht reizbaren
der unteren Parenchymzellen, so würden sich alle bisher geschilderten
elektrischen Erscheinungen auf Spannungsdifferenzen zurück-
führen lassen zwischen den sich nicht nur berührenden,
sondern in direkter plasmatischer Verbindung stehen-
den, in verschiedenen und wechselnden physiologischen
Zuständen befindlichen oberen und unteren Zellen.
Von diesem Gesichtspunkte aus wäre es gewiss nicht ohne Inter-
esse auch noch in anderen Fällen das elektromotorische Verhalten
pflanzlicher Organe zu prüfen, wenn sich chemische Difl'erenzen zwischen
verschiedenen Zellschichten von vorne herein vermuthen lassen, wie
z. B. in zahlreichen Fällen, wo es sich um dauernde Unterschiede im
Turgor handelt (springende Früchte, Bewegungsorgane der Bohne etc.).
Auch drüsige Pflanzen theile dürften geeignete Objecto bilden,
wenigstens fand ich bei mehreren Drosera- Arten bei Ableitung vom
Stengel einerseits und der mit kleinen Drüsen dicht besetzten Blatt-
oberfläche anderseits sehr beträchtliche Spannungsdifferenzen.
Ueber das eigentliche Wesen der physiologischen Zustands-
änderungen, welche am reizbaren Dionaeablatt oder am Stengelwulst
von Mimosa den galvanischen Reizwirkungen zu Grunde liegen,
dürfte es zur Zeit ebensowenig möglich sein, sich mit Bestimmtheit zu
äussern, wie etwa bezüglich der elektromotorischen Wirkungen thierischer
Schleimzellen. Doch lassen sich die weitgehenden Analogien der Er-
scheinungen in beiden Fällen kaum verkennen, wie auch Prof. Burdo n-
Sanderson hervorhebt, der die grosse Liebenswürdigkeit hatte, mich
noch besonders auf diesen Punkt hinzuweisen. Wie an der Frosch-
zunge haben wir es auch beim Dionaeablatt mit einem „Ruhe-
strom" zu thun, dessen Zeichen je nach Umständen wechseln kann und
dessen innige Beziehungen zu den galvanischen Reizerfolgen stets und
Die elektromotorischen Wirkungen pflanzlicher Zellen. 467
unverkennbar hervortreten. In beiden Fällen besteht ferner der Reiz-
erfolg in einer häufig doppelsinnigen Schwankung, deren Zeichen durch-
aus von dem jeweiligen Zustand des Organes abhängt. Burdon-
Sanderson hält es demgemäss auch nicht für unwahrscheinlich, dass
wie bei der thierischen Schleimhaut, so auch am Dionaeablatt der je-
weils nach aussen ableitbare Strom die Resultirende aus zwei anta-
gonistischen , sich im Plasma der Zellen abspielenden , chemischen
Processen ist, die, stets gleichzeitig vorhanden, zur Entwicklung gegen-
sinniger Spannungen führen und deren einer die Plasmahaut für Wasser
permeabel macht.
LITERATUR.
1. H. BuflF, Annalen d. Chemie u. Pharmacie. 89. 1854. p. 76 £f.
2. Th. Jürgensen, Stud. d. physiolog. Inst, zu Breslau. I. Heft. 1861.
f li. Hermann, Pflügers Arch. 4. Bd. p. 155 und 27. Bd. 1882. p. 288. Anmerkung,
l J. Müller-Hettlingen, Pflügers Arch. 31. 1881. p. 193.
4. J. Kunkel, Pflügers Arch. 25. Bd. p. 342 und Arbeiten des botan. Inst, zu
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5. Otto Haake, Flora. 1892. p. 454 ff.
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b) Proceedings of the Royal Society. Vol. XXI. Nr. 147.
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c) Centralbl. f. med. Wiss. 1873. Nr. 53. . p. 833.
d) Nature. Vol. X. Nr. 241 u. 242. p. 105 u. 127. 1874.
7. H. Munk, Archiv f. Anat. u. Physiol. 1876. p. 30 ff.
8. F. Kurtz, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1876. p. 1 ft\
9. Darwin, Insektenfressende Pflanzen.
10. E. Brücke, Vorlesungen über Physiologie.
11. Haberlandt, Das reizleitende Gewebesystem der Sinnpflanze. Leipzig 1890.
12. Dutrochet, Recherches anatom. et physiol. sur la structure intime des animaux
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13. Meyen, Neues System der Pflanzenphysiologie. 1839. III. Bd. p. 316.
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15. Pfeffer, Pringsheims Jahrb. f. wiss. Botanik. IX. Bd. 1873. p. 308.
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Biolog. Centralbl. IX. 1889/90. p. 1.
G. Die Nerven und ihre physiologische Function.
I. Bau und Structur der NerTenfasern.
Nicht minder innig wie beim Muskel hängen auch beim Nerven
die Function und die wesentlichsten physiologischen Eigenschaften mit
der feineren Sti-uctur der einzelnen Elemente zusammen , so dass es
hier wie dort geboten erscheint , das Wichtigste hierüber voraus-
zuschicken. Ich werde mich hierbei bloss auf die leitenden Theile,
die Nervenfasern, beschränken, da alle unsere bisherigen Erfahrungen
über elektrische Erregung und elektromotorische Wirkungen sich fast
ausschUesslich auf diese beziehen. Das Nervensystem ist allein den
Thieren eigenthümlich , und zwar auch hier nur den entwickelteren
Metazoen. Den Pflanzen, einzelligen Thieren und niedersten Metazoen
fehlen Nerven vollkommen und wenn in einzelnen Fällen (wie bei den
Reizbewegungen mancher Pflanzen) Wirkungen beobachtet werden,
welche an durch Nerven vermittelte thierische Lebenserscheinungen
erinnern, so lässt sich jederzeit leicht zeigen, dass die Aehnlichkeit
doch nur eine mehr äusserliche ist.
Im thierischen Organismus wird bekanntlich der Wechselverkehr
zwischen entfernten Organen oder Organbezirken im Allgemeinen auf
zweierlei Weise vermittelt : erstlich durch die Bewegung der Ernährungs-
flüssigkeit und dann durch das Nervensystem. Man kann sagen, dass
die erstere den trägeren Verkehr besorgt; Stoffe, welche in dem einen
Organ bereitet oder aufgenommen worden sind, werden weitergeführt,
um entweder nutzbringend verwerthet oder andernfalls ausgeschieden
zu werden. Diesem trägen Verkehr steht der äusserst rasche zwischen
den entferntesten Theilen durch die Nerven gegenüber. Man hat oft
und in ganz entsprechender Weise die Thätigkeit des Nervensystems
mit der Wirkung eines Telegraphennetzes verglichen, und wenn man
sich dabei nur gegenwärtig hält, dass das, was in den Nerven fort-
gepflanzt wird, sicher nicht Elektrizität ist, so bietet der Vergleich
immerhin ein anschauliches Bild. Gerade in Bezug auf den letzt-
erwähnten Punkt hatte man sich jedoch schon vor der Entdeckung
Die Nerven und ihre physiologische Function. 469
der Grundphänomene der Elektrophysiologie sehr übertriebenen Vor-
stellungen zugewendet und stets gehoflftj das Wesentliche der Nerven-
thätigkeit in elektrischen Phänomenen zu finden. Wie beim Muskel
haben sich diese Hoffnungen auch beim Nerven nicht oder wenigstens
nicht in dem ursprünglich erwarteten Sinne erfüllt, und wenn auch
noch neuerdings der misslungene Versuch gemacht wurde, die alte
Lehre von der Identität des Nervenprincipes mit strömender Elektrizität
wieder zu beleben (A Ib recht 1), so kann doch ernstlich nicht davon
die Rede sein. Vielmehr müssen wie beim Muskel auch die elektro-
motorischen Wirkungen der Nerven als Begleiterscheinungen chemischer
Processe aufgefasst werden und wie dort ist ihre eigentliche Bedeutung
noch nicht genügend klargestellt. Stets setzt sich das Nervensystem
zusammen aus zelligen Elementen (Ganglien oder Nervenzellen) und
Fasern, welche als Fortsätze der ersteren aufzufassen sind, so dass je
eine Zelle mit der zugehörigen Faser zusammen eine anatomische und
physiologische Einheit bildet. („Neuron" Waldeyer, „Neuroden-
dron", Nervenbäumchen Kölliker.) Bei ihrem ersten Auftreten sowohl
in phylogenetischer wie ontogenetischer Entwicklung stellen die Nerven-
fasern blasse, mehr oder weniger lange faserige Gebilde dar, die stets
aus besonderen Zellkörpern (Ganglienzellen) entspringend, entweder
verzweigt oder unverzweigt zu peripheren Endorganen hintreten
oder auch verschiedene Ganglienzellen untereinander in Beziehung
setzen. Während bei den niedersten Thierformen dieser Zustand ein
dauernder ist, tritt derselbe bei höheren Thieren nur vorübergehend
während der Entwicklung auf, indem sich später, wenigstens strecken-
weise, verschiedene Hüllen den ursprünglich nackten Fasern hinzu-
gesellen, wodurch sich der Bau der einzelnen Nervenfasern unter Um-
ständen äusserst complicirt gestaltet. Nach der sehr wechselnden Be-
schaffenheit dieser Hüllen oder Scheiden pflegt man verschiedene Gruppen
von Nervenfasern zu unterscheiden, von denen hier zunächst als be-
sonders charakteristisch die m a r k h a 1 1 i g e n und m a r k 1 o s e n Fasern
genannt seien. Die ersteren setzen fast ausschliesslich das Nerven-
system der Wirbelthiere zusammen, während die letzteren vorwiegend
Wirbellosen, sowie den niedersten Wirbelthieren zukommen.
Es ergiebt sich hieraus unmittelbar die wichtige Folgerung, dass
der functionell allein wesentliche Bestandtheil einer
Nervenfaser die Substanz des Zellfortsatzes ist, den man
mit Bezug auf die so häufige Umhüllung mit wohl hauptsächlich dem
Schutze dienenden Scheiden als „Axencylinder" zu bezeichnen
pflegt. Wir werden daher im Folgenden unter „Nervenfaser" stets
nur einen einzelnen, als Ausläufer einer centralen oder peripheren
Ganglienzelle oder als Zweig eines solchen zu erweisenden Axen-
cylinder verstehen, ohne Rücksicht darauf, ob ein solcher für sich
allein nackt oder in einer Scheide eingeschlossen verläuft, oder ob eine
und dieselbe Scheide mehrere oder viele Axencylinder umschliesst.
Dieses letztere Verhalten findet man besonders häufig bei verschiedenen
wirbellosen Thieren. So enthalten beispielsweise die Rüsselnerven
mancher Nemertinen innerhalb einer ziemlich dicken, bindegewebigen,
kernführenden Scheide ein ganzes Bündel feinster Axencylinder, deren
jeder aus einer Nervenzelle entspringt (2). Bei flüchtiger Untersuchung
von Präparaten, welche intra vitam mit Methylenblau gefärbt wurden,
könnte man ein derartiges Faserbündel ganz wohl für eine einzelne
470
Die Nerven und ihre pliysiologische Function.
Nervenfaser mit einem Axencylinder und dicker Scheide ansehen;
doch lehrt die genauere Untersuchung stets die Zusammensetzung des
centralen Stranges aus feinsten, intensiv gefärbten Fäserchen erkennen,
über deren Natur und Bedeutung ihr Zusammenhang mit je einer
Nervenzelle keinen Zweifel lässt (Fig. 149). Als Nervenfasern sind
daher in diesem Falle nur jene feinen, librillenähnlichen Fäserchen zu
bezeichnen, welche von dem Centralbündel des ganzen Nervenstämmchens
abzweigend zu peripheren Endorganen hinziehen. Während in dem
angeführten Beispiel die Caliberverhältnisse der einzelnen zu einem
Bündel vereinigten Axencylinder ziemlich gleichartige sind, herrscht
in dieser Beziehung in andern Fällen oft eine ausserordentliche Ver-
schiedenheit. So sieht man namentlich bei Insekten und Crustaceen
innerhalb einer und derselben Scheide oft sehr breite bandförmige und
äusserst schmale fibrillenähnliche Axencylinder nebeneinander verlaufen
und zwar nicht nur in grösseren
Nervenstämmchen, sondern auch in
den feineren und feinsten End-
zweigen, deren Caliber ganz wohl
berechtigen würde, sie an sich
als Nervenfasern zu bezeichnen.
Allein gerade an den so ausser-
ordentlich reich verzAveigten Muskel-
nerven der Arthropoden, wie sie
beispielsweise beim Krebs seit lange
bekannt sind, lässt sich mit Leichtig-
keit zeigen, dass, abgesehen von
der Zahl der innerhalb einer binde-
gewebigen Scheide verlaufenden
Axencylinder, ein -wesentlicher
Unterschied im Aufbau der gröberen
wie der feinsten Nervenverzwei-
gungen nicht besteht. So wenig
daher die ersteren als Nervenfasern
bezeichnet werden können, sondern
nur als Bündel von solchen aufzu-
fassen sind, so wenig gilt dies auch
für die letzteren. Wir sehen uns daher auch hier veranlasst, ungeachtet
des Umstandes, dass oft noch in den allerfeinsten Nervenverzweigungen,
ja in den Endverästelungen selbst, mehrere Axencylinder von gemein-
samer Scheide umschlossen erscheinen , doch nur jedem der letzteren
für sich den morphologischen Werth einer Nervenfaser zuzuerkennen.
Es geht hieraus unmittelbar hervor, dass die oft äusserst mächtig ent-
wickelte, bindegewebige Hülle der feinsten Nervenzweige der Wirbel-
losen nicht etwa als Analogon der „S c h w a n n ' s c h e n Scheide" wird
bezeichnet werden können, sondern vielmehr dem Bindegewebe (Endo-
Perineurium der Autoren) zu vergleichen ist, welches bei Wirbel-
thieren die noch mit besonderen Scheiden umhüllten Axencylinder
zu Primitivfaserbündeln oder Nervenstämmchen vereinigt. Als Schwann'-
sche Scheide ist dagegen nur jene homogene, zarte, kernführende Hülle
zu bezeichnen, welche bei Wirbelthieren und bisweilen avich bei Wirbel-
losen periphere markhaltige und marklose Axencylinder streckenweise
umkleidet.
Fig. 149. Abschnitt eines Rüsselnerven
von Amphiporus marmoratus mit
paarigen Zellen. (Methylenblau-Präparat
nach O. Bürger.)
Die Nerven und ihre physiologische Function. 471
Bei den Muskelnerven des Krebses zeigt die Nervenscheide sowohl
grösserer Stämmchen wie an den Stellen, wo Axencyliuder einzeln
verlaufen , schon im frischen Zustande , besonders aber nach Gold-
behandlung einen überaus deutlich geschichteten Bau, und es erinnert
stellenweise das Bild der sehr mächtig entwickelten, reichlich mit
Kernen durchsetzten Bindegewebshülle an die Kapsel der Pacinischen
Körperchen (Fig. 150). Eine ähnliche concentrische Schichtung zeigt
die Nervenscheide auch bei manchen Orthopteren (Heuschrecken).
In andern Fällen (bei vielen Insekten) dagegen erscheint die Substanz,
innerhalb deren die Axencylinder eingebettet sind, feingranulirt, plasma-
ähnlich (3).
Das geschilderte Verhältniss zwischen den Nervenfasern (Axen-
cylindern) wirbelloser Thiere und ihrer Umhüllung lässt sich nur dann
in aller Schärfe feststellen, wenn die ersteren in geeigneter Weise ge-
färbt hervortreten. Die seit Cohnheim zu diesem Zwecke so vielfach
benützte Goldmethode wird insbesondere bei wirbellosen Thieren durch
die von Ehrlich eingeführte vitale Methylenblaufärbung bei Weitem
übertreffen. Soweit ich mich habe überzeugen können, besitzen die
feineren und feinsten Axencylinder der Nerven wirbelloser Thiere
'-r:;:^.:::
Fig. 150. Isolirtes Muskelnervenstämmchen aus dem Oeffnungsmuskel der Krebsscheere
(Gold-Ameisensäure-Präi)arat).
innerhalb der gemeinsamen Nervenscheide keine besondere, jedem
einzeln für sich zugehörige Umhüllung, es sei denn, dass man als solche
bei den Muskelnerven des Krebses die in der nächsten Nähe jedes
Axencylinders in einem Stämmchen sich dichter zusammendrängenden
Bindegewebsschichten bezeichnen wollte. Im Allgemeinen handelt es
sich daher bei den Wirbellosen um nackte Axencylinder innerhalb einer
gemeinsamen bindegewebigen Umhüllung oder Grundmasse, die auch
in dem Falle mit den speci fischen Scheiden der Nervenfasern
höherer Thiere vom histologischen Standpunkte aus nicht verwechselt
werden darf, wenn sie einen einzeln verlaufenden Axencylinder um-
kleidet. Bei Wirbelthieren kommen ähnliche, derbere bindegewebige
Hüllen einzelner Axencylinder nur ganz ausnahmsweise vor.
So zeigen die Nervenfasern des elektrischen Organes von Torpedo
ziemlich dicke Scheiden und in extremster Weise entwickelt findet sich
eine geschichtete, aus vielen in einander geschachtelten concentrischen
Blättern gebildete Hülle bei jeder der beiden zu dem elektrischen Organ
des Zitterwelses (Malopterurus) hinziehenden Riesennervenfasern,
welche die Dicke einer Stricknadel erreichen und doch nur je eine
markhaltige Primitivfaser enthalten.
472
Die Nerven und ihre physiologische Function.
niF
f
Als „speciiisclie" Nervenfaserscheiden sind nur die Schwann'sche
sowie die Markscheide anzusehen. Wie schon erwähnt, kommt eine
ächte Schwann'sche Scheide den Nervenfasern der Wirbellosen nur
ausnahmsweise zu und wie es scheint, nur in solchen Fällen, wo es
sich um relativ breite Axencylinder handelt. So finden sich fast in
allen nicht zu feinen Nervenstämmchen des Krebses neben zahlreichen
sehr dünnen Axencylindern, welche niemals eine besondere Scheide
erkennen lassen, andere von viel grösserem Durchmesser, die bei Be-
handlung mit Methylenblau meist einen
blasseren Farbenton annehmen und im
Sinne von Remak einen deutlich
„röhrenförmigen" Bau besitzen, indem
sie aus einer sehr zarten, scheinbar
structurlosen, kernfithrenden Hülle und
einem Inhalt (dem eigentlichen Axen-
cylinder) bestehen, auf dessen feinere
Structur wir noch zurückkommen.
Mit den geschilderten Bauverhält-
nissen der Nerven wirbelloser Thiere
besitzen in mancher Beziehung jene
feinen Nervenstämmchen Aehnlichkeit,
welche zunächst im sympathischen System
der Wirbelthiere vorkommen und inner-
halb einer starken, bindegewebigen
Nervenscheide (Epineuralscheide) ein
Bündel von marklosen Nervenfasern
(Axencylindern) enthalten (graue Remak'-
sche Fasern) (Fig. 151). Isolirt stellt sich
jede derselben als ein durchsichtiges,
meist etwas plattes und im frischen Zu-
stande homogenes oder zart längsstrei-
figes Band dar, an dem man von
Strecke zu Strecke länglich ovale Kerne
bemerkt. Von M. Schnitze seinerzeit
als Axencylinder mit SchAvann'scher
Scheide gedeutet, wurden die Remak'-
schen Fasern in der Folge sehr ver-
schieden aufgefasst; nachdem anfangs
ihre nervöse Natur überhaupt an-
gezweifelt worden war, schlössen sich später die Meisten der An-
sicht M. Schnitze 's an. Schon Remak Avar es aufgefallen, dass
die, wie er meint, nackten, „an der Oberfläche fast immer längsge-
streiften" Fasern ausserordentlich leicht in „zarteste Fäden" zerfallen,
und in der That ist nichts leichter, als sich hiervon an geeigneten
Präparaten, wie z. B. den Milznerven von Wiederkäuern, zu überzeugen.
Kölliker und mit ihm Schief fer d ecker (4) fassen dagegen jede
Remak'sche Faser als ein „Bündel von feinen Axencylindern auf, um-
geben von einer mehr oder weniger vollständigen Schwann'schen Scheide".
Für eine richtige Beurtheilung können aber auch in diesem Falle
wieder nur lediglich die Ursprungsverhältnisse der betreffenden Fasern
maassgebend sein. Wenn sich nachweisen lässt, dass eine „Remak'sche
Faser" als solche, nicht aber die einzelnen „Elementartibrillen" als
Fig. 151. Stück aus dem Grenz-
strang des Nervus sympathicus des
Menschen fixirt mit Osmiumsäure.
In einem Bündel Remak'scher
Fasern liegen zwei markhaltige
Fasern {mF). Aussen Epineural-
scheide.
(Nach Schief fer deck er.)
Die Nerven und ihre physiologische Fiinction. 473
selbständige Zellfortsätze entspringen, so kann meines Erachtens nicht
daran gezweifelt werden, dass die ersteren als einzelne Axencylinder
(Nervenfasern), nicht aber als Bündel von solchen aufgefasst werden
müssen. Es ist nun in der That seit lange bekannt, dass von den mit
einer vollständigen Schwann'schen Scheide umhüllten sympathischen
Ganglienzellen breite Ausläufer entspringen, welche, umgeben von einem
Fortsatz der Zellscheide durchaus den Charakter der Remak'schen
Fasern zeigen. Dazu kommt noch, dass diese letzteren im weiteren
Verlaufe, ungeachtet der zuerst von R a n v i e r erkannten Unvollständig-
keit der zelligen Scheide, sich jederzeit als besondere Structurelemente
geltend machen, die sich ähnlich den markhaltigen Nervenfasern leicht
voneinander isoliren lassen, während die Elementarfib rillen („Remak'-
sche Fibrillen" KöUikers) viel fester aneinander haften und nur
streckenweise isolirt werden können. Das Vorhandensein derselben
lässt sich aber immer leicht sowohl an Zupfpräparaten, wie auch be-
sonders an Querschnitten grösserer, Remak'sche Fasern enthaltender
Nervenstämmchen (Milznerven vom Rind) nachweisen.
Einen ähnlichen Bau, wie die Remak'schen Fasern, besitzen auch
die Elemente des Nervus o 1 f a c t o r i u s. Wie man durch die Unter-
suchungen von M. Schnitze weiss, besteht die periphere Aus-
breitung desselben bei allen Wirbelthieren aus marklosen Elementen,
welche beispielsweise beim Hecht scharf abgegrenzt und von einer
ziemlich dicken structurlosen Scheide umgeben sind, welche M. Schnitze
als Schwann'sche Scheide auffasste. Im Querschnitt erscheinen die
einzelnen, etwa 10 — 40 f,i dicken „Fasern" rundlich oder durch gegen-
seitige Abplattung polygonal. Der Inhalt der Scheide zeigt schon im
frischen Zustande eine wenngleich etwas verwaschene Längsstreifung.
Nach längerer Maceration in 0,04 ^/o Chromsäure oder 0,4—0,6 ^lo
Lösung von chromsaurem Kali konnte nun Schnitze aus dem Inhalt
der „Nervenfasern" zweierlei Bestandtheile isoliren: zahllose äusserst
feine Fibrillen und eine feinkörnige Masse, „von der es schwer zu
sagen ist, ob sie den Fäserchen selbst angehört oder zwischen denselben
liegt". Damit war der Bau der Olfactoriusfasern im Wesentlichen
gekennzeichnet, zugleich aber schien hier zum erstenmal eine fibrilläre
Structur der Nervenfasern erwiesen zu sein, wodurch bekanntlich der
Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen M. Schultzens ge-
geben war, in denen er die Lehre von der hbrillären Structur für
alle Nervenfasern durchführte und begründete. Indem er auch den
Axencylinder markhaltiger Nerven als ein Bündel feinster Fibrillen
mit körniger, interlibrillärer Substanz betrachtete, setzte er denselben
dem Inhalt der im Olfactorius gefundenen faserigen Elemente gleich
und delinirte diese demnach als „Achsency linder mit Schwann'scher
Scheide".
Gegen diese Auffassung M. S c h u 1 1 z e ' s machte bereits B a b u c h i n
Einwände geltend, indem er betont, dass die von Schnitze aus dem
Olfactorius isolirten, umscheideten „Nervenfasern" keineswegs mit
Remak'schen Fasern so ohne Weiteres verglichen werden dürfen.
Wenn dieser Vergleich bei manchen Thieren zutreffend zu sein scheint,
so lässt sich doch in anderen Fällen zeigen, dass die angebliche
Schwann'sche Scheide vom morphologischen Standpunkte aus vielmehr
dem Neurilem von Nervenstämmchen entspricht. An feinen Quer-
schnitten durch den Olfactorius (vom Hecht) lässt sich zeigen, dass
Biedermann, Elektrophj-siologie. 31
474 I^iß Nerven und ihre physiologische Function.
von der äusseren Scheide der grösseren Nervenfasern im Sinne von
M, Schnitze secimdäre Scheidewände ausgehen, welche die Faser
in zwei oder mehr Abtheilungen zerlegen. Bei höheren Wirbelthieren
scheint dagegen eine derartige Abgrenzung einzelner „Fasern" durch
besondere Scheiden überhaupt nicht vorzukommen. Wenigstens ist es
Boveri weder durch Isolation noch an Querschnitten gelungen, kern-
haltige Membranen nachzuweisen. „Am Querschnitt lässt sich dann
zwar eine Zerlegung in grössere und kleinere unregelmässige Gruppen
leicht erkennen; diese aber sind nicht durch scharfe Doppellinien von
einander geschieden, wie dies bei Membranen , Avelche den einzelnen
Abtheilungen angehörten, der Fall sein müsste, sondern nur durch ein-
fache, oft undeutliche und punktirt erscheinende Züge, die nicht einmal
den Secundärscheiden der Hechtfasern gleichgestellt werden können."
Boveri hält daher wohl mit Recht diese Scheidewände für „flächen-
haft ausgebreitetes Bindegewebe, wie es sich in gleicher Anordnung
(auch) zwischen den Fasern der weissen Substanz des Rückenmarkes
findet". Hiermit steht auch das Verhalten der Kerne in Ueberein-
stimmung. „An den „Fasern" der über den Fischen stehenden Wirbel-
thiere erkennt man sehr leicht, dass nicht nur zwischen ihnen, sondern
auch in ihrem Inneren Kerne liegen."
Die durch die erwähnten Scheidewände abgegrenzten Räume sieht
man am Querschnitt von einem grau gefärbten Reticulum (der inter-
fibrillären Substanz M, Schul tze's) erfüllt, in dessen Maschenräumen
wieder bei geeigneter Tinction die punktförmigen Querschnitte feinster
Fäserchen erscheinen, ganz ähnlich wie auch an Querschnitten Remak'-
scher Fasern. Während wir aber mit Rücksicht auf ihre Ursprungs-
verhältnisse jede der letzteren als einen Axencylinder bezeichnen
müssen, sehen wir uns aus gleichem Grunde beim Olfactorius ge-
zwungen, jede der feinen Elementarfasern oder Fibrillen, welche den
Inhalt der gemeinsamen Scheide bilden, als eine Nervenfaser oder einen
Axencylinder für sich zu bezeichnen. Die eigenthümlichen Beziehungen
der Olfactoriusfasern zu gewissen kugeligen Gebilden des Bulbus
olfactorius sind seit lange bekannt, doch ist es erst in neuester Zeit
gelungen, mit Hülfe der ausserordentlich vervollkommneten Nerven-
färbungsmethoden die erwähnten Beziehungen näher aufzuklären.
Man weiss jetzt, dass von dem spindelförmigen Körper jeder
„Riechzelle" zwei Fortsätze ausgehen, ein kurzer nach der Schleimhaut-
oberfläche gerichteter, der sich zwischen die andern Epithelzellen ein-
fügt, und ein sehr langer, feiner, fadenartiger Fortsatz, welcher als
Olfactoriusfaser nach dem Bulbus hinzieht, um dort in je einem
„Glomerulus" zu enden. Eine ganze Anzahl derartiger feinster Nerven-
fasern sammelt sich nun zu gröberen Bündeln (den erwähnten Olfactorius-
bündeln), welche nach kürzerem oder längerem Verlauf durch die
Löcher der Lamina cribrosa aus der Riechschleimhaut zum Bulbus
olfactorius hinübertreten und der Schichte der Glomeruli zustreben.
Während des ganzen Verlaufes von der Riechzelle bis zum Glomerulus
behalten die einzelnen ungetheilten, oft varicösen Fasern gleiche Breite.
Kurz vor dem Eintritt in den Glomerulus beginnt die Verzweigung
der Fasern; sie theilen sich wiederholt dichotomisch und durchsetzen
in etwas gewundenem Verlauf den Glomerulus, um schliesslich frei zu
enden (5). Oft sieht man, wie R a m o n y C a j a 1 , V a n G e h u c h t e n und
Martin, sowie K ö 1 1 i k e r beschrieben haben, „nicht nur eine Faser
in je einen Glomerulus eintreten, sondern 2, 3 oder mehrere, welche
Die Nerven und ihre physiologische Function.
475
U«
sich alle in derselben Weise verhalten, indem sie sich im Glomerulus
reichlich dichotomisch verzweigen und dabei sich miteinander ver-
flechten, ohne etwaige Continuitätsverbindungen einzu-
gehen." In diesen Endverzweigungen der Olfactoriusfasern in den
Glomerulus liegen also die centralen Endigungen dieser Fasern vor,
die man füglich, trotz ihrer Feinheit, nicht anders auffassen kann, wie
als selbständige Nervenfasern (Axencylinder). Jede Olfactoriusfaser,
oder richtiger Fibrille, entspricht daher dem centripetal verlaufenden
Fortsatz einer im Epithel der Riechschleimhaut ge-
legenen „Riechzelle". Mit den Verzweigungen dieser ^
Fasern im Glomerulus verflechten sich ohne di- ftllimmr
recten Zusammenhang andere aus der Thei- [llfiili l
lung von Ganglienzellfortsätzen (Ausläufer der söge- /'/ /
nannten „Mitralzellen") hervorgehende Nervenfasern. ^ // /
Haben wir es bei den Elementen des Olfac-
torius mit äusserst feinen, den „Fibrillen" der Re-
mak'schen Fasern im Bau und Aussehen gleichenden,
aber selbständigen marklosen Nervenfasern zu thun,
so repräsentiren dieselben gewissennaassen die nie-
drigste, wenigst entwickelte Form des Nerven-
gewebes. Höher stehen schon die Remak'schen
Fasern, indem sie Bündel von Fibrillen darstellen,
die eine allerdings nur unvollkommene Schwann'-
sche Scheide besitzen; die höchst entwickelten
marklosen Nervenfasern treten uns endlich in den
von einer vollständigen Schwann'schen Scheide um-
hüllten Axencylindern entgegen, wie sie in besonders
typischer Form die peripheren Nerven der nieder-
sten und in einem gewissen Entwicklungsstadium
auch der höheren Wirbelthiere zusammensetzen.
(Petrorayzonten, Amphioxus, Cyklo-
stomen).
Der Axencylinder, auf dessen feineren Bau
wir später zurückkommen, erscheint hier unmittel-
bar und allseitig von der zur vollkommenen Röhre
geschlossenen, glashellen und ihre Zusammensetzung
aus Zellen nur durch das Vorhandensein länglicher
Kerne an ihrer Innenseite verrathenden Schwann'-
schen Scheide umgeben, deren Oberfläche oft noch
eine zarte, aus fibrillärem Bindegewebe bestehende
Schichte („Henle'sche Scheide") umkleidet,
die man als Theil des eine Anzahl von Fasern zu
einem Nervenstämmchen zusammenschliessenden
Bindegewebes (Neurilems) betrachten kann (Fig. 152).
Alle Nerven, welche aus Elementen der bisher besprochenen Art
zusammengesetzt sind, zeichnen sich schon makroskopisch ganz wesent-
lich vor denen aus, welche entweder ausschliesslich oder doch in
grösserer Menge markhaltige Fasern enthalten, deren sehr complicirter
Bau im Folgenden noch zu erörtern ist. Marklose Nerven erscheinen
in Folge der Durchsichtigkeit der einzelnen Fasern und ihrer Um-
hüllung immer durchscheinend, graulich gefärbt, und zeigen oft,
namentlich bei Wirbellosen, eine fast gelatinöse Beschaffenheit. Da-
gegen sind die markhaltigen Nerven viel derber und widerstands-
31*
Fig. 152. Nervenfaser
aus dem N. trigemi-
nus von Petromy-
zon fluviatilis
nach Behandlung mit
Müller'scher Flüssig-
keit. (Nach Schief-
ferdecker.)
476
Die Xerveii und ihre physiologische Function.
fähiger und zeichneu sich auch sofort durch ihre elfenbeinweisse Farbe
und Undurchsichtigkeit aus, was die Folge der optischen Eigenschaften
der Markscheide ist, deren feinere Structur die Histologen seit
lange beschäftigt.
Untersucht man markhaltige Nervenfasern im lebenden Gewebe
oder unmittelbar nach dem Isoliren in einer möglichst indifferenten
Flüssigkeit, so erscheinen dieselben als stark lichtbrechende, durch-
sichtige, vollkommen homogene und von einem einfachen Contur be-
grenzte Fäden, an welchen man von Stelle zu Stelle in sehr wechseln-
den Abständen Einschnürungen wahrnimmt, die
nach ihrem Entdecker als R a n v i e r ' sehe Schnür-
ringe („Etranglements annulaires") bezeichnet
werden (Fig. 151 und 153). Die Länge der Segmente
zwischen je zwei Einschnürungen ist bei niederen
Wirbelthieren (Fische, Amphibien) viel beträcht-
licher, als bei höheren, so dass ersterenfalls auf
die gleiche Strecke viel weniger Schnürringe ent-
fallen, was vielleicht mit dem verschiedenen Stoff-
bedarf zusammenhängt, wenn, wie Ran vi er glaubt,
die Einschnürungen als Eintrittsstellen der Er-
uährungsflüssigkeit zu betrachten sind. Hierfür
liesse sich vielleicht auch geltend machen, dass die
elektrischen Nerven von Torpedo, sowie embryo-
nale Nerven stets kürzere und daher zahlreichere
Segmente haben, als völlig entwickelte Fasern. Be-
merkenswerth ist ferner, dass Ranvier'sche Ein-
schnürungen sich an allen Theilungsstellen peripherer,
markhaltiger Nervenfasern finden, dagegen an den
centralen Elementen überhaupt nicht ganz sicher
festgestellt sind. Nebst den Schnürringen fallen an
frisch untersuchten, peripheren, markhaltigen Nerven-
fasern auch noch die der Schwann 'sehen Scheide
zugehörigen länglichen Kerne auf, welche der Faser
seitlich anliegen und gewissermaassen in die Mark-
scheide hineingedrückt erscheinen. Der Umstand,
dass (bei höheren Wirbelthieren) etwa in der Mitte
zwischen je 2 Ranvier'schen Einschnürungen je ein
Kern liegt, hat im Verein mit anderen noch zu
erwähnenden Thatsachen zu der Ansicht geführt,
dass jede Nervenfaser aus der Verschmelzung meh-
rerer Zellen hervorgegangen ist, eine Anschauung,
welche auf Grund entwicklungsgeschichtlicher For-
schungen nicht aufrecht erhalten werden kann. Bei niederen Wii'bel-
thieren (Fischen) liegen mehrere (nach Key und R e tz i u s 5 — 18) Kerne
in jedem Fasersegmente. Bezüglich ihres feineren Baues stimmen die
Schwann'schen Kerne mit anderen Zellkernen in allen wesentlichen
Punkten überein. Während die Schwann 'sehe Scheide eine der Faser
allseitig auf das engste sich anschmiegende, vollkommen geschlossene
Röhre darstellt, welche auch an den Stellen der Ranvier'schen Einschnü-
rungen, wo, wie wir sehen werden, die Markscheide Unterbrechungen
erleidet, den Achsencylinder umhüllt, zeigt diese auch abgesehen von
den Ranvier'schen Schnürringen eine segmentale Gliederung. Nach dem
Tode sieht man jederseits zwischen je 2 Ranvier'schen Einschnürungen
Fig. 158. Nervenzelle
mit sich theilendem
Fortsatz aus einem
Spinalganglion des
Kaninchens. (Nach
S c h i e f f e r d e ek e r.)
Die Nerven und ihre physiologische Function. 477
den doppelten Contour der Markscheide durch schräge Querlinien unter-
brochen, wodurch trichterartig ineinandersteckende, kürzere oder längere
Marksegmente entstehen, deren Beziehungen zu einander insbesondere
durch Schief f er decker näher untersucht wurden. Nach ihrem
Entdecker Laut er mann bezeichnet man die erwähnten secundären
Unterbrechungen der Continuität der Markscheide als Lantermann '-
sehe Einkerbungen (Fig. 157). BeiBehandlung frischer markhaltiger
Nervenfasern mit Silbernitrat entstehen an den Schnürringen eigenthüm-
liche schwarze Kreuze, indem hier die Silberlösung am raschesten ein-
dringt und nicht nur die von Schiefferdecker als „Zwischenscheibe"
bezeichnete Substanz im Grunde des Schnürringes färbt, sondern auch
noch eine Strecke weit längs des Axencylinders vordringt, indem sie
sich zwischen diesem und der Markscheide nach beiden Seiten hin (in
dem „periaxialen Spaltraum") verbreitet (Fig. 159). Die Längsbalken
der Kreuze sind oft nicht continuirlich , sondern erscheinen als eine
mehr oder weniger lange Reihe von Querbändern, den sogenannten
Frommann'schen Silbe rlinien, deren Entstehung noch nicht
hinreichend aufgeklärt ist.
Im Verlaufe des Absterbens machen sich weiterhin sehr auffallende
Erscheinungen geltend. Es wurde schon früher bemerkt, dass an
möglichst lebensfrischen Nervenfasern die Markscheide homogen und
glatt erscheint; dies Bild ändert sich später ganz wesentlich. Selbst
unter den günstigsten Bedingungen, in möglichst indifferenten Flüssig-
keiten bedingt es die ausserordentliche Zersetzlichkeit der Substanz
der Markscheide, dass sich sehr rasch Veränderungen derselben zeigen,
die gewöhnlich als Gesinnungserscheinungen oder als Bildung von
„Myelinformen" beschrieben werden. Dieselben sind hauptsächlich
charakterisirt durch eine Art von Faltung und Runzelung der Mark-
scheide, wodurch die ui'sprünglich geradlinige seitliche Begrenzung
der Fasern vielfach wellig wird, während an der Oberfläche mannig-
fach gestaltete, unregelmässige Höcker, klumpige Streifen und Netze
hervortreten, durch welche die Einkerbungen bald völlig verdeckt
werden, während die Schnürringe noch immer sichtbar bleiben. Es
hängen diese Veränderungen aufs innigste mit der chemischen Con-
stitution der Markscheide zusammen, unter deren Bestandtheilen be-
sonders Lecithin und Cholesterin zu nennen sind. Der Gehalt an dem
ersteren bedingt es hauptsächlich, dass das Nervenmark sich bei Be-
handlung mit Ueberosmiumsäure mehr oder weniger intensiv schwärzt,
so dass selbst sehr dünne Markscheiden durch diese Reaction sich noch
ziemlich sicher erkennen lassen. Durch Wasser, verdünnte Säuren
und Salzlösungen wird eine Quellung des Nervenmarkes bedingt, die
sich am raschesten und intensivsten an den der Schwann'schen Scheide
ermangelnden centralen Nervenfasern geltend macht. Hier wie auch
an peripheren markhaltigen Fasern kommt es dann oft zu einer sehr
charakteristischen Aufblätterung der Markscheide, die, an dem freien
Ende der Marksegmente beginnend, dieselben in ihrer ganzen Aus-
dehnung ergreift.
Begreiflicherweise machen sich Quellungserscheinungen der Mark-
scheide an solchen Stellen am meisten bemerkbar, wo, Avie z. B. am
Querschnitt, das Myelin in unmittelbarer Berührung mit der zutretenden
Flüssigkeit steht. Hier kommt es dann oft unter Bildung sehr
charakteristischer „My eli nfiguren" zu einem förmlichen Heraus-
fliessen des Markes aus der Scheide, das sich unter Umständen ziemlich
478
Die Nerven und ihre physiologische Function.
weit vom Querschnitt aus erstrecken kann. Sehr eigenthümliche
Bilder erhält man bei Behandlung markhaltiger Nervenfasern mit
heissem Alkohol und Aether, wodurch ein grosser Theil der Marksubstanz
in Lösung geht und ein zierliches Netzwerk einer ziemlich stark licht-
brechenden Masse übrig bleibt, die ihrem chemischen Verhalten zufolge
dem Keratin nahe steht und daher von Kühne und Ewald als Neu-
rokeratin bezeichnet wurde (Fig. 154). Ob diese netzförmigen „Horn-
scheiden" als solche innerhalb der normalen Markscheide präformirt
sind oder nicht, muss als zur Zeit nicht sicher entschieden gelten.
Ueberhaupt sind die durch verschiedene Reagentien
verursachten Veränderungen im Aussehen der mark-
haltigen Nervenfasern bei der ausserordentlichen
Zersetzlichkeit der Markscheide immer nur mit
grösster Vorsicht für die Erkenntniss der Structur
derselben zu verwerthen.
Es wurde schon erwähnt, dass alle mark-
haltigen Nervenfasern der Wirbelthiere ursprünglich
der Markscheide entbehren, die erst in einem ge-
wissen Stadium der Entwicklung auftritt. In Bezug
auf die Frage, wie dies geschieht, sind allerdings
die Anschauungen , wie auch hinsichtlich der Ent-
wicklung der Nervenfasern überhaupt noch sehr
getheilt. Als sicher darf gelten , dass die Nerven-
fasern unter allen Umständen aus besonderen Zellen
(Nervenzellen) hervorwachsen und daher als Aus-
läufer von solchen angesehen werden müssen ; dies
gilt nach den Untersuchungen von KöUiker und
H i s insbesondere auch für die Spinalnerven-Wurzeln.
Sowohl die vorderen wie die hinteren stellen an-
fangs lediglich Bündel nackter Axencjlinder dar,
welche, soweit es sich um die ersteren handelt, aus
den motorischen Vorderhornzellen hervorsprossen,
Avährend die hinteren Wurzelfasern von den Zellen
der Spinalganglien aus theils ins Rückenmark hinein,
theils nach der Peripherie wachsen. Dem Mesoderm
entstammende Zellen bilden dann später eine zu-
nächst das ganze Bündel markloser Fasern einschei-
dende Hülle und endlich auch eine Specialscheide
jeder einzelnen Faser (Schwann'sche Scheide). Die-
selbe Thatsache der secundären Entstehung der
Schwann'schen Scheide lässt sich noch deutlicher an
den sich entwickelnden Nerven des Froschlarven-
schwanzes feststellen (Kölliker, Rouget, Hen-
sen). Wie Hensen fand, bestehen hier die Nerven im ersten
Anfang aus glänzenden, feinen, gabelförmig sich theilenden Fäden
ohne Kerne; später treten dann zuerst in der Nähe der Körperaxe
einzelne Kerne auf, Avelche später auch an den letzten Verzwei-
gungen erscheinen. Es ist nicht zu bezweifeln, dass dieselben Zellen
der Bindesubstanz angehören, aus deren Verschmelzung die Schwann'-
sche Scheide hervorgeht. Was nun die Bildung der Markscheide
anlangt, so scheint dieselbe ebensowenig wie die der Schwann'schen
Scheide gleichzeitig in allen Punkten im Verlauf einer Nervenfaser
zu erfolgen. So ist es bekannt, dass innerhalb des Centralorganes
m
Fig.
faser
Nerven-
Fr 0 seh es
154.
des
mit Alkohol gekocht.
Im Innern der ver-
bogene Axencylinder.
Zwischen demselben
und der Schwann'-
schen Scheide das
Neurokeratingerüst.
(Nach Kölliker.)
Die Nerven und ihre physiologische Function. 479
(Gehirn, Rückenmark) die Fasern der Pyramidenbahn in der Richtung
von ihren Ursprungszellen aus nach dem Rückenmark hin sich all-
mählich mit Markscheiden umhüllen, und dasselbe gilt nach Kölliker
hinsichtlich der peripheren Nerven, wo die Markentwicklung in der
Richtung von den Stämmen nach der Peripherie zu fortschreitet. Der
Angabe von Hensen, dass das Mark zunächst in Form einzelner
Tropfen auftritt, trat Kölliker entgegen, welcher bei Froschlarven
beobachtete, dass es „als eine von vorneherein zusammenhängende
Röhre in die Erscheinung tritt, welche ganz allmählich ihre dunklen
Contouren gewinnt, so dass ein unmerklicher Uebergang von den
blassen zu den dunkelrandigen Fasern statthat". Dies geschieht, wie
es scheint, zunächst in der Nähe der Schwann'schen Kerne, so dass
sich Marksegmente bilden, welche durch längere, den Ranvier'schen
Einschnürungen entsprechende marklose Strecken von einander getrennt
erscheinen.
Das Vorkommen ächter Markscheiden bei gewissen Nerven wirbel-
loser Thiere wurde wiederholt behauptet, bildet aber unter allen Um-
ständen eine relativ seltene Ausnahme. Ohne auf die älteren hierher-
Fig. 155. Zwei markhaltige Nervenfasern von Palaemon squilla.
(Nach Ketzius.)
gehörigen Angaben näher einzugehen, sei nur erwähnt, dass nach den
Untersuchungen von Retzius an Palaemon squilla und von
Friedländer an Anneliden (Mastobranchus, Lumbricus) an
dem Vorkommen markhaltiger Nervenfasern bei Evertebraten nicht
mehr zu zweifeln ist. Am weitesten scheint die Uebereinstimmung
der fraglichen Structurverhältnisse mit den markhaltigen Nerven der
Wirbelthiere bei den Nervenfasern von Palaemon zu gehen. Hier
konnte Retzius sowohl mit Hülfe der Silberfärbung, wie auch durch
Methylenblau ganz charakteristische, den Ranvier'schen Kreuzen ent-
sprechende Figuren, sowie auch Frommann'sche Linien erzeugen, welche
wie jene Einschnürungen entsprechen und an gewissen, regelmässig
Aviederkehrenden Stellen vorkommen (Fig. 155); zwischen je 2 Ein-
schnürungen Hegt ein länglich ovaler Kern, der offenbar den Schwann '-
sehen Kernen markhaltiger Wirbelthiernerven entspricht, obschon
Retzius das Vorhandensein einer Schwann'schen Scheide nicht nur
bei den Fasern des Bauchstranges, sondern auch an peripherischen
Nerven in Abrede stellt. Die Myelinscheide verläuft ununterbrochen
von einer Einschnürung zur anderen, zeigt doppelte Contouren und
ein fettartig glänzendes Aussehen ; nach Behandlung mit Ueberosmium-
säure wird die Scheide zuerst grau, später schwarz, ganz wie die Mark-
scheide der Wirbelthiernervenfasern (6).
Der Axencylinder.
Auch hinsichtlich des feineren Baues dieses functionell wichtigsten
Theiles der Nervenfasern gehen die Ansichten zur Zeit noch ziemlich
weit auseinander. Der Grund hierfür dürfte, abgesehen von den
480 Die Nerven und ihre physiologische Function.
zweifellos bestehenden Schwierigkeiten der Untersuchung, hauptsächlich
darin zu suchen sein, dass man sich vielfach nicht gleich an diejenigen
Objecte gewendet hat, welche voraussichtlich am ehesten geeignet
erscheinen, über die schwebenden Fragen Aufschluss zu geben. Offenbar
kommt es einerseits auf die Grösse der Elemente, andererseits aber
auf den Mangel dickerer Hüllen an, durch welche die Klarheit des
mikroskopischen Bildes wesentlich getrübt wird. Es sind daher auch
sicher alle markhaltigen Fasern von vorneherein als minder günstige
Objecte gegenüber den marklosen der Wirbelthiere und Evertebraten
zu bezeichnen. In der That stützt sich die Anschauung über den Bau
des Axencylinders , welche zur Zeit wohl die am meisten verbreitete
ist und vom morphologischen wie physiologischen Gesichtspunkte aus
auch am besten begründet erscheint, zunächst und hauptsächlich auf
Beobachtungen an Nervenfasern wirbelloser Thiere und an marklosen
Wirbelthiernerven. Schon im Jahre 1843 hat Rem ak an gewissen
riesigen Nervenfasern des Bauchmarkes der Krebse an Stelle des
Axencylinders ein Bündel feinster Fibrillen beobachtet, und später trat
insbesondere M. Schnitze sehr entschieden zu Gunsten der Annahme
einer durchgreifenden, hbrillären Structur des Axencylinders bei allen
Nervenfasern ein. Er weist darauf hin, dass insbesondere an den
dicken, markhaltigen Nervenfasern aus den Seitensträngen des Rücken-
markes, „aus denen man, da sie der Schwann 'sehen Scheide entbehren,
den Axencylinder leicht isoliren kann , sowohl ganz frisch als noch
besser nach Maceration in Jodserum, bei starker Vergrösserung eine
parallele Streifung und eine Substanz feinkörniger Natur zwischen den
Streifen" erkennbar Avird, welche nur „auf eine Zusammensetzung aus
Fibrillen und interfibrillärer Substanz" zurückzuführen sei. Aber selbst
innerhalb der Markscheide konnte M. Schnitze dieselbe Structur
des Axencylinders an den dicken Fasern des Gehirns von Torpedo
erkennen. Sehr überzeugend sprechen ferner für die fibrilläre Structur
des Axencylinders Beobachtungen über den Ursprung desselben aus
dem zugehörigen Zellkörper, wie sie von M. Schnitze an den grossen
Nervenzellen des Rückenmarkes und Gehirns der Wirbelthiere, von
Hans Schulze dagegen fast noch überzeugender an Avirbel-
losen Thieren gemacht wurden. In beiden Fällen zeigt der Körper
der Ganglienzellen selbst eine mehr oder minder deutlich ausgeprägte
fibrilläre Structur, die am deutlichsten in der Rinde zu erkennen ist.
Ihre Wahrnehmbarkeit wii-d wesentlich dadurch erleichtert, dass be-
nachbarte Fibrillen durch verhältnissmässig dicke Schichten plasma-
tischer Grundsubstanz von einander getrennt erscheinen. Der com-
plicirte Verlauf der einzelnen Fäserchen im Inneren des Zellkörpers
tritt nach M. Schul tze mit besonderer Klarheit an gewissen mächtigen
multipolaren Ganglienzellen im Gehirn von Torpedo hervor, wo man
leicht zu erkennen vermag, wie die Fibrillen theils in divergirender
Richtung von jedem Fortsatze aus in den Zellkörper einstrahlen,
anderentheils aber um den central gelegenen Kern concentrische Kreise
beschreiben.
Jeder Zweifel an der Präexistenz einer fibrillären Structur des
Axencylinders Avird endlich durch das Studium der breiten marklosen
Nervenfasern der Petromy zonten beseitigt, welche noch besser als
gewisse Fasern wirbelloser Thiere (z. B. des Krebses) gestatten,
die fraglichen Structurverhältnisse an völlig lebensfrischen Präparaten
nachzuweisen (Schiefferdecker 7). Innerhalb der Schwann'schen
Die Nerven und ihre physiologische Function. 481
Scheide lassen sich in der Regel zweierlei Substanzen erkennen, ein
in der Axe gelegenes Bündel feinster Fäserchen (Nervenfibrillen, Axen-
librillen), welche oft deutlich einen welligen Verlauf zeigen und rings
umschlossen werden von einem Mantel einer homogen erscheinenden
Substanz, die sich zweifelsohne auch in das Innere des „Axen-
stranges", wie Schiefferd ecker das Fibrillenbündel nennt, fort-
setzt, und die einzelnen, etwa 0,4 /.i dicken Fäserchen von einander
trennt (Fig. 152). Es besteht hier demnach zwischen den letzteren und
der homogenen Grundsubstanz (dem „ A x o p 1 a s m a" , N e u r o p 1 a s m a
K ö 1 1 i c k e r ' s ) eine ganz ähnliche Beziehung wie etwa bei den glatten
und quergestreiften Muskelfasern zwischen den contractilen Fibrillen
und dem Sarkoplasma. Der Axoplasmamantel ist besonders an den
dicksten Kervenfasern stark entwickelt und tritt um so weniger als
besonderer Bestandtheil des ganzen Axencylinders hervor, je dünner
die Fasern sind. Dies zeigt sich besonders deutlich an Querschnitten ge-
härteter Nervenfasern (Fig. 156). Das centrale Fibrillenbündel erscheint
hier an breiten wie an schmalen Fasern fast gleich entwickelt, während
die Dicke des Axoplasmamantels sehr auffallende Verschiedenheiten
darbietet. „Es nimmt also mit abnehmendem
Axencylinderdurclimesser bei P e t r o m y z o n
die Menge des Axoplasmas schneller ab als
die Anzahl der Fibrillen. Da diese letzteren
aller Wahrscheinlichkeit nach die eigentlich
wichtige leitende Substanz darstellen, so
würde man bei Petromyzon aus dem
Durchmesser des Axencylinders nicht ohne
Weiteres auf die Menge der leitenden Sub- ^ig. 156. Querschnitte von
stanz schliessen dürfen. Die Entfernung zwi- Axeneylindern aus dem N. tri-
schen zwei Fibrillen ist stets grösser als der geminus von Petromyzon flu-
Durchmesser der Fibrillen, es sind dieselben ^^^«1^«- ^J'^ckelf"'^^'"
also durch relativ grosse Mengen von Axo-
plasma von einander getrennt. Die Fibrillen
von Petromyzon sind äusserst hinfällige Gebilde, welche augenscheinlich
nur lebensfrisch überhaupt sichtbar sind; sobald sie absterben, zerfallen
sie, auch bei Untersuchung im Blutserum desselben Thieres, in feine
Körnchen von sehr starkem Lichtbrechungsvermögen, welche zunächst
noch in Reihen liegen bleiben, entsprechend den Fibrillen, durch deren
Zerfall sie entstanden sind. Bei weiterem Absterben tritt dann augen-
scheinlich eine Verflüssigung des Axenstranges ein, derselbe fliesst als
eine zähe Masse hervor, begleitet von der wohl noch festeren Substanz
des Axoplasmamantels." Noch weniger widerstandsfähig als das Axo-
plasma scheinen die Fibrillen zu sein. „Bald nach dem Tode ist daher
von den Fibrillen überhaupt nichts mehr zu sehen ; statt ihrer bemerkt
man einen körnigen Strang, wie er schon vielfach abgebildet worden
ist." Ich kann diese Schilderung, welche ich mit S c h i e f f e r d e c k e r ' s
eigenen Worten hier wiedergegeben habe, nach eigenen Beobachtungen
durchaus bestätigen.
Unverhältnissmässig schwieriger ist der Bau des Axencylinders
bei den mit dicken Markscheiden umgebenen Nervenfasern der
höheren Wirbelthiere zu erkennen, und sind hierauf ohne Zweifel
die so sehr verschiedenen Ansichten der Autoren zurückzuführen.
Von vorneherein kann es w^ohl kaum bezweifelt werden, dass die
Structurverhältnisse des Axencylinders in der ganzen Thierreihe in
482 ßiß Nerven und ihre physiologische Function.
allen wesentlichen Punkten übereinstimmen Averden. Wenn daher
in einem Falle die Existenz einer fibri Hären Struetur als über
jeden Zweifel feststehend betrachtet werden darf, so erscheint es geradezu
als ein Postulat, die Fibrille allgemein als den eigentlichen Elementar-
bestandtheil des Axencylinders anzunehmen. In der That darf zur
Zeit diese von R e m a k und Max Schnitze begründete Anschauung
durch die Untersuchungen von Engel mann, Kupffer, Maley,
Boveri, Kölliker, Jacob i, Joseph u. A. als eine durchaus ge-
sicherte angesehen werden, und weder die Ansicht F 1 e i s c h 1 ' s , der
den Axencylinder als eine Flüssigkeitssäule erklärte, noch jene K u h n t ' s,
der den Axenraum von einer „homogenen, fest weichen, ziemlich
elastischen, bald fein, bald grob granulirten Masse" erfüllt sein lässt
und die fibrilläre Längsstreifung für Falten der von ihm angenommenen
„Axencylinderscheide" hält, kann als begründet gelten.
Wie bei den marklosen Fasern der P e t r o m y z o n t e n und gewisser
Wirbellosen (Krebs) nehmen wir daher auch für den Axencylinder der
markhaltigen Fasern eine Zusammensetzung aus einer weichen, wasser-
reichen Grundsubstanz von wahrscheinlich gallertiger Consistenz, dem
Fig. 157. Längs- und Querschnitt von markhaltigen Nervenfasern aus dem
N. ischiadicus des Frosches (Osmiumsäure-Säurefuchsin). Eanvier'scher Schnür-
ring und zwei Lantermann'sche Einkerbungen. Fibrilläre Struetur des Axen-
cylinders.
„Axoplasma", und darin eingebetteten Fibrillen an. Während die
letzteren aber in den erwähnten Fällen ein centrales, von einer mehr
oder weniger dicken Schicht von Axoplasma umhülltes Bündel dar-
stellen, erscheinen sie bei markhaltigen Fasern gleichmässig über den
ganzen Querschnitt des Axencylinders verbreitet, so dass die Mantel-
schichte entweder gar nicht oder nur undeutlich als eine ganz schmale
Randzone hervortritt. Bei Anwendung geeigneter Färbemittel (Säure-
fuchsin, Bismarckbraun etc.) lassen sich die Fibrillen überaus deutlich
sowohl in der Längsansicht der Fasern, wie im Querschnitt erkennen.
Man bemerkt dann leicht, dass an den Schnürringen die Fibrillen ein-
ander genähert und durch weniger Kittsubstanz verbunden sind, so dass
der Axencylinder au solchen Stellen am dünnsten ist (Fig. 157). Nach
Engelmann (8) würden hier präformirte Discontinui täten der Fibrillen
anzunehmen sein, wofür besonders die Thatsache geltend gemacht wird,
dass unter gewissen Umständen der Axencylinder gerade an der Stelle
der Einschnürung eine glatte Continuitätstrennung erfährt, entsprechend
„der bei Silberbehandlung sich schwarz färbenden Querlinie". („Quer-
scheibe" Engelmann.) Engelmann's Gründe wairden später als nicht
stichhaltig erwiesen und können daher auch nicht zur Stütze der Lehre
von der Zusammensetzung der markhaltigen Nervenfasern aus einzelnen
aneinandergereihten Zellindividuen gelten ( vergl. J a c o b i , Boveri),
Die Nerven und ihre physiologische Function. 483
einer Lehre, die zur Zeit wohl auch als durch entwicklungsgeschicht-
liche Untersuchungen widerlegt angesehen werden darf. Es verdient
bemerkt zu werden, dass bei der Ehrlich'schen „intravitalen" Methylen-
blau-Färbung, soweit meine Erfahrungen reichen, niemals, weder bei
marklosen noch bei markhaltigen Fasern die librilläre Structur des
Axencylinders am frischen Präparate merklich hervortritt; dagegen
findet man an gewissen so gefärbten Fasern im Bauchmark vom
Hirudo medicinalis nach Behandlung mit pikrinsaurem Ammoniak
die Zusammensetzung aus einzelnen Fibrillen stets überaus deutlich
ausgeprägt. Es muss zur Zeit als zweifelhaft bezeichnet werden, ob
der Axencylinder als Ganzes (Fibrillen -f- Neuroplasma) , abgesehen
von seinen sonstigen Hüllen (Schwann' sehe Scheide, Markscheide), auch
noch von einer besonderen zarten Scheide („Axencylinderscheide") um-
geben ist. In einzelnen Fällen scheint dies thatsächlich der Fall zu
sein, immer handelt es sich aber nur um eine äusserst feine, als be-
sondere Membran kaum darstellbare Schicht.
Die schon erwähnte ausserordentliche Empfindlichkeit der den
Axencylinder zusammensetzenden Substanzen bedingt es, dass durch
Behandlung mit Reagenzien mancherlei morphologische Veränderungen
bewirkt werden, welche bei nicht genügender Berücksichtigung leicht
zu Irrthümern Anlass bieten können. Hierher gehört vor Allem die
in den meisten Fällen sehr beträchtliche Schrumpfung, welche selbst
schon durch physiologische Kochsalzlösung, in besonders hohem Grade
aber durch alle stärker wasserentziehenden Härtungsmittel, wie Alkohol,
Chromsäure und chromsaure Salze u. A., herbeigeführt wird.
Hierher gehört ferner die Thatsache, dass gefärbte Querschnitte
durch Nerven, Avelche in Lösungen von Chromsäure oder chromsauren
Salzen gehärtet wurden, in der Regel kein richtiges Bild von dem
Verhältniss der Grösse des Axencylinders zu dem Marke geben, indem
jener stark geschrumpft innerhalb der gequollenen Markscheide liegt
und auf dem Querschnitt zur Entstehung der bekannten „Sonnen-
bildchen" führt.
Bessere, wenngleich auch nicht einwandfreie Resultate liefert die
Härtung mit Osmiumsäure. M. Joseph bestimmte in diesem Falle
bei den elektrischen Nerven von Torpedo das Verhältniss der Grösse
des Axenraumes zum Marke wie 1:3 — 5. Innerhalb dieses grossen
Axenraumes tritt nun bei combinirter Osmiumsäure-Alkohol-Behandlung
sowohl auf Quer- wie an Längsschnitten ein äusserst zartes Netzwerk
hervor („Axengerüst" Joseph's), welches Joseph für präformirt
hält und in dessen Maschen die Axenfibrillen liegen sollen, die bei der
angewendeten Behandlung der Präparate nicht sichtbar werden. Joseph
nimmt ferner an, dass das „Axengerüst" mit dem Neurokeratingerüst
der Markscheide in directem Zusammenhang steht, was, wie Kölliker
mit Recht bemerkt, eher als ein Beweis gegen die Präformation gelten
müsste, da die Existenz des letzteren als eines präformirten Bestand-
theils der Markscheide zum mindesten sehr zweifelhaft ist. Die Bilder,
welche Joseph beschreibt, erinnern in mancher Beziehung an die
Structurverhältnisse , welche nach Bütschli dem Axencylinder in
weitester Verbreitung zukommen würden. Wie beim Muskel soll auch
hier die fibrilläre Structur durch der Länge nach aneinander gereihte,
gestreckte Waben bedingt sein , deren dickere Seitenwände durch
äusserst zarte Querbrücken miteinander verbunden sind. Dadurch
kommt bei schwächerer Vergrösserung das Bild einer parallelen Längs-
484 Die Nex-ven und ihre physiologische Function.
streifung zu Stande. Es muss vorläufig dahingestellt bleiben, ob diese
von Bütschli beobachtete Wabenstructur wirklich als präformirt
anzusehen oder nur als eine Reagenzienwirkung aufzufassen ist. Die
letztere Möglichkeit wird man bei einem Gebilde von so ausserordent-
licher Labilität immerhin zugeben müssen. Ausserdem sprechen aber
auch physiologische Erwägungen, deren Erörterung hier nicht am
Platze scheint, viel mehr zu Gunsten der Annahme isolirter und isolirt
leitender Fibrillen, als fiir die Existenz eines leitenden Netzwerkes.
Als eine Reagenzienwirkung möchte endlich wohl auch in allen
Fällen das Vorkommen varicöser Anschwellungen im Verlaufe einzelner
Fibrillen oder feinerer Fibrillenbündel (dünner Axencylinder) anzu-
sehen sein. Bekanntlich treten dieselben sehr häufig, ja man kann
sagen regelmässig, sowohl bei Goldbehandlung, wie bei Färbung mit
Methylenblau auf und wurden namentlich auf Grund der letzterwähnten
Thatsache vielfach als präformirt angesehen. In der That scheint hier
ja auch das regelmässige Vorkommen der Varicositäten im Gebiete
der Endigungen sensibler wie motorischer Nerven in überlebenden
Organen (noch zuckenden Muskeln etc.) sehr zu Gunsten der erwähnten
Anschauung zu sprechen. Nichtsdestoweniger glaube ich doch und
befinde mich hier in Uebereinstimmung mit auf diesem Gebiete sehr
erfahrenen Forschern, dass Varicositäten, wo und unter welchen Um-
ständen immer sie auftreten mögen, als eine abnorme Erscheinung
anzusehen sind, bedingt durch eine beginnende Gerinnung oder
Erstarrung als erstes merkbares Zeichen des Absterbens.
Ein Umstand, der bisher noch nicht erwähnt wurde, verdient, wie
ich glaube, besondere Beachtung, nämlich die ausserordentliche Ver-
schiedenheit der Caliberverhältnisse sowohl markhaltiger wie markloser,
centraler wie peripherer Nervenfasern. Am eindringlichsten macht sich
diese Thatsache vielleicht bei Betrachtung eines mit Methylenblau ge-
färbten grösseren Nervenstammes oder des Bauchstranges von Crustaceen
und Insekten geltend; aber auch bei markhaltigen Wirbelthiernerven
finden sich sehr auffallende Unterschiede. Hängt dies, wie es den
Anschein hat, mit functionellen Verschiedenheiten zusammen, so
würden, auch abgesehen von später zu erwähnenden physiologischen
Gründen, allein schon die anatomischen Differenzen sehr entschieden
gegen die oft behauptete Einerleiheit aller Nervenfasern sprechen, wo-
nach die Verschiedenheit der Reizwirkungen lediglich und allein durch
die Verschiedenheit der Erfolgsorgane bedingt sein soll.
In Bezug auf weitere histologische Einzelheiten sei erwähnt, dass
im Allgemeinen grosse Ganglienzellen auch dickeren Nervenfasern den
Ursprung geben als kleine, und dass alle peripheren Fasern um so
dünner werden, je mehr sie sich ihrem (peripheren) Ende nähern;
besonders deutlich tritt dies an allen Theilungsstellen motorischer
sowie insbesondere der elektrischen Nerven hervor. Innerhalb der
Centralorgane findet man dagegen oft ein gegentheiliges Verhalten,
indem eine Nervenfaser von der Ursprungszelle aus zunächst erheblich
an Dicke zunimmt.
II. Erregungsleitung und Erregbarkeit der Nerven.
Mit Rücksicht darauf, dass die wesentlichste, ja ausschliessliche
Function der Nervenfasern in der Erregungs 1 e i t u n g besteht, er-
scheint es angemessen, zunächst eine kurze Uebersicht der wichtigsten
Die Nerven iind ihre physiologische Function. 485
hierhergehörigen Thatsachen zu geben. Der Hauptsache nach besteht,
um dies an die Spitze zu stellen, kein principieller Unterschied in
Bezug auf die Leitung des Erregungsvorgangs in irgend einem irri-
tablen, leitungsfähigen Plasma, wie beispielsAveise der Muskelsubstanz
und im Nerven. Hier wie dort scheint die normale Continuität
der Structur ein unabweisliches Erforderniss der Erregungsleitung
zu sein, welche demnach, wenigstens innerhalb der Nervenfasern,
von Querschnitt zu Querschnitt übertragen wird. Gewisse neuere
Erfahrungen auf dem Gebiete der feineren Anatomie der Central-
organe haben es dagegen in hohem Grade wahrscheinlich gemacht,
dass hier, wie es scheint, das in Rede stehende Gesetz insofern eine
Ausnahme erleidet, als die Uebertragung der Erregung, insbesondere
von Ganglienzellen auf Nervenfasern resp. umgekehrt, vielfach nicht
per continuitatem, sondern nur durch Berührung (per contiguita-
tem) erfolgt.
Schon beim Muskel wurde darauf hingewiesen, dass unter nor-
malen Verhältnissen die Erregung in der direct gereizten Faser locali-
sirt bleibt und nicht der Quere nach auf die benachbarten über-
springt. Genau das Gleiche gilt auch für die Nerven und zwar
ebensowohl die marklosen wie die markhaltigen. Wie Kühne (9)
gezeigt hat, kann man mittels der monopolaren Reizmethode unter
bestimmten Bedingungen selbst einzelne Fasern des Froschischiadicus
elektrisch reizen und sieht dann immer nur die zugehörigen Muskel-
fasern sich verkürzen. Bestätigt wird die Isolation und Selbständig-
keit der einzelnen Fasern durch die Folgen partieller Durchschnei-
dungen eines Nervenstammes; dieselben lähmen stets nur einen
bestimmten Theil des von dem Nerven versorgten Gebietes. Wenn
sich eine Nervenfaser verzweigt, so verbreitet sich natürlich die Er-
regung der Stammfaser auch auf alle Theiläste. Derartige oft ausserordent-
lich reiche Theilungen kommen besonders entwickelt innerhalb der
Centralorgane, aber auch in peripheren Erfolgsorganen (Muskeln, elek-
trischem Organ u. s. w.) und Aviewohl viel seltener innerhalb der
Stämme selbst vor. In ersterer Hinsicht braucht nur an die oft er-
staunlich reiche Verästelung des einzigen Nervenfortsatzes monopolarer
Ganglienzellen im Bauchmark der Crustaceen und Würmer (Fig. 158)
sowne an die „Collateralen" im Rückenmarke der Wirbelthiere er-
innert zu werden. Hier werden durch die Theilung offenbar Be-
ziehungen zwischen mehr oder weniger weit von einander entfernt
gelegenen Theilen des centralen Nervensystems vermittelt. In ex-
tremster Weise rindet sich die Theilung (peripherer) Nervenfasern ent-
wickelt bei den in der Mehrzahl der Fälle als umgewandelte Muskeln
aufzufassenden elektrischen Organen gewisser Fische (vergl. das
Capitel über elektrische Fische). So wird bei Malopterurus das
ganze, aus vielen Tausend einzelner Platten bestehende paarige
Organ von je einer einzigen Nervenfaser versorgt, die sich
dementsprechend unzählige Mal theilen muss, um jede einzelne elek-
trische Platte zu versorgen, und ähnlich verhält es sich auch bei
andern elektrischen Fischen. Es sind dies übrigens zugleich die-
jenigen Fälle, welche auf die functionelle Bedeutung der Theilungen
peripherer Nervenfasern am meisten Licht werfen. Offenbar werden
solche hauptsächlich da vorkommen, wo kein isolirtes Functioniren
der betreffenden Endorgane erforderlich ist, wo es im Gegentheil
darauf ankommt, dass alle einzelnen Elemente möglichst gleichzeitig
486
Die Xerven und ihre physiologische Function.
und in gleichem Sinne zusammenwirken. Dies wird auch bei Muskeln
der Fall sein, welche Bewegungen von sehr geringer Mannigfaltigkeit
zu vermitteln haben, wie beispielsweise die in festen Hüllen ein-
geschlossenen Muskeln der Crustaceen und Insekten, deren Nerven
sich in der That durch äusserst reiche Theiluugen auszeichnen (Fig. 150).
Fig. 158. Ganglienzelle mit reich ver-
zweigtem Nervenfortsatz aus dem Bauch-
mark des Krebses (Methylenblau-Pikrin-
säure).
(Nach Biedermann.)
Solche kommen ferner nach Stannius sehr allgemein in den moto-
rischen Nerven der Fische und in gewissen Muskeln der Amphibien
(Fig. 159) vor und finden hier wohl auch ihre Erklärung in der
geringen Mannigfaltigkeit der Bewegungscombinationen bei diesen
Thieren. Je grösser diese letztere ist, je mehr ein Muskel bestimmt
ist, mit verschiedenen Fasergruppen bei verschiedenen, coordinirten
Die Nerven und ihre physiologische Function. 487
Bewegungen sich zu betheiligen, umsomehr wird es auf eine par-
tielle Innervirung ankommen und umso beschränkter werden auch
naturgemäss die Theilungen der Nervenfasern sein müssen.
In Bezug auf den Theilungsmodus der marklosen Fasern wirbel-
loser Thiere herrscht innerhalb der Centralorgane wie in der Peri-
pherie eine grosse Mannigfaltigkeit; von der einfachen dichotomischen
Theilung bis zur reichsten baumförmigen Verästelung linden sich alle
Uebergänge. Als zwei Haupttypen können hier die Verzweigungen
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Fig. 159. Einige Nervenstämmchen aus dem Brusthautmuskel eines mit Methylenblau
injicirten Frosches mit zahlreichen Theilungen und Ranvier'schen Kreuzen. (Nach
Kölliker.)
der Axencylinderfortsätze centraler Ganglienzellen im Bauchmarke der
Würmer und Crustaceen und die Muskelnerven der letzteren gelten.
Beide treten natürlich im Verlaufe eines und desselben Axencylinders
auf, indem der centrale, mehr oder weniger reich verästelte Abschnitt
von der peripheren Endausbreitung durch eine ungetheilte oder doch
theilungsarme Strecke getrennt wird. Während innerhalb des Central-
organs von der dicken Stammfaser meist zahlreiche, sehr feine Seiten-
zweige entspringen, welche sich ihrerseits baumförmig verästeln, wobei
der Unterschied im Caliber des Axencylinderstammes und seiner
Zweige oft ausserordentlich auffallend ist, herrscht im Bereiche der
488 I^iß Nerven und ihre pkysiologische Function.
peripheren Endausbreitimg der Typus streng dichotomischer Ver-
zweigung vor. Hierfür dürfte sich kaum ein geeigneteres Beispiel
linden lassen als der Oeffnungsmuskel der Krebsscheere mit seinen
Nerven (3). Hier enthalten die feineren Stämmchen stets nur zwei,
von einer geschichteten Bindegewebshülle umschlossene Axencylinder,
die in Bezug auf ihre Dicke Avesentlich verschieden sind und sich auch
mit Methylenblau in verschiedenem Tone färben. Verfolgt man die-
selben nach der Peripherie hin, so sieht man, wie sich ausnahmslos
beide Axencylinder an einer und derselben Stelle theilen; es wieder-
holt sich dies in gleicher Weise bei jeder neuen Gabelung bis in die
feinsten Verzweigungen hinein, wobei zugleich die Zahl der Theilungen
rasch zunimmt (Fig. 150). Wie innerhalb des Centralorganes, so ist
auch in der Peripherie das Grössenverhältniss der Zweige und der
Stammfaser bemerkenswerth. Nur selten erfolgt die dichotomische
Theilung so , dass die beiden Zweige gleich dick erscheinen , sondern
gewöhnlich ist der eine Ast viel dünner als der andere und oft be-
steht in dieser Beziehung ein geradezu auffallendes Missverhältniss,
indem ein sehr dicker Axencylinder ein überaus feines Aestchen seit-
lich abgiebt.
Hinsichtlich des Theilungsmodus der Wirbelthiernerven , ins-
besondere der so interessanten Verhältnisse im elektrischen Organ der
Zitterfische wird an geeigneter Stelle noch Näheres mitzutheilen sein.
Nicht in demselben Sinne wie bei den peripheren Nerven und
deren peripheren Endigungen hat das Gesetz der isolirten Lei-
tung Geltung innerhalb der Gen tralorgane. Hier sind nach-
weislich Bedingungen gegeben für eine allseitige Ausbreitung (Irra-
diation) der Erregung, wie insbesondere die Erscheinung des Strychnin-
tetanus lehrt, wobei durch Eeizung einer einzelnen oder weniger
sensiblen Nervenfasern unter Vermittelung des Rückenmarkes fast
sämmtliche quergestreifte Stammesmuskeln in die heftigste Erregung
gerathen können. Wenn hier derselbe beschränkte Reiz unter nor-
malen Verhältnissen auch nur eine auf bestimmte Muskelgruppen
beschränkte, coordinirte (Reflex- jBewegung hervorruft, so kann man
in gewissem Sinne von einer isolirten Leitung sprechen. Allein der
Grund, wesshalb in diesem Falle die Erregung bestimmte und stets
dieselben Bahnen einschlägt, liegt nicht in einem scharf begrenzten
anatomischen Zusammenhang der betreffenden nervösen Theile, die
vielmehr innerhalb des Centralorganes allseitig mit einander leitend
verknüpft sein müssen, sondern in gewissen besonderen Erregungs-
bezw. Leitungsbedingungen längs bestimmter („ausgeschliffener")
Bahnen oder Entladungslinien in der grauen Substanz.
Wo immer eine irritable Substanz mit einem entwickelteren
Leitungsvermögen begabt ist, da lässt sich auch stets eine nach allen
möglichen Richtungen gleichmässige Ausbreitung des Erregungspro-
cesses constatiren, so dass es fast als selbstverständlich bezeichnet
werden dürfte, dass jeder Nervenfaser gerade wie etwa einer Muskelfaser
doppelsinniges Leitungsvermögen zukommt.. Nur der Umstand,
dass jede Nervenfaser naturgemäss mit einem Erregungs- und einem
Erfolgsorgan verbunden ist, würde es demnach bedingen, dass eine
andere Richtung der Leitung als von ersterem zu letzterem keine er-
kennbare Wirkung zu entfalten vermag. Nichtsdestoweniger hat man
sich vielfach bemüht, einen directen experimentellen Beweis für die
in Rede stehende Frage zu liefern. Hier sind vor Allem Versuche zu
Die Nerven und ihre physiologische Function.
489
erwähnen, bei welchen man anstrebte, den centralen Theil durch-
schnittener sensibler und den peripheren motorischer Nervenfasern
künstlich zusammenzuheilen.
Ohne hier auf die nicht einwandfreien älteren Versuche von
Bidder, Philipeaux und Vulpian u. A. näher einzugehen,
bei welchen es sich darum handelte, den centralen Stumpf des sen-
siblen Ramus lingualis trigemini mit dem peripherischen des Hypo-
glossus zu vereinigen, seien nur die neuerdings von Kochs (10)
wiederholten Versuche P. Berts erwähnt, wobei die angefrischte
Schwanzspitze einer Ratte zunächst der Rückenhaut implantirt wurde,
worauf nach erfolgter Anheilung der Schwanz an seinem Ursprung
abgeschnitten wurde. Nach kurzer
Zeit sollte die Sensibilität in dem
ti-ansplantirten Schwänze wieder her-
gestellt sein , scheinbar ein Beweis
dafür, dass die der Degeneration
noch nicht anheimgefallenen Nerven
in einer der normalen entgegen-
gesetzten Richtung die Erregung
leiteten. Auch die Beweiskraft
dieser Versuche ist durch Kochs
als völlig unzureichend erwiesen
worden.
Als einen wirklichen experimen-
tellen Beweis für das doppelsinnige
Leitungsvermögen der Nervenfasern
darf man aber, abgesehen von ge-
wissen, später zu erwähnenden Beob-
achtungen von Du Bois-Reymond
über die Fortpflanzung der nega-
tiven Schwankung in beiden Rich-
tungen, Versuche an verzweigten Nervenfasern ansehen,
wie sie von Kühne (11) an den intramuskulären Nervenverzwei-
gungen verschiedener Froschmuskeln, insbesondere des Sartorius und
Gracilis, von Babuchin an dem hierzu noch geeigneteren elektrischen
Organ des Zitterwelses (Mal opteruru s) angestellt worden sind. Der
zarte Nerv, welcher in der Mitte des Sartorius seitlich hinzutritt, ver-
zweigt sich in dem Muskel derart, dass sich die einzelnen Fasern als
Bestandtheile von Gabelästchen vielfach ebenfalls dichotomisch theilen.
Machte nun Kühne das obere breite Muskelende durch Eintauchen
in erwärmtes Oel wärmestarr (Fig. 160 a), so zuckte eventuell bei Durch-
schneidung des erstarrten Abschnittes mit der Scheere der normal
gebliebene Theil des Muskels, was sich so deuten lässt, dass noch
erregbare Nervenfasern zwischen den starren, todten Muskelfasern
mechanisch gereizt wurden und die Erregung in centripetaler
Richtung auf Aeste übertragen haben, welche jenseits des erstarrten
Muskeltheiles abzweigen. Beweisender ist noch der sogenannte „Zwei-
zipfel versuch", bei welchem das breite Sartoriusende der Länge
nach gespalten wird , worauf Reizung des einen Zipfels stets auch
ein Mitzucken des anderen bedingt (Fig. 160 6). Da hierbei, soferne
es sich um einen normalen Muskel handelt, eine Uebertragung
durch secundäre Erregung von Muskelfaser zu Muskelfaser aus-
geschlossen erscheint, so bleibt nur die eine Deutung übrig, dass die
Biedermann, Elektrophysiologie. 32
490 I^iß Nerven uud ihre physiologische Function.
eine Zinke einer Nervengabel gereizt wurde^ welche beide Zipfel ver-
sorgt und somit die Erregung zunächst centripetal geleitet haben
musste. Später hat Kühne analoge Versuche auch an anderen Mus-
keln, insbesondere dem Gracilis des Frosches, mit Erfolg augestellt.
Wie die beistehende Fig. 160 c zeigt, theilt sich der zutretende Nerv in
zwei Zweige, a und b, von denen der eine so umschnitten wird, dass
ein Lappen entsteht, dessen Reizung (durch Schnitt) jedesmal eine
Zuckung des ganzen Muskels bewirkt. Da auch hier Fasertheilungen
an der Theilungsstelle des ganzen Nerven vorhanden sind, so beweist
der Versuch die centripetale Leitung in dem Nervenzweig des Lappens.
Auf den Versuch von B a b u c h i n kommen wir an anderer Stelle
noch zurück; hier sei nur bemerkt, dass es sich dabei um eine Ent-
ladung des ganzen Organes handelt, wenn ein Zweig der peripheren
Verästelung der einzigen Nervenfaser gereizt wurde; es musste also
wie bei Kühne 's Versuch die Erregung in dem centrifugal leitenden
Nerven zunächst centripetal fortgeleitet worden sein, um sich auf alle
einzelnen Zweige zu verbreiten (12).
Wenn man den Achsencylinder als homogen auffassen dürfte, so
wäre das Ergebniss des Zweizipfelversuches am Sartorius, sowie der
analogen Versuche an anderen Muskeln und am elektrischen Organ
von Malopterurus sehr klar und einwandfrei. Die Erregung hätte
in den aus den Theilungen hervorgegangenen Aesten, die gereizt wurden,
den rückläufigen Weg eingeschlagen bis zur Theilungsstelle, von dieser
vermuthlich weiter denselben centripetalen Weg in der Stammfaser
und nur in den andern zur Peripherie gehenden Theilästen den nor-
malen centrifugalen. Nun sind aber die Achsencylinder nicht homogen,
sondern aus Fibrillen zusammengesetzt, und vieles spricht dafür, dass
diese die eigentlich leiten den Elemente sind. Wir können
also kein Stück des Nerven als etwas physiologisch Einheitliches be-
trachten und können oder müssen vielleicht darin so viel isolirte
Leitungswege annehmen, als es Fibrillen enthält. Dann würden aber
die Resultate des Zweizipfelversuches, wie Kühne ausführt, nur unter
einer Reihe von Prämissen als entscheidend für die doppelsinnige
Nervenleitung anzusehen sein. Setzt man das Gesetz als gültig voraus,
so muss an den Theilungsstellen einer Primitivfaser auch eine Thei-
lung der Achsencylinderfibrillen angenommen werden (Kühne). Als
M. Schnitze die Remak'sche Lehre von der fibrillären Structur
des Achsencylinders neu zu begründen suchte, war er bekanntlich zu
der entgegengesetzten Ansicht gelangt: die Nervenfasern sollten nach
ihm schon sämmtliche für die peripherische Ausbreitung bestimmte
Fibrillen enthalten, so dass in den Theilungen der Achsencylinder
nur eine Auffaserung oder ein Abbiegen, aber keine wirklichen
Fibrillentheilungen vorkämen. Lidessen sprechen gegen diese An-
schauung viele Thatsachen. Wo immer Nerventheilungen vorkommen,
steht die Summe der Faserquerschnitte an der Peripherie in auffälligem
Missverhältniss zur Grösse des Querschnittes der Stammfaser ; man
braucht nur an den schmächtigen Achsencylinder der einzigen Faser
des elektrischen Nerven l)eim Zitterwels zu denken, und das Areal,
das die ungeheure Zahl seiner Theiläste im Querschnitt zusammen-
gelegt bedecken würde (G. Fritsch berechnet die Zunahme auf das
346 760 fache!), um über dieses Missverhältniss nicht im Zweifel zu
sein, oder nur irgendeinen an Nerventheilungen reichen Muskel anzu-
sehen, um sich zu vergewissern, dass der Querschnitt der Stammfaser
Die Nerven und ihre physiologische Function.
491
schon von der Summe der Querschnitte der nächsten Theilfasern er-
heblich übertroffen wird. Da dies nicht von einer Zunahme der Mark-
rinde herrührt, wie ohne Weiteres ersichtlich, so müssen es die Achsen-
cylinder sein, und es bleiben somit nur zwei Möglichkeiten übrig, um
die Schultze'sche Ansicht aufrecht zu erhalten: die Fibrillen müssten
entweder nach der Peripherie hin dicker werden, oder es müsste ihre
Zahl auf Kosten des Stromas abnehmen, was sich Beides nicht nach-
weisen lässt (Kühne).
Das Studium der Nervenerregung wird ausserordentlich erschwert
durch den Umstand, dass der Erregungsvorgang mit keinerlei un-
mittelbar sinnlich wahrnehmbaren Veränderungen des Nerven ver-
knüpft ist. Man ist durchaus auf die am Wirkungsende des Nerven
eintretenden Veränderungen
angewiesen, unter denen sich
vor Allem die Muskelcontrac-
tion als ein überaus feines und
empfindliches Reagens auf die
jeweiligen Zustandsänderungen
des Nerven erweist. Der Mus-
kel, besonders der querge-
streifte, ist der sicherste Index
der Nervenerregung, und da-
her sind fast alle Kenntnisse
über die physiologischen Eigen-
schaften der peripheren Nerven-
fasern aus Versuchen an moto-
rischen Nerven abgeleitet. Reizt
man irgend einen motorischen
Nerven, so fällt vor Allem die
ausserordentlich rasche Reac-
tion des Muskels auf, die bei
beliebigem Abstand der ge-
reizten Stelle vom Muskel kein
merkliches Intervall zwischen dem Moment der Reizung und dem Be-
ginn der Contraction erkennen lässt. Man hatte sich daher auch
früher vielfach übertriebene Vorstellungen von der Geschwindigkeit
der Fortleitung jener Veränderungen im Nerven gemacht und die-
selbe geradezu für unmessbar gehalten.
Helmholtz (13) gelang es zuerst, die Geschwindigkeit der Nerven-
leitung zu messen, und er bediente sich hierzu zunächst der Pouillet'schen
Zeitmessungsmethode (Fig. 161), wobei mittels einer Wippe im Momente
der Reizung durch Oeffnung bei C ein Kettenstrom bei P geschlossen
und durch die beginnende Contraction des Muskels bei B wieder ge-
öffnet wird; während der kurzen Zwischenzeit wirkt derselbe auf ein
Galvanometer G und bewirkt eine merkliche Ablenkung des Magneten,
deren Grösse der Schliessungsdauer proportional ist. Wird nun ein-
mal eine vom Muskel entferntere (a) und dann eine demselben mög-
lichst nahe (&) gelegene Nervenstelle gereizt, so ist ersteren Falles die
Ablenkung grösser. Aus der beobachteten Differenz ergiebt sich die
Zeit der Fortpflanzung der Erregung von der ferneren (centralen)
Reizstelle zu der näheren (peripheren). Dasselbe Ziel erreichte Helm-
holtz später in noch einfacherer Weise durch graphische Verzeich-
nung der Muskelzuckungen bei Reizung an zwei möglichst von ein-
32*
Fig. 161. Bestimmung der Fortpflanzungsge-
schwindigkeit der Erregung im motorischen
Froschherzen nach Helmholtz (Methode von
Pouillet).
492 I^ie Nei-vea und ihre physiologische Function.
ander entfernten Stellen des Nerven, Der Unterschied der Latenz-
stadien der beiden gegen einander merklich verschobenen, sonst aber
congruenten Curven (Fig. 162) entspricht wieder der Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der Erregung in der zwischenliegenden Nervenstrecke.
Dieselbe beträgt für motorische Froschnerven bei Zimmertemperatur
etwa 27 m in der Secunde, Nach derselben Methode am Menschen
(Muskeln des Daumenballens) angestellte Versuche ergaben einen
wesentlich höheren Werth (34 m). Bemerkenswerth sind ferner Be-
obachtungen von Chauveau an Nerven glatter Muskeln bei Säuge-
thieren, aus denen hervorzugehen scheint, dass hier die Leitungs-
geschwindigkeit viel geringer ist, als bei den Nerven quergestreifter
Muskeln. Er fand dieselbe kaum 8 m in der Secunde. Noch ge-
ringer scheint die Leitungsgeschwindigkeit in den marklosen Nerven
mancher Wirbellosen zu sein, selbst wenn dieselben mit quergestreiften
Muskeln in Verbindung stehen. Fr ederi cq und Vandervel de (15)
fanden je nach der Temperatur (10 — 20^ C.) 6 — 12 m an den Scheeren-
nerven des Hummers, während Fiek die Fortpflanzungsgeschwindig-
keit an den Verbindungsnerven von Anodonta auf nur 1 cm in
Fig. 162. Verschiebung der Zuckungscurven bei Reizung des N. ischiadicus vom Frosch
dicht am Rückenmark und 5 mm vom Knie. (Nach Th. W. Engelmann.)
der Secunde schätzt. An dem Mantelnerven von Eledone fand
Uexküll (16) neuerdings Werthe von 400 mm bis 1 m.
In interessanter Weise versuchte neuerdings W. A. Boekelman
(17) die Leitungsgeschwindigkeit der Erregung in den marklosen
Fibrillen der Cornea bei Fröschen zu bestimmen, indem er den zeit-
lichen Unterschied im Eintreten einer durch mechanische oder elek-
trische Reizung ausgelösten Reflexbewegung (Retractio bulbi ) bestimmte,
wenn einmal das Centrum und dann die Peripherie der Hornhaut ge-
reizt wurde. Es ergaben sich Werthe von derselben Ordnung, wie an
den markhaltigen Fasern der Stämme, eine Thatsache, die mit Rück-
sicht auf die Frage, ob die peristaltischen Bewegungen glattmuskeliger
Organe auf Nervenleitung oder auf directer Uebertragung der Erregung
von Zelle zu Zelle beruhen, nicht ohne Belang ist.
Aus allen vorliegenden Bestimmungen ergiebt sich das wesentliche
und wichtige Resultat, dass der Nervenprocess sich mit einer verhält-
nissmässig geringen Geschwindigkeit, jedenfalls mit einer ohne Ver-
gleich geringeren als etwa Licht oder Elektricität, fortpflanzt. Wenn
es sich, wie nicht zu bezweifeln ist, um die Fortleitung einer materi-
ellen, ehemischen Veränderung des Substrates (der Achsencylinder-
substanz) handelt, so wird die qualitative Beschafi'enheit des letzteren
den Leitungsvorgang voraussichtlich wesentlich beeinflussen. In der
That ist die Abhängigkeit der Leitungsgeschwindigkeit von verschie-
denen physiologischen Zuständen des Nerven seit lange bekannt. Schon
Die Nerven und ihre physiologische Function. 493
Helniholtz hatte bei seinen Untersuchungen an motorischen Frosch-
nerven eine sehr beträchtliche Verlangsamung der Nervenleitung durch
Kälte beobachtet. Ebenso fanden Fredericq und Vandervelde
die Geschwindigkeit der Nervenleitung im Hummernerven sehr von
Jahreszeit und Temperatur abhängig. Es verhält sich also der Nerv
in dieser Beziehung ganz analog wie der Muskel und wohl jedes reiz-
bare Plasma. Man wird in dieser Uebereinstimmung einen neuen Beweis
dafür erblicken dürfen, dass das, was im Nerven fortgepflanzt wird,
wohl eine Veränderung ähnlicher Art ist, wie in jedem anderen reiz-
baren, leitungsfähigen Plasma, d. h. ein mit StofFverbrauch ver-
knüpfter chemischer Process. Es erscheint diese Bemerkung mit
Rücksicht auf gewisse später zu erwähnende Thatsachen und Er-
wägungen nicht unwesentlich.
• Auch durch anhaltenden Druck und Compression des Nerven
kann das Leitungsvermögen eine tiefgreifende Schädigung erfahren,
wobei es bemerkenswerth ist, dass dies, wie es scheint, bei motorischen
und sensiblen Fasern in verschiedenem Grade der Fall ist, indem
nach den Einen (Lüderitz 18) die Drucklähmung sich früher an
den ersteren, nach Anderen dagegen (Zederbaum 19) an den letz-
teren bemerkbar macht.
Sehr bemerkenswerth und von grossem theoretischen Interesse ist
die Einwirkung der Anästlietica auf das Leitungs vermögen
der Nerven. Es wurde schon bei Besprechung der Aetherwirkung
auf Muskeln hervorgehoben , dass dabei vor Allem das Leitungsver-
mögen und später erst die Contractilität, zuletzt aber die örtliche
Erregbarkeit erlischt. Die letztere äussert sich durch gewisse secundär-
elektromotorische Erscheinungen (u. a. den positiven Polarisationsstrom),
sowie auch durch den Demarcationsstrom noch zu einer Zeit, wo die
Contractilität bereits völlig aufgehoben ist. Auch beim Nerven scheint
das Leitungsvermögen bei Einwirkung von Aether, Chloroform, Alkohol
u. s. w. in erster Linie zu leiden, wie sich ohne Weiteres aus dem
Fortbestehen des Nervenstromes bei aufgehobenem Leitungsvermögen
ergiebt, wenn man diesen in dem früher erörterten Sinne als Ausdruck
einer localen Dauererregung auffassen darf. Nach einer zuerst von
Grünhagen (20) angewendeten Methode lässt sich örtlich jederzeit
leicht das Leitungsvermögen eines Nerven aufheben, indem man die
Narcose auf das untere Ende eines frei präparirten Froschiadicus be-
schränkt, derart, dass der Nerv durch ein Glasrohr hindurchgezogen
wird, welches das centrale Schnittende freilässt und an beiden Enden
bis auf eine kleine, zum Durchziehen des Nerven geeignete Stelle ver-
schlossen ist. In den Mantel des Rohres sind 3 andere Glasröhren
eingeschmolzen; zwei dienen zur Zu- und Ableitung der Gase oder
Dämpfe, die dritte zur Einführung von Elektroden ; auf genau gleichen
Elektroden ruht die centrale Nervenstrecke. Stets lässt sich dann
ein Stadium der Narcose constatiren, wo selbst stärkste Reizung
oben wirkungslos bleibt, während eine bedeutend schwächere unten
(d. h. im Röhrchen) noch erregt. Schliesshch tritt natürlich auch
hier Lähmung ein. Durch Einblasen von Luft lässt sich der nor-
male Zustand wieder herbeiführen. Es ist also unter diesen
Umständen das Leitungs vermögen des Nerven bei er-
haltener, ja anfangs sogar gesteigerter örtlicherErreg-
barkeit der narcotisirten Strecke erloschen, ein Zustand,
494 Die Nerven und ihre physiologische Function.
Regel gehört. Auch bei diesen Versuchen machen sich, wie neuer-
dings Pereies und Sachs (21) gezeigt haben, Verschieden-
heiten z Avischen den centripetal und centrifugal
leitenden Nervenfasern eines gemischten Nervenstammes (Ischia-
dicus) bemerkbar. Bestimmt man zunächst den Minimalreiz, der
oberhalb der zu narcotisirenden mittleren Nervenstrecke eine Bewegung
der Pfote auslöst, und andererseits die Reizstärke, bei welcher von
der Schwimmhaut aus mit Sicherheit eine reflectorische Bewegung
des betreffenden Beines vermittelt wird, so zeigt sich als Folge der
Narcose regelmässig ein früheres Seh winden der reflectirten
als der direct ausgelösten Bewegung. Noch einwandfreier
ergiebt sich dasselbe Resultat aus analogen Versuchen, bei welchen
jedesmal der Nerven stamm, einmal oberhalb, dann unterhalb der
ätherisirten Strecke, tetanisirend gereizt wurde. Stets fällt auch hier
zuerst die bei Reizung der unteren Stelle durch centripetale Leitung
einer sensiblen Erregung verursachte Unruhe des Körpers weg, wäh-
rend noch Bewegungen der Pfote von oben her zu erzielen sind, ob-
schon der hierzu erforderliche Reiz von vornherein schwächer ist, als
der andere. „Bei localer Narcotisirung des Froschischiadicus erlischt
zunächst die Leitungstähigkeit der sensiblen, später die der motorischen
Nervenfasern; beim Erwachen aus der Narcose werden die motorischen
Fasern früher leitungsfähig, als die sensiblen."
Eine genauere Untersuchung zeigt, dass beim Nerven unter Um-
ständen das Verhältniss zwischen Erregungsleitung und Erregung sich
auch noch in anderer Weise und in anderem Sinne ändern kann. Schon
Grrünbagen (1. c.) beobachtete, dass in einem gewissen Stadium
der Narcose mit Kohlensäure die örtliche Erregbarkeit der betreifenden
(peripher gelegenen) Nervenstrecke schon sehr bedeutend herabgesetzt
sein kann, Avährend der Erfolg der Reizung der nicht vergifteten
Nervenstrecke zur selben Zeit unverändert bleibt, obschon der in ihr
ausgelöste Erregungsvorgang sich durch die narcotisirte Strecke fort-
pflanzen musste. Aehnliche Versuche wurden auch später von Szpil-
mann Vmd Luchsinger, Hirschberg, Efron, Gad und Sa wyer,
Groldscheider und neuerdings in ausgedehntem Maasse von G. P i o -
trowsky (22) angestellt. Es ergab sich vor Allem die bemerkens-
werthe Thatsache, dass bei localer Einwirkung von Alkohol-
dämpfen (resp. Aether oder Chloroform) in der Regel
zuerst und in viel höherem Grade das Leitungsvermögen
an der betreffenden Nervenstelle sinkt, ehe die Reiz-
barkeit merklich beeinträchtigt erscheint, während
die Kohlensäure, sowie auch Kohlenoxyd umgekehrt zu-
nächst das Leitungs vermögen ganz unverändert lässt,
während die locale Erregbarkeit rasch vernichtet wird.
Es sind diese Beobachtungen um so auffallender, als sie der nächst-
liegenden und geläufigen Anschauung zu widersprechen scheinen,
dass Reizbarkeit und Leitungsvermögen in einem derartigen Verhält-
niss zu einander stehen, dass, wenn jene vermindert wird, auch dieses
abnimmt, und umgekehrt. Man muss sich doch offenbar vorstellen,
dass die Fähigkeit der Nervenfasern, die Erregung zu leiten, und
andererseits, an jeder beliebigen Stelle ihres Verlaufes durch äussere
Einwirkungen (Reize) in Erregung versetzt zu werden, nur verschiedene
Ausdrucksweisen derselben fundamentalen Eigenschaft der Nervensub-
stanz und in Folge dessen untrennbar mit einander verbunden seien.
Die Nerveil und ihre physiologische Function. 495
Die natürlichste Folgerung hieraus Avürde , um mit Herrn a n n zu
reden, die sein, dass bei der Leitung der Process der Erregung sich
fortwährend wiederholt, dass jedes Theilchen des Nerven in den gleichen
Zustand geräth , mag es von dem im Nerven entlaug lautenden Vor-
gang ergriffen oder direct durch einen äusseren Reiz erregt werden,
so dass ein Leitungsvorgang erst von ihm seinen Ausgang nimmt.
Die Nervenleituug ist nach dieser Anschauung, wie jeder Leitungs-
vorgang innerhalb einer irritablen Substanz, nichts weiter, als eine
Uebertragung der Erregung von Theilchen zu Theilchen und wird
deshalb auch als Fortpflanzung des Erregungsvorganges bezeichnet.
Von verschiedener Seite wurde demgegenüber die Möglichkeit,
ja Wahrscheinlichkeit betont, dass Reizbarkeit (Aufnahmsfähigkeit) und
Leitungsvermögen des Nerven von einander getrennte und in keinem
ursächlichen Zusammenhang stehende Eigenschaften desselben seien. Die
erste genauere, hierliergehörige, physiologische Beobachtung stammt von
H. M u n k (23), der beim Verfolgen der mit dem Absterben des Nerven
verbundenen Reizbarkeitsveränderungen am Nerv-Muskelpräparat vom
Frosch fand, dass die Hauptverästelungsstellen des N. ischiadicus gegen
die stärksten elektrischen Reize unempfindlich geworden sein können
zu einer Zeit, wo der Muskel auf viel schwächere, weiter central am
Nerven angebrachte Reize noch kräftig zuckt. Allgemeinere Beachtung
hat dann eine Angabe von Erb (24) gefunden, welcher beobachtete,
dass nach Quetschung des N. ischiadicus beim Frosch oder Kaninchen
zur Zeit, wenn die Regeneration angefangen hat, und die geschädigte
Extremität schon wieder normal vom Thiere bewegt wird, die gequetscht
gewesene und in Regeneration begriffene Nervenstelle selbst noch un-
empfindlich für elektrische Reize ist. Hierher zählen ferner auch die
verwickeiteren und später näher zu erörternden Erfahrungen am Rücken-
mark, durch welche M. Schiff zur Aufstellung seiner Lehre von der
„ästhesodischen" und „kinesodischen", direct nicht reizbaren, wohl aber
leitungsfähigen Nerven - Substanz geführt wurde. Vor Allem aber
Avaren es die schon erwähnten Erfahrungen von Grün ha gen, Efron,
Gad-Sawyer, Goldscheider und Piotrowsky über die Er-
folge localer Narcose motorischer Nerven, welche in neuerer Zeit sehr
bestimmt die Ansicht auftreten Hessen, dass die beiden Vorgänge der
Reizaufnahme und der Reizleitung von einander zu trennen sind. In
der That scheint die Thatsache, dass eine periphere, (mit COg) nar-
cotisirte Nervenstrecke unerregbar wird und doch die von einer cen-
traleren Stelle kommende Erregung durchlässt, kaum einer anderen
Deutung fähig, als der, dass Erregbarkeit und Leitungsvermögen un-
abhängig von einander sich ändern können.
Darf man den mit dem Erregungszustand verbundenen Vorgang
in einem Nervenelement als den Reiz betrachten, durch welchen
das in der Längsrichtung nächstgelegene Element erregt wird, so er-
scheint die Leitungsfähigkeit dann als Empfindlichkeit der Nerven-
elemente gegen gewisse Einflüsse, welche auf dieselben in der Längs-
richtung einwirken. Man kann mit Gad diese Empfindlichkeit als
„Längslabilität" bezeichnen. Nun ist es leicht denkbar, ja wahrschein-
lich, dass der Reiz, welchen die Nervenelemente selbst auf einander
ausüben, wenn auch vielleicht mit einem äussern Reize nahe verwandt,
oder identisch, doch günstigere Bedingungen findet, als_ letzterer.
Diese Annahme (vergl. Hermann's Handbuch H. L p. 187) lässt es
dann begreiflich erscheinen, dass in einem gewissen Stadium der
496 I^iö Nerven und ihre physiologische Function.
localeii Narcose die örtliche Anspruchsfähigkeit schon wesentlich ge-
sunken sein kann, während in Folge des Vorherrschens der „Längs-
labilität" das Leitungsvermögen noch intact erscheint (Grün hagen's
CO2- Versuch) ; unter andern Umständen (wie bei Alkoholbehandlung)
nimmt dagegen, wie auch regelmässig beim Muskel, die directe Erreg-
barkeit viel langsamer ab, als das Leitungsvermögen. Mit Rücksicht
auf das eben Gesagte wird man das Verhalten kaum im 8inne von
S z p i 1 m a n n und L u c h s i n g e r so deuten dürfen, dass hier die von
einer ferneren, normalen Stelle ausgehende Erregung durch eine
längere, gelähmte Strecke hindurchgehen muss und daher an Intensität
verliert. Aber auch die von Gad geäusserte Anschauung einer ver-
schiedenen Beeinflussung der Längs- und Quererregbarkeit der Nerven
scheint hauptsächlich aus dem Grunde unannehmbar, weil, wie ich
glaube, an der Unerregbarkeit des Nerven für reine Querdurchströmung
ebensowenig zu zweifeln ist, wie beim Muskel. Zu einer richtigen
Auffassung und sicheren Deutung der mitgetheilten Thatsachen wird
man wohl erst dann gelangen, wenn genauer bekannt sein wird, wie
eigentlich ein erregter Nervenquerschnitt auf den nächstfolgenden als
Reiz wirkt. Dass nicht nothAvendig der Zustand der Erregung an sich
auch schon die Fortleitung des Processes auf die Nachbarquerschnitte
bedingt, dafür lassen sich ja zahlreiche Beispiele anführen. Die Locali-
sation der Schliessungs- und OefFnungsdauercontraction, die durch rein
örtliche Veränderungen bedingte „positiv-anodische Polarisation" des
narcotisirten Muskels, das Einschleichen selbst starker Ströme in Nerven
und Muskeln zeigen hinlänglich, dass die Art der Entstehung insbe-
sondere der zeitlichen Entwicklung des Erregungsvorganges für die
Weiterleitung desselben ganz wesentlich ist. Es wäre ganz wohl
denkbar, dass durch verschiedene Siibstanzen die zeitlichen Verhältnisse
der Reizübertragung von Querschnitt zu Querschnitt derart beeinflusst
würden, dass die erwähnten Wirkungen erklärbar werden.
Bei seinen Versuchen an motorischen Froschnerven hatte sich
Helmholtz maximaler Reize bedient, oder die Reizgrösse nur soweit
an der einen Reizstelle vermindert, dass die Zuckungen gleich gross
ausfielen. Aus Untersuchungen, welche er später mit Baxt (14) am
Menschen bei Erregung der Muskeln des Daumenballens durch Reizug
des N. medianus an 2 verschiedenen Orten anstellte, schien sich zu
ergeben, dass das Latenzstadium bei Reizung der entfernteren Nerven-
strecke regelmässig kleiner ausfällt bei stärkerer Reizung, während
an der nahen Nervenstelle kein erheblicher Einfluss der Reizstärke vor-
handen ist. Hieraus würde folgen, dass stärkere Erregungen sich
schneller im Nerven fortpflanzen, als schwächere. Diese
Ansicht fand in späteren Untersuchungen von Valentin, Troitzky
und Wundt eine Stütze, während Rosen thal und Lautenbach
behaupten, dass die Leitungsgeschwindigkeit von der Reizstärke un-
abhängig ist. Aus einer neueren, ausführlichen Untersuchung von
M, V. Vintschgau (25) ergiebt sich, dass, „wenn man den (Frosch-)
Nerven an 2 verschiedeneu Stellen mit jenen Reizstärken (Inductions-
schlägen) zu erregen anfängt, welche die erste oder nahezu die erste
maximale Zuckung verursachen, und zu immer stärkeren Reizen über-
geht, ein Reizstärkeintervall vorhanden ist, innerhalb dessen die Fortpflan-
zungsgeschwindigkeit der Nervenerregung keine wesentliche Aenderung
erfährt". Sobald aber die Reizstärke eine gewisse obere Grenze über-
schritten hat, nimmt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung
Die Nei'ven und ihre physiologische Function. 497
mit dem weiteren Verstärken des Reizes zu bis zur Unmessbarkeit.
Auch A. Fick (26) fand am marklosen Verbindungsnerven von
Anodonta, dass sich ein starker Reiz in den Nervenfasern rascher
fortpflanzt, als ein schwacher, und S. Fuchs (27) gelangte neuerdings
zu demselben Resultate bei Bestimmung der Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der negativen Schwankung im marklosen Mantelnerven von
Eledone.
Es erscheint hier am Platze, die Frage zu erörtern, ob und
welchen Einfluss die Einschaltung g an gliöser Elemente
in den Verlauf von Nervenfasern auf die Fortleitung der
Erregung besitzt.
Bei Reizung motorischer Fasern ausserhalb des Centralorganes
kommt natürlich diese Frage kaum in Betracht; hier kann es sich
höchstens darum handeln, zu untersuchen, ob die Uebertragung der
Erregung vom Nerven auf den Muskel eine erhebliche Verzögerung der
Leitung bedingt oder nicht. Nach später zu erwähnenden Unter-
suchungen von Bernstein scheint dies in der That der Fall zu sein.
Von grösster Bedeutung und stets zu berücksichtigen ist dagegen
die Einschaltung von Ganglienzellen bei allen Reizversuchen, wo
entweder Theile eines Centralorganes direct oder unter Vermittlung
centripetalleitender Nerven erregt werden. Den anscheinend einfachsten
Fall hat S. Exner (28) seinerzeit untersucht, wobei es sich nur um
die Frage handelte, oJa in einem Spinalganglion schon durch Ein-
schaltung einer einzigen Ganglienzelle eine merkliche Veränderung
der Leitungsgeschwindigkeit bewirkt wird. Es ist klar, dass, wenn
die Zeit, welche auf den Durchgang der Erregung durch das Ganglion
entfällt, erheblich länger ist, als die bekannte Leitungszeit durch ein gleich
langes Stück gewöhnlicher Nervenfaser, daraus zu folgern sein würde,
dass Schaltstücke eigener Art angebracht sein müssen. Die einzigen
histologischen Elemente der Ganglien, welche als solche Schaltstücke
aufgefasst werden können, sind aber dieNervenzellen. Die Verhält-
nisse liegen hier noch viel einfacher, als im Centralnervensystem , wo
man ja ebenfalls, wie gleich zu zeigen sein wird, die Uebertragungszeit
von Erregungen vielfach als Beweis für das Vorhandensein besonderer, in
den Verlauf der einfachen Leitungsbahnen eingeschalteter Glieder
benutzt hat, wo aber die Verzögerung der Erregungsleitung nicht nur
auf Nervenzellen, sondern auch auf das möglicherweise dort vorhandene
Nervennetz bezogen werden kann. S. Exner, welcher sich die Auf-
gabe stellte, die Zeit zu bestimmen, welche die centripetalen Erregungs-
wellen für den Durchgang durch die Spinalganglien des Frosches
brauchen, versuchte mittels des Bernstein'schen Rheotomes an seinem
Objecte (bestehend aus Ischiadicus, Ganglion und hinterer Wurzel) die
Zeit zwischen der Reizung des Ischiadicus und dem Eintreften der
negativen Schwankung in den hinteren Wurzelfasern zu messen, welche,
zum Galvanometer abgeleitet waren. Er erhielt Zahlen, welche inner-
halb der von Bernstein für die Geschwindigkeit in gewöhnlichen
peripheren Nerven gefundenen Werthe lagen, und schloss daraus, dass im
Ganglion keine Verzögerung der Leitung stattfindet. Doch lässt das
Rheotomverfahren mancherlei Einwände zu. Wundt (29) hatte schon
vor Exner dieselbe Frage zu lösen versucht, indem er den Einfluss
der Spinalganglien auf die Reflexreizbarkeit prüfte.
Zuckungscurven, welche von Muskeln des einen Beines (beim Frosch)
aufgeschrieben wurden, wenn auf der anderen Seite einmal der
498 I5i6 Nerven und ihre physiologische Function.
Ischiadicusstamm und dann eine hintere Wurzel jenseits des Ganglions
(zwischen diesem und Rückenmark) gereizt wurde, Hessen stets einen
merklichen Unterschied der Latenzzeit, entsprechend einer durch das
Ganglion bewirkten Verzögerung der Leitung erkennen. Nach Exner
hat noch Gad (30) an dem beim Kaninchen in den Verlauf des
Vagus eingeschalteten Ganglion jugulare entsprechende Versuche
angestellt. Als Reaction, deren Eintrittszeit bestimmt werden sollte,
diente die durch Vagusreizung zu erzielende reflectorisehe Beeinflussung
der Athembewegung. Die einzige Bedingung, welche variirt werden
sollte, war die Applicationsstelle des Reizes, einmal central und einmal
peripher vom Ganglion. Die Athembewegungen wurden in üblicher
Weise graphisch verzeichnet, und um die äusseren Bedingungen für
den jeweiligen Zustand des Centrums bei den einzelnen Prüfungen
möglichst gleich zu haben, wurde entweder Apnoe herbeigeführt, oder
es wurde Sorge getragen, die Reize in möglichst gleichen Athemphasen
einwirken zu lassen. Bei diesen Versuchen ergab sich für die Reactions-
zeit bei Reizung peripher vom Ganglion
0,123 See. (Mittel aus 148 Versuchen)
central vom Ganglion 0,087 - ( - - 97 - )
Differenz 0,036 See.
Von Interesse für die hier vorliegende Frage sind auch neuere
Beobachtungen von v. Uexküll (16) über die Function des Ganglion
stellatum belEledonemoschata, von welchem seitlich eine grössere
Anzahl von Nerven ausstrahlen (Stellarnerven), welche die Mantel-
und Hautmusculatur versorgen. „Bei Reizung der Stellarnerven kommt
sofort die zunächst liegende Musculatur in Thätigkeit und dann nach
und nach die entferntere im Tempo der Leitungsgeschwindig-
keit der Nerven. Bei Reizung vor dem Ganglion wird
die Contraction der nächstliegenden Musculatur ver-
zögert, -svas durch den sanfteren Anstieg der Curve ausgedrückt
wird. Dafür ist aber der Curvengipfel spitzer, was darauf himveist,
dass der Gesammteffect aller Muskeln auf eine kürzere Zeit zusammen-
gedrängt ist. Demnach scheint das Ganglion stellatum eine Art
Correctur für die langsame Fortpflanzungsgeschwindigkeit zu liefern,
indem es die Musculatur des Mantels befähigt, mehr synchronische
und daher eff'ectvollere Bewegungen auszuführen."
Wenn sich so aus dem bei örtlich verschiedener Reizung zu beob-
achtenden Unter seh i ed der Reflex Zeiten Anhaltspunkte für die
Beurtheilung des Einflusses ergeben, welchen in den Verlauf von Nerven-
fasern eingeschaltete Ganglienzellen auf den zeitlichen Verlauf des
Erregungsvorganges ausüben, so zeigt dies nicht minder auch das Ver-
halten der Reflexzeit an sich. Eine Reflexbewegung, d. i. ein
Bewegungsvorgang im Muskelapparate in Folge eines centripetal ge-
leiteten Reizes, kommt bekanntlich nur zu Stande, wenn die centripetale
Bahn, auf welche zunächst der Reiz wirkt, mit der motorischen Bahn
durch einen Theil des Centralnervensystemes in Verbindung steht. Bei
den Wirbellosen sind es die einzelnen Ganglien, bei den Wirbelthieren
vor Allem das Rückenmark und die Oblongata, wo sich diese
Reflexvorgänge abspielen. Im Jahre 1855 machte Helmhol tz die
Mittheilung, dass die Zeit, die zwischen dem Augenblick der Reizung
und dem Eintritt der Bewegung quergestreifter Muskeln auf reflec-
torischem Wege vergeht, 10—12 mal länger ist, "
Die Nerven und ihre physiologische Function. 499
zur Leitung in peripheren Nerven von ungefähr gleicher Länge er-
forderlich sein würde. Es ist dabei vorausgesetzt, dass die Leitungs-
geschvvindigkeit in den motorischen und sensiblen Nerven annähernd
oder ganz gleich sei, was ja nach den vorliegenden Versuchen in der
That der Fall zu sein scheint.
Die Zeitdauer eines ganzen Reflexvorganges summirt sich im
Wesentlichen aus drei Bestandtheilen : 1) die Zeit, Avelche die Leitung
im centripetalleitenden Nerven vom Reizorte bis zum centralen Ende
braucht; 2) die Zeit, Avelche verstreicht vom Eintreffen der Erregung
im Centrum bis zur Uebertragung derselben auf das centrale Ende des
centrifugalleitenden (motorischen) Nerven; es ist dies die eigentliche
„Reflexzeit" („reduclrte Reflexzeit" Exner's). Endlich 3) die Zeit,
welche die Erregung braucht, um den motorischen Nerven zu durch-
laufen und im Muskel die Contraction hervorzurufen.
Die für die Leitungsgeschwindigkeit im Froschnerven gewöhnlich
angenommene Zahl von etwa 27 M. p. See. stellt nun freilich, Avie
schon erwähnt, keinen ganz invariablen Werth dar; auch sind die
Untersuchungen von Helmholtz unter der Voraussetzung angestellt,
dass die Erregungsleitung mit constanter Geschwindigkeit erfolgt, was
keineswegs sichergestellt, ja nicht einmal wahrscheinlich ist. Es würde
daher jene Zahlenangabe für die Reflexzeit nur eine obere Grenze
bedeuten, und für längere Nerven, als sie thatsächlich zur Verfügung
stehen, würde man wahrscheinlich geringere Geschwindigkeiten finden.
Aber selbst wenn man eine derartige Annahme macht, so bleibt dennoch
die von Helmholtz beobachtete Thatsache unanfechtbar: Es wird
der Erreg ungvor gang, während er durch das Rücken-
mark von den sensiblen Fasern zu den motorischen ge-
langt, auffallend verzögert, Avas Avohl seinen Grund
wesentlich in einer besonderen Beschaffenheit der
nervösen Zellenelemente haben dürfte, wodurch sie
sich von ihren Ausläufern, den Nervenfasern, unter-
scheiden, und es lässt sich dieser Unterschied vielleicht am besten
so ausdrücken, dass man sagt, es bestehe im nervösen Centralorgan
für die Fortpflanzung der Erregung ein viel grösseres Hinderniss, als
in den sensiblen oder motorischen peripheren Bahnen.
Wie die Leitungsgeschwindigkeit in den peripheren Nerven, so ist,
nur noch in viel höherem Maasse, auch die Reflexzeit als Ausdruck
der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung innerhalb der Central-
organe von sehr verschiedenen Umständen abhängig und daher äusserst
variabel.
Vor Allem kommt es auf die Länge des Weges innerhalb
des Cent ralorganes oder, wie man das vielleicht auch ausdrücken
darf, die Zahl der zu durchsetzenden Ganglienzellen an. Hierbei
muss ein Umstand erwähnt werden, durch den sich die centrale
Erregungsleitung ganz Avesentlich von der peripheren unterscheidet
und zugleich äusserst verwickelt gestaltet. Jedes Centralorgan besteht
bekanntlich aus einer Vielheit von Nervenzellen mit centripetalen und
centrifugalen Fasern. Würde nun das Gesetz der isolirten Leitung
auch innerhalb des Centrums strenge gelten, und bliebe jede Leitungs-
bahn ähnlich isolirt, wie im peripheren Verlauf der Nerven, so würde
jede Erregung von Seite einer zuleitenden Nervenfaser auch immer
nur eine einzige, bestimmt localisirte Wirkung haben können, die unter
keinen Umständen sich ändern könnte. Denken wir uns andererseits,
500 I^i^ Nerven und ihre physiologische Function.
dass die Verknüpfungen der verschiedenen Fasern durch Ganglien-
zellen, die schliesslich eine nähere oder entferntere Verbindung aller
Gebiete des Centralorganes herstellen, die Leitung nach allen Richtungen
mit gleicher Leichtigkeit gestatteten, so würde eine irgendwo im Central-
organ ankommende Erregung diffus irradiiren, ohne eine bestimmte
localisirte Wirkung hervorbringen zu können. Weder das Eine noch
das Andere ist aber in Bezug auf die Reflexbewegungen wirklich zu-
treffend, deren Eigenthümlichkeiten bereits in scharf ausgeprägter
Weise bei niederen wirbellosen Thieren hervortreten. Immer handelt
es sich um c o o r d i n i r t e Bewegungen, d. i. solche, die lediglich durch
die Thätigkeit einer bestimmten Anzahl und in einer bestimmten
Weise gruppirter Muskeln zu Stande kommen. Am klarsten tritt dies
hervor bei den Reflexbewegungen im engeren Sinne, d. i. jenen Be-
wegungen, welche durch quergestreifte Skelettmuskeln nach Reizung
sensibler Nerven unter Vermittlung eines Centi^alorganes bewirkt werden.
Drückt man das Ende einer Zehe bei einem geköpften Frosch,
so wird das betreffende Bein angezogen, worauf wieder Ruhe eintritt.
Es ist dies eine typische, durch das Rückenmark vermittelte Reflex-
bewegung. Die Erregung, einwirkend auf sensible Nerven der Haut,
pflanzt sich von der Peripherie centralwärts bis zum Rückenmark fort und
giebt Anlass zu einer in umgekehrter Richtung verlaufenden Erregung,
welche vom Rückenmark ausgehend gewisse Muskeln des betreffenden
Gliedes erregt. Hier, wie in allen ähnlichen Fällen, muss man eine
Irradiation und zwar eine ganz bestimmte Irradiation der
Erregung im Centralorgan annehmen, denn es ist offenbar die
Zahl der erregten motorischen Nervenfasern eine un-
verhältniss massig grössere, als die Zahl der primär
erregten sensiblen Fasern, Ein Stich oder eine möglichst be-
grenzte Berührung der Haut mit der feinsten Nadelspitze genügt, um
eine sehr grosse Zahl von Muskeln gleichzeitig in Contraction zu ver-
setzen, und wie wir etwa bei einer reizbaren Mimose aus der einer
localen Reizung folgenden, weitverbreiteten Reaction auf eine Weiter-
leitung der Erregung innerhalb bestimmter Bahnen schliessen dürfen,
so müssen wir auch in dem ersterwähnten Falle eine functionelle Ver-
kettung jeder einzelnen sensiblen Nervenfaser mit vielen motorischen
Fasern innerhalb des Centralorgans annehmen; denn jede Möglichkeit
der Uebertragung hört auf, sobald das letztere zerstört ist. Das
Gesetz der isolirten Leitung, im Gebiete des peripheren
Nervensystems allgemein giltig, gilt also nicht für den
Reflexvorgang. Auf Grund von Thatsachen, die früher schon er-
örtert wurden, darf man behaupten, dass, wenn es möglich wäre, eine
einzige Primitivfaser eines motorischen Nervenstammes isolirt zu reizen,
eben nur die von dieser Faser versorgten Muskelfasern sich contra-
hiren würden, und ein Gleiches gilt von den sensiblen Nervenfasern
bis zum Eintritt ins Centralorgan. Bei einer Reflexbewegung ist dies
anders; hier überträgt sich die Erregung einer einzigen oder weniger
sensibler Fasern unter Vermittlung des Centralorganes auf eine Viel-
heit von motorischen Elementen. Es liesse sich aber immer noch ein-
wenden, dass der jeweils zu beobachtenden, bestimmten Irradiation
der Erregung auch eine feste und unabänderliche anatomische Ver-
knüpfung gewisser centripetalleitender Nervenfasern mit gewissen
centrifugalleitenden zu Grunde liegt. Allein auch diese Vorstellung
lässt sich leicht als eine unbegründete erweisen. Zunächst ist die
Die Nerven und ihre physiologische Function. 501
Stärke des peripheren Reizes von wesentlichem Ein fluss
auf die Grösse der Irradiation. So sieht man, wenn der
sensible Reiz grösser wird, bei einem geköpften Frosch Reflexbewegungen
in beiden Hinterbeinen und schliesslich auch in den Vorderbeinen
und am Rumpfe auftreten. Dann handelt es sich um eine Irradia-
tion der Erregung fast über das ganze Rückenmark,
und fast alle motorischen Nerven, welche aus diesem Theil des Central-
organes entspringen, gerathen reflectorisch in Erregung. Aber auch
dann noch sind die Bewegungen durchaus coordinirt,
d. i. die Gruppen der gleichzeitig erregten motorischen
Fasern sind stets physiologisch zusammengehörige.
Es ist leicht verstcändlich , dass unter diesen Umständen die
Ueber tragung der Erregung auf entferntere Muskeln
eine längere Zeit beansprucht. Bestimmt man die Reflexzeit
für einen Muskel derselben und den analogen der anderen Seite bei
Reizung einer gewissen Hautstelle, so ist die Reflexzeit im letzteren
Falle grösser als im ersteren. Die Grösse dieses Betrages wird die
Zeit der Querleitung genannt. Geringer scheinen die Wider-
stände in der Längsrichtung des Rückenmarkes zu sein. (Wundt 29.)
Am unzweideutigsten wird aber die Eigenart des Leitungs-
vorganges innerhalb der nervösen Centralorgane be-
wiesen durch die überaus auffallenden Veränderungen, welche in sehr
vielen Fällen durch gewisse Gifte hervorgerufen werden. Es ist
seit lange bekannt, dass bei den meisten Wirbelthieren nach Vergiftung
mitStrychnin schon auf die leisesten Reize irgendwelcher sensibler
Theile die heftigsten uncoordinirten Muskelbewegungen (Krämpfe) auf-
treten, durch welche bei Warmblütern sehr i'asch der Tod herbeige-
führt wird. Durch ältere wie neuere Versuche ist es als sichergestellt
zu betrachten, dass das Rückenmark für den Strychninkrampf ebenso
wie für die Entstehung der Reflexe überhaupt Mitbedingung ist.
Weder die peripheren motorischen, noch auch die sensiblen Nerven
werden durch das Gift merklich in ihrer Erregbarkeit beinflusst. Es
stellt das Strychnin demnach ein specifisches Rückenmark sgift dar.
Die Einverleibung sehr kleiner Dosen (von 0,02 — 0,04 mgr) be-
wirkt beim Frosch zunächst keine andere Veränderung als eine deut-
liche Zunahme der Reflexerregbarkeit. Die Reflexzuckungen treten
bei schwächeren Reizen und bei jedem einzelnen Reize mit grösserer
Sicherheit als zuvor ein*, weder zeigt sich aber in der Dauer der
latenten Reizung noch in dem sonstigen Verlauf eine irgend merkliche
Abweichung von normalen Reflexzuckungen. Nach etwas stärkeren
Dosen geht dann ganz allmählich, während die Dauer der latenten
Reizung nach Rosenthal immer mehr abnimmt (Wundt giebt das
Gegentheil an), der Verlauf der Zuckung in einen anhaltenden Tetanus
über, der schon bei schwächster Reizung eintritt und mit der Ver-
stärkung derselben nur wenig zunimmt. Auf der Höhe der Strychnin-
wirkung tritt bei einem Reize, der eben stark genug ist, um den Reflex
auszulösen, sogleich auch schon die Maximalerregung ein. In Bezug
auf die Abhängigkeit einer Reflexzuckung von der Stärke der Reizung
ist hervorzuheben, dass nur ein ganz enges Intervall der Reizstärken
besteht, innerhalb dessen die Contractionsgrösse mit dem Reize wächst ;
sobald dieser überhaupt im Stande ist, einen Reflex auszulösen, ist
dies schon gleich eine ziemlich starke Muskelzuckung, die bei weiterer
Verstärkung des Reizes nicht wesentlich mehr zunimmt, während
502 ^'6 Nerven und ihre physiologische Function.
dagegen die Reflexzeit abnimmt. Nach Rosenthal (31)
kann dann bei sehr starker Reizung die Reflexzeit so klein werden,
dass von dem ursprünglichen Helmholtz'schen Phcänomen gar nichts
mehr übrig bleibt und dass, wenn man die Zeit berechnet, welche die
Erregung braucht, um von der Reizstelle zum Rückenmark und von
diesem zum Muskel zu gelangen, die Summe beider Zeiten ungefähr
der wirklich gemessenen Latenzdauer entspricht. Das an sich schon
sehr enge Gebiet, innerhalb dessen einer Steigerung der Reize eine
merkliche Zunahme des reflectorischen Erfolges entspricht, wird bei
stärkerer Strychninvergiftung immer kleiner und zuletzt verschwindend
klein (Rosenthal).
Die Erscheinungen, welche man dann an einem derart vergifteten
Frosch beobachtet, sind sehr charakteristisch. Wie schon erwähnt,
tritt am normalen Reflexapparat selbst bei schwächster Reizung der
Hinterpfote eine Beugebewegung der betreß'enden Extremität ein,
während die Streckmuskeln in Ruhe bleiben. Ganz anders, wenn der
Frosch mit Strychnin vergiftet wurde; dann beobachtet man unter
allen Umständen starke Contractionen sämmtlicher Muskeln des
Beines, und da die Strecker stärker sind, wird das Bein krampfhaft
gestreckt. Es fragt sich nun, worauf es beruht, dass der normale
coordinirte Beugereflex nach Strychninvergiftung in den uncoordinirten
Streckreflex übergeht. Nimmt man statt der gewöhnlichen Dosen viel
kleinere (bis zu 0,0001 gr), so sieht man, dass dieselben nicht im
Stande sind, den Beugereflex in den Streckreflex überzuführen, ob-
schon sie doch einen Einfluss auf das Rückenmark ausüben, indem
ein schwächerer Reiz schon ausreicht, um den Reflex zu bewirken, und
indem die Reflexe prompter und sicherer eintreten. Sowie man aber
über diese ausserordentlich kleinen Dosen hinausgeht, so treten sehr
bald krampfhafte Streckreflexe ein. Der Unterschied ist der, dass bei
dem coordinirten Beugereflex zunächst gewisse Bahnen allein reflec-
torisch angeregt werden, dagegen bei den incoordinirten Streckreflexen
alle gleichzeitig, und dass nun die Streckmuskeln kräftiger wirken
und die Stellung des Gliedes bedingen. Ist das Rückenmark bis zu
einem gewissen Grade mit Strychnin vergiftet, so wird von allen wirk-
samen, ihrem Orte nach noch so verschiedenen sensiblen Reizen eine
gleichzeitige Zusammenziehung aller Skelettmuskeln ausgelöst, äh ob
sämmtliche Nerven derselben in ein Bündel zusammengefasst gleich-
zeitig gereizt würden. Kann man sonach während der Strychninver-
giftung von jedem beliebigen Empfindungsnerven der Haut aus jeden
motorischen Nerven in gleicher Weise erregen, so müssen notwendig
auch alle Fortsetzungen derselben innerhalb des reflectirenden Central-
organes (Rückenmark) in gleicher Weise mit einander verkettet sein.
Es ist selbstverständlich, dass sich durch die Vergiftung nicht der Bau
und Verlauf der centralen Bahnen geändert haben kann, auf welchen
sich die Erregung im Rückenmark sonst fortpflanzt. Wir müssen
vielmehr annehmen, dass die neuen Beziehungen, in welche die
centralen Nervenelemente zu einander getreten sind, aus einer
chemischen Aenderung ihrer Substanz abzuleiten sind. Das
Strychnin hat somit den Beweis geliefert, dass die Wege, welche
die Erregung im unver gifteten Centralorgan ein-
schlägt, nicht darum beschränkte sind, weil sie durch
eine bestimmte Anordnung des Faser Verlaufes vorge-
schrieben werden, sondern nur deshalb, w e i 1 d e r d i e E r -
Die Nerven und ihre physiologische Function. 503
regung fortpflanzenden Masse in bestimmten Richtungen
eine besondere Beweglichkeit zukommt. Denkt man sich
die ganze graue Substanz als ein in sich zusammenhängendes Netzwerk
von gleichartigem, erregbarem und leitungsfähigem Plasma, das mit
sensiblen und motorischen Nervenfasern in directer Verbindung steht,
eine Vorstellungs weise, die freilich durch die neueren histologischen
Untersuchungen nicht gestützt Avird, so kann man sich das Zustande-
kommen geordneter, einem bestimmten Reize in immer gleicher gesetz-
mässiger Weise folgender Reflexbewegungen nur so erklären, dass
gewisse „Entladungslinien" bestehen, längs deren die betreffende
Erregung normaler Weise fortgepflanzt Avird, weil hier geringere Wider-
stände bestehen, das Plasma erregbarer ist. Man hat die Bahnen, welche
eine sensible Erregung, die eine gewisse, bestimmte Reflexbewegung
hervorruft, im Rückenmarke einschlägt, oft mit ausgefahrenen Geleisen
verglichen, und in gewisser Beziehung triff't dieser rohe Vergleich ja
auch zu. Hier drängt sich nun aber die Frage auf: wie ist es zur
Bildung des so wunderbar zweckmässig angeordneten Netzes von Ent-
ladungslinien gekommen, und weiter, ist es möglich, dass auch während
des individuellen Lebens neue Combinationen, neue Erregungsbahnen
für Reflexe gebildet werden? Es würde zu weit führen, auf diese
Fragen hier näher einzugehen; es sei daher nur bemerkt, dass Grund
zu der Annahme vorliegt, dass jede im Centralnervensystem auf irgend
einer Bahn ablaufende Erregung auf derselben Spuren hinterlässt,
indem sie gewisse, immer schärfer hervortretende, molekulare Ver-
änderungen daselbst hervorruft, welche den abermaligen Ablauf von
Erregungen längs derselben Entladungslinien mehr und mehr erleichtern,
je öfter die betreffende Erregung sich wiederholt (Ex ner's „Bahnung").
Diese Voraussetzung erklärt nicht nur die Thatsache, dass sich während
des individuellen Lebens neue reflectorische Bewegungscombinationen
bilden können, sondern bildet auch den Schlüssel zum Verständniss
der Entstehung jener zweckmässigen Reflexe, welche das Individuum
als „ererbte Ei Werbung" von seinen Vorfahren überkommt.
Wenn durch die vorstehenden Thatsachen erwiesen ist, dass das
Gesetz der isolirten Leitung nicht in dem strengen Sinne innerhalb
der Centralorgane gilt, Avie im Bereiche der peripheren Nerven, so
lässt sich auf der andern Seite auch zeigen, dass dasselbe in Bezug
auf ein anderes Hauptgesetz gilt, nämlich das der doppelsinnigen
Leitung. Es ist bekannt, dass centrifugale (insbesondere motorische)
und centripetale Nerven in gesonderten Bündeln (Wurzeln) in's Rücken-
mark der Wirbelthiere eintreten. Es zeigt sich nun, dass niemals
(auch nicht nach Strychninvergiftung) durch centrale Reizung einer
durchschnittenen vorderen Wurzel Reflexbewegungen oder Krämpfe
ausgelöst werden. Mit Rücksicht auf den Bau des Rückenmarkes
müsste hieraus geschlossen Averden, dass die Protoplasmafortsätze der
Vorderhornzellen, soferne dieselben überhaupt bestimmt sind, Erregungen
zu leiten, dies nur in einer Richtung zu thun vermögen. Als eine
Eigenschaft dieser Zellen AAÜirde dann die Beschränkung der bei ge-
gewöhnlichen Nervenfasern doppelsinnigen Erregungsleitung auf eine
einzige Richtung anzusehen sein. ( J. G a d.) Die neueren Aufschlüsse
über den Bau der grauen Substanz und speciell über die anatomische
Beschaff"enheit des Reflexbogens lassen freilich die ganze Sache in
einem anderen Lichte erscheinen. Denn handelt es sich nicht um
Continuität der Substanz, sondern nur um Contact zwischen den
504 I^ie Nerven und ihre physiologische Function.
Endästchen der zuleitenden Nervenfaser (dem „Endbäumchen") und
der reflectirenden (motorischen) Ganglienzelle, so wird die einseitige
Leitung ganz wohl verständlich und ebensowenig wunderbar wie die
Thatsache, dass Erregung eines Muskels nicht auch zugleich den
motorischen Nerven miterregt.
Höchst bemerkenswerth ist die sehr verschiedene Empfind-
lichkeit verschiedener Thiere für Strychnin, die wohl auf
entsprechende, freilich gänzlich unbekannte Unterschiede in der
chemischen Zusammensetzung der centralen Nervenzellen schliessen
lässt. So zeichnen sich unter den Wirbelthieren Meerschweinchen und
Hühner durch eine besondere Unempfindlichkeit für Strychnin aus
(Leube 32). Vor allem aber lassen die meisten Wirbellosen die
charakteristischen Krampferscheinungen, selbst bei Vergiftung mit
grossen Dosen, ganz oder fast ganz vermissen. Von Gl. Bernard
ist die später vielfach bestätigte Beobachtung gemacht worden, dass
die Reflexerregbarkeit wirbelloser Thiere (Krebs, Blutegel) durch
Strychnin nicht geändert wird. Sowohl beim Egel wie beim Krebs
hatte er jegliches an die Erscheinungen bei Wirbelthieren erinnerndes
Erregungsstadium völlig vermisst, vielmehr nur eine rasch eintretende,
primäre (centrale) Lähmung gesehen. Krukenberg (33) bestätigte
diese Angaben Bernard 's, während Yung (34) im Gegentheil an
Krebsen heftige, allerdings rasch der Lähmung weichende, tetanische
Wirkungen sah. Auch Luchsinger (35) berichtet über Erscheinungen
an Wirbellosen (Egel, Krebs) bei Strychninvergiftung, welche er als
Reflexkrämpfe deuten zu dürfen glaubt. Allerdings treten dieselben
nur unter gewissen Bedingungen auf. Luchsinger bediente sich,
wie Krukenberg, des sinnreichen, zuerst von Bernard für den
Frosch eingeführten Verfahrens partieller Vergiftung. Ein Egel
wird durch 2 Ligaturen in 3 Theile abgetheilt; die Ligaturen sollen
die Girculation hemmen, ohne das Bauchmark einzuschnüren. Wird
dann in den mittleren Abschnitt Strychnin (0,000 3 gr) injicirt, so
hängt nach Luchsinger der Erfolg ganz von der Temperatur
ab. Befand sich der Egel vorher einige Zeit im Wasser von etwa
8 0 G., so zeigt sich keine Spur von Erregungserscheinungen, wogegen
die vergiftete Mitte eines vorher bei 25—30** G. gehaltenen Thieres
die lebhaftesten Erregungserscheinungen zeigt. „Immerfort laufen
Reizwellen von Querschnitt zu Querschnitt, und ist endlich vorüber-
gehend Ruhe eingetreten, so weicht diese sofort wieder wilden Be-
wegungen, wenn nur ein leiser Hautreiz das Thier trifft." Dabei
bleiben die unvergifteten Endabschnitte durchaus ruhig. Nach einiger
Zeit tritt dann Lähmung der Mitte ein. Es scheint hiernach ein
principieller Unterschied im Verhalten der centralen Ganglienzellen
gegen Strychnin bei Wirbellosen und Wirbelthieren nicht zu bestehen,
wenngleich eine gradweise Verschiedenheit der Empfindlichkeit nicht
wohl geläugnet werden kann. Im Uebrigen besteht der auffallende
Einfluss, welchen die Temperatur auf die Strychninwirkung beim Egel
zeigt, in einem gewissen Grade auch beim Frosch und wurde hier
schon von Kunde beobachtet und später auch von W u n d t erörtert.
Stärkere Strychnindosen bewirken sowohl bei Wirbelthieren wie
auch, und zwar viel rascher, bei Wirbellosen stets einen lähmungs-
ähnlichen Zustand, dessen Ursache, wie die vorhergehende Erregbar-
keitssteigerung, centralen Ursprungs ist. Es gleicht in diesem
Stadium der Strychninwirkung das Verhalten der Thiere sehr der
Die Nerven und ihre physiologische Function. 505
Narkose, welche durch die Anästhetica (Aether, Chloroform,
Alkohol) bewirkt wird. Schon früher wurde der eigenthümlichen
Wirkungen ausführlich gedacht, welche durch diese Stoffe an allen
contractilen Substanzen, wie auch an Nervenfasern erzeugt werden.
In Bezug aufEmpfindlichkeit stehen aber die Ganglien-
zellen in ersterLinie, und zwar, wie es scheint, bei allen
Thieren.
Der schwächende Einfluss der Anästheti(;a auf das Reflexvermögen
der Wirbelthiere ist seit lange bekannt, und man darf wohl sicher
annehmen, dass es die Ganglienzellen der Centren sind,
deren normale Lebenseigenschaften zunächst und in
tiefgreifenderWeise durch diebetre f f e nden Substanz en
geschädigt werden, was sich durch eine eventuell bis auf Null
gehende Herabsetzung der Erregbarkeit und des Leitungsvermögens
verräth. Es ist das Verdienst Cl. Bernard's, darauf hingewiesen
zu haben, dass die Wirkung der Anästhetica eine allgemeine, die
Irritabilität des Plasmas überhaupt betreffende ist. Doch ergiebt sich
aus allen Erfahrungen unmittelbar, dass die verschiedenen Gewebe
eines und desselben Organismus gradweise sehr verschieden beeinflusst
werden. Unterwirft man einen Menschen oder ein Wirbelthier der
Wirkung des Chloroforms oder Aethers, so ist es in erster Linie das
ausserordentlich empfindliche Protoplasma der Zellen der Hirnrinde,
auf welches diese Substanzen wirken. Das Bewusstsein, die bewusste
Emptindung und willkürliche Bewegung, kurz, alle psychischen Thätig-
keiten im engeren Sinne erlöschen, während immer noch Reflexe aus-
gelöst werden können. Nach dem dann folgenden Erlöschen der Reflex-
function zeigen sich noch immer Nerven, Muskeln, Drüsen etc. nicht
alterirt. Dies erklärt ja eben, wie die vitalen Functionen fort-
dauern können, und wie die beginnende Narkose das Gesammtleben
nicht direct bedroht. Die chirurgische Anästhesie ist also in Wahrheit
eine unvollkommene; sie betrifft blos die empfindlichsten Elemente
des centralen Nervensystems, während die andern, reizbaren Theile
(Muskeln, Nerven, Drüsen etc.) zwar auch der Narkose zugänglich
sind, aber erst viel später ergriffen werden, nachdem bereits die Func-
tionen der nervösen Centren längst erloschen sind. Unter allen Um-
ständen ergiebt sich aber aus den vorstehenden Erörterungen die
wichtige Thatsache, dass auch bei den Nervenfasern Erregbarkeit und
Leitungsvermögen als Function des Protoplasmas des Axencylinders
zu betrachten sind, was mit Rücksicht auf gewisse, später zu be-
sprechende Anschauungen von grösster Bedeutung ist.
Ergiebt sich aus Versuchen über die Wirkungsweise verschiedener
Gifte mit aller Sicherheit der Schluss, dass die centralen und
leitenden Theile des Nervensy stemes (Zellen und Fasern)
in ihren Lebenseigenschaften ganz wesentlich ver-
schieden sind, so ist dies nicht minder der Fall, wenn man den
Einfluss, welchen verschiedene andere Momente auf Erregbarkeit und
Leitungsvermögen nervöser Centren besitzen, einer genaueren Betrachtung
unterwirft. Hier ist vor Allem di e Temperatur zu erwähnen, deren
ausschlaggebende Bedeutung für die Functionen jeder lebendigen
Substanz ja allbekannt ist. Dass Frösche ihre Reflexerregbarkeit bei
verschiedenen Temperaturen verschieden lange bewahren, im Allge-
meinen bei niederer länger als bei lioher, ist seit lange bekannt, doch
fehlt es an eingehenden, genauen Untersuchungen, was um so mehr
Biedermann, Elektrophysiologie. o'o
506 Die Nerven und ihre physiologische Function.
ZU bedauern ist, als die vorliegenden Angaben einander vielfach
widerspi-echen. Während einerseits behauptet Avird, dass Erwärmung
des Rückenmarkes auf 24—27 "^ C. die Reflexerregbarkeit steigert, und
zwar um so flüchtiger, je höher die Temperatur ist, liegen anderer-
seits Angaben vonTarchanow und Freusberg vor, denen zufolge
durch Einpacken des Rumpfes in Eis die von den Hinterextremitäten
auszulösenden Reflexe ebenfalls bedeutend gesteigert werden , eine
Thatsache, die, falls sie sich bestätigt, an die früher erörterten
Wirkungen der Abkühlung bei quergestreiften Muskeln erinnert, wie
sie durch Gad und Hey maus aufgedeckt wurden. Jedenfalls bedarf
dieser Punkt genauerer Untersuchung. Vielleicht handelt es sich
auch bei der Ganglienzelle um ein ungleich rasches Absinken der
Dissimilations- und Assimilationsprocesse bei der Abkühlung.
Wie dem auch sein mag, soviel darf als sicher gelten, dass inner-
halb gewisser, für den Kaltblüter niederer, für den W^armblüter höherer
Grenzwerthe Temperatursteigerung auch die Reflexerregbarkeit steigert.
Es käme nur noch darauf an, diese Grenzwerthe experimentell genauer
festzustellen. Dass aber eine Temperatursteigerung über eine gewisse
Grenze hinaus gerade wie eine zu grosse Abkühlung lähmend wirkt,
ist eine ebenfalls für alle irritablen Gebilde geltende Thatsache. Jedes
Protoplasma verfällt durch zu hohe Temperaturen in Wärmestarre
(Wärmelähmung), Selbstverständlich beginnt schon etwas unter dieser
Grenze die Erregbarkeit zu leiden. Bringt man einen Frosch für
einige Zeit in eine Temperatur von 30 — 38" C, so verfällt er alsbald
in einen Zustand des Scheintodes. Zwar schlägt das Herz noch, aber
das Thier ist ganz reactionslos , selbst stärkste Reize bleiben ohne
merklichen Erfolg, und nur locale Muskelcontractionen lassen sich
auslösen. Bringt man den Frosch dann für kurze Zeit in kaltes
Wasser, so beflndet er sich bald wieder im Vollbesitz seiner centralen
Functionen. Es erfolgen zunächst reflectorische Bewegungen der
Kehlmuskeln, bald darauf spontane Athembewegungen, und endlich kehrt
auch die Reflexerregbarkeit des Rückenmarkes zurück. Noch später
erholen sich auch die anderen Centren der Oblongata und zuletzt erst
das Grosshirn, indem die spontane Bewegh'chkeit zurückkehrt. Es
erinnert dieses Verhalten unmittelbar an die Folgewirkungen zu-
nehmender Veno si tat des Blutes, Schon längst ist der normale
Gasgehalt des Blutes bei Warmblütern als nothwendige Bedingung für
das normale Functioniren gewisser Theile des Centralnervensystems,
insbesondere des „Athemcentrums", erkannt worden, und wenn der
Gaswechsel des Blutes ganz unterbrochen wird, wenn wir ein
Thier ersticken lassen, dann treten beim Warmblüter eine ganze Reihe
mächtigster Reizwirkungen von Seite der Centralorgane hervor. Es
betheiligen sich dabei nicht nur das Athemcentrum , Gefässcentrum
u. s, w., sondern das ganze Centralnervensystem geräth in mächtigste
directe Erregung. Dasselbe ist auch der Fall, wenn (bei Warmblütern)
die Blutzufuhr gänzlich abgesperrt wird. Das Blut, und zwar
Blut von normaler Zusammensetzung, insbesondere
normalem Gasgehalt, ist absolut not h wendig für die Er-
haltung der Functionen der nervösen C e n t r e n ; aber diese
Nothwendigkeit ist graduell ausserordentlich verschieden bei Kalt- und
Warmblütern. Bindet man einem Frosch das Herz ab oder bringt
man ihn in ein sauerstoöYreies Medium, so kann er noch lange sich
willkürlich bewegen ; er springt, schwimmt, fühlt u. s. w. Die Unter-
Die Nerven imd ihre physiologische Function. 507
brechung der Blutcirculation hat nicht sofort auch die Functionen des
centralen Nervensystemes vernichtet. Man kann auch die gesammte
Blutmenge bei einem Frosch, wie schon Cohnheim gezeigt hat, durch
physiologische Kochsalzlösung ersetzen und sieht nichtsdesto-
Aveniger bei nicht zu hoher Temperatur die normalen Functionen
der Nervencentren stundenlang fortdauern. Verlängert man freilich
den Versuch über Gebühr, so sieht man allmählich die Reflexfunction
erlöschen. Aber selbst nach stundenlangem Verschluss der Aorta oder
nach ebenso langem Aufenthalt in sauerstofffreien Räumen kann sich ein
Frosch wieder völlig erholen. Stets sieht man zuerst die Functionen
der grossen Nervencentren leiden und erst viel später auch die peri-
pheren erregbaren Theile (Muskeln und Nerven). Die verschiedenen
Elementartheile sind also auch sehr verschieden empfind-
lich gegen die Entziehung der Blutzufuhr und die da-
durch bedingten Stoffwechseländerungen. Die einen sterben
schnell ab, wie die graue Substanz des Gehirns und Rückenmarkes,
die andern viel langsamer, wie die peripheren Nervenstämme und die
Muskeln. Bei den Warmblütern sind die Phänomene im Wesentlichen
dieselben, aber ihr zeitlicher Verlauf ist ungemein viel schneller; auch
bei ihnen stirbt zunächst das Centralnervensystem ab , dann erst die
peripheren Nerven und die Muskeln. Dies gilt ebensowohl für die
Anämisirung, wie für die durch Verarmung des Blutes an Sauer-
stoff bedingte Asphyxie. In ersterer Beziehung liefert besonders
der sogenannte Stenson'sche Versuch ein gutes Beispiel. Durch Ab-
klemmung der Bauchaorta lässt sich beim Warmblüter in wenigen
Minuten eine Lähmung der Hinterextremitäten erzielen, wobei die Er-
regbarkeit und das Leitungsvermögen der Nervenstämme und Muskeln
noch vollkommen erhalten ist.
Für die Abhängigkeit der centralen Ganglienzellen vom Blute
spricht endlich auch schon die anatomische Vertheilung der Gefässe
innerhalb der weissen und grauen Substanz der Centralorgane, sowie
die Gefässarmuth der peripheren Nerven. Ausserdem ist bekannt,
dass eine länger dauernde Absperrung der Blutzufuhr mehr oder
weniger ausgeprägte histologische Veränderungen der Ganglienzellen
der grauen Substanz des Rückenmarkes beim Warmblüter zur Folge
hat; dieselben können bereits vollständig verschwunden (degenerirt)
sein, während die Fasern des weissen Markmantels noch intact er-
scheinen (36).
Die im Vorstehenden kurz erwähnten Thatsachen zeigen, dass die
reflexübertragenden und automatischen Centralapparate des Gehirns
und Rückenmarkes sich durch eine ganze Reihe charakteristischer
Eigenthümlichkeiten in Bezug auf Erregbarkeit und Leitungsvermögen
sehr wesentlich, wenngleich nicht principiell, von anderen irritablen
Elementen unterscheiden. Wir finden die centrale Ganglienzelle be-
sonders empfindlich gegen gewisse Gifte. Wir sehen, wie das Strychniu
in geradezu specifischer Weise die Erregbarkeit der Ganglienzellen
des Rückenmarkes beeinflusst, während es auf Nerven und Muskeln
keine erhebliche Wirkung besitzt ; wir sehen die Anästhetica in erster
Reihe immer die Centralapparate afliciren und erst viel später auch
das Herz sowie die peripheren Nerven und Muskeln ; die gleiche That-
sache tritt uns entgegen bei Erhöhung der Temperatur über eine ge-
wisse Grenze hinaus; wir sehen endlich (und es ist das vielleicht am
meisten charakteristisch) auch den Gasgehalt des Blutes von sehr
33*
508 Die Nerven und ihre physiologische Function.
wesentlichem Einfluss auf die Erregbarkeit der nervösen Centren und
finden dieselben insbesondere bei Warmblütern so ausserordentlich
empfindlich gegen Veränderungen ihres normalen Stofi'wechsels, sei es,
dass dieselben durch Anämisirung oder djspnoische Blutbeschaffenheit
herbeigeführt werden, dass in dieser Beziehung ein Vergleich mit den
peripheren Nerven und Muskeln kaum noch zulässig erscheint.
Von der a priori wahrscheinlichsten Annahme ausgehend, dass die
centralen Nervenfasern wie im Bau und Ursprung, so auch in
Bezug auf ihre Lebenseigenschafteu mit den peripheren in allen wesent-
lichen Punkten übereinstimmen, lässt sich nun auch leicht verstehen,
dass die motorischen Erfolge der directen Reizung der
Centralorgane und speciell des Rückenmarkes in mancher
Beziehung von jenen der directen Erregung peripherer
motorischer Nerven abweichen undimWesentlichenvon
denselben Bedingungen abhängig erscheinen, wie re-
flektorisch ausgelöste Bewegungen. Dies ergiebt sich un-
mittelbar aus der Thatsache, dass jede motorische Nervenfaser (vordere
Wurzelfaser) Ausläufer einer Ganglienzelle ist und somit vom Rücken-
marke aus nur indirect unter Vermittlung dieser letzteren angesprochen
werden kann. Der Nichtberücksichtigung dieses Umstandes ist es
auch allein zuzuschreiben, dass jene sonderbare Lehre aufgestellt
werden konnte, derzu folge die centralen Nervenfasern zwar
leitungsfähig, aber nicht erregbar sein sollten.
Der Widerspruch erscheint um so auffallender, als einerseits grade
die nervösen Centralorgane, Gehirn und Rückenmark, in so ausser-
ordentlich hohem Grade befähigt erscheinen, schon auf die schwäclisten
natürlichen „organischen" Reize zu reagiren und die ausgelöste Erregung
weiter zu leiten, und andererseits die in die Zusammensetzung der
nervösen Centren eingehenden Nervenfasern sich kaum wesentlich in
ihrem Baue von den peripheren Nerven unterscheiden.
Wenn man die Gesammtheit der bisher vorliegenden einschlägigen
Versuche überblickt, so findet man, dass alle darauf hinzielen, einer-
seits mit möglichster Sicherheit den Beweis zu liefern, dass eine als
Folge der Reizung des Centralorgans beobachtete Bewegung kein
Reflex ist, und andererseits sichere objective Zeichen der Empfindung
des Thiers zu ermitteln. So sehen wir schon vanDeen bemüht, den
eben berührten Einwand hinsichtlich der Deutung motorischer Reiz-
erfolge vom Rückenmarke aus durch ein besonderes Versuchsverfahren
auszuschliessen, das in der Folge vielfach Nachahmung fand. Er legte
das Rückenmark des Frosches etwa vom 3. bis 5. Wirbel blos, schnitt
sämmtliche Wurzeln der Spinalnerven ausser denen des N. ischiadicus
durch und stach nun ein kleines Messerchen oberhalb der Lenden-
anschwellung von der Seite her horizontal ein, so dass es die Dorsal-
und Ventralhälfte des Markes von einander trennte. Wurde nun das
Messerchen bei unveränderter Stellung nach vorn bis in die Gegend
der obern Markgrenze durchgezogen, so entstand hierdurch ein freier
Lappen, welcher aus den Hintersträngen, einem mehr oder weniger
grossen Teil der Seitenstränge und grauer Substanz bestand und, nach-
dem er an seiner vordem und hintern Grenze durchschnitten worden
war, entfernt werden konnte. Dadurch Avar demnach die ganze
hintere (dorsale) Hälfte des Rückenmarkes sammt den einstrahlenden
sensibeln Wurzelfasern beseitigt und so die Möglichkeit zur Auslösung
von Reflexbewegungen am Orte der Reizung ausgeschlossen. Reizte
Die Nerven und ihre phj'siologische Function. 509
nun van Deen die isolirte ventrale Markliälfte mechanisch, so sali
er bisweilen Bewegungen der Hinterfüsse eintreten, von denen er zu-
nächst auch glaubte, dass sie durch directe Erregung der Vorder-
stränge ausgelöst waren. Indess machte bald darauf Stilling auf
die Möglichkeit aufmerksam, dass bei diesen Versuchen die höchst
empfindlichen vordem Wurzeln des Plexus ischiadicus do^h vielleicht
durch eine leichte Zerrung des Markes gereizt wurden , und auch
van Deen selbst war schon vor dem Erscheinen der Stilling'schen
Arbeit durch neue Versuche zu dem merkwürdigen Resultate gelangt,
dass weder die Vorderstränge noch auch die andern Teile des Rücken-
markes erregbar sind, und hatte so zum ersten Mal einen Satz aufge-
stellt, der in der Folge Jahrzehnte lang in der Physiologie herrschen
sollte.
Zum Beweise desselben hielt es van Deen später nicht einmal
mehr für nöthig, den obern Theil der Dorsalhälfte des Rückenmarkes
zu entfernen, sondern bediente sich des aus dem Wirbelkanal heraus-
getretenen, ganzen unversehrten Markes. Auf mechanische, chemische
oder elektrische Reizung des Kopfendes mit selbst starken Strömen
sollten angeblich keinerlei Erregungserscheinungen an den Muskeln
der Hinterextremitäten erfolgen.
Unbekannt mit den ersten Publicationen van Deen 's war indess
M. Schiff (37) durch eine Reihe von Versuchen an dem Rücken-
marke verschiedener Warmblüter zu gleichen Anschauungen gelangt
wie van Deen, Vollständige Gefühllosigkeit der Schmerzemptindung
leitenden („ästhesodischen") und Unerregbarkeit der motorische
Impulse leitenden („kinesodischen") Bahnen schien auch hier all-
gemeines Gesetz zu sein. Die Versuche von Schiff waren im
Wesentlichen nach Analogie der ersten van Deen' sehen Versuche am
Frosch angestellt, indem an dem theilweise blosgelegten Rückenmarke
die Hinterstränge in einer Ausdehnung von 5 — 6 cm abgetragen
wurden, worauf weder bei vorsichtig angewendeter elektrischer, noch
auch bei chemischer oder mechanischer Reizung (Stechen, Quetschen
mit einer Pinzette) des betreffenden Markabschnittes Muskelbewegungen
oder irgendwelche Zeichen von ■Schmerzempfindung bemerkbar waren.
Der von Schiff aus diesem Verhalten gezogene Schluss, „dass bei
einem solchen Thier die Empfindungsqualitäten (Schmerz), die durch
das der Hinterstränge beraubte Rückenmark geleitet werden,
nicht durch künstliche Reizung des Markes erregt werden können,
und dass auch die motorische Erregbarkeit diesem Marke fehlt, obgleich
es Bewegung vollkommen gut leitet", war unter diesen Umständen
allerdings sehr naheliegend. Niemals gelingt es aber, das ganze un-
versehrte Rückenmark eines Warmblüters selbst nach sorgfältigster
Entfernung der hintern Wurzelstümpfe erfolglos zu reizen, da nach
Schiff' s Ansicht die einstrahlenden sensibeln Wurzelfasern „dem
Hinterstrang noch einen hohen Grad von Empfindlichkeit verleihen,
welche fortgeleitet wird und theils Schmerzempfindung, theils in ver-
schiedenen Höhen des Markes die mannigfachsten Reflexe veranlasst".
Ausserdem schreibt Schiff abweichend von van Deen auch den in
den Hintersträngen hirnwärts verlaufenden Nervenfasern Erregbarkeit
zu. Doch soll Reizung derselben niemals Schmerz, sondern aus-
schliesslich Tastgefühle oder „verwandte schwächere Empfindungen"
erzeugen, deren Vorhandensein hauptsächlich aus Veränderungen der
510 I-^i^ Nerven und ihre physiologische Function.
Pupillenweite bei elektrischer oder mechanischer Reizung der in grösserer
Ausdehnung isolirten Hinterstränge erschlossen wird.
Ohne hier auf das Detail der zahlreichen Arbeiten einzugehen,
welche es sich zur Aufgabe machten, entscheidende Gründe für oder
wider die van De en- Schiff ' sehe Lehre beizubringen, will ich nur
erwähnen, dass einerseits von Fick(37) und später von Luchsinger
Versuche mitgetheilt w^urden, welche das Vorhandensein direct reiz-
barer motorischer Elemente in den vordem (ventralen) Abschnitten
des Froschmarkes zu beweisen schienen, während andererseits aus
Ludwig 's Laboratorium eine Reihe von Arbeiten hervorging, durch
welche die Reizbarkeit centripetal leitender, in den Seitensträngen
verlaufender Fasern dargethan wurde. Es ist bekannt, dass die Reizung
sensibler Nerven oft eine beträchtliche Steigerung des Blutdrucks
bewirkt als Folge einer Vermehrung der Widerstände im arteriellen
Stromgebiet durch reflectorische Verengerung zahlreicher Gefässe.
Dittmar (37) zeigte nun, dass sowohl elektrische als auch sch^vache
mechanische Reizung des der Hinterstränge in grösserer Ausdehnung
beraubten centralen Stumpfes des Kaninchenrückenmarkes ebenfalls
beträchtliche Blutdrucksteigerungen herbeizuführen vermag, und schloss
hieraus auf die directe Reizbarkeit „ästhesodischer" Rückenmarks-
elemente, welche nach Miesclier's Versuchen hauptsächlich in den
Seitensträngen gelegen sind.
Schiff bestreitet allerdings die Beweiskraft dieser Versuche und
wendet sich vor Allem gegen die Annahme, dass die den erwähnten
Reflex auslösenden centripetalen Fasern der Seitenstränge als „sen-
sible" im eigentlichen Wortsinn zu bezeichnen wären ; indess ist dies
grade im vorliegenden Falle ein nebensächlicher Umstand, wo es sich
zunächst doch nur um Feststellung der directen Reizbarkeit handelt.
Inwieweit jedoch die spätem Einwände Schiffs berechtigt sind,
denen zufolge die Resultate der Di ttniar 'sehen Versuche durchwegs
auf Stromschleifen beruhen sollen, welche die allein reizbaren Hinter-
stränge getroffen hätten, lässt sich vorläufig nicht entscheiden.
Als um so sicherer festgestellt darf dagegen die directe Reiz-
barkeit motorischer Elemente des Rückenmarkes gelten. Die bereits
erwähnten Versuche von Fick, Avelche ebenfalls im Wesentlichen den
ersten van Deen' sehen nachgebildet waren, gestatten allerdings
noch immer den Einwand, dass die bei elektrischer Reizung der der
Hinterstränge beraubten Ventralhälfte des Froschmarkes auftretenden
Bewegungen der Hinterextremitäten durch Reflex oder directe Reizung
motorischer Wurzelfasern bedingt wurden, indem sich Stromschleifen
bis zu dem unversehrten, untersten Theil des Markes ausgebreitet haben
konnten. Dieser Einwand erscheint selbst dadurch nicht absolut aus-
geschlossen , dass , wenn die ventrale Markhälfte dicht oberhalb der
Lendenanschwellung durchschnitten und die Schnittflächen wieder
möglichst gut aneinandergelegt wurden, die vorher beobachteten Reiz-
erfolge ausblieben. Dagegen lässt sich der van Deen- Fick' sehe
Versuch zu einem völlig beweisenden unter der Voraussetzung ge-
stalten, dass in den ventralen Theilen des Rückenmarkes motorische
längsverlaufende Fasern vorhanden sind, deren physiologische Eigen-
schaften in allen wesentlichen Punkten mit denen peripherer Nerven-
fasern übereinstimmen. Da es nämlich, wie später gezeigt werden
wird , zweifellos feststeht , dass die Ei-regbarkeit peripherer Nerven
in nächster Nähe eines frisch angelegten Querschnittes beträchtlich
Die Nerven und ihre physiologische Function. 511
grösser ist, als in der Continuität, so liess sich erwarten, dass, wenn
sich motorische Rückenmarksfasern in dieser Beziehung ähnlich ver-
halten, die elektrische Reizung am Schnittende der isolirten Ventral-
hälfte des Markes früher, d.i. bei geringerer Stromstärke, wirksam
wird, als tiefer unten, wo dagegen entsprechend der grössern Nähe
der erhaltenen Wurzeln des N. ischiadicus die Gefahr der directen
Erregung durch Stromschleifen rasch zunimmt. Ich (37) fand nun
in der That, dass hinsichtlich der Erregbarkeit durch tetanisirende
Inductionsströme die durchschnittenen Vorderstränge des Frosch-
rückenmarkes sich, abgesehen von quantitativen Unterschieden,
ganz ebenso verhalten wie jeder periphere motorische Nerv. Rückt
man nämlich bei absteigender Richtung der Oeffnungsströme die mit
der secundären Spirale eines Inductionsapparates verbundenen Elek-
troden, welche bei geringem Abstände zunächst so angelegt werden,
dass die eine sich am Querschnitt selbst belindet, weiter und weiter
von diesem letztern weg, so nimmt die anfangs vorhandene starke
Reizwirkung schnell ab und verschwindet bald gänzlich. Der erste
Erfolg der Reizung mit Strömen , welche bei directer Einwirkung auf
eine freiliegende Muskeloberfläche keine sichtbare Erregung bewirken
und auf der Zunge nicht gefühlt werden, besteht immer in einer mehr
oder weniger starken tetanischen Unruhe sämmtlicher Muskeln der
beiden Hinterextremitäten , die sich oft zu einem förmlichen Tetanus
steigert. Bei starker Reizung treten oft auch coordinirte Bewegungen
auf. Hat man die vom Querschnitt der Vorderstränge aus eben wirk-
same Stromstärke bestimmt, so kann man immer (bei absteigender
Richtung der zunächst allein wirksamen Oeffnungsströme) mit den
Elektroden in der Regel bis in die nächste Nähe des Lendenmarkes
herabrücken und so die Gefahr der directen oder reflectorischen •
Reizung vorderer Wurzeln ausserordentlich steigern, ohne dass an den
Muskeln der Hinterextremitäten eine Spur von Erregungserscheinungen
hervortritt. Doch ist dies bemerkenswerter Weise nur dann der Fall,
wenn die Elektroden der Ventralfläche der Vorderstränge entlang ver-
schoben werden. Geschieht dies entlang der Innenfläche, d. i. der
Schnittfläche der Ventralhälfte des Markes, in directer Berührung mit
der daselbst blosliegenden grauen Substanz, so lässt sich niemals ein
merklicher Unterschied der Erregbarkeit an dem Querschnitt näher
gelegener im Vergleich zu tiefern Stellen konstatiren. Es muss dahin-
gestellt bleiben, ob aus diesem Verhalten allein schon der Schluss
gezogen werden darf, dass im letzteren Falle die graue Substanz direct
erregt wurde, während es sich im erstem wohl sicher um Erregung
längsverlaufender Nervenfasern (in den Vordersträngen?) handelt.
Die angeführien Thatsachen gestatten nun wohl auch bei An-
wendung der nöthigen Vorsicht, das unterhalb der Medulla oblongata
durchschnittene, sonst jedoch unversehrte Rückenmark des Frosches zu
reizen, ohne befürchten zu müssen, durch Reflexe getäuscht zu werden.
Es genügt, die die Inductionsströme zuführenden Elektroden längs der
ventralen Fläche des Markes zu verschieben, nachdem zuvor die-
jenige Rollenstellung bestimmt wurde, bei welcher die absteigend
gerichteten Oeffnungsströme in nächster Nähe eines an beliebiger
Stelle angelegten Querschnittes sich deutlich wirksam zeigen. Man
findet dann die Reizung an jeder beliebigen andern Stelle in der Con-
tinuität des Markes und selbst dicht über der Lendenanschwellung
absolut unwirksam. Darf man auf Grund der angeführten Thatsachen
512 Die Nerven und ihre physiologische Function.
mit Sicherheit auf das Vorhandensein direct erregbarer motorischer
Elemente in der ventralen Hälfte des Froschmarkes schliessen, so lässt
sich doch andererseits nicht verkennen, dass sowohl hinsichtlich der
Erregungsbedingungen, als auch der Art und Weise der Reaction
Avesentliche Unterschiede bestehen, je nachdem ein Muskelapparat
durch Reizung des zugehörigen motorischen Nerven oder des Rücken-
markes in Erregung versetzt wird. Es ist hier insbesondere an die
relative Unwirksamkeit mechanischer Reizung und elektrischer Einzel-
reize zu erinnern, sowie an die völlige Unwirksamkeit chemischer
Reizmittel. Dies erscheint von vornherein nicht überraschend, wenn
man berücksichtigt, dass die motorischen Fasern des Rückenmarkes
nicht wie die peripheren motorischen Nerven unmittelbar mit den
Muskeln verbunden, sondern zunächst durch Ganglienzellen unter-
brochen werden, wie es für den Frosch insbesondere die Unter-
suchungen Birge ' s dargethan haben. Eine Avesentliche Stütze erhält
diese Anschauung durch die weitgehenden Analogien, welche nicht
nur hinsichtlich der zeitlichen Verhältnisse und des Verlaufes direct
(d. h. durch Reizung motorischer Elemente des Rückenmarkes) und
reflectorisch ausgelöster Muskelbewegungen, sondern auch hinsichtlich
der Auslösungsbedingungen in beiden Fällen bestehen.
Was zunächst die zeitlichen Verhältnisse betrifft, so war schon
früher davon die Rede, dass die unter Vermittlung gangliöser Elemente
erfolgende Uebertragung des Erregungsvorganges von sensibeln auf
motorische Fasern eine beträchtlich grössere Zeit beansprucht, als der
einfachen Leitung der Erregung durch eine gleich lange Nervenstrecke
entsprechen würde. In neuerer Zeit hat nun Mendelssohn (37)
gefunden, dass die Reactionszeit der ventralen Hälfte des Froschmarkes
(d. i. die Zeit, welche vom Momente der Reizung derselben bis zum
Eintritt der Zuckung des M. gastrocnemius der einen Seite verstreicht)
kürzer ist, als die Reactionszeit der dorsalen Hälfte. Es erzeugt mit
andern Worten die Reizung des ventralen Theils des Rückenmarkes
eine Bewegung der Extremitäten schneller, als wenn derselbe Reiz
auf die entsprechende Stelle des dorsalen Abschnittes einwirkt. Der
Unterschied beträgt nach M. durchschnittlich 0,01 — 0,025 See. Es
scheint dieses Verhalten darauf hinzudeuten, dass, wie es die Theorie
erwarten lässt, die durch directe Reizung der Vorderstränge erzeugte
Muskelcontraction früher eintritt, als die reflectorisch von den Hinter-
strängen ausgelöste, wobei als Ursache der Verzögerung im letztern
Falle die grössere Menge zwischengeschalteter grauer Substanz in
Betracht kommen dürfte.
Von grösster Bedeutung für die Beurtheilung der zwischen den Er-
folgen der Rückenmarksreizung und der directen Erregung peripherer
motorischer Nerven bestehenden Verschiedenheiten ist aber der Umstand,
dass ein durchgreifender Unterschied in den Lebensbedingungen der
Nervenzellen und Nervenfasern besteht, indem die ersteren ausser-
ordentlich viel empfindlicher gegen Veränderungen ihres normalen
Stoffwechsels, sowie gegen alle Schädlichkeiten sind, als die letzteren.
Dies kommt aber wesentlich in Betracht, Avenn es sich darum handelt,
die Erregbarkeit verschiedener Abschnitte eines aus Nervenzellen und
Fasern nebst den zugehörigen musculösen Endorganen zusammen-
gesetzten motorischen Apparates lediglich nach dem an jenen zu be-
obachtenden Reizerfolge vergleichend zu beurtheilen. Es wird dann
offenbar ganz von dem jeweiligen Zustande der Erregbarkeit, beziehungs-
Die Nerven und ihre physiologische Function. 513
weise des Leitungsvermögens der im Verlaufe der Fasern eingeschal-
teten zelligen Elemente abhängen, ob eine diesseits derselben ausge-
löste Erregung einen Reizerfolg bedingen kann oder nicht. In der
That sehen wir nun die Reflexfunction des Rückenmarkes unter Um-
ständen leiden oder völlig vernichtet werden, wo weder die Erregbar-
keit noch auch das Leitungsvermögen des motorischen und sensibeln
Abschnittes eines Reflexbogens merklich beeinträchtigt erscheint.
Luchsinger hat sich dieser ungleichen Resistenzfähigkeit centraler
Nervenzellen und Fasern bedient, um bei örtlicher Vernichtung der
Reflexfunction die directe Erregbarkeit des Rückenmarkes zu er-
weisen. Er schlägt vor, Kaltblüter mit langgestrecktem Rückenmarke,
Schlangen, Blindschleichen, Tri tonen etc., zu köpfen und sofort mit
dem Vorderkörper in auf 40—45 " erwärmtes Salzwasser zu tauchen,
während der übrige Theil des Körpers bei normaler Temperatur erhalten
wird. Durch die Wärme wird nun das Reflexvermögen des Cervical-
beziehungsweise Dorsalmarkes bald vernichtet, und zwar zu einer Zeit,
wo die Erregbarkeit und das Leitungsvermögen der markhaltigen
Längsfasern voraussichtlich noch erhalten sein dürfte. Wenn nun,
wie es Avirklich der Fall ist, bei elektrischer Reizung des reflexun-
fähigen Marktheiles Bewegungen des Schwanzes auftreten, so können
diese nach L.'s Ansicht nur durch eine directe Erregung motorischer,
längsverlaufender Rückenmarksfasern ausgelöst worden sein. Gegen
die Beweiskraft dieser Versuche wendet jedoch Schiff ein, dass die
Prüfung des Reflexvermögens innerhalb des erwähnten Körperabschnittes
durch Hautreize keine ganz sichere Garantie biete für die völlige Ver-
nichtung der Reflexfunction des Markes. Er macht auf die Möglich-
keit „intramedullarer" Reflexe aufmerksam, die sich nur deshalb inner-
halb des erwärmten Abschnittes nicht äussern können, weil die Muskeln
hier durch die vorgängige Erwärmung in den Zustand der Starre ver-
setzt werden. Zur Stütze dieser Ansicht führt Schiff Versuche an
Bombinatoren und Kröten an, wo nach Erwärmung des ganzen
Rückenmarkes mit Ausschluss der peripheren Enden der Cauda equina
bis zur völligen Erstarrung der Muskeln des Rumpfes die Reflex-
erregbarkeit der Hinterextremitäten erhalten war.
Demungeachtet bleibt jedoch der Satz von der viel geringeren
Resistenzfähigkeit der grauen Substanz des Rückenmarkes im Vergleich
zu der der weissen Fasermassen in vollem Umfange aufrecht. Es er-
klärt sich daraus unter Anderem die Thatsache, dass die motorischen
Wirkungen der directen Rückenmarksreizung an den Muskeln der
Hinterextremitäten um so deutlicher hervortreten, je grösser die Reflex-
erregbarkeit der Präparate ist, und mit dem Erlöschen dieser gänzlich
ausbleiben. Nach dem bereits erwähnten Befunde Birge's müssen
ja nothwendig dieselben Elementartheile der grauen Substanz des
Lendenmarkes (Ganglienzellen der Vorderhörner) die Uebertragung
der Erregung im einen Falle von centripetal, im andern von centri-
fugal leitenden Fasern auf dieselben vordem Wurzelfasern mitver-
mitteln. Das Reflexcentrum der Hinterextremitäten kann demnach
nicht nur von der Peripherie bis auf die Bahn der sensibeln Nerven
in den Zustand der Erregung versetzt werden , sondern besitzt sozu-
sagen 2 Pole, einen centralen (die motorischen Bahnen des Rücken-
markes) und einen peripheren (die sensibeln Fasern). Alle Schädlich-
keiten, welche die Leitungsfähigkeit des Centrums beeinträchtigen.
514 I^i*^ Nerven und ihre physiologische Function.
beeinflussen in gleicher Weise die Erfolge der reflectorischen wie auch
der directen Erregung des Markes.
Die ausserordentliche Empfindlichkeit der centralen Ganglienzellen
der Warmblüter gegen jede Störung ihrer normalen Ernährung lässt,
wie dies ja auch der Stenson'sche Versuch bestätigt, von vorneherein
erwarten, dass die Leitung im Rückenmarke in Folge irgendwelcher
Eingriffe, insbesondere durch Anämie oder Asphyxie, in allen durch
Ganglienzellen unterbrochenen Bahnen noch viel rascher abnehmen
und erlöschen wird, als beim Kaltblüter, so dass Versuche über directe
Reizung des Markes hier noch mit wesentlich grösseren Schwierig-
keiten verbunden sind und viel leichter misslingen, als beim Kaltblüter.
Ausserdem ist klar, dass eine rasche und möglichst vollständige Unter-
brechung der Blutzufuhr zum Rückenmarke bei thunlichster Schonung
der Circulation im Kopf und bei künstlicher Respiration ein brauch-
bares Mittel an die Hand giebt, um beim Warmblüter etwa vorhandene
ununterbrochene Leitungsbahnen im Marke nach Ausserkraft-
setzung der anderen zu ermitteln. Denn Leitungsbahnen, welche inner-
halb weniger Minuten durch Anämie unwegsam gemacht werden,
kann man nicht wohl als directe Fortsetzungen peripherer Nerven-
fasern auffassen. Dass eine markhaltige Faser der weissen Rücken-
markstränge anders auf Anämie reagieren sollte, als eine solche im
peripheren Nerven, ist weit Aveniger wahrscheinlich, als dass Functions-
störungen, welche durch Anämie im Rückenmark so ausserordentlich
viel früher herbeigeführt werden, als im peripheren Nerven, in ein-
geschalteten Zellen der grauen Substanz Platz greifen. Nach Versuchen
von S. Mayer über die Wirkungen der Anämisirung des Rücken-
markes beim Kaninchen durch hohe Abklemmung der Aorta scheint
es in der That, dass vasomotorische Fasern aus dem verlängerten Mark
entspringen und das Rückenmark ohne Unterbrechung durch gangliöse
Elemente durchsetzen.
Aus den bisher erörterten Thatsachen der Erregungsleitung inner-
halb der nervösen Centren ergeben sich in Bezug auf die anatomische
Anordnung und die gegenseitigen Beziehungen der Leitungsbahnen
einige wichtige Folgerungen. Von der sicheren Thatsache aus-
gehend, dass jede Nervenfaser entweder innerhalb oder ausserhalb der
Centralorgane mit mindestens einer Ganglienzelle (ihrer Ursprungs-
zelle) zusammenhängt, ist anzunehmen, dass jeder Reflexbogen durch
gangliöse Elemente geschlossen wird, und dass diese (insbesondere die
motorischen Zellen) untereinander in ausgedehntestem Maasse in leitende
Verbindung gesetzt sind.
Die histologische Untersuchung hat bisher dieses physiologische
Postulat nur in sehr ungenügender Weise zu stützen vermocht. Zwar
lag es nahe, in den grossen maltipolaren Ganglienzellen der Vorder-
hörner mit ihren zahlreichen, verästelten „Protoplasmafortsätzen" und
dem direct in eine vordere Wurzelfaser übergehenden Deiters'schen
Fortsatz jene Elemente zu erblicken, durch welche die von der Peri-
pherie kommenden, functionell verschiedenen Nervenfasern im Centrum
anatomisch verkettet werden. Diese Vorstellung fand auch ihren
Ausdruck in der von Gerlach vertretenen Lehre, der zufolge aus den
Protoplasmafortsätzen der Ganglienzellen ein äusserst reiches Netz
feinster Nervenlibrillen hervorgehen sollte, welches nicht nur die
Vorderhornzellen untereinander, sondern auch mit den im Hinterhorn
gelegenen Ganglienzellen, sowie mit hinteren Wurzelfasern verknüpft.
Die Nerven und ihre physiologische Function. 515
welche nach Ger lach nach ihrem Eintritt in die graue Substanz sich
ebenfalls in ein feines Fasernetz auflösen sollten. Die neueren, ins-
besondere durch Golgi, Ramon j Cajal, KöUiker, Retzius
u. A. begründeten Fortschritte in der Erforschung des feineren Baues
der nervösen Centren haben die alte Gerlach 'sehe Lehre in einigen,
gerade physiologisch wichtigen Punkten ganz wesentlich modificirt.
Vor Allem konnte ein centrales Nervennetz als anatomische
Grundlage der Irradiation der Erregung nicht nachgewiesen werden.
Die sich innerhalb der grauen Substanz baumförmig verästelnden Zell-
fortsätze (Nervenfasern) scheinen alle frei auszulaufen, ohne
mit den Fortsätzen anderer Nervenzellen irgend zu anastomosiren.
Freilich lässt sich zur Zeit nur sagen , dass Anastomosen bisher nicht
gesehen wurden; ob sie nicht doch vorhanden sind, kann bezweifelt
werden, wenn man die oft ausserordentlich reiche Verästelung der
Protoplasmafortsätze berücksichtigt, denen übrigens von Golgi sogar
die nervöse Natur abgesprochen wurde, was sicher unzutreffend ist,
da in sehr vielen Fälle alle Fortsätze denselben Charakter zeigen und
unter Umständen (so bei den elektrischen Riesenganglienzellen von
Malopter ur us) der Nervenfortsatz gar nicht vom eigentlichen Zell-
körper, sondern aus den zu einem dichten Netzwerk zusammentretenden
Protoplasmafortsätzen entspringt.
Wenn daher der physiologisch geforderte Zusammenhang der
motorischen centralen Elemente noch immer als eine offene Frage
bezeichnet werden muss, so scheint andererseits die Art der Beziehung
zwischen diesen letzteren und den centripetal leitenden (sensiblen) Fasern
zur Zeit auch histologisch genügend sichergestellt zu sein.
Die hinteren, als Fortsätze von Spinalganglienzellen aufzufassenden
Wurzelfasern theilen sich nach den Beobachtungen von Ramon y
Cajal und Kölliker beim Eintritte ins Rückenmark dichotomisch
in einen längsverlaufenden, aufsteigenden und absteigenden Ast, deren
Gesammtmasse die Hinterstränge zusammensetzt. Von diesen Längs-
fasern gehen nun unter meist rechtem Winkel Seitenzweige ab
(Collateraleu), welche in die graue Substanz eintreten und hier
mit freien, baumförmig verzweigten Enden („End bäumchen"
Köllikers) aufhören. Die Aehnlichkeit, welche diese Endbüschel mit
den Verzweigungen des Axencylinders in den quergestreiften Muskeln
der Wirbelthiere besitzen, legt von vorneherein den Gedanken nahe,
dass die unzweifelhaften Beziehungen jener zu den motorischen Zellen
des Rückenmarkes ähnliche sein werden. Freilich giebt Kölliker
an, dass die in der Regel mit einem Knöpfchen versehenen Zweige
eines „Endbäumchens" an die Ganglienzellen zwar dicht herantreten,
sich jedoch niemals mit denselben oder ihren Fortsätzen wirklich ver-
binden. Es wird aber wohl unter allen Umständen eine Berührung
gefordert werden müssen , wenn eine Uebertragung der Erregung-
möglich sein soll. Eine „Ausstrahlung" von einem freien Nerven-
ende auf ein ihm nur genähertes anderes (wie in den Glomeruli olfac-
torii) oder auf einen Zellkörper (wie im einfachen Reflexbogen) anzu-
nehmen, liegt zur Zeit um so weniger Grund vor, als die histologischen
Grundlagen für eine so weitgehende und alle bisherigen Anschauungen
über Erregungsleitung umstossende Annahme keineswegs als hinreichend
gesichert angesehen werden können.
Da jede Nervenfaser als P^ortsatz einer Zelle aufzufassen ist und
mit dieser zusammen eine physiologische Einheit (Nerveneinheit, Neuron,
516 Die Nerven und ihre physiologische Function.
Neiirodendron) bildet, so ist leicht verständlich, dass eine von ihrer
Ursprungszelle getrennte Nervenfaser früher oder später dem Unter-
gang verfällt (degenerirt). Jede Nervenzelle ist also „trophisches"
Centrum für die abgehende Nervenfaser, und der normale Zusammen-
hang zwischen beiden ist eine der Avesentlichsten Bedingungen für die
dauernde Erhaltung des Leitungsvermögens und der Erregbai'keit der
Nervenfaser. Man wird auf Grund der vorliegenden Erfahrungen
kaum fehl gehen, diesen trophischen Einfluss zum guten Theil auf eine
Wirkung des Kernes zu beziehen, wofür zunächst die Analogie der
Erscheinungen an anderen Zellen spricht.
Mit Rücksicht auf die ausserordentliche Labilität centraler Ganglien-
zellen ist die Widerstandsfähigkeit, womit periphere, markhalt ige
Nervenfasern ihre wesentlichen Lebenseigenschaften bewahren, wenn
sie vor Vertrocknung und anderen Schädlichkeiten geschützt werden,
gewiss höchst auffallend und geeignet, den tiefgreifenden Unterschied
der Lebensbedingungen beider unmittelbar vor Augen zu führen. In
der That bleibt die Erregbarkeit und das Leitungsverraögen eines
Nerven Stammes, der, aufweite Strecken hin freipräparirt, nur noch
an einem Ende mit seinem Erfolgsorgan zusammenhängt, in dem daher
die Circulation völlig aufgehoben ist, selbst beim Warmblüter noch
stundenlang erhalten.
Sehr viel vergänglicher scheinen demgegenüber marklose Nerven
zu sein. Wenigstens gelingt es bei Krebs- und Hummernerven nicht,
dieselben auch nur annähernd so lange reizbar zu erhalten, wie etwa
Froschnerven, wenn sie freipräparirt gereizt werden sollen. Pio-
trowsky fand dies im Sommer ganz unmöglich, im Winter verschwand
die Erregbarkeit nach 8 — 10 Min. Auch der marklose Olfactorius des
Hechtes bleibt, wie schon Kühne bemerkte, nur kurze Zeit erregbar.
Kommt es darauf an, die wirkliche Dauer des Ueberlebens eines
ausgeschnittenen Nerven zu bestimmen, so ist dies offenbar nur dann
möglich, Avenn nur der Nerv und nicht auch das Erfolgsorgan, welches
über den Thätigkeitszustand des ersteren allein Aufschluss geben kann,
den normalen Ernährungsbedingungen entzogen ist. Daher lässt sich
ein sicherer Schluss auf die Ueberlebensdauer eines ausgeschnittenen
Kalt- oder Warmblüternerven im Allgemeinen nicht aus Beobachtungen
an gänzlich losgetrennten Nervmuskelpräparaten ziehen; denn voraus-
sichtlich wird der Muskel immer viel früher unerregbar, als der zu-
gehörige Nerv.
Jedenfalls spricht aber der Umstand, dass aus ihrer natürlichen
Lage gebrachte, über Elektroden gebrückte Nervenstämme auch beim
Warmblüter stundenlang erregbar bleiben, für eine ausserordentlich
grosse Resistenz, an der dem Mitgetheilten zufolge wohl die Mark-
scheide als ein sehr wirksames Schutzmittel betheiligt sein dürfte.
Prüft man mittels irgend eines, am besten des genau abstufbaren
elektrischen Reizes, die Erregbarkeit eines von seinem natürlichen
Zusammenhang mit dem Centrum getrennten Nerven, indem man die
allmählich eintretenden Veränderungen der Reaction des Erfolgsorganes
(z. B. des Muskels) untersucht, so stellt sich heraus, dass der Verlauf
der Erregbarkeitsänderungen sowohl an einer und derselben Nerven-
stelle wie auch an verschiedenen Punkten im Verlaufe des Nerven
sich anscheinend ziemlich verwickelt gestaltet. Die einfachste
mögliche Annahme in Bezug auf den 1 . Punkt wäre offenbar die, dass
die Erregbarkeit jedes Nerventheilchens im Laufe der Zeit ganz all-
Die Nerven und ihre physiologische Function. 517
mählich und gleichmässig bis auf Null sinkt. Dem scheinen Be-
obachtungen von Rosenthal (88) zu widersprechen, denen zufolge
der Verminderung der Erregbarkeit an jedem Punkte
des Nerven eine beträchtliche Erhöhung vorausgehen
würde. Ich war jedoch ebensowenig wie vorher Mommsen und
neuerdings Wer igo (39) in der Lage, mich von der Richtigkeit dieser
Behauptung zu überzeugen, und fand stets, wenn Vertrocknung und
alle Schädlichkeiten möglichst ausgeschlossen waren , ein langsames
und gleichmässiges Absinken der Erregbarkeit einer und derselben
Nervenstelle, soweit sich dies an einem ausgeschnittenen Nerv-
muskelpräparate vom Frosch durch Vergleichung der Zuckungshöhen
bei Reizung mit einzelnen gleichstarken (untermaximalen) Inductions-
schlägen beurtheilen lässt. Dagegen ist eine andere Thatsache leicht
zu bestätigen. Valli, Pf äff und Ritter hatten bereits die Be-
obachtung gemacht, dass ein gegebener (motorischer) Nerv nach dem
Tode des Thieres oder einfach nach seiner Trennung von dem Central-
organ stets zuerst in seinen centralen Partien die Fähig-
keit verliert, auf Reize die zugehörigen Muskeln zur
Zuckung zu bringen, später erst in seinen Aesten und
zuletzt in seinen, im Muskel selbst gelegenen Endzweigen.
Dieser centrifugale Gang des Nerventodes, welchen Valli und Ritter
aus ihren Beobachtungen erschlossen, erfolgt, wie zu erwarten war,
bei verschiedenen Thieren mit sehr verschiedener Geschwindigkeit, am
raschesten bei Warmblütern, am langsamsten bei Kaltblütern, deren
Nerven vor Verdunstung geschützt, bei niederer Temperatur ihre Er-
regbarkeit selbst im Stamme tagelang bewahren. Die Deutung der
erwähnten Beobachtungen ist nun keineswegs eine so einfache, wie es
vielleicht auf den ersten Blick scheinen möchte. Schon Du Bois-
Reymond machte auf die Möglichkeit aufmerksam, dass der ab-
sterbende Nerv die Erregung vielleicht nicht auf so lange Strecken
hin fortpflanzen könnte, als der normale, lebende, und später haben
sich Mommsen (1. c), sowie Szpilmann und Luchsing er (22)
dieser Anschauung angeschlossen. In der That erklären sich alle dem
Ritter -Valli'schen Gesetze entsprechenden Erscheinungen ganz
ungezwungen, auch unter der Voraussetzung eines an allen Stellen gleich-
massigen Sinkens der Erregbarkeit, wenn nur das Leitungsvermögen
rascher schwindet, als die directe Anspruchsfähigkeit.
Im weiteren Verlaufe des Absterbens stellen sich dann an Nerven,
welche vom Centrum getrennt wurden (besonders deutlich an mark-
haltigen), auch sichtbare anatomische Veränderungen ein, welche
als fettige Degeneration "bezeichnet werden. Wird ein gemischter
Nerv irgendwo in der Continuität durchschnitten, und untersucht man
nach einigen Tagen oder Wochen den peripheren Nervenstamm, so
findet man die Fasern in ihrer ganzen Ausdehnung gleichmässig ver-
ändert, die Markscheide zerklüftet oder schon gänzlich zerfallen; die
Reste derselben bilden dann vielfach spindelförmige Anhäufungen im
Verlauf der Faser, in denen man nebst Markschollen Fetttropfen der
verschiedensten Grösse wahrnimmt; schliesslich bleibt nur das Binde-
gewebe zurück, und alles nervöse Gewebe ist verschwunden; untersucht
man gleichzeitig die Veränderungen im centralen Stumpfe des durchtrennten
Nerven, so findet man dieselben nur in der allernächsten Nähe der
Schnittfläche schwach entwickelt; weiterhin zeigen die Fasern keinerlei
sichtbare Veränderungen, und es bleibt der Nervenstamm auch dauernd
518 Die Nerven und ihre physiologische Function.
erregbar. Weitere Aufschlüsse haben insbesondere die Uiitersuchungen
Waller's an den Wurzeln der Spinalnerven geliefert, aus welchen
sich zweifellos ergiebt, dass die Ganglienzellen auf die mit ihnen
zusammenhängenden Nervenfasern einen „trophischen" Einfluss ausüben,
wie dies ja von jedem kernhaltigen Zellkörper in Bezug auf seine
kernfreien Ausläufer gilt. Nach Durchschneidung der vorderen
Wurzeln eines Spinalnerven erfolgt stets Degeneration des peri-
pheren Stumpfes, während der mit dem Rückenmark noch in Ver-
bindung stehende erhalten bleibt. Nach Durchtrennung einer hinteren
Wurzel ist das Resultat verschieden, je nachdem der Schnitt zwischen
Rückenmark und Spinalganglion oder diesseits des letzteren geführt
wurde. Im ersteren Falle degenerirt der centrale, mit dem Rückenmark
zusammenhängende Stumpf, und zwar lassen sich die degenerirten
Fasern im Rückenmark selbst (in den Hintersträngen) auf weite
Strecken hin verfolgen; der mit dem Ganglion zusammenhängende
Stumpf bleibt dagegen, wie jenes selbst, dauernd unverändert. Nach
Durchschneidung diesseits des Ganglions bleibt wieder der mit dem
letzteren verbundene Stumpf unverändert, während der periphere
degenerirt. Es ergiebt sich aus diesen vielfach bestätigten Versuchen,
dass die Zellen des Spinalganglions als Ursprungszellen
(bez. trophische Centren) der hinteren Wurzel fasern,
das Rückenmark und die multipolaren, grossen Vorder-
hornzellen dagegen als trophische Centren der vorderen
Wurzelfasern angesehen werden müssen. Es steht dies
durchaus in Uebereinstimmung mit der Entwicklung der betreffenden
Fasern, da die Spinalganglien die eigentlichen Ursprungszellen der
hinteren Wurzeln sind. Man hat sich der Degeneration durchschnittener
Nervenstämme vielfach und mit bestem Erfolge bedient, um bei Wirbel-
thieren an den leicht erkennbaren Veränderungen der Markscheide
den Verlauf bestimmter Faserzüge insbesondere auch innerhalb des
Centralorganes (Rückenmark) zu erforschen, und es ist so z, B. gelungen,
auf diesem Wege sehr genauen Aufschluss über den Aufbau der
Hinterstränge des Rückenmarkes zu gewinnen.
W^ir haben bisher angenommen, dass eine Nervenfaser von ihrem
Ursprung bis zu ihrem Ende unter noi'malen Verhältnissen an allen
Stellen ihres Verlaufes vollkommen gleichartig ist, d. i. keine wesent-
lichen Unterschiede in Bezug auf Erregbarkeit und Leitungsvermögen
darbietet. Indessen ist diese Annahme keineswegs notwendig und
wahrscheinlich auch nicht richtig. In der That sind seit lange That-
sachen bekannt, welche darauf hinweisen, dass verschiedene Strecken
eines Nerven sich in der erwähnten Hinsicht keineswegs gleichartig
verhalten. Als Maass der Erregbarkeit steht natürlich nur die durch
einen Reiz von bestimmter Grösse ausgelöste Reaction des Erfolgs-
organes zur Verfügung, und es beziehen sich daher fast alle hierher-
gehörigen Versuche auf elektrische Reizung motorischer Nerven,
denn von allen Reizen ist einzig der elektrische einer genaueren Maass-
bestimmung zugänglich. Die Beziehungen, welche für eine und dieselbe
Nervenstelle zwischen Reiz- und Erregungsgrösse sich ermitteln lassen,
stimmen im Allgemeinen mit jenen überein, welche wir als für die
directe Muskelreizung geltend oben bereits kennen gelernt haben.
Reizt man eine Nervenstrecke mit allmählich zunehmenden einzelnen
Inductionsströmen, so findet man, dass Ströme, deren Intensität unterhalb
einer gewissen Grenze (Seh wellen wer th) liegt, überhaupt nicht
Die Nerven und ihre physiologische Function. 519
erregend wirken, worauf mit wachsender Stromesintensität auch die
Zuckungshöhen zunehmen, und zwar nach Fick (40) innerhalb gewisser
Grenzen den Reizen proportional, nach Hermann (40) dagegen
anfangs schneller und spcäter immer langsamer. Die Verbindunglinie
der Gipfelpunkte der einzelnen Zuckungen würde daher nach Fick
bis zu dem Punkte, wo der „Maximal wert h" erreicht ist, eine
schräg ansteigende Gerade, nach Hermann eine nach der Abscisse
concave Curve darstellen.
Da es sich bei der Nerveureizung ohne Zweifel ganz ebenso wie
bei der directen Muskelreizung, ja wohl überhaupt bei einer irgendwie
bewirkten Erregung einer lebenden Substanz stets um Auslösung
von Spannkräften handelt , so ist ohne Weiteres klar, dass zwischen
Reizgrösse und Wirkung kein constantes Verhältniss bestehen kann.
Es lässt sich daher auch nur in der Weise die Erregbarkeit eines
Nerven mit der anderer Organe oder Nerven oder verschiedener Nerven-
stellen untereinander vergleichen, dass man den „Schwellen-
werth" des elektrischen Reizes als (reciproken) Maassstab der Er-
regbarkeit benützt. Auf diese Weise konnte z. B. Rosen thal (41)
die von vornherein sehr einleuchtende Thatsache feststellen, dass die
specifische Erregbarkeit der Nervensubstanz grösser ist, als die des
quergestreiften Muskels oder, wie man es wohl auch ausdrücken kann,
die indirecte Erregbarkeit des Muskels grösser als die
directe. R. legte den Nervus ischiadicus der Länge nach auf einen
curarisirten Gastrocnemius. Durch Nerv und Muskel werden dann
Inductionsströme geleitet, welche, da der Leitungswiderstand beider
annähernd gleich ist, sich den Querschnitten proportional vertheilen,
also in beiden mit gleicher Dichte fliessen. Bei allmählicher Steigerung
der Stromstärke durch Annäherung der secundären Spirale an die
primäre zuckt zuerst der indirect gereizte Muskel, der Nerv bedarf
also schwächerer elektrischer Erregung. Von grossem Interesse sind
die Resultate der Untersuchungen, welche nach der erwähnten Methode
an verschiedenen Punkten eines und desselben Nerven
angestellt werden.
Schon Budge (42) beobachtete, „dass die Schenkelnerven nahe
ihrem Austritte aus dem Rückenmarke reizbarer sind, als ein Stück,
welches weiter unten liegt, und dies wieder reizbarer, als das folgende
u. s. w.". Er schloss daraus, „dass man eine um so grössere Kraft
anwenden muss, um Zuckung hervorzubringen, je entfernter vom
Ursprünge (Rückenmark) oder, was dasselbe ist, je näher der Insertion
in den Muskel man einen Nerv reizt". Ausserdem fand Budge bei
seinen Versuchen gewisse Stellen am Nerven, „welche viel erregbarer
sind, als andere, die sowohl über als unter diesen Stellen liegen, und
wiederum andere, welche sich durch ihre grosse Reizlosigkeit aus-
zeichnen". Letztere belegt er mit dem Namen der „Knoten stellen"
oder Knotenpunkte. Oft sei zu constatiren, dass Reizung einer Nerven-
stelle bei einer gewissen Stromstärke deutliche Zuckungen auslöst,
während 1 mm davon entfernt bei derselben Stromstärke auch nicht
eine Spur von Zuckung sich zeigt. Eine in dieser Beziehung am
meisten ausgezeichnete Stelle liegt etwa im mittleren Drittel des
Oberschenkels gerade da, wo ein starker Nervenast abgeht. Eine
andere befindet sich sehr gewöhnlich nahe dem Abgang der motorischen
Wurzeln. In der Folge fasste Pflüg er (43) alle hierhergehörigen
Thatsachen in dem Satze zusammen, dass ,.ein und dei'selbe Reiz,
520 I^iß Nerven und ihre physiologische Function.
welcher nacheinander zwei verschiedene Stellen des Nerven trifft, den
Muskel nicht auf gleiche Weise erregt, sondern diejenige Reizung
wirkt heftiger, welche die vom Muskel entferntere Stelle angreift".
Nur die alleroberste , dem Querschnitt nächste Strecke war relativ
weniger erregbar. Die Erregbarkeitscurve auf den Nerven als Ab-
scissenaxe bezogen würde demnach nach Pflüger die Gestalt wie in
Fig. 163 besitzen. Wie man sieht, zeigt dieselbe an der Stelle des
Abgangs der Oberschenkeläste eine Knickung. Es fragt sich nun, ob
die Ordinatenwerte dieser Curve wirklich als directe Maasse der Er-
regbarkeit betrachtet werden dürfen. Offenbar drücken dieselben nur
die relative Grösse des Reizerfolges an den verschiedenen Nervenstellen
aus, wobei für die Abnahme nach der Peripherie hin zwei Gründe
denkbar sind. Entweder ist die Erregbarkeit des Nerven um so
grösser, je näher die gereizte Stelle dem Centrale rgan Hegt, oder ein
und derselbe Reiz ruft von jedem beliebigen Punkt der Nerven aus
eine Erregung von derselben Stärke hervor, die Erregung selbst aber
wächst mit der Länge des Weges, welchen sie bis zum Erfolgsorgan
(dem Muskel) durchläuft. Pflüger entschied sich für die letztere
Fig. 163.
Annahme und folgerte aus den oben angeführten Thatsachen, dass
die Erregung beim Ablauf durch den Nerven „lawinen-
artig anschwelle", während man von vorneherein eher das Gegen-
theil vermuthen möchte. Das lawinenartige Anschwellen würde, wie
Hermann hervorhebt (Handbuch IL, 1. p. 113), den wichtigen Schluss
begründen, „dass die Leitung nicht einfach auf einer wellenartig von
Theilchen zu Theilchen sich übertragenden Bewegung, sondern auf
der Auslösung selbständiger Spannkräfte der Nerven beruhe, bei der
die ausgelösten Kräfte in jedem folgenden Nervenelement um etwas
grösser ausfallen, als im vorhergehenden." Bei der Tragweite dieser
Folgerung war es von grösster Wichtigkeit, die zu Grunde liegende
Thatsache weiter zu untersuchen. Wie Heidenhain (44) fand,
liegt die Ursache der stärkeren Wirkung höher ge-
legener Strecken durchschnittener Nerven in der Nähe
des künstlichen Querschnittes begründet. „Man kann
sofort dem unteren Nervenende denselben hohen Grad von Wirksam-
keit ertheilen, den eben das obere Ende hatte, wenn man weiter unten
einen Querschnitt anlegt; der Querschnitt erhöht in seiner Nähe die
Erregbarkeit. Also nicht der Abstand vom abgeschnittenen Ende ist
für die Grösse der Wirkung maassgebend," und zwar gilt dies für
jedes Stadium des Ueberlebens markhaltiger Nerven. Auf die eigent-
liche Ursache dieser auffallenden Wirkung des Querschnittes kann
erst später näher eingegangen werden, Avenn von dem Einfluss elek-
trischer Durchströmung auf die Erregbarkeit des Nerven die Rede
sein wird.
Die Nerven und ihre physiologische Function. 521
Wenn es nun auch als sicher gelten darf, dass am durch-
schnittenen Nerven die ungleiche Erregbarkeit verschiedener
Punkte vor Allem durch den Querschnitt bedingt wird, so liegen doch
andererseits Angaben vor, wonach auch am un durchschnittenen
Nerven regelmässige, locale Erregbarkeitsunterschiede vorkommen, und
zwar sollen es insbesondere die Abgangsstellen von Nerven-
zweigen sein, die sich durch eine verschiedene Erregbarkeit aus-
zeichnen. Nach Heidenhain 1, c. ist am Ischiadicus vom Frosch
die Erregbarkeit der 2 oberen Drittel im Allgemeinen höher als die
des unteren Drittels. Die Curve zeigt einen Wendepunkt etwas ober-
halb der Theilung des Ischiadicus in Peronaeus und Tibialis. An
dieser selbst ist sie am kleinsten, in der Nähe der Abgangsstelle der Ober-
schenkeläste am grössten (Fig. 164). Noch complicirter würde sich nach
Hermann und Fleischl (45) die Erregbarkeitscurve unversehrter
Nerven gestalten, indem auch die Richtung der reizenden Ströme
von ausserordentlicher Wichtigkeit für die Grösse des Erfolges ist;
an den oberen Stellen des Hüftnerven sind absteigende, an den unteren
Fig. 164. Ciu-ve der Erregbarkeiten längs des Ischiadicus. (Nach Heidenhain.)
dagegen aufsteigende Inductionsströme vorzugsweise wirksam; ja die
Sache wird dadurch noch verwickelter, dass v. Fleischl den ganzen
Nerven in mehrfache derartige Strecken theilt, in deren oberen Ab-
schnitten wesentlich die absteigenden, in deren unteren dagegen die
aufsteigenden und in deren mittleren Stellen (den „Aequatoren" oder
Folgepunkten) beiderlei Ströme gleich wirksam sind.
Allen diesen Angaben gegenüber erscheint es von vorneherein am
wahrscheinlichsten, dass der normale Nerv des lebenden Thieres an allen
Stellen seines Verlaufes von gleicher Erregbarkeit ist. Zur Constatirung
dieser Thatsache eignet sich aus später zu erörternden Gründen der
elektrische Reiz weniger als chemische oder mechanische Reizung.
Mittels letzterer hat Tiegerstedt (46) in der That die gleiche Er-
regbarkeit aller Punkte des unversehrten Nerven festgestellt. Es
existirt demgemäss auch kein lawinenartiges Anschwellen der Erregung,
wenigstens ist keine Thatsache bekannt, welche ein solches anzunehmen
zwingen würde.
Gewisse Verschiedenheiten, die sich aber nicht sowohl als locale
Unterschiede der eigentlich erregbaren Substanz des Axencylinders,
als vielmehr durch eine local verschiedene Entwicklung der umhüllenden
Markscheide bedingt erweisen, scheinen nichtsdestoweniger zwischen den
centraler gelegenen Nervenstrecken und peripheren zu bestehen. Darauf
deuten nicht nur gewisse histologische Befunde (Clara Haiperson,
47), sondern auch der Umstand hin, dass das obere Ende des Ischiadicus
vom Frosche Giftwirkungen (Alkohol etc.) leichter zugänglich ist, als
tiefere Abschnitte.
Durch die Untersuchungen von Clara Haiperson erscheint es
für den elektrischen, durch die Beobachtungen von Efron (48) für
Biedermann, Elektrophysiologie. 34
522 I^iß Nerven und ihi-e physiologische Function.
andersartige (chemische, thermische, mechanische) Reize sichergestellt,
dass die Anspruchsfähigkeit oberer Nervenstrecken an sich wesentlich
grösser ist und dui'ch erregbarkeitssteigernde Substanzen, sowie durch
Wärme viel rascher und stärker erhöht wird, als die unterer Abschnitte.
Auch bei Anwendung schädlich wirkender Substanzen oder von Kälte
zeigt sich eine frühere Beeinträchtigung oberer Strecken. So fand
Efron, dass, wenn von 2 gleichlangen und gleich erregbaren Nerven
eines Frosches der eine nur oben, der andere nur unten mit ver-
dünntem Amylalkohol behandelt wird, die Erregbarkeit der oberen
Nervenstrecke schon völlig erloschen ist, während sie unten noch
besteht. Bei dem innigen Zusammenhang, welcher zweifellos zwischen
Erregbarkeit und Leitungsvermögen angenommen werden muss, er-
scheint es nicht auffallend^ dass ebenso wie die Erregbarkeit der
höheren und tieferen Stellen auch deren Leitungsvermögen verschieden
schnell beeinflusst wird. Nach Efron, welcher durch Behandlung
mit Amylalkohol die Erregbarkeit in einer mittleren Strecke des
Nerven herabsetzte und sowohl die örtliche Anspruchsfähigkeit wie
die Erregbarkeit einer höher oben und einer tiefer unten gelegenen
Stelle vergleichend prüfte, nimmt die erstere zunächst rascher ab, als
die Leitungsfähigkeit, indem wie im Grünhage n'schen Versuch mit
localer Kohlensäurenarkose die Erregbarkeit der geschädigten Stelle
schon erheblich abgenommen hat, während sie oberhalb noch unver-
ändert erscheint. In einem späteren Stadium dagegen beobachtet man
ein umgekehrtes Verhalten : das Leitungsvermögen ist gänzlich er-
loschen, die örtliche Erregbarkeit aber noch in geringem Grade er-
halten.
Alle bisher besprochenen Thatsachen betreffs der Erregbarkeit
der Nerven im Verlaufe beziehen sich auf das gewöhnlich benützte
Nervmuskelpräparat vom Frosch, d. i. den Musculus gastrocnemius in
Verbindung mit dem Nervus ischiadicus. Benützt man jedoch den
ganzen Schenkel und prüft auch die Reaction der andern von dem-
selben Nervenstamm versorgten Muskeln bei Anwendung verschiedener
Stromstärken, so stellt sich das bemerkenswerthe Resultat heraus, dass
bei einer und derselben Stromstärke keineswegs alle Muskeln gleich-
zeitig in den Zustand der Erregung gerathen; vielmehr zeigt sich,
dass am Froschschenkel bei schwachen Reizen, welche den gemein-
samen Nervenstamm treffen, eine Bewegung im Sinne einer functionell
bestimmten Gruppe von Muskeln, die also die mehr erregbaren sind,
auftritt, während bei stärkeren Reizen eine Bewegung im Sinne einer
anderen functionell bestimmten , aber minder erregbaren Gruppe von
Muskeln erfolgt. Der ersteren Gruppe von Muskeln gehören, wie
Ritter schon im Anfange des Jahrhunderts beobachtete, die Beuger,
der letzteren die Strecker an. Seine vielfach unklaren, mit der Mystik
naturphilosophischer Betrachtungen verwebten Auseinandersetzungen
gipfeln in der Annahme einer „beschränkten, bedingten, endlichen"
Erregbarkeit der Beuger und einer „unbeschränkten, unbedingten, un-
endlichen" der Strecker. Diesen Behauptungen Ritte r's wurde viel-
fach widersprochen, und auch Du Bois Reymond, der in seinem
grossen Werke auf die Arbeiten Ritter's zu sprechen kam, hält
dessen Angaben für sehr unwahrscheinlich und meint, man solle sie
so lange für beseitigt ansehen, bis erneute, unzweideutige Untersuchungen
darüber angestellt seien.
Die Nerven uud ihre physiologische Function. 523
Dieser Aufgabe hat sich im Jahre 1874 Rolle tt (49) unterzogen,
welcher die Ritter'schen Beobachtungen wieder der Vergessenheit
entriss und sie durch zahlreiche neue Versuche bestätigte. Er bediente
sich nicht wie Ritter des Kettenstromes, sondern rasch aufeinander-
folgender, tetanisirender Inductionsströme. Es ist nun in der That
sehr leicht sich davon zu überzeugen, dass bei schwächsten Reizen
zunächst diejenigen Muskeln in tetanische Contr actio n
g e r a t h e n , welche den F u s s und die Zehen nach vor- und
aufwärts bewegen, sowie die Zehen abduciren (M. tibialis
antic, peronaeus, flexor tarsi anterior und posterior, M. extensores,
abductores digit. und Interossei) ; bei stärkerer Reizung des ge-
meinsamen Nervenst am m e s werden dagegen die Strecker
des Fusses nach rück- und abwärts, sowie die Adduc-
toren der Zehen erregt. Die erstere Gruppe („Beuger") versorgt
vorzugsweise, wenn nicht ausschliesslich der Nervus peronaeus,
die letztere der Nervus tibialis, so dass an dem gewählten Präparat
(Unterschenkel des Frosches) der günstige Fall der Vereinigung aller
oder doch der meisten für antagonistische Muskelgruppen bestimmten
Fasern eines Nervenstammes in zwei besondere Aeste der nächsten
Ordnung vorliegt. Bei weiteren Versuchen Hess Rollett isolirt
die Contraction der antagonistischen Muskelgruppen sich verzeichnen,
wobei sich herausstellte, dass im Anfang wirklich nur die Beuger sich
verkürzten, die Strecker aber nicht, und dass für anwachsende Reize
dann zu einer stärkeren Beugung eine schwache Streckung sich ge-
sellte, worauf endlich die Contraction der Strecker mehr zunahm, als
jene der Beuger. Dadurch, dass Rollett die antagonistischen Muskeln
an einem und demselben Hebel gegen einander wirken Hess (Ant-
agonistograph) und den Erfolg der Gegenwirkung graphisch verzeichnete,
gelangte er schHessHch auch zu der Ueberzeugung, dass bei d er Er-
regung vom Nerven aus die Beuge raufschwächere Reize
ein höheres Maass der Leistung ergaben, als die Strecker.
Im Sinne der Beuger erfolgt bei allmähHch gesteigerter Reizstärke
die Bewegung bis zu einem bestimmten Wendepunkte, wo sie von den
Streckern überwunden werden; zwischendurch liegt ein Stadium des
„Kampfes" beider antagonistischen Wirkungen, Derselbe Unterschied
in der Erregbarkeit der Beuger und Strecker ist, wie Frl, Völklin
(Hermann's Handb, I, 1, p. 113) fand, auch beim Kaninchen nach-
weisbar. Es hat sich ferner herausgestellt, dass ausser dem elek-
trischen Reize auch mechanische und chemische Reizung
das Phänomen hervorzurufen geeignet ist. (Osswald 50.)
Durch vorsichtige Abstufung der Stärke der Schläge eines dem
Heidenhain'schen Tetanomotor nachgebildeten Apparates gelang
es Osswald, bei schwächster Reizung des Nervenstammes, sowohl an
Fröschen wie insbesondere an den hierzu sehr geeigneten Kröten,
zunächst deutliche Beugungen zu erzielen, die bei allmählicher Ver-
stärkung der Reize mit Streckungen abwechselten; schliesslich über-
wogen aber völlig die Strecker, und es trat Tetanus in Streckung ein.
Dieselbe Erscheinung wiederholte sich auch bei chemischer Reizung
mit Chlornatrium und anderen Salzen,
Auch an anderen mit antagonistisch wirkenden Muskeln ausge-
statteten Theilen ist man auf analoge Unterschiede der Erregbarkeit
der betreffenden Nervmuskelapparate gestossen. So fand Grützner
34*
524
Die Nerven ixncl ihre physiologische Function.
(51), dass bei Reizung des Nervus vagus mit schwachen Strömen sich
wesentlich die Verengerer der Stimmritze, bei starker Reizung regel-
mässig die Erweiterer derselben contrahiren. Fränkel und Gad
(52) zeigten, dass die Wirkung allmählicher Abkühlung des Nervus
recurrens darin besteht, den Muskulus crico-arytänoideus posticus früher
als die Glottisschliesser zu lähmen, und Semon und Horsley (53)
constatirten einen peripheren differenzirenden Einfluss des Aethers auf
die Kehlkopfmuskeln in demselben Sinne.
Am alleraufFallendsten machen sich jedoch Unterschiede der Er-
regbarkeit functionell verschiedener Nervmuskelapparate geltend bei
gewissen Wirbellosen, so vor Allem an der Krebsscheere, Hier
war es schon Riebet und Luchsinger (54) aufgefallen, dass eine
schwache Reizung des Scheerennerven zu einer Oeffnung, eine starke
Fig. 165. Coutractionscurven des vom gemeinsamen Nerven aus mit tetanisirenden
Inductionsströmen zunehmender Stärke gereizten Schliessmuskels (oben) und Oeffnungs-
muskels (unten) der Krebsscheere. Die über den Eeizmarken stehenden Zahlen ent-
sprechen dem Rollenabstand in Centimeter.
dagegen zu einer Schliessung der Scheere führt. Fick (55), welcher
schon gegen Rollett's erste Versuche am Froschschenkel Bedenken
geltend gemacht hatte, die sich später als unbegründet erwiesen, ver-
suchte auch die Beobachtungen Richet's und Luchsinge r's rein
mechanisch, durch die anatomischen Verhältnisse der bewegenden
Muskeln, zu erklären. Indessen lässt sich dies leicht als irrig er-
weisen (Biedermann 56). Reizt man den Scheerennerv mit den
Wechselströmen eines Schlittenapparates, indem man zwei Platinspitzen
durch das zweite oder dritte Armglied einsticht, nachdem eine Ein-
richtung getroffen wurde, um die Gestaltveränderungen beider anta-
gonistischen Muskeln des Präparates gleichzeitig graphisch zu ver-
zeichnen, indem jeder Muskel seine Bewegung auf einen besonderen
Hebel überträgt, so macht sich zunächst die schon erwähnte, auch an
der ganzen, unversehrten Scheere hervortretende Thatsache geltend,
dass im Allgemeinen der Oeffnungsmuskel bei schwacher, der Schliess-
muskel bei starker Reizung des Nerven sich contrahirt.
Wenn man die Stromstärke durch allmähliches Verschieben der
secundären Rolle verstärkt und bei jeder neuen Lage die Reizerfolge
Die Nerven und ihre physiologische Function. 525
prüft, so sieht man, falls es sich um tonusfreie Muskeln handelt, in
der Regel bei einem gewissen Rollenabstand zunächst nur den OefFnungs-
muskel allein reagiren. Die Wirkungen nehmen dann bei Verstärkung
der Reizung bis zu einer gewissen Grenze zu und wieder ab, um
gänzlich zu verschwinden, ohne dass der Schliessmuskel während dieser
Zeit merkliche Grestaltveränderungen erkennen lässt. Man kann unter
Umständen die Rollen einander noch beträchtlich nähern, ohne an
einem der beiden Muskeln während der Reizung irgendwelche Er-
regungserscheinungen wahrzunehmen. Erst über eine gewisse Grenze
der Stromstärke hinaus beginnt der Schliessmuskel zu reagiren, dessen
Contractionen dann bis zu dem erreichbaren Maximum der Strom-
stärke jede Reizung begleiten, ohne dass dabei auch der Oeflfner
merklich reagirte. Sehr oft hat man jedoch Gelegenheit, zu beobachten,
dass bei geringem Rollenabstande nach Ende der Reizung eine Zu-
sammenziehung des Oeflfnungsmuskels eintritt (Fig. 165 und 166).
1 ^ . ■ ■ i . ■ ■ ■ 1 . ■ . . 1 . . . . I
Fig. 166. CoHtractionscurven bei indirecter, tetanisirender Eeizung des Schliess- (oben)
und Oeffnungsmuskels (unten) der Krebsscheere bei allmählicher Annäherung der secun-
dären Eolle des Schlittenapparates.
In jedem solchen Falle giebt es also ein gewisses Intervall der Strom-
stärke, wo weder der eine noch der andere der beiden antagonistischen
Muskeln auf Reizung des zugehörigen Nerven reagirt. Die Grösse
dieser „neutralen Zone" scheint in verschiedenen Fällen sehr ver-
schieden zu sein. Es ist indessen besonderer Nachdruck auf den
Umstand zu legen, dass eine neutrale Strecke im strengen Sinne des
Wortes durchaus nicht immer nachweisbar ist, ja dass ihr Vorkommen
nicht einmal die Regel zu sein scheint, wenn man darunter ein Inter-
vall der Stromstärke versteht, bei welchem keiner der beiden Muskeln
auch nur spurweise reagirt. Es lässt sich allerdings immer ein Rollen-
abstand auffinden, wo die Contraction des (3effners sowohl wie die
des Schliessers sehr schwach ist, allein es gelingt nicht immer, die
Reizung ganz erfolglos zu machen. Auch genügt in einem solchen
Falle meist eine sehr geringe Verschiebung der secundären Spirale
in der einen oder anderen Richtung, um entweder maximale Con-
tractionen des Schliessers oder solche des Oeffners auszulösen.
Um sich von dem Vorhandensein oder Fehlen einer „neutralen
Strecke" rasch und sicher zu überzeugen, ist es am zweckmässigsten,
den Nerven dauernd zu reizen und dabei die Rollen des Inductions-
apparates allmählich und stetig zu nähern. Man sieht dann zuerst
den Oeffnungsmuskel sich contrahiren und wieder erschlaffen, dann
folgt entweder die neutrale Sti'ecke, oder es schliesst sich an die
526 I^iß Nerven und ihre physiologische Function.
Erschlaffung des Oeffners unmittelbar die Zusammenzieliung des
Schliessmuskels an (Fig. 166).
Obschon daher, wie aus den geschilderten Untersuchungen hervor-
geht, die Wechselbeziehung zwischen beiden Antagonisten nicht eine
derartige ist, dass die Erregung des einen die des anderen unter
allen Umständen ausschliessen würde, so ist dies doch thatsächlich
oft genug der Fall. Ausnahmslos aber findet man, dass bei stärk-
ster Erregung des Schliessmuskels der Oeffnungs-
muskel in Ruhe verharrt und umgekehrt bei stärkster
Erregung des Oeffnungsmuskels der Schliessmuskel.
Wie bei dem gewöhnlichen Ritter-Rollett'schen Phänomen lässt sich
auch hier die analoge Wirkung mechanischer und chemischer Reize
demonstriren. So ist stets leicht zu beobachten, dass unmittelbar
nach dem Abschneiden der Scheere regelmässig die Wirkung des
Oeffnungsmuskels überwiegt, nachdem im Momente der Schnittführung
eine rasch vorübergehende Schliessung eingetreten ist.
Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, dass es sich hier um
eine complicirte Wirkung des mechanischen Reizes auf die Nerven
beider Muskeln handelt, über die sich ein sicheres Urtheil erst bei
weiteren Untersuchungen wird gewinnen lassen ; nicht minder auf-
fallend ist die Thatsache, dass in der Mehrzahl der Fälle bei chemi-
scher Reizung des Scheerennerven (dui'ch Eintauchen eines frisch an-
gelegten Querschnittes des Scheerenarmes in concentrirte NaCl-Lösung)
die Wirkung des Oeffners überwiegt, während doch andererseits auch
der Schliessmuskel durch dasselbe Reizmittel in kräftigste Contraction
versetzt werden kann, wie sich insbesondere dann zeigt, wenn der
Oeffnungsmuskel vorher durchschnitten wurde.
Die Innervationsverhältnisse der antagonistischen Scheerenmuskeln
des Krebses gestalten sich nun aber dadurch noch wesentlich com-
plicirter, dass jeder der beiden Muskeln ausser von motorischen auch
sicher noch von hemmenden Nervenfasern innervirt wird, welche
hinsichtlich ihrer Erregbarkeitsverhältnisse sich ge-
rade entgegengesetzt verhalten, wie die motorischen
Nerven. Es muss hierbei vorausgeschickt -werden, dass sowohl der
Schliessmuskel wie der Oeffnungsmuskel oft, ja in der Regel, eine
Art von Tonus erkennen lassen, der in jedem Falle, besonders deut-
lich nach Durchschneidung des Antagonisten hervortritt. Reizt man
nun in einem solchen Falle (nach Durchschneidung des Oeffners) den
Nerven des Scheerenarmes mit tetanisirenden Wechselströmen, während
die secundäre Rolle der primären allmählich genähert wird, so sieht
man regelmässig als ersten Erfolg der Reizung des Nerven
eine Oeffnung der Scheere eintreten, welche unter den gegebenen Be-
dingungen nur durch eine Erschlaffung und dadurch bewirkte
stärkere Dehnung des Schliessmuskels bedingt sein kann. Ver-
stärkt man hierauf vorsichtig die Reizung durch langsames Nähern
der Rollen, so nimmt in der Regel zunächst der gleiche Erfolg
noch an Stärke zu, bis endlich bei einem gewissen, meist geringen
Rollenabstand jeder Reizung eine kräftige Schliessung der Scheere
folgt, die während der ganzen Dauer des Tetanisirens anhält.
Schwächt man hierauf wieder die Intensität der Inductionsströme ab,
so tritt abermals der entgegengesetzte Erfolg, d. i. Erschlaffung des
Muskels, ein. Mit dem allmählichen Schwinden der tonischen Ver-
kürzung werden natürlich auch die sichtbaren Reizerfolge einsinnig
Die Nerven und ihre physiologische Function, 527
und bestehen nur mehr in Schliessung der Scheere, d. i. Verkürzung
des Muskels. Das Gleiche ist selbstverständlich auch bei solchen
Präparaten der Fall, deren Schliessmuskel von vornherein keinen merk-
lichen Tonus zeigt. Entsprechend dem Charakter dieses Muskels als
eines quergestreiften erfolgen die erwähnten Gestaltsveränderungen im
Allgemeinen ziemlich rasch. Verzeichnet man dieselben graphisch
(Fig. 167), so sinkt die Curve bei langsamer Bewegung der Schreib-
fläche im Beginne des Tetanisirens fast rechtwinkelig ab, indem der
Muskel plötzlich stark und oft sogar maximal erschlafft. An der
Grenze der Stromstärke, bei welcher die hemmende Wirkung der
Nervenreizung in ihr Gegentheil umschlägt, sind die Reizerfolge nicht
selten doppelsinnig, und treten mannigfache Unregelmässigkeiten auf.
Auch in Fällen, wo der natürliche
Tonus fehlt, lassen sich unter Umständen
die hemmenden Wirkungen der Nerven-
reizung nachweisen, wenn der erschlaffte,
ruhende Muskel künstlich in einen
dauernden oder rhythmisch unterbro-
chenen Erregungszustand versetzt wird.
Dies gelingt leicht, wenn man bei schwin-
gendem Hammer des Schlittenapparates Fig. 167. Tetanisirende Eeizung
in den Kreis der secundären Spirale ein Jes dauernd tonisch verkürzten
HT i • 1 li. . 11 j .i , öchliessmuskels der Krebsacheere ;
Metronom einschaltet, welches gestattet, wiederholte kurzdauernde Hem-
dem Schliessmuskel direct mittels zwei mung(Erschlaffung) während jedes-
durch die Chitinschaale der Scheere ge- maliger Reizung des Nerven.
stochener Platinspitzen in beliebigem
Rhythmus Gruppen von Inductionsschlägen zuzuführen und so regel-
mässige, rhythmische Contractionen auszulösen, die nun durch gleich-
zeitige Nervenreizung in ähnlicher Weise beeinflusst werden können,
wie die natürlichen Herzpulse durch den Nervus vagus. Handelt es
sich um ein Präparat, dessen Schliessmuskel in Folge der directen rhyth-
mischen Reizung in einem Zustand mittlerer Zusammenziehung dau-
ernd verharrt und so zu sagen nur um seine neue Gleichgewichtslage
im Rhythmus der Metronomschläge schwankt, so beobachtet man im
Beginn einer wirksamen, hemmenden Nervenreizung mittels tetani-
sirender Inductionsströme, ganz wie beim Vorhandensein eines natür-
lichen Tonus , eine mehr oder minder rasch eintretende Erschlaffung,
welche sich je nach Umständen bei graphischer Verzeichnung bald
nur durch eine massige, flache Einbiegung, bald durch einen steilen,
der völligen Erschlaffung des Muskels entsprechenden Abfall der Curve
verräth. Ersterenfalls , wie fast immer bei schwächster, nur eben
wirksamer Reizung des Nerven, bleibt die Grösse der aufgesetzten
rhythmischen Schwankungen in der Regel unverändert oder erleidet
doch nur unwesentliche Veränderungen. Ganz anders verhält sich
dies jedoch bei stärkerer Reizung, Dann beobachtet man fast immer
gleichzeitig mit der Erschlaffung des Muskels und dem dadurch be-
dingten Absinken der Curve eine merkliche und in der Regel sogar
sehr beträchtliche Verkleinerung der Höhe der einzelnen Contractionen,
ohne dass selbstverständlich deren Rhythmus geändert würde. Es
kann dies soweit gehen, dass im Zustande der stärksten Erschlaffung
die Gestaltveränderungen des Muskels ganz unmerklich werden oder
nur als leichte, wellenförmige Erhebungen der Curve angedeutet er-
scheinen (Fig. 168). Es gewinnen dann derartige graphische Dar-
528 I^iö Nerven und ihre physiologische Function.
Stellungen der in Rede stehenden Hemmungswirkung oft eine gewisse
äusserliche Aehnlichkeit mit kymographischen Curven, welche den
hemmenden Einfluss des gereizten Vagus auf die Herzbewegung dar-
stellen.
Wenn sich schon aus solchen Versuchen mit aller Sicherheit er-
giebt, dass neben oder besser mit der Erschlaffung des Muskels gleich-
zeitig auch eine Verkleinerung der künstlich bewirkten rhythmischen
Contractionen einhergeht, so lässt sich diese Thatsache doch noch viel
besser in allen den Fällen constatiren, wo der Muskel Zeit hat,
zwischen je zwei aufeinanderfolgenden Reizen wieder vollständig zu
erschlaffen. Denn es verräth sich dann der Erfolg wirksamer Hemmung
überhaupt nur durch eine mehr oder minder beträchtliche Abnahme
der Höhe der einzelnen Zuckungen oder richtiger kurzen Tetani
1 ■ I . ) > . I I I 1
I . ■ 1 ^. . . i 1 . 1 I i ■ 1 I ■ 1 , . > , i , , I 1 i i i , Fig. 169. AVie in Fig. 168.
Vorwiegende Verkleinerung
Fig. 168. Hemmung der künstlich durch directes, ryth- t^ei" Einzelcontractionen.
misch unterbrochenes Tetanisiren bewirkten Erregung
des tonusfreien Schliessmuskels der Krebsscheere durch
gleichzeitige Keizung des Scheerennerven.
(Fig. 169). Es erinnern solche Curvenreihen unmittelbar an die von
Hei den ha in und Löwit mitgetheilten Beispiele, welche die Erfolge
schwächster Vagusreizungen auf die rhythmischen Contractionen des
Fi'oschherzens darstellen, und aus denen zu ersehen ist, dass als erster
Effect der hemmenden Wirkung eine Verkleinerung der Einzelpulse
eintritt.
Das geschilderte Verhalten der Muskeln der Krebsscheere, welches
wohl kaum anders als durch die Annahme von zwei verschiedenen,
antagonistisch wirkenden Fasergattungen, welche in einem und dem-
selben Nervenstamm vereinigt zum Schliessmuskel hinziehen, erklärt
werden kann, steht keineswegs ohne Analogie da. Schon vor längerer
Zeit th eilte Pawlow (57 j Beobachtungen an den Schliessmuskeln
der Schaalen von Anodonta mit , aus denen sich ergiebt , dass
zu demselben ebenfalls 2 Arten von Nervenfasern gehen, die einen
motorische, welche Verkürzung des Muskels veranlassen, die anderen
hemmende, mit jenen gemeinsam verlaufend, welche den verkürzten
Zustand des Muskels aufheben und Erschlaffung desselben herbei-
führen. Durch geeignete Reizung kann man auch hier bald die eine,
bald die andere Wirkung deutlicher hervortreten sehen. Doch bietet
die Krebsscheere der Untersuchung insoferne wesentliche Vortheile, als
es sich hier um quergestreifte Muskeln handelt, deren Reactionen
unvergleichlich rascher erfolgen, als die des trägen, glatten Muschel-
Die Nerven und ihre physiologische Function. 529
muskels, bei welchem letzteren ausserdem auch noch der Umstand zu
berücksichtigen bleibt, dass zwischen Nerv und Muskel Ganglienzellen
eingeschaltet liegen, deren Einfluss sich nur schwierig ausschliessen lässt.
Auch der Herzmuskel wird von functionell verschiedenen, ant-
agonistisch wirkenden Nervenfasern versorgt, welche bei manchen Wirbel-
thieren in einem Stamme vereinigt, bei anderen getrennt verlaufend
Unterschiede der Erregbarkeit erkennen lassen , die in mancher Be-
ziehung den im Vorstehenden besprochenen vergleichbar sind. So
haben Heiden ha in (58) und später Löwit gezeigt, dass bei den
schwächsten, eben Avirksamen Strömen, die auf den Nervus vagus des
Frosches einwirken, immer zunächst die hemmende \\'irkung hervor-
tritt, dass es nie gelingt, unter diesen Umständen eine Beschleunigung
der Herzthätigkeit zu erzielen. Immer kommt eine solche erst bei
höheren Stromstärken zur Beobachtung, als die Hemmung, so dass
unter der Voraussetzung von zweierlei Fasern den hemmenden im
Allgemeinen eine leichtere Anspruchsfähigkeit zuzuschreiben wäre, als
den accelerirenden. [Aehnliche Verhältnisse findet man auch bei
Warmblütern (Vagus, Accellerans) ^ (vergl. Meltzer 58).] Dagegen
fand Löwit (1. c), dass die erster en durch gewisse che-
mische Substanzen früher geschädigt werden, als die
letzteren. Wird der Vagusstamm beim Frosch mit KNOg (^W^io)
behandelt, so lässt sich ein Stadium finden, wo Reizung des Nerven
stets nur Beschleunigung der Herzthätigkeit auslöst, während unter-
halb der kalisirten Stelle gleiche Reizung nur Hemmung bewirkt.
Durch Auslaugen des Nerven mit 0,6 ^/o NaCl-Lösung gelingt es in allen
Fällen, diese Wirkung des Kali wieder zum Verschwinden zu bringen, und
man kann so die Umwandlung des Vagus in einen Beschleunigungsnerven
und aus diesem wieder in einen Hemmungsnerven einige Mal an dem-
selben Präparat Aviederholen. Aehnlich wie KNO3 wirken auch noch
andere Substanzen (1. c. p. 493), sowie starke Abkühlung (Eis). Auch
in nächster Nähe eines künstlichen Querschnittes
scheinen Veränderungen Platz zu greifen, welche sich
durch ein verschieden rasches Sinken d e r E r r e g b a r k e i t
der beiden antagonistischen Fasergattungen kundgeben.
Legte Löwit die Elektroden bei geringer Spannweite (I mm) derart
an den durchschnittenen Vagus, dass die eine Elektrode unmittelbar
am Querschnitt sich befindet, so zeigte sich bei einer gewissen Strom-
stärke und aufsteigender Richtung der einzelnen Inductionsströme
stets eine deutliche Beschleunigung der Herzthätigkeit, während ein-
fache Umkehr der Stromesrichtung eine exquisite Hemmung hervor-
ruft. Es ist dies zweifellos darauf zu beziehen, dass, wie später ge-
zeigt werden wird, in beiden Fällen die Erregung thatsächlich an
verschiedenen Stellen des Nerven erfolgt (im ersteren Falle näher dem
Querschnitt) , deren verschiedene Anspruchsfähigkeit auch eine Ver-
schiedenheit der Reizerfolge bedingt. Kann es also einerseits nicht
zweifelhaft sein, dass im Nervus vagus des Frosches besondere be-
schleunigende und hemmende Nervenfasern vorhanden sind, so ist auf
der anderen Seite nicht minder sicher, dass die Erregbarkeit
bei d erFaser arten eine verschiedene ist, und zwar haben wir
Grund, anzunehmen, dass d i e B e s c h 1 e u n i g u n g s ( V e r s t ä r k u n g s -)
Fasern minder erregbar als die hemmenden Fasern, da-
gegen resistenter gegen alle Vorgänge sind, welche die
Erregbarkeit b ei der Faser arten zu vernichten drohen.
530 Die Nerven und ihre physiologische Function.
Man wird durch dieses Verhalten sofort an die analogen Erregbar-
keitsverhältnisse der gefäss verengernden Fasern er-
innert in einem Stamme, der gefässverengernde und
gefässerweiternde Fasern gleichzeitig führt.
Bemerkenswerth ist nur, dass es keineswegs die functionell gleich-
werthigen Fasern sind, welche auch in Bezug auf ihre Erregbarkeits-
verhältnisse bez. ihre Resistenzfähigkeit übereinstimmen, indem sich
Analogien zwischen den Herzhemmungsfasern und den Vasoconstric-
toren einerseits, den Accelleratoren des Herzens und den Vasodilata-
toren anderei-seits herausstellen, ein gegensätzliches Verhältniss, welches
seinen schärfsten Ausdruck in den Erregbarkeitsverhältnissen der
motorischen und hemmenden Fasern der antagonistischen Scheeren-
muskeln des Krebses findet, wo man sich zu der Annahme gezwungen
sieht (auf Grund der mitgetheilten Thatsachen), dass jeder der beiden
Muskeln von zweierlei, functionell verschiedenen (motorischen und
hemmenden) Fasern versorgt w^ird, die sich hinsichtlich ihrer Erreg-
barkeit nicht nur quantitativ verschieden verhalten, indem je nach
der Stärke der Reizung die eine Wirkung immer früher als die andere
in durchaus bestimmter und gesetzmässiger Weise hervortritt, sondern
dass auch qualitative Unterschiede bestehen, indem die Hem-
mungsfasern des einen Muskels hinsichtlich ihrer Er-
regungsbedingungen den motorischen Fasern der Ant-
agonisten im Allgemeinen entsprechen.
Dass ähnliche Unterschiede der Erregbarkeit, wie sie im Vor-
stehenden für centrifugal leitende Nervenfasern beschrieben wurden,
auch bei centripetal leitenden Fasern vorkommen, dafür scheint der
mit der Stärke der Reizung wechselnde Erfolg der Erregung des
centralen Vagusstumpfes zu sprechen. Es darf als sicher bewiesen
gelten, dass im Vagus zweierlei Faserarten enthalten sind, welche das
Athmungscentrum in entgegengesetztem Sinne beeinflussen; während
die einen bei ihrer Erregung inspiratorisch wirken, ist bei den anderen
das Gegentheil der Fall. Reizt man mit Inductionsströmen , deren
Intensität möglichst vorsichtig abgestuft wird, so beobachtet man (bei
Kaninchen) in der Mehrzahl der Fälle als ersten Reizerfolg das Ein-
treten längerer oder kürzerer exspira torisch er Pausen oder eine
Abflachung der Athmung bei Exspirationsstellung , während stärkere
Reizung stets inspiratorisch wirkt. Vielleicht beruht auch die
ausgeprägt exspiratorisch e W^irkung chemischer Reize vor
Allem auf ihrer geringeren Intensität. Nach Meltzer (1. c. p. 385)
hätte man sogar Grund, im Vagusstamm, ähnlich wie im Scheerennerven
des Krebses, 4 verschiedene Faserarten anzunehmen : a) inspiratorische,
b) inspirationshemmende, c) exspiratorische, d) exspirationshemmende.
Es ist sehr bemerkenswerth, dass auch in diesem Falle eine Ab-
stufung der Reizbarkeit zu bestehen scheint, die unmittelbar an das
Verhalten der Scheerenmuskeln erinnert, indem die exspirations-
hemmenden Fasern vornehmlich bei einer Reizstärke
erregt werden, welche gleichzeitig ausreicht, die In-
spiratoren zu erregen. Bei fast derselben Reizstärke würden
hiernach die Inspiratoren erregt und die Antagonisten derselben ge-
hemmt.
In allen den besprochenen Fällen, wo sich bei verschiedener Reiz-
intensität Unterschiede der Reizerfolge in den von einem und dem-
selben Nervenstamm versorgten peripheren oder centralen Endorganen
Die Nerven und ihre physiologische Function. 531
geltend machen, bleibt es vorerst immer noch fraglich, ob die beob-
achteten Verschiedenheiten der Reactionsweise nur auf entsprechenden
Unterschieden der Erregbarkeit der zugehörigen Nervenfasern oder
auch der Endorgane selbst oder beider beruhen. RoUett neigt sich
für den von ihm untersuchten Fall der Ansicht zu, dass, da bei directer
Reizung der Muskeln der Unterschied nicht hervortritt, die Ursache des
Ritter-Rollett'schen Phänomens lediglich in Eigenschaften der Nerven
gelegen ist, wobei er freilich unentschieden lässt, ob nur in einer ver-
schiedenen Erregbarkeit der für verschiedene Muskeln bestimmten Fasern.
Dagegen hält es Grützner(59) für wahrscheinlich, dass bei dem in
Rede stehenden Phänomen auch phy sio logische Verschied en-
h e i t e n der M u s k e 1 g r u p p e n der Beuger und Strecker,
also wohl des gesammten Nervmuskelapparates beider
in Betracht kommen.
Er stützt sich dabei hauptsächlich auf eine Reihe schon früher
erwähnter Thatsachen, welche zeigen, dass physiologische Verschieden-
heiten der betreffenden Muskelgruppen thatsächlich bestehen und vor
Allem darauf, dass es gelingt, das Ritter-RoUett'sche Phänomen auch
nach Ausschaltung der Nerven und ihrer Endigungen (durch Curare)
zu erzeugen (1. c. p. 231).
Wie die vorstehenden Beispiele genügend darthun, unterliegt es
grossen, ja kaum zu überwindenden Schwierigkeiten, die speciiische
Erregbarkeit verschiedener Nerven vergleichend zu untersuchen , da
man lediglich auf die Reaction der in Bezug auf ihre Erregbarkeits-
verhältnisse so sehr verschiedenen peripheren oder centralen End-
apparate angewiesen ist. Macht sich dies schon bei functionell gleich-
artigen Endorganen, wie z. B. quergestreiften und glatten Muskeln,
geltend, so ist eine Vergleichung der Erregbarkeit von Nerven, deren
Wirkungsenden mit functionell verschiedenen Endorganen verknüpft
sind, vollends ganz unmöglich. Es zeigt sich dies auf das deutlichste,
wenn man etwa die Bedingungen für die Auslösung reflectorischer
Muskelcontractionen mit jenen der directen Reizung motorischer
Nerven vergleicht. Die grossen Unterschiede, welche in beiden Fällen
hervortreten, werden, wenn überhaupt, nur zum kleinsten Theil auf
specifische Verschiedenheiten der Nervenfasern selbst zu beziehen
sein, sondern vielmehr in den schon früher hervorgehobenen, beson-
deren Eigenschaften der Nervenzellen gesucht werden müssen.
Die allerauffallendste Thatsache auf diesem ganzen Gebiete ist
die, dass ein einmaliger, kurzer Reizanstoss, gleichviel ob es sich um
mechanische oder elektrische Reizung handelt, zwar mit Sicherheit
eine Zuckung auslöst, wenn der motorische Nerv eines quergestreiften
Muskels direct getroffen wird, aber nicht annähernd mit gleicher
Sicherheit, wenn es sich um eine reflec torische Erregung handelt.
Ja es gilt im letzteren Falle sogar als Regel, dass ein kurzdauernder,
einmaliger Reiz, wenn überhaupt, nur bei sehr hoher Intensität sich
wirksam erweist. Dass die Ursache hierfür nicht sowohl in besonderen
Eigenschaften der centripetal leitenden Nervenfasern, als vielmehr in
den abweichenden Erregbarkeitsverhältnissen der re-
flectirenden Centralorgane (Nervenzellen) gesucht werden
muss, lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit schon auf Grund der
früher besprochenen Thatsachen betreffs der Erregungsleitung inner-
halb der Fasern und Zellen erwarten. Es wurde dort wahrscheinlich
gemacht, dass die Nervenzellen der Fortleitung des Erregungsprocesses
532 I^ie Nerven und ihre physiologische Function.
und daher wohl auch der Erregung selbst einen gewissen Widerstand
darbieten, der sich einerseits in einer mehr oder minder erheblichen
Verzögerung der Leitung, andererseits aber in der noch zu besprechen-
den geringeren Labilität der Gangliensubstanz gegen kurze Reizan-
stösse geltend macht. So sehr daher auf der einen Seite die grosse
Empfindlichkeit der Nervenzellen gegen irgendwelche Schädlichkeiten
in die Augen springt, so sehr muss andererseits betont werden, dass
dieselben in Bezug auf ihre Erregbarkeitsverhältnisse vielmehr den
minder reizbaren, trägeren, glatten Muskeln, als den rasch reagiren-
den, quergestreiften, gleichen. Wir werden später sehen, wie sehr die
Erregung der trägeren irritablen Gebilde von der Dauer des Reizes
abhängt, was vielleicht den schlagendsten Ausdruck in der Thatsache
findet, dass ein und derselbe Inductionsschlag, der mit absoluter Sicher-
heit eine Zuckung des quergestreiften Muskels bewirkt, auf dessen
Nerven er einwirkt, keine merkliche Contraction glatter Muskel-
fasern zur Folge hat, wenn er deren Nervenfasern trifft und ebenso-
wenig im Stande ist, eine Reflexzuckung der ersteren auszulösen.
In ersterer Beziehung hat Langend or ff (60) gezeigt, dass bei
Reizung des Halssympathicus mit einzelnen Inductionsschlägen keine
merklichen Veränderungen der Pupillen weite eintreten, Avährend da-
gegen schnell wiederholte Schläge „durch Summation" wirksam
werden. Bei entsprechender Vergrösserung konnte übrigens M u h 1 e r t
(61) auch bei Anwendung einzelner Schläge manchmal eine deutliche
Erweiterung der Pupille constatiren, sowie auch Piotrowsky (62)
diese Art der Reizung in Bezug auf die Verengerung der Ohrgefässe
wirksam fand. Immerhin ist die Wirkung der Einzelschläge eine
äusserst geringe, während tetanisirende Reizung in beiden Fällen be-
kanntlich einen sehr ausgeprägten Erfolg hat.
Wird bei gleichbleibender Stromesintensität die Reizfrequenz ver-
ändert, so lässt sich leicht zeigen, dass innerhalb weiter Grenzen die
Reizwirkung (Pupillenerweiterung) mit steigender Frequenz zunimmt.
Bei einem Reizintervall von etwa 2 Secunden konnte Mulert bei
einer Stromstärke von 85,19 E. eine Summation der Reizwirkung
selbst bei 62 aufeinander folgenden Reizen nicht nachweisen. Wenn
Reizzahl und Reizintervall so gewählt werden, dass überhaupt eine
Wirkung erwartet werden kann, so lässt sich auch leicht der Einfluss
der Stromstärke in dem Sinne feststellen, dass erst über einen ge-
wissen Grenzwerth hinaus die Pupillenerweiterung beginnt, um dann
mit wachsender Intensität anfangs rasch, später langsamer einem
Maximum zuzustreben. Man sieht leicht, dass die glatten Mukel-
eleraente, in denen zweifellos die Summation stattfindet, sich in diesem
Falle ganz ähnlich verhalten, wie unter analogen Verhältnissen die
Reflexcentren des Rückenmarkes bei Reizung von centripetal leitenden
Nerven aus. Auch trägere, quergestreifte Muskeln scheinen sich ganz
ähnlich zu verhalten. So beobachtete Piotrowsky (56) bei Reizung
des Scheerennerven vom Krebs mit einzelnen an sich unwirksamen
Inductionsschlägen, die sich in einem Intervall von Vs See. folgten, nach
je 7 Reizen jedesmal eine schwache Contraction.
Die auffallende Unempfindlichkeit centripetal leitender (sensibler)
Nerven oder richtiger ihrer centralen Endapparate gegen einzelne
Inductionsschläge ist seit lange bekannt.
Schon Munk (63) bemerkte, dass man an Fröschen auf einzelne
Inductionsschläge, welche einen sensiblen Nervenstamm treffen, keine
Die Nerven und ihre physiologische Function. 533
Reflexzuckungen folgen sieht, was mit einiger Sicherheit erst nach
vorheriger schwacher Strychninvergiftung der Fall ist. Auch Set-
schenow (64) constatirte, dass Inductionsströme, welche bei schwin-
gendem Hammer auf der Zunge schon eine starke Empfindung hervor-
riefen, vom centralen Ischiadicusstumpf aus keine Reflexe auslösten.
Indem er hierauf die obere Grenze der Stromstärke bestimmte, bei
welcher einzelne Schläge das Thier noch ruhig Hessen und darauf bei
spielendem Hammer die niedrigsten Stromstärken bestimmte, welche
das Thier zu erregen anfingen, ergab sich immer ein sehr grosser
Unterschied der Rollenabstände, „weil der gegen die einzelnen In-
ductionsschläge so unempfindliche sensible Nerv (d. h. eigentlich die
centralen Uebertragungsapparate) gegen eine Reihe derselben fast die-
selbe Empfindlichkeit wie der motorische (resp. der quergestreifte
Muskel) zeigt". Auch an den dünnen sensiblen Rückenhautnerven
des Frosches tritt, wie schon Fick (65) zeigte, dieselbe Thatsache
hervor. „Wenn man, statt einzelne Schläge zu geben, die Feder des
Inductionsapparates in Schwingung versetzt, dann bedarf es bei Weitem
keiner so enormen Stromstärken, um (reflectorische) Muskelzusammen-
ziehungen zu erhalten." In neuerer Zeit hat u. A. Ward (66) diese
Summationserscheinungen näher untersucht und fand am enthirnten
Frosch, dass bei Anwendung elektrischer Reize, welche nach Qualität
und Intensität möglichst gleichartig waren, von denen aber einer für
sich nicht ausreichte, eine Reflexzuckung hervorzurufen, eine solche
nach einer gewissen Anzahl von Reizen eintrat, wenn dieselben bei-
spielsweise in Intervallen von 0,5 See. folgten.
Die erforderliche Reizfrequenz blieb denn auch annähernd gleich,
wenn das Intervall bis zu 0,4 See. gesteigert wurde.
Es lässt sich diese wie alle anderen hierhergehörigen Erschei-
nungen offenbar nur unter der Voraussetzung erklären , dass ein an
sich unwirksamer Reiz in der Ganglienzelle (wie in anderen Fällen
im Muskel , der Drüsenzelle u. s, w.) eine gewisse Veränderung be-
wirkt, welche das Zustandekommen einer wirksamen Erregung be-
günstigt oder richtiger selbst eine schwache Erregung ist, zu der sich
die gleichartigen Veränderungen durch die nächstfolgenden Reize sum-
miren, bis endlich schliesslich eine wirksame Auslösung erfolgt. Dass
das Zeitintervall innerhalb der von Ward angegebenen Grenzen
gleichgiltig ist, würde darauf hinweisen, dass die durch eine Reizung
hervorgerufene Veränderung im Laufe von 0,4 See. merklich die-
selbe Grösse behält. Im Princip unterscheiden sich diese centralen
Summationswirkungen in keiner Weise von denen, welche unter Um-
ständen in peripheren Organen hervortreten, und nur gradweise zeich-
nen sich die gangliösen Elemente vor Muskeln, Drüsenzellen u. s. w. aus.
Dies macht sich unter Umständen auch durch eine sehr auffallende
Nachwirkung tetanisirender Reizung geltend. So findet man oft, dass
nach Beendigung einer längere Zeit hindurch fortgesetzten tetanisirenden
Reizung des durchschnittenen Froschrückenmarkes (in der Nähe des
Querschnittes) dieselben vorher absolut unwirksamen (absteigenden)
Oeffnungsströme mächtige Zuckungen auslösen, welche Wirkung erst
allmählich innerhalb eines Zeitraumes von mehreren Secunden abklingt
(Fig. 170). Diese Erscheinung steht offenbar in nächster Beziehung zu den
von Exner als „Bahnung" im Gegensatz zur „Hemmung" bezeichneten
Wechselwirkungen der Erregungen im Centralnervensystem. Wenn es
sich, was kaum zu bezweifeln sein dürfte, hier im Wesentlichen um
534
Die Nerven und ihre physiologische Function.
Erregbarkeitsveränderungen der übertragenden Elemente der grauen
Substanz des Lendenmarkes handelt, so waren analoge Erscheinungen
der „Bahnung" auch in dem Falle zu erwarten, wenn der modi-
ücirende und der Prüfungsreiz nacheinander an den beiden verschie-
denen Polen des Reflexcentrums einwirken, so dass im einen Falle
die directe Erregbarkeit der motorischen Rückenmarksfasern infolge
eines vorhergehenden, durch Reizung des centralen Ischiadicusstumpfes
ausgelösten Reflextetanus scheinbar erhöht, anderenfalls aber die Reflex-
function des Lendenmarkes durch eine vorhergehende, tetanisirende
Reizung des Rückenmarkes begünstigt werden würde. In der That
zeigt sich nun, dass absteigend gerichtete, in nächster Nähe eines
frischen Querschnittes an der Ventralfläche des Froschrückenmarkes
einwirkende, an und für sich unwirksame, einzelne Oeffnungsströme
starke Reizwirkungen entfalten, wenn vorher durch Reizung des cen-
tralen Ischiadicusstumpfes ein länger anhaltender Reflextetauus erzeugt
Fig. 170. a — h unvollkommener Tetanus des Gastrocnemius vom Frosch bei Reizung
des oben querdurchschnittenen Rückenmarkes mit rasch sich folgenden Inductions-
schlägen. Darnach wirken auch einzelne, vorher gänzlich unwirksame Oeffnungs-
schläge stark erregend, wenn sie derselben vorher tetanistrten Stelle des Rücken-
markes durch dieselben Elektroden zugeleitet werden.
wurde, und ebenso gelingt es umgekehrt, vorher unwirksame Reflex-
reize durch längeres, unmittelbar vorhergehendes Tetanisiren des
Rückenmarkes wirksam zu machen (Biedermann 37).
Nicht minderen Schwierigkeiten wie die Feststellung der specifischen
Erregbarkeit der Nerven begegnet die Untersuchung der Frage, ob,
wie es wohl von vorneherein als das Wahrscheinlichste anzunehmen
sein dürfte, der Ablauf des Erregungsprocesses im Nerven
mit Stoff verbrauch verknüpft, und in welchem Maasse
dies der Fall ist; zwei Wege sind hier denkbar: man könnte ver-
suchen, direct etwaige Veränderungen der chemischen Zu-
sammensetzung der Nervensubstanz infolge anhaltender
Erregung nachzuweisen , oder man schlägt den indirecten Weg ein
und untersucht die Gesetze der Ermüdung (und Erholung)
des Nerven. Was zunächst die erste Frage betriß't, so ist dieselbe
für Nerven noch viel schwieriger zu entscheiden, als für Muskeln,
was theils in der geringen Masse, theils im Bau der Nervenfasern
seinen Grund hat. Die einzige functionelle, chemische Veränderung
der Nerven, welche, wenn auch nicht unbestritten, auf Grund von
Untersuchungen behauptet wird, ist die Reaction. Unmittelbar
Die Nerven und ihre lihysiologisclie Function. 535
nachdem Du Bois Reyiuond die functionelle Reactionsänderung
des Muskels entdeckt hatte, machte Funke (67) ganz entsprechende
Angaben für markhaltige Nerven und fand die Querschnitte sowohl
l^eripherer Nervenstämme, wie besonders auch die leichter zu prüfenden
des Rückenmarkes von curarisirten Kaninchen und Fröschen neutral,
eine gewisse Zeit nach dem Tode aber, sowie nach Strychninvergiftung
sauer. Beide Angaben wurden von Heidenhain (67) bestritten,
von Ranke (67) dagegen bestätigt. Nach Gr s c h e i d 1 e n u. E d i n g e r
(67) reagirt die graue Substanz des Rückenmarkes und Gehirns schon
im ganz frischen Zustande sauer, die weisse dagegen neutral, auch
Moleschott u. Battistini linden die erstere immer stärker sauer
als die letztere, und zwar sowohl während der Ruhe, wie nach starker
Erregung. In directem Widerspruch hiermit behauptet Langen dorff
(67), dass das Centralnervensystem des Frosches als Ganzes normaler
Weise alkalisch reagirt, und dass das Gleiche auch hinsichtlich der
lebenden Grosshirnrinde von Kaninchen oder Meerschweinchen gilt.
Sowohl durch Erstickung, wie Anämie schlägt aber die Reaction sehr
rasch in die saure um. Die auffallenden Widersprüche dieser Angaben
erklären sich zum grossen Theil dadurch, dass ganz vorwiegend die
so ausserordentlich leicht zersetzliche gangliöse Substanz der Nerven-
centren geprüft wurde, deren Reaction sich dementsprechend voraus-
sichtlich ungemein rasch ändern wird. In der That beobachtete
Pflüger selbst nach möglichst beschleunigter Durchspülung des Gehirns
mit eiskalter, physiologischer Kochsalzlösung eine rasch zunehmende
postmortale Säuerung der grauen Substanz. Bei der vollkommenen
Verschiedenheit der Lebensbedingungen von Nervenzellen und -Fasern
kann es daher auch nicht überraschen, den Stoffverbrauch der beiden
wesentlichsten Structurelemente des Nervensystems gänzlich verschieden
zu finden. In keinem Falle aber sind die Befunde an gangliösen
Theilen irgend maassgebend für das Verhalten der Nervenfasern.
Hier dürfte es kaum zweckmässig sein, wie es bisher wohl ausschliess-
lich geschehen ist, markhaltige Nerven zur Prüfung einer even-
tuellen Reactionsänderung zu benützen, da es ja wohl nur auf die
Substanz des Axencylinders als des physiologisch wesentlichsten Be-
standtheils jeder Nervenfaser ankommt. Es wäre leicht möglich, dass
die beim Erregungs- und Leitungsvorgang wohl kaum direct betheiligten
Markscheiden am Querschnitt eine eventuelle Reactionsänderung des
Axencylinders verdeckten.
Ebensowenig, wie sich mit Sicherheit chemische Veränderungen
der Nervenfasern bei und infolge der Erregung nachweisen lassen,
ist es gelungen, thermische Vorgänge festzustellen. Weder
Helmholtz noch Heidenhain vermochten ungeachtet der grossen
Empfindlichkeit der angewendeten Methoden ein dem Muskel analoges
Verhalten peripherer Nervenstämme zu constatiren, während allerdings
Schiff positive Resultate verzeichnet (69). Auch hier wird man
zwischen der gangliösen Substanz der Centralorgane und den Nerven-
fasern an sich unterscheiden müssen und in Uebereinstimmung mit
der unzweifelhaften Verschiedenheit des Chemismus auch Unterschiede
im thermischen Verhalten erwarten dürfen.
Bei dem gänzlichen Mangel an hinreichend begründeten Thatsachen
betreffs des Stoffwechsels der Nervenfasern ist man bis auf Weiteres
genöthigt, auf gewisse Wahrscheinlichkeiten hinzuweisen. Der functio-
nelle Umsatz ist aber unter allen Umständen (von der grauen Substanz
536 Diß Nerven und ihre physiologische Function.
der Centren abgesehen) höchst geringfügig, wie unter Anderem auch
die geringe Versorgung mit Blut, sowie die aussergewöhn-
liche Lebenszähigkeit wenigstens der markhaltigen Nervenfasern
beweist. In gleichem Sinne sprechen nun auch die Untersuchungen
über E r m ü d u n g u n d E r h o 1 u n g der Nerven, Hier liegt die Haupt-
schwierigkeit in der relativ sehr grossen Ermüdbarkeit der Erfolgs-
organe (Muskeln, Ganglienzellen), an welchen ja allein die Reactions-
fähigkeit, beziehungsweise Veränderungen derselben, sich constatiren
lassen. Die Existenz einer Nervenermüdung konnte in der That lange
Zeit nur aus unzureichenden Analogiegründen vermuthet werden, denn
alle Erfahrungen über Ermüdung des Gehirns, der Retina u. s. w.
sagten über das Verhalten der Nervenfasern selbst nichts aus.
Bernstein (70) versuchte zuerst am Nerv-Muskel-Präparat eine Er-
müdung des anhaltend gereizten Nerven nachzuweisen.
Will man die Wirkung lang andauernder Reizung einer Nerven-
stelle auf die Erregbarkeit derselben untersuchen, so kommt offenbar
Alles darauf an, den Reiz während des grössten Theiles der Zeit der
Erregung vom Erfolgsorgan (Muskel) abzublenden. Bernstein er-
reichte dies, indem er sich des Kunstgriffs bediente, einen constanten
Strom durch eine Nervenstrecke zwischen der gereizten Stelle und
dem Muskel hindurchfliessen zu lassen. Wie später gezeigt werden
wird, kann hierdurch unter Umständen die Leitungsfähigkeit örtlich
ohne dauernde Schädigung derselben aufgehoben werden. Aus dem
Verhalten des Muskels nach Oeffnung des absperrenden Stromes schloss
Bernstein auf den Zustand der mit Inductionsströmen gereizten Nerven-
stelle. Reagirte der Muskel nicht mehr auf den am freien Nervenende
fortwirkenden Reiz, so nahm Bernstein eine locale Ermüdung an und
fand, dass diese in einer Zeit von 5 — 15 Min. eintrete. Die schädigende
Wirkung des längere Zeit geschlossenen Kettenstromes suchte später
We d e n s k i dadurch zu vermeiden, dass er zunächst einen starken auf-
oder absteigenden Kettenstrom für kurze Zeit schloss, sodass die be-
treffende Nervenstrecke leitungsunfähig wurde (70). Es genügten dann
sehr schwache Ströme, um diesen Zustand zu erhalten. Bei Oeffnung
derselben erhält der Nerv fast sofort seine Leitungsfähigkeit wieder.
Unter diesen Umständen konnte Wedenski selbst nach einer Reiz-
dauer von 6 Stunden keine Ermüdung des Nerven an der Reizstelle
nachweisen. Maschek (70), welcher diese Resultate Wedenski 's
bestätigte, gelang es, die Versuche bis auf 12 Stunden auszudehnen,
ohne dass eine merkliche Ermüdung eintrat. Auch mittels localer
Aethernarkose , die sich bekanntlich jederzeit rasch wieder aufheben
lässt, konnte Maschek zeigen, dass eine viele Stunden fortgesetzte
dauernde Reizung keine merkliche Ermüdung der Reizstelle selbst
bewirkt. Mit Hülfe der Curare Vergiftung, deren Folgen sich allmählich
wieder verlieren, gelang auch Bowditch (70) derselbe Nachweis
beim Warmblüter (Katze). (Vergl. auch Szana 70.) „W^enn die
volle Wirkung des Curare, nachdem sie 3 — 4 Stunden hindurch be-
standen hatte, nachliess, so wirkten auch die Inductionsströme wieder,
welche von der Einführung des Giftes an ununterbrochen den peripheren
Stumpf des N. ischiadicus durchsetzt hatten."
Die Erfahrung, dass der Nerv, ohne merklich zu ermüden,
viele Stunden hindurch gereizt werden kann, lässt wie Bowditch
bemerkt, die Vorstellung aufkommen, dass die Erregung sich ohne
jeglichen Verbrauch an Stoffen fortpflanzen könne. Doch
Die Nerven und ihre physiologische Function. 537
wird es mit Rücksicht auf später mitzutheilende Thatsachen wohl
richtiger sein, vorläufig daran festzuhalten, dass ein, wenn auch für
unsere Mittel unmessbar geringer Kraftaufwand aus der Nerven Substanz
selbst bei Fortpflanzung der Erregung bestritten wird.
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35 =
H. Die elektrische Erregung der Nerven.
Unter allen zu Gebote stehenden künstlichen Reizmitteln bean-
sprucht aus bekannten Gründen auch hier wieder der elektrische
Strom in erster Linie unser Interesse. Seit alter Zeit ist gerade
auf diesem Forschungsgebiet eine ausserordentlich grosse Reihe von
Erfahrungen gesammelt worden, deren Erörterung zu den interessantesten
Capiteln der Physiologie gehört.
Gleich beim Betreten dieses Gebietes, dessen Geschichte von
D u Bois Reymo nd in unübertrefflicher Weise geschildert wurde (1),
drängt sich wieder die Thatsache auf, dass, wie der quergestreifte
Muskel, so auch der zugehörige motorische Nerv, ja in noch höherem
Maasse als jener, in der Regel scheinbar nur im Momente
des Entstehens, bez. Verschwinden s eines Kettenstromes
erregt wird. Und in der That wurde das allgemeine Gesetz
der elektrischen Nervenerregung von Du Bois auch seiner-
zeit nur als für die indirecte Muskelreizung geltend aufgestellt
und erst später auch auf die directe Muskelreizung ausgedehnt. Das
Gesetz lautet in seiner ursprünglichen Fassung bekanntlich folgender-
maassen: „Nicht der absolute Werth der Stromdichtigkeit in jedem
Augenblicke ist es, auf den der Bewegungsnerv mit Zuckung des zu-
gehörigen Muskels antwortet, sondern die Veränderung dieses Werthes
von einem Augenblicke zum andern, und zwar ist die Anregung zur
Bewegung, die diesen Veränderungen folgt, um so bedeutender, je
schneller sie bei gleicher Grösse vor sich gingen, oder je grösser sie
in der Zeiteinheit waren."
Brückt man einen motorischen Nerven, der mit dem zugehörigen
Muskel in Verbindung steht, über unpolarisirbare Elektroden und
reizt durch Schliessung oder OefFnung eines genügend starken Ketten-
stromes, so sieht man gewöhnlich den Muskel bei der Schliessung und
oft auch bei der OefFnung eine einmalige rasche Zuckung vollführen,
worauf er vollkommen in seine Ruhelage zurückkehrt. Auch die
schärfste Beobachtung vermag keine dauernde Verkürzung desselben
während der Schliessungsdauer des Stromes oder nach der Oeffnung
zu constatiren. Bekanntlich verhält sich der direct gereizte Muskel
Die elektrische Erregung der Nerven. 541
insofern anders, als er unter Umständen auch während der Dauer
der Stromschliessung und einige Zeit nach der Oeffnung merklich,
wenngleich nur local, verkürzt bleibt (Schliessungsdauercontraction,
Oeffnungsdauercontraction). Unter gewissen, gleich näher zu erörternden
Umständen tritt nun aber auch bei indirecter Muskelreizung eine sicht-
bare Dauerwirkung des Stromes ein, und zwar sowohl während der
Schliessung, Avie nach der Oeffnung. Dieselbe stellt sich dar als eine
scheinbar ganz stetige, oder wohl auch von einzelnen Zuckungen
unterbrochene, mehr oder weniger lang anhaltende Contraction des
vom Nerven aus gereizten Muskels, die man wegen ihrer Aehnlichkeit
mit der durch unterbrochene, rhythmische Reizung bewirkten, tetanischen
Verkürzungsform als Schliessungstetanus, bezw. Oeffnungs-
tetanus zu bezeichnen pflegt. Dass ein indirect gereizter Muskel
nach längerer Schliessungsdauer eines starken Kettenstromes bei Oeffnung
des Kreises bisweilen in eine lang anhaltende tetanische Erregung
geräth, wurde zuerst von Ritter (1798) beobachtet, und man be-
zeichnet daher diese Erscheinung nach ihrem Entdecker als den soge-
nannten „Ritter'schen Oeffnungs tetanus". Wir werden uns
später noch mehrfach mit demselben zu beschäftigen haben, vorläufig
genügt es, die Aufmerksamkeit auf die Thatsache zu lenken, dass
der Nerv gerade wie der Muskel nach Oeffnung eines
Kettenstromes unter Umständen in einen länger an-
dauernden Erregungszustand geräth, so dass es naheliegt,
den Oeffnungstetanus und die Oeffnungsdauercontraction als gleich-
werthige Erscheinungen anzusehen. Eine solche Dauererregung kommt
nun, wie zuerst Pflüg er fand (2), auch während der Schliessungs-
zeit des Stromes bisweilen zu Stande, und zwar unter Umständen in
einer ganz gesetzmässigen Weise. Pflüg er sah diese „tetanisirende"
Wirkung schon bei äusserst schwachen Strömen beginnen, mit fernerem
Wachsen der Intensität eine Zeit lang zunehmen, von einer gewissen
Grenze ab aber wieder erlöschen. Unter den günstigsten Umständen,
d. h. bei höchster Erregbarkeit des Nerven, tritt alaer Schliessungs-
tetanus bei jeder beliebigen, überhaupt wirksamen Stromstärke ein.
Dies ist insbesondere der Fall bei Fröschen, die längere Zeit vor Her-
stellung der Präparate einer niederen Temperatur ausgesetzt waren
(bei „Kaltfröschen").
Die ausserordentliche Reizbarkeit solcher Präparate ist eine allen
Physiologen bekannte Thatsache, und es wird sich noch oft Grelegen-
heit finden, auf dieselbe hinzuweisen. Im Allgemeinen lässt sich sagen,
dass die Nerven jedes Frosches, der in einerTemperatur
unter 10 '^ C. lebt, in kürzerer oder längerer Zeit die
Fähigkeit gewinnen, durch den Ketten ström tetanisch
erregt zu werden (v. Frey, 3, Fig. 171).
Einen ähnlichen Grad der Erregbarkeit erlangen die Nerven, wie
Engelmann (4) zeigte, auch bei höherer Temperatur, wenn sie sich
in einem gewissen Stadium der Vertrocknung (durch Verdunstung oder
Behandlung mit NaCl) befinden. In beiden Fällen tritt früher oder
später eine spontane Erregung der Nervenfasern ein , welche sich
zunächst durch fibrilläre Zuckungen, dann durch tetanische Contrac-
tionen des ganzen Muskels verräth. ( Ve rtrocknungs- und Koch-
salztetanus.) Prüft man von Zeit zu Zeit mit derselben Strom-
stärke die Erregbarkeit eines solchen Nerven, so findet man dieselbe
immer zunehmend, bis endlich unmittelbar vor dem Eintritt der Ver-
542 ^i^ elektrische Erregung der Nerven.
trocknungskrämpfe jede Schliessung (bezw. Oeffnung) kräftige, aber
meist wenig regelmässige Tetani auslöst. Dagegen ist der Schliessungs-
tetanus bei Reizung von Kaltnerven in der Regel ganz ruhig und
gleichmässig, und es rindet sich, wenn man eine solche Curve mit einer
wahren, durch intermittirende Reizung gewonnenen Tetanus-Curve
vergleicht, in der Regel kein merklicher Unterschied. Die Vermuthung,
dass der Schliessungs- bezw. OefFnungs-Tetanus durch eine gewisse
ab n orme Beschaffenheit des Nerven bedingt Averde, wird vollkommen
hinfällig durch die Erfahrung, dass die motorischen Nerven
anderer Thiere überhaupt nur und unter allen Umständen
tetani seh reagiren. Dies gilt nach den Erfahrungen von Eck-
hardt (5) vor Allem von den Nerven der Wa r m b 1 ü t e r , wenn
dieselben mit nicht allzu schwachen absteigenden Strömen gereizt
werden, sowie, nach meinen eigenen Erfahrungen, auch von den
marklosen motorischen Nerven mancher Wirbellosen
(Scheerennerv des Krebses). In beiden Fällen bildet der S c blies -
Fig. 171. Tetanische Contractionscurve des Gastrocnemius bei Schliessung eines Ketten-
stromes (Schliessungstetanus). Präparat von einem Kaltfrosch. (Nach M. v. Frey.)
sungstetanus Regel und nicht Ausnahme , und es hat daher
das Du Bois'sche allgemeine Gesetz der Erregung für
die indirecte Muskelreizung ebensowenig Geltung wie
für die directe; wir müssen vielmehr behaupten, dass, obschon
die sichtbaren Folgen der fortgeleiteten Erregung vor allem ab-
hängen von den Schwankungen der Dichte des den Nerven durch-
fliessenden Stromes, dieser doch während seiner ganzen Dauer
den Vorgang der Erregung örtlich auslöst, und dass es von anderen
Umständen abhängt, ob sich diese Dauererregung am Erfolgsorgane
(Muskel) ausprägt oder nicht. Ganz dasselbe gilt natürlich auch von
dem Erregungszustande nach Oeffnung eines Stromes. Dass auch
dieser unter Umständen ein dauernder sein kann, beweist unmittelbar
der Ritter'sche Tetanus.
Bei der Gleichheit der Erscheinung des Schliessungs- bezw.
Oeffnungstetanus und des durch discontinuirliche Reizung erzeugten
w a h r e n Tetanus erhebt sich naturgemäss die Frage, ob es sich auch
dort um das Resultat einer Verschmelzung aus einzelnen, rasch auf-
einander folgenden Reizanstössen handelt, ob mit anderen Worten der
stetige, continuirliche Reiz während der Schliessungsdauer bezw. nach
der Oeffnung unter den erwähnten Umständen zu einer discontinuir-
lichen rhythmischen Erregung des Nerven führt. Die Frage lautet also:
Die elektrische Erregung der Nerven. 543
Ist der Schliessungstetanus bezw. Oeffnungstetanus ein
wahrer, echter Tetanus oder nicht? Wir haben die Schwierig-
keiten der Beantwortung in ähnlichen Fällen bereits kennen gelernt,
als es sich darum handelte, zu entscheiden, ob die tetanische Con-
traction des intermittirend direct oder vom Nerven aus gereizten Muskels
ein wirklich stetiger Vorgang ist, oder ob während desselben discon-
tinuirliche, unsichtbare Veränderungen in demselben ablaufen. Der
Gesichtssinn giebt hierüber keinen unmittelbaren Aufschluss. Zwar
können wir aus dem Umstände, dass zwischen unregelmässigen, durch
einzelne Zuckungen unterbrochenen (klonischen) und vollkommen
stetigen (glatten) Tetani alle denkbaren Uebergänge bestehen, welche
deutlich aus einer um so grösseren Zahl von Einzelzuckungen
in der Zeiteinheit zusammengesetzt erscheinen, je ähnlicher sie dem
ruhigen Tetanus werden, mit einiger Wahrscheinlichkeit schliessen,
dass auch der letztere aus verschmolzenen Zuckungen besteht: Mit
demselben Rechte pflegt man ja auch aus dem Zittern , mit welchem
ein langer willkürlicher Tetanus endet, auf seine discontinuirliche
Natur zu schliessen. Indessen sicher entschieden ist die Frage hier-
durch nicht.
Nebst der Form der Muskelcurve kann über die Natur einer
andauernden Verkürzung noch Auskunft ertheilen der M u s k e 1 1 o n
und das elektrische Verhalten des thätigen Muskels. In
Bezug auf den ersteren Punkt ist nun die Untersuchung bei einer so
kleinen Masse wie einem Froschmuskel begreiflicherweise eine recht
schwierige (an Warmblütermuskeln sind solche Versuche noch nicht
ausgeführt). In der That sind denn auch alle diesbezüglichen Be-
strebungen, die etwa vorhandenen Schwingungen auf die Platte eines
Mikrophons, oder nach Helmholtz's Vorgang auf mitschwingende
Federn zu übertragen, resultatlos geblieben für die Zeit, während deren
ein Froschmuskel im Schliessungstetanus verharrte.
Dagegen haben Untersuchungen mit dem Capillarelektrometer
über das elektrische Verhalten des Muskels unter diesen Umständen
bestimmtere Aufschlüsse gegeben (M. v. Frey, 3) und zu dem Resul-
tate geführt, dass der Schliessungstetanus in der That discon-
tinuirlichen, rhythmischen Anstössen (10 — 15 p. See.) seine Entstehung
verdankt, und dass demnach der Nerv wie der Muskel unter
gewissen Bedingungen durch den in constauter Dichte
fliessenden Strom dauernd rhythmisch erregt wird.
(Die Unfähigkeit des Schliessungs- und Oeffnungstetanus, ein zweites
Nerv-Muskelpräparat in secundären Tetanus zu versetzen , wovon be-
reits im ersten Theil die Rede war, kann hiergegen natürlich nichts
beweisen.) Da der Herzmuskel und der Ureter bekanntlich ein ganz
analoges Verhalten erkennen lassen, so scheint es sich hier um ein
allgemeines, wahrscheinlich für alle irritablen Substanzen geltendes
Gesetz zu handeln. Die zeitlichen Verhältnisse, d. i. die Aufeinander-
folge der einzelnen Erregungsimpulse ist allerdings in den erwähnten
Beispielen sehr verschieden und zeigt eine gradweise Abstufung. Im
Gegensatze zu Du Bois allgemeinem Erregungsgesetze müssen wir
daher (wenigstens örtlich) die dauernde Erregung durch den in
gleicher Dichte fliessenden elektrischen Strom als Regel aufstellen, und
haben vielmehr zu untersuchen, weshalb sich dieselbe nicht immer
auch fortpflanzt, und wenn, weshalb sie sich nicht immer auch am
Erfolgsorgan in stetiger Weise ausprägt. Dass hierbei die Beschafl*en-
544
Die elektrische Errewunij der Nerven.
lieit des letzteren in erster Linie mit in Betracht kommt, kann keinem
Zweifel unterworfen sein. Dies zeigt sich vor Allem auch an den
centripetalleitenden Nerven.
Von diesen wussten schon die älteren Galvaniker, dass sie unter der
Einwirkung constanter Ströme ausser einer heftigeren Schliessungs- und
Oeffnungsempfindung b e s t ä n d i g e Empfindungen verursachen, welche
bei genügender Stromstärke sich bis zur Unerträglichkeit steigern können.
Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass fast immer die peripheren,
sensiblen Endorgane mitgereizt werden, während nur ganz vereinzelte
Angaben vorliegen betreffs dauernder Erregung sensibler Nerven-
stämme durch unmittelbare Einwirkung des Kettenstromes. Hierher
gehört die schon Volta bekannte Erfahrung einer excentri.schen Aus-
strahlung des Schmerzes, wenn und solange die Elektroden unterhalb
des Ellbogengelenkes aufgesetzt werden. Sowohl aufsteigende wie ab-
steigende Ströme erwiesen sich ferner Grützner (6) während ihrer
Dauer wirksam, wenn beim Hunde nach vorgängigem Curarisiren und
einseitiger Vagusdurchschneidung der centrale Ischiadicusstumpf gereizt
Fig. 172. Athmungscurven (Kaninchen). Einschleichen des Vagus in die Kette, auf-
steigender Strom. 1 Dan. Bei S Schliessung, bei Oe Oeifnung des Stromes. Das
Vorrücken des Rheochordschiebers beginnt bei a und endet bei b. (Nach Langen-
dorff und R. Oldag.)
wurde. Es trat bei und während der Schliessung eine beträchtliche
Blutdrucksteigerung mit gleichzeitiger Pulsbeschleunigung auf, welche
nach Schluss oder schon am Ende der Reizung in das Gegentheil,
d. h. Verlangsamung des Pulses, umschlägt. Aehnliche Erfolge sah
Grützner auch bei entsprechender Reizung des centralen Vagus-
stumpfes, wobei sich ausserdem noch Wirkungen auf die Athmung
zeigten, die stets in einem Stillstand des Zwerchfells in Exspiration
oder verlangsamter Athmung mit exspiratorischen Pausen bestanden.
Neuerdings wurden diese Versuche von Langen dorff und R. Oldag
(7) bestätigt und erweitert. Sie bedienten sich als ein Mittel, um die
Dauerwirkung des Stroms sicher darzuthun , des Einschleichens des
Nerven in die Kette, und fanden dasselbe in der That wirksam, indem
bei aufsteigender Stromesrichtung eine exspiratorische Verlangsamung
resp. Stillstand der Athmung eintrat, obschon ein im Kreise befindlicher
Froschschenkei nicht ein einziges Mal zuckte (Fig. 172).
Dass der Kettenstrom auch secretorische Nerven dauernd zu
erregen vermag, konnte ich selbst (8) an der Froschzunge durch die
Veränderungen des Schleimhautstromes bei Reizung des Glossopharyn-
st s)
^"^^^MAA/v^jyvvx
Fiff. 173.
Die elektrische Erregung der Nerven. 545
geus sicher constatiren. Beim Herzvagus fand Grützner lediglich
die früheren Angaben von v. Bezold (Unters, über die Innerv. des
Herzens. Leipzig 1863. p. 72) bestätigt, indem bei Einwirkung eines
Stromes von 12 Pincus-Elementen wesentlich nur die Schliessung und
Oeffnung sich wirksam erwiesen, wie die untenstehende Curve zeigt
(Fig. 173).
Dass der elektrische Strom nicht nur im Augenblicke des Ent-
stehens (bez. Verschwindens) oder bei Dichtigkeits-Schwankungen,
sondern auch während seiner Dauer erregend wirkt, geht übrigens,
ganz abgesehen von dem eben Mitgetheilten, auch schon aus der That-
sache hervor, dass bei einer gegebenen und unveränderlichen Strom-
stärke eine Schliessungszuckung nur dann zu Stande
kommt, wenn die Stromesdauer eine gewisse Grenze
überschreitet, wie zuerst A. F i c k feststellte. Wir haben die
gleiche Thatsache auch beim Muskel, insbesondere dem glatten, wo sie
leicht zu constatiren ist, kennen gelernt. Schwieriger gelingt der
Nachweis beim Nerven, und zwar aus dem Grunde, weil die Zeitwerthe,
um die es sich hier handelt,
ausserordentlich klein sind.
Während z. B. beim glatten
Muschelschliessmuskel das Ma-
ximum der bei einer gegebenen
Stromstärke möglichen Wir-
kung selbst bei einer Strom-
dauer von ^/4 — ^li See. noch
nicht erreicht wird, finden wir dasselbe bei Nervenreizung nach König
(10) stets schon bei einer Schliessungsdauer von 0,017 — 0,018 See.
erreicht. Wir haben also unter allen Umständen mit der Thatsache
zu rechnen, dass Ströme von sehr kurzer Dauer bei ihrer
Einwirkung aufmarkhaltige, motorische Nerven keine
Muskelzuckung hervorzubringen vermögen. Mit wachsen-
der Schliessungsdauer über eine gewisse Grenze hinaus wachsen dann
auch die Zuckungen und erreichen bei einer immer noch sehr ge-
ringen Stromdauer ein Maximum, das weder durch Verlängerung der
Stromdauer, noch auch durch Vergrösserung der Stromstärke zu
steigern ist, soferne von vorneherein eine erhebliche Stromesintensität
angewendet wurde.
Wenn man die Empfindlichkeit der verschiedenen irritablen Sub-
stanzen für Ströme von sehr kurzer Dauer untereinander vergleicht, so
findet man dieselbe am geringsten an dem nicht fibrillär differenzir-
ten Plasma der Protisten und an den glatten Muskelfibrillen , am
grössten bei markhaltigen Nervenfasern ; in der Mitte stehen der Herz-
muskel und die quergestreiften Stammesmuskeln. Sehr schlagend lässt
sich dies durch Versuche mit einzelnen Inductionsschlägen demonstriren,
deren Wirkung ja im Wesentlichen mit der äusserst kurz dauernder
Kettenströme übereinstimmt. Während der markhaltige Nerv quer-
gestreifter Wirbelthiermuskeln sich für dieselben ausgezeichnet empfind-
lich erweist, gilt dies schon weniger für die letzteren selbst (bes. im
curarisirten Zustande) und noch viel weniger für glatte Muskelzellen,
zu deren Erregung durch einzelne Inductionsschläge diese oft eine
ganz enorme Intensität haben müssen. Sehr bemerkenswerth ist die
Thatsache , dass zwischen markhaltigen und marklosen
Nervenfasern einganzanaloge
546 I^ie elektrische Erregung der Nerven.
hinsichtlich ihrer Empfindlichkeit für einzelne sehr
kurz dauernde (insbesondere inducirte) Ströme zu be-
stehen scheint, wie zwischen quergestreiften und glatten
Muskeln. Wenigstens gelingt es, an den Scheerennerven des Krebses
durch einzelne Inductionsschläge bei Weitem nicht so leicht Zuckungen
auszulösen, wie mit Kettenströmen.
Wir haben jetzt noch den zweiten Satz des Du Bois' sehen
allgemeinen Erregungsgesetzes zu prüfen , welcher aussagt , dass eine
positive oder negative Stromesschwankung stets eine gewisse Plötzlich-
keit besitzen müsse, um zu erregen, und dass unter sonst gleichen
Umständen die Erregung um so sicherer eintritt, und bis zu einem
gewissen Grade auch um so stärker ausfällt, je rascher die Intensitäts-
schwankung erfolgt.
So sehr dies für den markhaltigen Nerven in Verbindung mit
zuckenden, quergestreiften Muskeln von Wirbelthieren richtig ist, so
wenig handelt es sich auch hier um ein allgemeines, für alle irritablen
Substanzen geltendes Gesetz. Nichts ist leichter, als für das gewöhn-
lich benutzte Nervmuskelpräparat vom Frosch (das „physiologische
Rheoskop") zu zeigen, dass selbst sehr schwache elektrische Ströme
noch erregend Avirken, wenn sie sich nur hinreichend schnell abgleichen,
wenn also die Intensitätsschwankung eine möglichst steile ist. Daher
kommt es, dass diese Nerven so ausserordentlich empfindlich sind,
selbst gegen Spuren von Reibungselektrizität, da es sich hier eben um
Ströme von ausserordentlich steilem zeitliehen Verlauf handelt, und
dasselbe gilt auch für inducirte Ströme, die aus dem gleichen Grunde
selbst bei geringer Intensität sehr kräftige Erregungswirkungen zeigen.
Diese Eigenthümlichkeit des gewöhnlichen Nervmuskelpräparates, selbst
auf ausserordentlich schwache Ströme noch zu reagiren, wenn ihre
Abgleichung nur genügend plötzlich erfolgt, macht das-
selbe zu einem für den Physiologen höchst werthvollen Mittel, um
derartige schwache Ströme von raschem Verlaufe nachzuweisen (Actions-
ströme von Muskeln).
Eine interessante, hierhergehörige Thatsache, die ebenfalls im
Wesentlichen auf dem Einfluss der Steilheit einer Stromesschwankung
auf deren erregende Wirkung beruht, ist die ungleiche Wirk-
samkeit der Schli essungs- und Oeffnungs schlage eines
Inductionsap parates. Ausnahmslos zeigt sich die er-
regende Wi rkung des Schliessungsschlages viel geringer
als die des O effnungs Schlages. Man kann dies sehr deutlich
nachweisen, wenn man die secundäre Rolle von der primären weit
entfernt. Es findet sich dann stets eine Lage, wo der Oefi'nungsschlag
schon wirksam ist, während der Schliessungsschlag nicht wirkt ; nähert
man hierauf die Rollen, so wird auch der letztere Avirksam.
Da nun, wie sich mittels des Galvanometers leicht zeigen lässt,
die Menge der sich abgleichenden Elektrizität in beiden Momenten
gleich ist, so dürfte die Verschiedenheit der physiologischen Wirkung
hauptsächlich im Unterschied des zeitlichen Verlaufes der beiden Induc-
tionsströme begründet sein, der seinerseits bekanntlich durch die Ent-
stehung des Extrastromes bei der Schliessung des primären Kreises
bedingt wird. Da infolge dessen der inducirende Strom in diesem letz-
teren nicht sofort seine volle Stärke erreicht, sondern nur allmählich
ansteigt, während er bei der Oeffnung plötzlich verschwindet, muss
Die elektrische Erregung der Nerven.
547
nothwendig auch der letzterenfalls inducirte Strom steiler ansteigen^
als bei der Schliessung des primären Kreises (Fig. 174). Dem ent-
spricht es, dass, wie Grützner bemerkt, der Oeffimngsschlag im
Telephon einen scharfen Knack, der Schliessungsschlag dagegen einen
dumpfen, matten Ton erzeugt.
Um die durch die Verschiedenheit des zeitlichen Verlaufes bedingte
Verschiedenheit der physiologischen Wirkung des Oeffnungs- und
Schliessungsschlages auszugleichen, was auch durch die an den meisten
Inductionsapparaten angebrachte „Helmholtz'sche Vorrichtung" nur in
ungenügender Weise geschieht, hat man später versucht, auf andere
Weise Inductionsströme zu erzeugen, welche jener Anforderung besser
entsprechen. So liess Hering (11) die secundäre Spirale um eine
Fig. 174. Schema der Inductionsströme;
Pi Abscissenaxe des primären Stromes ;
S Abscissenaxe des secundären Stromes.
A Anfangs-, ^ Endströme. 1 Ciirve der
Entstehung des primären Stromes (ver-
zögert durch Extracurrent); 3 Oeftnung
desselben; 2 und 4 entsprechende secun-
däre Ströme. (Nach Hermann, Hand-
buch II. 1.)
p,
f'
A
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E
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u
k-;
^^si»»
Fig. 176. (Nach Grützner.J
175.
vertikale Axe vor der primären , von einem constanten Strom durch-
flossenen Rolle rotiren, wobei ganz gleichartige Inductionsströme ent-
stehen müssen, da bei senkrechter Stellung der Gewinde die inducirende
Wirkung gleich Null ist, während zwischendurch bestimmten Stellungen
der Spiralen auch bestimmte Inductionsströme entsprechen. Grützner
(12) untersuchte hierauf die physiologische Wirkung der Ströme einer
Stöhrer'schen Maschine, bei der sich zwei Drahtspulen mit Eisenkernen
vor einem kräftigen Hufeisenmagneten drehten.
Jede Umdrehung liefert hierbei 4 Ströme, deren zeitlicher Ver-
lauf paarweise gleich ist. Seien S und ^ (Fig. 175) die Pole des Magneten
und /und 11 die um die Axe A sich drehenden Spulen, so wird, wenn
sie sich aus dieser Stellung um eine Vierteldrehung im Sinne des
Uhrzeigers bewegt haben, und 1 gegenüber iV steht, der erste Strom
allmählich von Null anwachsen. Entfernt sich dann 7 von iV, so
548 I^ie elektrische Ei-regimg der Nerven.
schlägt augenblicklich der absteigende Strom in die entgegengesetzte
Richtung um. Jäh enstanden sinkt er allmählich auf Null herab, um
ebenso allmählich, wenn die Spule 7, den 3. Quadranten durchlaufend,
sich dem Südpol S nähert, noch einmal wieder auf seine alte Höhe
anzusteigen. Wieder folgt dann schliesslich ein jäh ansteigender Strom
von umgekehrter Richtung, so dass, wie es die beistehenden Curven
darstellen (Fig. 176), bei jeder Umdrehung zwei allmählich und zwei
jäh ansteigende Ströme entstehen. In eleganter Weise lässt sich dies nach
Grützner zeigen, wenn man während der Drehung des Apparates
die Elektroden (Platinspitzen) mit gleichmässiger Geschwindigkeit über
feuchtes Jodkaliumkleisterpapier hinbewegt. Die so entstehenden
elektrolytischen Curven erscheinen als Linien, welche den Curven-
gipfeln entsprechend dicker sind, als im übrigen Verlaufe. Den all-
mählich ansteigenden Strömen entsprechen Linien, welche schmal be-
ginnen und dick enden , während sich die rasch ansteigenden Ströme
umgekehrt verhalten , indem die Zersetzung gleich anfangs stark
ist und hierauf abnimmt (Fig. 177). Mittels derselben elektrolytisch-
Fig. 177.
graphischen Methode fand Grützner auch, dass der steil ansteigende
Oeffnungsinductionsstrom eines gewöhnlichen Du Bois'schen Schlitten-
apparates viel stärker elektrolytisch wirkt, als der allmählich an-
steigende Schliessungsinductionsstrom.
Am Nervmuskelpräparat vom Frosch zeigen sich bei geringer
Stromstärke immer zunächst die rasch ansteigenden Ströme wirksamer
(je nach der Lage der Elektroden am Nerven bald der eine, bald der
andere). Bei Verstärkung der Ströme gesellt sich dann bald eine zweite
kleinere Zuckung hinzu, welche dem andern steil ansteigenden (ent-
gegengesetzt gerichteten) Strom entspricht. Bei weiterem Wachsen
der Stromstärke werden die Reizerfolge dann noch complicirter, indem
sich bei aufsteigend gerichteten Strömen die anodische Hemmung be-
merkbar macht. In seltenen Fällen kann jeder der vier Inductionsströme
erregend wirken, und man erhält dann bei jeder Umdrehung zwei starke
und zwei schwache Zuckungen, wobei natürlich immer eine starke mit
einer schwachen Zuckung abwechselt. Als wesentlichstes Ergebnis
der Untersuchung von Grützner muss auch hier die ganz vor-
wiegende Wirkung der steilansteigenden Ströme gelten,
deren Richtung wieder insoferne von Bedeutung ist, als im Sinne der
schon erwähnten Angaben von Hermann und Fleischl an oberen
Nervenstrecken immer zuerst der absteigende, an unteren dagegen der
Die elektrische Erregung der Nerven.
549
aufsteigende Strom erregend wirkt, und nur an einem „Aequator" beide.
Erst bei viel höheren Stromstärken werden auch die langsam ansteigenden
Ströme wirksam.
Der günstige Einfluss einer grossen Steilheit der Intensitäts-
schwankung zeigt sich u. A. auch darin , dass man selbst sehr
starke Ströme ohne merkliche Erregungserscheinungen
in eine Nervenstrecke „einzuschleichen" vermag, Avenn
nur das Anwachsen ganz allmählich und möglichst
gleichmässig erfolgt. Die gleiche Thatsache lässt sich, wie früher
erwähnt wurde, noch leichter für den Muskel feststellen.
Untersucht man die Wirkungen von Schliessungs- und Oeffnungs-
inductionsströmen an Nervmuskelpräparaten anderer Thiere, so gelangt
man, wie neuerdings Schott (13) gezeigt hat, zu wesentlich ver-
Fig. 178. Wadenmuskel der Kröte, a Schliessungsinductionszuckung; b Oeffnungs-
inductionszuckung. (Nach J. Schott.)
schiedenen Resultaten, und es zeigt sich
auch hier wieder, wie ungerechtfertigt
es ist, ein allzu grosses Gewicht That-
sachen beizulegen, welche durch Unter-
suchung einer einzigen Thierart ge-
wonnen wurden.
Am Nervmuskelpräparat der Kröte
fand Schott (13) die steiler ansteigen-
den OefFnungsinductionsschläge verhält-
nissmässig viel weniger wirksam, als
beim Frosch, indem ein erheblicher
Unterschied des Rollenabstandes, bei
welchem Schliessungs- und Oeffnungs-
schlag wirken, dort kaum vorhanden ist.
Während der indirect gereizte Frosch-
muskel stets viel höhere Zuckungen
(mittlerer Grösse) zeichnet, wenn Oeffnungsschläge benützt werden,
ist dies bei Präparaten der Kröte nicht der Fall, oder es zeigen
sich sogar umgekehrt die Schliessungsschläge wirksamer (Fig. 178).
Nach Grützner (13) kann man einzelne Inductionsschläge von
verschiedenem zeitlichen Verlauf auch in folgender Weise erzeugen.
Man denke sich einen auf einer Messingscheibe befestigten Ring
Fig. 179,
550
Die elektrische Erregung der Nerven.
von Eisenblech in der Form der beistehenden Figur (Fig. 179).
Derselbe besteht aus den beiden Theilen M und iV, von welchen
der letztere (bei Drehung der Scheibe nach rechts) von seiner Basis
bei H auf der Messingscheibe ganz flach bis zu seiner grössten
Höhe ansteigt, während M in der Richtung des Scheibenradius ab-
geschnitten ist. Wird dann das ringartige Eisenstück MN zwischen
den Polen eines Hufeisenmagneten gedreht, welche mit Drahtspulen
umgeben sind, so tritt (bei Rechtsdrehung der Scheibe) vom Punkte
iZ" aus ein immer höheres Stück des Eisenringes zwischen die Pole
des Magneten , und dessen magnetische Kraft wird immer mehr ge-
bunden. Dieser langsamen Abschwächung des Magnetismus entspricht
ein in den Spulen verlaufender Magnetoinductionsstrom ; es wird der-
selbe um so langsamer ansteigen, je flacher der Eisenring sich erhebt,
und je langsamer die Scheibe rotirt. Anderseits wird der Theil M
des Ringes unter denselben Bedingungen mit seiner scharf abschneidenden
Kante einen fast momentan ansteigenden Strom induciren. Während
nun beim Froschpräparat der Strom des scharfen Zahnes (ähnlich
Fig. 180. a Wadenmuskel der Kröte,
Zuckung durch Reizung mit dem flachen
Zahn, b Reizung mit scharfem Zahn.
wie der Oeffnungsschlag) stets wirksamer blieb, als der des flachen
Zahnes, zeigte sich das Gegentheil beim Kröten präpa rat,
welches durch den langsam ansteigenden Strom aus-
nahmslos besser gereizt wird, als durch den schnell
ansteigenden (Fig. 180).
Es ist fraglich, ob es sich hierbei nur um die uns schon bekannte
Eigenschaft des Kröten musk eis handelt, träger zu reagiren als der
Froschmuskel, oder ob auch dementsprechende Verschiedenheiten der
zugehörigen Nervenfasern vorhanden sind. Sicher aber ist, dass
das von DuBoisReymond formulirte Gesetz, dass nicht die absolute
Dichte eines Stromes, sondern die möglichst schnelle und möglichst
bedeutende Veränderung derselben erregend wirkt, nicht für alle loco-
motorischen Apparate gilt. Während die rasch zuckenden Muskeln
des Frosches dem Gesetze entsprechend reagiren, ist dies schon nicht
der Fall bei Präparaten der Kröte, und noch viel weniger gilt der
Satz, wie schon längst bekannt, für noch trägere contractile Substanzen
(glatte Muskeln, viele Protisten etc.). „Indem diese vermöge ihrer
Langsamkeit eine grössere physiologische Zeit haben, sind sie von
Haus aus auch wesentlich für langsam verlaufende und langsam
ansteigende Reize eingestellt." Es ist nach einem Gleichniss von
Die elektrische Erregung der Nerven.
551
Grützner (13, p. 384) wie mit der Bewegung grosser, träger, durch
andere bewegter Massen. „Schiesst man mit einer Flintenkugel gegen
eine grosse, sich aber sonst leicht in ihren Angeln drehende, schwere
Thüre von Holz, so durchschlägt die Kugel die Thüre, ohne sie irgend-
wie in ihren Angeln zu drehen. Lassen wir aber ganz dieselbe Energie-
menge, welche in der bewegten Flintenkugel enthalten ist, in der
Weise auf die Thüre wirken, dass wir die Masse der Kugel bedeutend
vergrössern, ihre Geschwindigkeit aber bedeutend verkleinern, so würde
eine derartig bewegte Kugel die Thüre mit Leichtigkeit in ihren Angeln
drehen. So schädigt auch ein jäh ansteigender Inductionsschlag träge
(glatte) Muskeln viel eher, als er sie zur Contraction bringt, während
dieselbe Elektrizitätsmenge auf längere Zeit vertheilt, ihn vielleicht zu
kräftiger Zusammenziehung veranlasst, ohne ihn zu schädigen." Für
langsam sich abspielende Vorgänge sind eben nach Grützner natur-
gemäss langsam verlaufende Reize die adäquaten.
Gleichwohl scheint die Verschiedenheit der physiologischen Wirkung
von Schhessungs- und OefFnungsinductionsschlägen nicht allein auf
ihrem verschiedenen zeitlichen Verlaufe zu beruhen, sondern ausserdem
auch auf der allerdings nicht hinlänglich erklärten Verschiedenheit
ihrer elektrolytischen Wirkung. Wie Grützner (14) fand,
wirken ganz allgemein rasch ansteigende Ströme und daher auch der
Oeffnungsinductions- ^
Strom viel stärker elek-
trolytisch , als solche
von langsamerem An-
stieg. Darauf dürfte es
beruhen, dass auch bei
directer Reizung von
gleichartigen , quer-
gestreiften oder selbst
glatten Muskeln (wie
z. B. der Schaalen-
schliessrauskeln von
Anodonta) die durch
einen Oeffnungsschlag
ausgelöste Contraction
im allgemeinen an
Grösse überwiegt, be-
ziehungsweise früher
hervortritt.
Die vorstehend erörterten Thatsachen lassen erwarten, dass auch
die Form der S c h w a n k u n g s c u r v e eines elektrischen
Stromes für die erregende Wirkung desselben nicht ohne Belang
isti doch würde es sich zum Zwecke einer genaueren Untersuchung
vor Allem darum handeln, die Art des Anstiegs der Intensität (resp.
Dichte) eines Ketten ström es beliebig gestalten und variiren zu
können. Das Problem, einen galvanischen Strom in einem Leitungs-
kreis von Null aus in verschiedener Steilheit zu einem gewissen End-
werthe anschwellen zu lassen, hat zuerst Fleischl (15) zu lösen
versucht.
Mittels des von ihm construirten „Orthorheonoms" gelingt es,
den Reizstrom in einer der Zeit genau proportionalen Weise und inner-
halb gewisser Grenzen mit beliebiger Geschwindigkeit wachsen oder
Fig. 181. Schema des Orthorheonoms von Fleischl.
(Nach EUenberger, Physiologie II.)
552 ^^^ elektrische Erregung der Nerven.
abnehmen zu lassen. Der Apparat, welchem das Princip der Wheatstone'-
schen Brücke zu Grunde liegt, besteht im Wesentlichen aus einem kreis-
förmigen homogenen Leiter (einer mit Zn804-Lösung gefüllten Flüssig-
keitsrinne). Den zwei Endpunkten eines Durchmessers entsprechend
erfolgt die Zuleitung des Stromes bei a b. Im Mittelpunkte drehbar,
befindet sich ein metallischer Leiter in der Richtung eines Durchmessers
(Fig. 181 z z), dessen mit amalgamirten Zinkspitzen versehene Enden
in die Rinne R tauchen. Der zu reizende Nerv wird in die Leitung
dieses rotirenden Durchmessers eingeschaltet (zwischen c d). So oft
sich nun dieser in der Richtung der Eintrittsstellen des Stromes A B
befindet, geht ein gewisser Antheil des Stromes durch, Avährend nach
einer Drehung um 90^ (in der Lage C D) dieser Antheil = Null ist.
Zwischendurch nimmt derselbe mit der Grösse des Winkels (a) in
regelmässiger Weise ab, wenn der Widerstand des Kreises gegen alle
übrigen verschwindet. Fleischl zeigte, dass sich bei gleichmässiger
Drehung des Rheonoms die Stromschwankungen durch eine gebrochene
Linie von der Form (Fig. 182) darstellen lassen. Gleiche Abschnitte der
Abscisse entsprechen gleichen Zeiten, während die Ordinaten der
Fig. 182.
Stromstärke proportional sind. Die über der Abscisse gelegenen Ordi-
naten entsprechen Strömen, welche im Nerven absteigend gerichtet sind,
die unter der Abscisse gelegenen dagegen aufsteigenden Strömen. Das
Curvenstück (ab c de) entspricht einer ganzen Umdrehung der Brücke.
Es ist ohne Weiteres klar, dass es auf diese Weise leicht gelingt,
die Amplitude, Dauer und Steilheit der Schwankung innerhalb weiter
Grenzen zu variiren; auch lässt es sich ermöglichen, dem Nerven
etwa nur einen dem Stück (a b c) entsprechenden Strom zuzuführen.
Die Wirkung einer einmaligen linearen Stromschwankung wurde hier-
auf von Fuhr (15) untersucht, der sich dabei eines ähnlichen Apparates
bediente wie Fleischl. Besondere Unterschiede im Ablauf der indirect
ausgelösten Muskelzuckung, gegenüber dem gewöhnlichen Reizverfahren,
wobei die Stromesintensität so zu sagen unendlich steil ansteigt, haben
sich dabei nicht ergeben. Stets sah Fleischl die Zuckungen erst
bei einer gewissen Umdrehungsgeschwindigkeit des Rheonoms, d, h.
bei einer gewissen Steilheit der Stromesschwankungen auftreten; sie
dauern ferner nicht während der ganzen Zeit des Ansteigens der In-
tensität an, sondern beginnen bei einer gewissen Intensität und er-
reichen schon ihr Ende, während die Schwankungscurve noch weiter
anwächst und hierauf ebenso steil absinkt. Die scharfen Wendepunkte
(Knickungen) der Curve wirken nicht erregend. Es besteht daher
die Reaction des Muskels während der ganzen Dauer
der Stromschwankung in einer einzigen Zusammen-
Ziehung.
Die elektrische Erregung der Nerven. 553
Nach einem Avesentlich verschiedenen Princip hat dann noch
K r i e s ein „F e d e r r h e o n o m" construirt und mittels desselben lineare
Stromschwankungen von wechselnder Steilheit erzielt, wobei aber
die erreichte Intensität _c_onstant erhalten blieb, also
Schwankungen von der Form _/ . Sei (ah) (Fig. 183) ein von einem
Kettenstrom durchflossener fester oder flüssiger Leiter, so herrscht an
je zwei Punkten eine ihrem Abstand proportio-
nale Spannungsdifferenz. Verbindet man daher
c und cl mit einem Leiter, dessen Widerstand
im Vergleich zu dem Widerstand von (c d)
sehr gross ist (etwa einem Nerven), so wird
derselbe von einem Strom durchflössen, dessen
Intensität man leicht in der gewünschten Weise
linear ansteigen lassen kann, wenn, wie dies
bei dem Kries'schen Apparat der Fall ist,
die eine ableitende Elektrode etwa mit dem
Punkt (c) fest verbunden ist, während die andere mit constanter Ge-
schwindigkeit an dem Drahte a b entlang gleitet und schliesslich an
einem gewissen Punkte des durchströmten Leiters (Kries benützte
wie Fleischl eine Flüssigkeitsrinne) festgehalten wird.
In Uebereinstimmung mit Fleischl fand auch v. Kries, dass
die durch „Zeitreize" (d. h. lineare Stromschwankungen) ausge-
lösten Zuckungen sich im Allgemeinen in ihrem Verkuf nicht wesent-
lich von den durch „Momentreize" bedingten unterscheiden. Doch
zeigen sich in einzelnen Fällen deutliche Unterschiede, indem die
Zuckungen bei Zeit reizen merklich gedehnter verlaufen.
Es muss aber hierbei berücksichtigt werden, dass die mechanischen
Gestaltveränderungen bei der indirect ausgelösten Muskelzuckung nur
in sehr unvollkommener Weise ein Bild von dem wirklichen zeitlichen
Verlauf der Erregung am Orte der directen Reizung des Nerven geben.
Wenn daher v. Kries aus seinen Versuchen den Schluss zieht, dass
eine einsinnige, lineare Stromschwankung immer nur ziemlich kurze
Zeit auf den Nerven erregend wirkt, so scheint dies ebensowenig ge-
rechtfertigt, wie die Aufstellung des allgemeinen Erregungsgesetzes
auf Grund der Beobachtung der Schliessungs- und Oeifnungszuckung.
In der Regel muss, um durch einen Zeitreiz eine ebenso hohe
Zuckung auszulösen, wie durch einen Momentreiz, die bei einer ge-
gebenen Anstiegsdauer (D) schliesslich erreichte Intensität (ig) grösser
sein, als die Intensität bei der den gleichen Effekt gebenden Moment-
reizung (ii„)- Das für jeden Werth von (D) verschiedene Verhältniss
(— ) bezeichnet v. Kries als Reizungsdivisor. Er wächst natür-
lieh mit zunehmenden Werthen von (D) und bietet unmittelbar ein
Maass für die durch die zeitliche Ausdehnung der Schwankung be-
dingte Schwächung des Reizeflfektes. Für das Nervmuskelpräparat
vom Frosch fand ihn Kries fast ausnahmslos grösser als 1. Doch
kamen auch Fälle vor, wo starke Zeitreize grössere Zuckungen
lieferten, als sie bei Momentanschliessungen überhaupt erreichbar sind.
Dies dürfte bei träger reagirenden, irritablen Substanzen überhaupt
die Regel sein. Ein Reizungsdivisor ist in solchem Falle natürlich
nicht angebbar.
Wie sehr die Reactionsweise des Nerven von der Beschaffenheit,
sozusagen der Beweglichkeit seiner Substanz abhängt, geht sehr klar
Biedermann, Elektrophysiologie. 36
)54
Die elektrische Erregimg- der Nerven.
aus dem von v. K r i e s beobachteten Verhalten hervor, dass abgekühlte
Nerven besser bei langer, warme dagegen besser bei kurzer Anstiegs-
dauer des Stromes reagiren.
Bemerkenswerth ist die secundäre Unwirksamkeit der Rheonom-
zuckungen, die schon v, Fl ei sc hl auffiel, und welche v. Kries be-
stätigte. Erst bei sehr starken übermaximalen Reizen treten secundäre
Wirkungen ein. v. Kries constatirte ausserdem mittels des Capillarelektro-
meters stärkere Ausschläge desselben bei Zeitreizen bei gleichzeitiger
Unwirksamkeit auf das secundäre Präparat. Es geht hieraus mit voller
Sicherheit hervor, dass die Schwankungswelle bei Moment- und Zeit-
reizung einen verschiedenen zeitlichen Verlauf besitzt, derart, dass die
der letzteren entsprechende durch geringere Steilheit und gestreckteren
zeitlichen Verlauf charakterisirt ist. Man darf mit Bestimmtheit be-
haupten, dass durch lineare Stromschwankungen von end-
licher Steilheit Nerven und Muskeln in einen erheblich
längeren Erregungszustand versetzt av e r d e n können,
a 1 s d u r c h M 0 m e n t r e i z e.
Dies ist vielleicht auch bei der physiologischen Innervation der
Fall. Die auffallend geringe Zahl von Oscillationen des Muskelstromes,
--^-•x.jm^ -^IM
Fig. 184. Schema der Methoden zur queren Durchströmung des Nerven.
(Nach L. Hermann.)
welche L o v e n sowohl bei Strjchnin-Tetanus wie bei Willkürinnervation
mittels des Capillarelektrometers beobachtete, würde es dann begreif-
lich erscheinen lassen, dass demungeachtet ein vollkommener Tetanus
des Froschmuskels zu Stande kommen kann, Avährend Inductions-
schläge zu demselben Effekt in erheblich grösserer Frequenz einwirken
müssen.
Abgesehen von der Intensität, Dichte, Dauer, sowie der Art des
Ansteigens des Reizstromes hängt wie beim Muskel der Erfolg der
elektrischen Nervenreizung auch von der Richtung des Stromes
einerseits in Bezug auf die Faserung, andererseits in Bezug auf das
Erfolgsorgan am Wirkungsende des Nerven ab. In ersterer Beziehung
war es schon Galvani bekannt, dass quere Durchströmung eines
motorischen Nerven möglichst senkrecht zur Axe der Fasern unwirksam
bleibt. Galvani brückte denselben über einen nicht zu dicken,
feuchten Faden (Fig. 184 a), durch welchen ein Kettenstrom hindurch-
geleitet wurde. In Folge der geringen Breite der Strombahn in dem
Nerven ist hier die Gelegenheit zur Bildung von Längscomponenten
verhältnissmässig gering, ohne natürlich gänzlich ausgeschlossen zu
sein. Auf der anderen Seite ist es aber fraglich, ob überhaupt ein
erheblicher Stromantheil den Nerven durchsetzt, wenn nicht sehr starke
üie elektrische Erregung der Nerven. 555
Ströme verwendet werden. Da aber letzterenfalls häufig Zuckungen
eintreten, so erscheint die aus Versuchen mit schwächeren Strömen
abgeleitete Folgerung betreifs mangelnder Quererregbarkeit des Nerven
noch weiterer Beweise bedürftig. Hitzig (16) und Filehne (16) be-
dienten sich zum Zuführen des Stromes zweier Streifen aus plastischem
Thon, der mit 1 ^lo Kochsalzlösung angeknetet war; die breiten dünnen
Kanten der Thonplättchen wurden von beiden Seiten her dem Nerven
angelegt und die Stromstärke entsprechend abgestuft. Es ergab sich
ebenfalls Unerregbarkeit für quere Durchströmung.
Als das geeigneteste Verfahren erweist sich jedoch auch hier
wieder wie beim Muskel die Lagerung des Nerven innerhalb eines
mit indifferenter, leitender Flüssigkeit (physiologische NaCl-Lösung)
gefüllten „Reizkästchens", welches von zwei gegenüberliegenden Punkten
oder Flächen her durchströmt wird (Fig. 184.) Die Resultate und
Folgerungen, zu welchen verschiedene Autoren gelangten, sind unge-
achtet derselben angewendeten Versuchsmethode auffallend verschieden.
Während A. Fick jun. (16) aus seinen Versuchen in der That eine
vollkommene Unerregbarkeit des Nerven für rein quere Durchströmung
ableiten zu können glaubte und damit die Vermuthung Du Bois
Reymond's (16) bestätigte, dass bei möglichst gleichen Bedingungen
der Einfluss des Durchströmungswinkels sich etwa seinem Cosinus
entsprechend gestalten würde, hielt sich Tschirj e w (16) für berechtigt,
jeden Einfluss des Durchströmungswinkels gänzlich zu läugnen und
die Erregbarkeit des Nerven für quere Durchströmung der „Längs-
erregbarkeit" völlig gleichzusetzen. Hierbei war vor Allem der
Umstand maassgebend, dass, Avie zuerst Hermann (17) zeigte, der
L e i t u n g s w i d e r s t a n d d e s N e r v e n in d e r L ä n g s - u n d Q u e r -
r i c h t u n g grosse Verschiedenheiten darbietet, und zwar
im letzteren Falle viel grösser ist, als im erst er en.
Wurde eine Schichte parallel zu einander liegender Froschnerven
zwischen zwei quadratische Glasplatten einmal der Länge und dann der
Quere nach durchströmt, so war letzterenfalls der nach der Wheatstone-
schen Methode gemessene Querwiderstand etwa 5 mal so gross als
der Längswiderstand (nach Hermann übertrifft der eine den Wider-
stand des Quecksilbers annähernd um das 12 V2 millionenfache, der
andere ist nur 2V'2 Millionen Mal so gross). Analoge Unterschiede
ergaben sich auch für quergestreifte Muskeln und scheinen in beiden
Fällen an die normalen Lebenseigenschaften der Gewebe gebunden
zu sein, da ihre Grösse nach dem Absterben sich in ganz auffallender
Weise vermindert zeigt. (Beim Nerven sinkt nach Hermann das Ver-
hältniss schon durch Erwärmen auf SO*' C, von 1 : 5 auf 1 : 2 — 4 herab.)
Mit Rücksicht auf die eben angeführten Thatsachen ist nun ohne
Weiteres klar, dass bei Längsdurchströmung eines im Reizkästchen
befindlichen Nerven ein grösserer Stromantheil denselben durchsetzen
wird, als bei dazu senkrechter Richtung der Stromfäden, und es fragt
sich nur, ob dieser Umstand in der That ausreichend ist, um die An-
nahme Tschirjew's gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Dies ist
einerseits schon aus rein theoretischen Gründen nicht wahrscheinlich,
andererseits sprechen aber auch Versuche, welche unter Hermann's
Leitung von Alb recht und A. Meyer (16) ausgeführt wurden, auf
das entschiedenste dagegen. In ersterer Beziehung sei nur darauf
hingewiesen, dass sowohl für Pseudopodien von Rhizopoden (Ac tino-
sphaerium), wie insbesondere auch für den (quergestreiften) Muskel
556 Diß elektrische Erregung der Nerven.
die Thatsache der Unerregbarkeit für senkrecht zur Längsaxe der
Elemente gerichtete Durchsti'ömung über jeden Zweifel sicliergestellt
erscheint. Bei der sonstigen weitgehenden Uebereinstimmung zwischen
Nerven und Muskeln in Bezug auf ihr Verhalten dem Strome gegen-
über würde es Avunderbar sein, wenn hinsichtlich des betreffenden
Punktes eine Ausnahme stattfände. Die Herren Albrecht und
A. Meyer zeigten aber ausserdem, dass, wenn es sich nur wirk-
lich um eine reine Qu er durch Strömung des Nerven
handelt, selbst die stärksten Ketten- und Inductions-
ströme wirkungslos bleiben, obschon die geringste Verlagerung
des Nerven Zuckung macht. Ausgehend von gewissen schon er-
wähnten Erfahrungen an local alkoholisirten Nerven, denen zufolge es
den Anschein hat, als ob innerhalb der betreffenden Strecke die Er-
regbarkeit bei gleichzeitig gesunkenem Leitungsvermögen gesteigert
wäre, haben ganz neuerdings Gad und Piotro wsky (16) wieder die
Quererregbarkeit des Nerven behauptet und als Beweis hauptsächlich
den Umstand geltend gemacht, dass die örtliche Steigerung der Reiz-
barkeit durch Alkohol bei vorwiegender Querdurchströmung (inner-
halb einer Rinne zwischen zwei Thonplättchen, die mit unpolarisirbaren
Elektroden in Verbindung standen) stärker hervortritt als bei Längs-
durchströmung. Ohne auf eine Kritik dieser Versuche hier näher
einzugehen , glaufee ich nicht, dass sie geeignet sind, gegenüber den
früheren Erfahrungen als vollgiltige Beweise für das Vorhandensein
einer Quererregbarkeit des Nerven angesehen zu werden.
Was nun die Verschiedenheiten des Reizerfolges bei, in Bezug auf
das Erfolgsorgan, Avechselnder Richtung eines der Länge nach den
Nerven durchfliessenden Stromes anlangt, so handelt es sich hier um
ein Gebiet, welches seit den ältesten Zeiten des Galvanismus vielfach
und von den verschiedensten Gesichtspunkten aus durchforscht wurde.
Aber erst der neueren Zeit war es vorbehalten, der Lösung der sich
hier darbietenden Fragen näher zu treten und die theoretische Be-
deutung derselben zu würdigen. Als allgemeines Gesetz haben wir
bisher die Thatsache kennen gelernt, dass ein constanter elektrischer
Strom einen motorischen Nerven im Allgemeinen vorwiegend bei
Schliessung oder Oeffnung des Kreises erregt, obschon unter Umständen
auch der in gleicher Dichte fliessende Strom Erregungserscheinungen
am Muskel bedingt. So alt nun diese Erfahrung ist, so alt ist anderer-
seits auch die Beobachtung, dass die Grösse der Schliessungs- und
Oeffnungszuckungen , ja sogar überhaupt das Hervortreten der einen
oder anderen, auch davon abhängt, wie der Strom im Nerven ge-
richtet ist, ob er von einem dem Muskel näher gelegenen zu einem
davon entfernteren Punkte aufsteigend oder in umgekehrter absteigender
Richtung fliesst. Es ist hier nicht der Ort, eine ausführliche ge-
schichtliche Darstellung der Bestrebungen zahlreicher älterer Forscher
auf dem vorliegenden Gebiete zur geben , zumal dies in ebenso er-
schöpfender wie trefflicher Weise von Seite Du Bois geschehen ist.
Es sei daher nur kurz erwähnt, dass, nachdem bereits Pf äff gewisse
regelmässige Unterschiede in der Wirkungsweise auf- und absteigender
Ströme wahrgenommen hatte, zuerst Ritter ein „Zuckungsgesetz" auf-
stellte , welches später von N o b i 1 i im Wesentlichen bestätigt wurde.
Wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich ist, spielt hier, abgesehen
von der Stromesrichtung, auch die jeweilige Erregbarkeit des Prä-
parates eine wichtige Rolle für den Erfolg der Reizung.
Die elektrische Erregung der Nerven.
Ritte r-Nobili's Zu ckungsgesetz.
557
Erregbarkeitsstufen
Aufsteigender Strom
Absteigender Strom
I (Ritter)
S.
ö.
Zuckung
Ruhe
S.
Ö.
Ruhe
Zuckung
II (Ritter)
s.
ö.
Zuckung-
schwache Zuckung
s.
ö.
schwache Zuckung
Zuckung
III (Ritter)
I (Nobili)
s.
ö.
Zuckung
Zuckung
s.
ö.
Zuckung
Zuckung-
IV (Ritter)
II (Nobili)
s.
ö.
schwache Zuckung (Ruhe)
Zuckung
s.
ö.
Zuckung
schwache Zuckung
V (Ritter)
III (Nobili)
s.
ö.
Ruhe
Zuckung
s.
ö.
Zuckung
Ruhe
VI (Ritter)
IV (Nobili)
ö.
Ruhe
Ruhe
s.
ö.
schwache Zuckung
Ruhe
Ritter unterscheidet 6, Nobili 4 Erregbarkeitsstufen. Besonders
auffallend ist hier der vollkommene Gegensatz dei; Wirkung gleich-
gerichteter Ströme auf der 1. (höchsten) Erregbarkeitsstufe und später
(5. Stufe Ritter's), was übrigens Nobili in Abrede stellt. Nach ihm
giebt es für jede Stromesrichtung nur eine starke Zuckung, und zwar
ist dies für den aufsteigenden Strom die Oeffnungs-
zuckung, für den absteigenden die Schliessungszuckung.
In neuerer Zeit haben sich, wie schon erwähnt, zahlreiche Forschor
bemüht, einerseits die dem Zuckungsgesetze zu Grunde liegenden That-
sachen genauer festzustellen und andererseits zugleich eine theoretische
Erklärung derselben anzubahnen. Dabei war es wohl der folgenreichste
und wichtigste Schritt, als Heidenhain und Pflüger fast gleich-
zeitig darauf hinwiesen, dass das „Zuckungsgesetz" nicht bloss eine
Function der Stromesrichtung und Erregbarkeit, sondern
auch der Stromstärke ist. Mit den schwächsten Strömen beginnend,
hat Heidenhain (18) folgende Reihenfolge der Wirkungen am frisch-
präparirten Nerv beobachtet:
Stromstärke
Absteigender Strom
Aufsteigender Strom
Schliessung
Oelfnung
Schliessung
Oetfnung
I
Ruhe
Ruhe
Zuckung
Ruhe
II
Ruhe
(seltener Zuckung)
Zuckung
(seltener Ruhe)
Zuckung
Ruhe
III
Zuckung
Zuckung
Zuckung
Ruhe
IV
Zuckung
Zuckung
Zuckung
Zuckung
Ueber gewisse mittlere Stromstärken scheint Heidenhain nicht
hinausgegangen zu sein, da die 5. Stufe Ritter's (und 3, Nobili's),
nämlich Schliessungszuckung allein bei absteigender, Oeffnungszuckung
bei aufsteigender Stromesrichtung am frischen Nerven nicht hervor-
558
Die elektrische Erregung der Nerven.
trat. Alle späteren Beobachter constatirten übereinstimmend, dass bei
einer gewissen mittleren Stromstärke sowohl Schliessung wie OefFnung
bei absteigender wie aufsteigender Stromesrichtung wirksam sind.
Erst bei starken Strömen macht sich der erwähnte Gegensatz des
Erfolges verschieden gerichteter Ströme bemerkbar. Hinsichtlich
der allerschwächsten Ströme lauten dagegen die Angaben nicht über-
einstimmend. Während Heidenhain als erste auftretende Zuckung
Schliessungszuckung des aufsteigenden und als zweite Oeffnungszuckung
des absteigenden Stromes beobachtete, geben die meisten späteren
Beobachter Schliessungs Zuckungen bei beiden Stromes-
richtungen als ersten Reizerfolg schwächster Ströme an (Litteratur-
angaben in Herm. Handb. H, 1. p. 61.), wobei nur Verschiedenheiten
hinsichtlich des Umstandes hervortreten, ob zuerst der absteigende oder
aufsteigende Strom wirksam wird. Als der ohne jeden Zweifel
richtigste Ausdruck des Zuckungsgesetzes muss zur Zeit die von
Pflüger (2) gegebene Formulirung gelten:
Stromstärke
Aufsteigender Strom
Schliessung
Oeffnung
Absteigender Strom
Schliessung Oeffnung
Schwach
Mittelstark
Stark
Zuckung
Zuckung
Kühe
Ruhe
Zuckung
Zuckung
Zuckung
Zuckung
Zuckung
ßuhe
Zuckung
Ruhe
(schwache Zuckung)
Man sieht, dass bei frischen, leistungsfähigen, motorischen Frosch-
nerven die Schliessung schwacher Ströme sowohl bei aufsteigender
wie absteigender Richtung zuckungserregend wirkt, während ebenso
die Oeffnung in beiden Fällen erfolglos bleibt. (1. Stufe des Zuckungs-
gesetzes.) Allmählich tritt dann bei wachsender Stromesintensität die
Oeffnungszuckung hinzu, so dass die 2. Stufe dadurch charakterisirt
ist, dass Schliessung und Oeffnung des aufsteigenden wie absteigenden
Stromes von Zuckungen des Muskels begleitet erscheinen. Zu eine m
Gegensatz der \\'irkungsweise verschieden gerichteter
Ströme kommt es immer erst dann, wenn die Intensität
eine gewisse Grenze überschritten hat, und zwar gilt
dann ausnahmslos die Regel, dass nur die Schliessung
des absteigenden und die Oeffnung des aufsteigenden
Stromes zuckungserregend wirken, während Schliessung des
aufsteigenden und Oeffnung des absteigenden Stromes stets erfolglos
bleiben. Es sind diese Wirkungen so sicher und gesetzmässig, dass
man sich derselben geradezu als eines Mittels bedienen kann, um auf
physiologischem Wege durch den stromprüfenden Froschschenkel die
Stromesrichtung zu bestimmen. Bei Demonstration des Zuckungs-
gesetzes ist es Avesentlich , dass Avomöglich an einem und demselben
Präparat nur die Wirkungsweise verschieden starker Ströme einer
Richtung geprüft wird, ohne dabei die Lage des Nerven auf den
Elektroden zu verändern, und erscheint es daher am zweckraässigsten,
zwei demselben Frosch entnommene Nervmuskelpräparate gleichzeitig
zu reizen, indem man die beiden Nerven in entgegengesetzter Richtung
über dieselben unpolarisirbaren Elektroden brückt; man hat dann
Gelegenheit, die bei wachsender Stromstärke aufeinander folgenden Ver-
Die elektrische Erregung der Nerven. 559
änderungen der Reaction des Muskels gleichzeitig zu beobachten und
sieht auf der 3. Stufe bei Schliessung des Stromes nur das eine, bei
Oeffnung nur das andere Präparat zucken.
Pflüg er ist es auch zuerst gelungen, eine ausreichende und be-
friedigende Erklärung der dem Zuckungsgesetze zu Grunde liegenden,
auf den ersten Blick so auffallenden Erfahrungsthatsachen zu geben.
Es handelt sich dabei vor Allem um den merkwürdigen Gegensatz der
Wirkung der Schliessung und Oeffnung auf der 3. Stufe. Offenbar
ist die blosse Richtungsänderung des elektrischen Stromes an sich
nicht im Stande, denselben ausreichend zu erklären , und Avenn, was
von vorneherein kaum zu bezweifeln ist, eine Erregung des Nerven
auch bei Schliessung des aufsteigenden und bei Oeffnung des abstei-
genden Stromes stattfindet, so kann die Wirkungslosigkeit der Reizung
wohl nur in dem Umstände begründet sein, dass diese in irgend einer
Weise verhindert Avird, sich am anhängenden Muskel geltend zu
machen. Es muss, mit anderen ^^'orten, irgendwo innerhalb der durch-
flossenen Strecke eine Veränderung platzgegriffen haben , welche es
verhindert, dass der Erregungsvorgang sich im einen Falle bei der
Schliessung, im andern bei der ( Jeffnung zum Muskel fortpflanzt.
Mit Rücksicht auf die früher mitgetheilten Erfahrungen an quer-
gestreiften und glatten Muskeln liegt nichts näher als die Vermuthung,
dass es sich auch beim Nerven um antagonistische,
polare Wirkungen des Stromes handelt, in dem Sinne,
dass die Erregung bei der Schliessung von der Kathode,
bei der Oeffnung dagegen nur von der Anode ausgeht.
Wenn daher bei Schliessung eines starken absteigenden bezw. bei
Oeffnung eines starken aufsteigenden Stromes Zuckung erfolgt, so ist
dies ohne Weiteres verständlich, da in beiden Fällen der Fortleitung
der von der betreffenden Elektrode ausgehenden Erregung zum Muskel
nichts entgegensteht. Wenn dagegen ersterenfalls die Oeffnungszuckung,
letzterenfalls die Schliessungszuckung ausbleibt, so wird man mit
Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, dass bei aufsteigender Stromes-
richtung die oberhalb der Anode ausgelöste kathodische Erregung an
dieser selbst brandet und sich daher am Muskel nicht zu äussern ver-
mag. Umgekehrt scheint die Oeffnungserregung, welche bei absteigen-
dem Strom oberhalb der Kathode ausgelöst wird, an der kurz zuvor
kathodischen Stelle des Nerven zu erlöschen. So wären wir denn auch
hier wieder durch eine genauere Analyse der bei elektrischer Reizung
motorischer Nerven hervortretenden Erscheinungen zu demselben
fundamentalen Satze wie bei den contractilen Substanzen gekommen,
dass nämlich der e 1 e k t r i s c h e S t r o m nicht a u f d e r g a n z e n
durchflossenen Strecke gleich massig an jedem Punkte
den Vorgang der Erregung auslöst, sondern „polare"
Veränderungen bewirkt, welche sich theils als Er-
reg ungs-, theils als antagonistische Hemmungser-
scheinungen geltend machen und ihren Ausdruck vor Allem
in der 3. Stufe des Zuckungsgesetzes finden. Wir befinden uns aber
hier in einer weniger günstigen Lage, als bei der directen Erregung
contractiler Substanzen , wo sich die polaren Wirkungen des Stromes
günstigenfalls unmittelbar durch entsprechende Gestaltveränderungen
am Orte der physiologischen Pole verrathen, während man beim Nerven
lediglich auf die Reactionen des von dem Reizorte mehr oder weniger
560 ^i® elektrische Erregung der Nerveu.
entfernten P^rfolgsorgans angewiesen ist, das in der Regel einer Ver-
änderung nur in einem ganz bestimmten Sinne fähig ist.
Bei der fundamentalen Bedeutung des von Pflüger zunächst
nur als eine inductive Folgerung aus dem „Zuckungsgesetze" abge-
leiteten Satzes von der polaren Erregung durch den elektrischen
Strom erschien es wünschenswerth, noch weitere directe Beweise für
die Richtigkeit desselben beizubringen. Wie für den quergestreiften
Muskel, so sehen wir auch für den (motorischen) Nerven v. Bezold
(19) bestrebt, das in Rede stehende Gesetz durch zeitmessende Ver-
suche zu bestätigen. Die angewendete Methode, welche in beiden
Fällen auf der Messung des Latenzstadiums der Muskelzuckung beruht,
gestaltet sich bei indirecter Muskelreizung noch wesentlich einfacher
als bei directer. Wird durch eine nicht zu kleine Strecke des Nerven
eines Nervmuskelpräparates ein aufsteigender Strom von mittlerer
Dichte hindurchgeleitet, so muss offenbar, wenn die Erregung bei
Schliessung des Stromes an der vom Muskel entfernteren Kathode aus-
gelöst wird und daher einen längeren Weg zu durchlaufen hat, als
die anodische Oeffnungserregung, das Latenzstadlum der Schliessungs-
zuckung merklich grösser ausfallen , als unter sonst gleichen Um-
ständen die Latenzzeit der 0 effnungszuckung. Umgekehrt muss
es sich natürlich beim absteigenden Strom verhalten. Der Unterschied
entspricht in beiden Fällen offenbar der Zeit, welche die Erregung
braucht, um sich durch die intrapolare Strecke hindurch fortzupflanzen.
Diesen Voraussetzungen entsprachen nun in der That die Versuchs-
resultate von Bezold. Die Zeit, Avelche zwischen dem Moment der
Reizung und dem Beginn der Muskelzuckung verging, war grösser
bei Schliessung des aufsteigenden und bei Oeffnung des absteigenden
als bei der Oeffnung des aufsteigenden und der Schliessung des ab-
steigenden Stromes.
Einen weiteren Beweis, wenigstens für die Localisation der der
O e f f n u n g s e r r e g u n g zu Grunde liegenden Veränderungen des
Nerven, hat Pflüger selbst geliefert, indem er zeigte, dass, w^enn unter
günstigen Umständen bei absteigender Stromesrichtung ein Ritter'scher
Oeffnungstetanus ausgebrochen ist, derselbe sofort erlischt, sobald der
Nerv etwa in der Mitte der intrapolaren Strecke durchschnitten und
so der Muskel dem Einfluss der Anode entzogen wird. Derselbe
Versuch bleibt natürlich ohne Erfolg, wenn es sich um Ritter'schen
Tetanus nach aufsteigender Durchströmung handelt.
Um die Erscheinungen des Pflüger'schen Zuckungsgesetzes voll-
ständig zu erklären, sieht man sich durch die Thatsachen zu der An-
nahme gedrängt, dass der elektrische Strom nebst der erregenden
Wirkung, welche bei der Schliessung von der Kathode, bei der
Oeffnung dagegen von der Anode ausgeht, auch zugleich erregungs-
hemmende Wirkungen entfaltet, über deren Localisirung wir uns
zunächst nur vermuthungsweise aussprachen. Wenn man nach Analogie
der erregenden Vorgänge auch die hemmenden als Polwirkungen auf-
fasst, so würde von vorneherein und nach Analogie des Muskels an-
zunehmen sein, daas bei der Schliessung an der Anode, nach der
Oeffnung dagegen an der Kathode Veränderungen der Nervensubstanz
platzgreifen, welche sich durch eine mehr oder weniger ausgesprochene
Herabsetzung der Erregbarkeit wie auch des Leitungsvermögens ver-
rathen. Unter dieser Voraussetzung und unter Zuhilfenahme des
weiteren Satzes, dass die Entwicklung der Erregung und Hemmung
Die elektrische Erregung der Nerven. 561
nicht ganz parallel geht, indem zur Auslösung der ersteren im All-
gemeinen schwächere Ströme genügen als zu einer entsprechenden
Ausbildung der letzteren, lassen sich alle Erscheinungen des Zuckungs-
gesetzes leicht und befriedigend erklären. Denn es erscheint nun
verständlich, weshalb mittelstarke Ströme sowohl bei aufsteigender wie
absteigender Richtung Schliessungszuckung und Oeffnungszuckung
bewirken ; die durch sie bewirkte Hemmung an der Anode bezw. Ka-
thode reicht offenbar nicht hin, um die bei aufsteigender Schliessung von
der letzteren, bei absteigender Oeffnung dagegen von der Anode herab-
kommende Erregung vom Muskel abzublenden. Der einheitliche Reiz-
effect bei schwacher aufsteigender oder absteigender Durchströmung
endlich erklärt sich ungezwungen durch die Annahme, dass die Grösse
der beiden vom Strome ausgehenden Reizimpulse verschieden ist, indem
speciell das Verschwinden des Stromes den schwächeren Reiz bildet.
Bei allmählichem Anwachsen der Stromesintensität wird sich daher
zunächst der mächtigere Schliessungsreiz der Katliode für jede Strom-
richtung Geltung verschaffen und erst bei weiterer Steigerung auch
der geringfügigere Oeffnungsreiz der Anode merkbar werden.
Es bleiben jetzt noch jene Thatsachen näher zu erörtern, welche
der Annahme, dass bei der Schliessung eines Kettenstromes die Anode,
nach der Oeffnung die Kathode hemmend wirkt, zu Grunde liegen.
Auch hier verdanken wir Pflüger die entscheidenden Beweise.
Während sich beim Muskel die polaren Hemmungsvorgänge in zwei-
facher Weise durch G e s t a 1 1 v e r ä n d e r u n g e n , sowie durch eine
gleichzeitige Herabsetzung der Erregbarkeit verriethen, sind
wir für den Nerven lediglich auf den Nachweis der letzteren beschränkt
und werden daher im Sinne der obigen Voraussetzungen erwarten
müssen , bei Anwendung genügend starker Ströme eine Hei-absetzung
der Erregbarkeit des Nerven an der Anode während der Schliessungs-
dauer, dagegen an der Kathode nach Oeffnung des Stromes zu finden.
Hier macht sich aber sofort ein sehr wesentlicher Unterschied vom
quergestreiften Muskel bemerkbar; denn während bei diesem die
„elektrotonischen'' Erregbarkeitsänderungen im Wesentlichen locale,
auf die physiologischen Pole beschränkte sind, zeigt sich, dass unter
gleichen Verhältnissen beim markhaltigen Nerven nicht nur
die ganze i n t r a p o 1 a r e , sondern auch b e t r ä c h 1 1 i c h e A b -
schnitte der extrapolaren Strecken während und nach
der D u r c h s t r ö m u n g einen veränderten E )■ r e g b a r k e i t s -
zustand darbieten, der im Bereiche beider Pole dem
Sinne nach verschieden und entgegengesetzt ist. Nach-
dem bereits die älteren Galvaniker Andeutungen eines solchen Ver-
haltens bei Durchströmung ganzer Glieder beobachtet hatten, bewies
zuerst Eckhardt (20) durch einwandfreie Versuche, dass ein Nerv,
wenn eine Strecke desselben von einem constanten Strom dauernd
durchflössen Avird, weithin in einen veränderten Zustand geräth, der
sich durch eine Steigerung oder Herabsetzung der Anspruchsfähigkeit
von Punkten der intra- und exti'apolaren Strecken gegen künstliche
Reize äussert. Das Erstere sollte ganz allgemein jenseits der Kathode,
das Letztere jenseits der Anode der Fall sein. In einer meisterhaft
durchgeführten Experimentaluntersuchung, deren Resultate nebst den
daran sich knüpfenden theoretischen Folgerungen den Inhalt des schon
mehrfach erwähnten classischen Werkes über den „Elektrotonus" bilden,
hat hierauf Pflüger alle einschlägigen Thatsachen auf das Genaueste
562 ^^^ elektrische Erregung der Nerven.
untersucht und die Durchforschung dieses Gebietes zum Abschluss
gebracht.
Wird der mittleren Strecke eines motorischen, am einen Ende
mit dem Muskel noch in Verbindung stehenden Nerven ein Ketten-
strom mittels unpolarisirbarer Elektroden zugeführt, so lassen sicli die
durch denselben bewirkten Erregbarkeitsveränderungen am leichtesten
innerhalb der zwischen Muskel und polarisirendem Strom gelegenen
Nervenstrecke nachweisen. Man kann sich dann entweder eines in
seiner Grösse leicht und genau abstuf baren elektrischen oder wohl auch
eines chemischen oder mechanischen Reizes als „Prüfungsreiz" be-
dienen, wobei natürlich die Höhe der Muskelcontraction als Maass der
Erregbarkeit gilt. Handelt es sich um den Nachweis einer Steigerung
der Anspruchsfähigkeit, so muss selbstverständlich die durch den
Prüfungsreiz vor Schliessung des polarisirenden Stromes ausgelöste
Zuckung eine untermaximale sein. Ist nun der Letztere aufsteigend
gerichtet und erfolgt die Reizung an einem von der Anode nicht all-
zuweit muskelwärts gelegenen Punkte des Nerven , so lässt sich stets
eine mehr oder Aveniger ausgeprägte Herabsetzung der Erregbarkeit
constatiren, deren Grösse mit wachsender Stärke des polarisirenden
Stromes stetig zunimmt. Es kann unter diesen Umständen ein Strom,
welcher vorher eine maximale Zuckung auslöste, völlig unwirksam werden
und ebenso lässt sich ein kräftiger, durch elektrische oder chemische
Reizung (concentrirte NaCl-Lösung) ausgelöster Tetanus momentan
unterbrechen, wenn oberhalb der gereizten Stelle ein starker auf-
steigender Strom geschlossen wird. Reizt man in möglichst gleicher
Weise verschiedene Punkte der „myopolaren" (zwischen Muskel und
polarisirenden Strom eingeschlossenen) Strecke des Nerven, so kann
man sich einerseits leicht davon überzeugen , dass mit wachsender
Stromstärke die Erregbarkeitsherabsetzung sich über einen immer
grösseren Theil der myopolaren Strecke ausbreitet, während anderer-
seits der Grad der Veränderung von der Anode aus rasch abnimmt.
Ein vollkommen gegensätzliches Verhalten zeigen die Erregbarkeits-
verhältnisse der myopolaren Strecke, bei absteigender Richtung des
polarisirenden Stromes. Hier zeigt sich die Anspruchsfähigkeit unter
allen Umständen gesteigert, und zwar wieder in einem um so höheren
Maasse, je näher der Prttfungsreiz an die Kathode heranrückt und je
stärker unter sonst gleichen Umständen der polarisirende Strom ist.
Tetanisirende Reize, welche vorher keine oder höchstens Spuren von
Erregung bewirkten, lösen sofort einen heftigen Tetanus aus, weim
oberhalb der gereizten Nervenstelle ein absteigender Strom von hin-
reichender Stärke geschlossen wird. Viel schwieriger gestaltet sich
die Untersuchung der Erregbarkeit der extrapolaren („centropolaren")
Nervenstrecke oberhalb eines aufsteigend oder absteigend gerichteten
polarisirenden Stromes, ganz besonders im ersteren Falle. Hier kommt
die Erregbarkeitssteigerung, wie Pflüger gezeigt hat, bei schwächeren
Strömen zwar stets deutlich zur Geltung, schlägt aber bei starken in's
Gegentheil um, indem bei einer gewissen Stärke des polarisirenden
Stromes ein Reiz von bestimmter Grösse eine schwächere Muskelcon-
ti'action auslöst als vorher und endlich sogar sehr starke Reize, welche
vor der Schliessung das Zuckungsmaximum bedingten, nach der
Schliessung ganz unwirksam werden. Es ist dieser Umstand aber nicht
sowohl einer Abnahme des Erregbarkeitszuwachses oberhalb der Kathode,
also einer (centropolaren) Erregbarkeitsverminderung, zuzuschreiben,
Die elektrische Erregung der Nerven. 563
sondern vielmehr auf die Abnahme der Erregbarkeit und des Leitungs-
vermögens an der unterhalb gelegenen Anode zu beziehen, welche sich
mit wachsender Stärke des polarisirenden Stromes mehr und mehr
geltend machen muss und jede oberhalb ausgelöste Erregung in ihrer
Wirkung auf den Muskel mehr oder weniger beeinträchtigt. Darauf
ist es auch wesentlich zu beziehen, dass Valentin und Eckhardt
die extrapolare Erregbarkeitssteigerung oberhalb der Kathode nicht
nachzuweisen vermochten. Wir werden daher annehmen dürfen, dass
oberhalb des aufsteigenden Stromes ganz ebenso wie unterhalb des
absteigenden die Erregbarkeitserhöhung mit der Stromstärke stetig
zunimmt; wie hier ist sie auch um so beträchtlicher, je näher die ge-
prüfte Stelle der polarisirten Nervenstrecke liegt; in einer bestimmten,
zunächst von dfer Stromstärke abhängigen Entfernung von der Kathode
wird sie gleich Null. Auch in Bezug auf das Verhalten der extra-
polaren Erregbarkeit oberhalb der Anode des absteigenden Stromes
hat sich vollkommene Uebereinstimmung mit den unterhalb des auf-
steigenden Stromes zu beobachtenden anodischen Erregbarkeits-
änderungen herausgestellt. Es bliebe jetzt nur noch das Verhalten
der Erregbarkeit innerhalb der vom Strome selbst absteigend oder
aufsteigend durchflossenen intrapolaren Strecke zu besprechen. Hier
gilt nun, wie sofort ersichtlich ist, hinsichtlich der Schwierigkeiten
der Untersuchung und der eventuell verwendbaren Methoden Alles,
was früher bereits ausführlich bezüglich der gleichen Aufgabe beim
Muskel hervorgehoben wurde.
Von der irrigen Voraussetzung ausgehend, dass ein Inductions-
strom auf der ganzen durchflossenen Strecke erregend wirkt, ver-
suchte es Pflüger, auch hier zunächst die „Totalerregbar-
keit" der intrapolaren Strecke in ihrer Abhängigkeit von der Stärke
des polarisirenden Stromes zu bestimmen, indem er nach einem
schon von Eckhardt angewendeten Verfahren durch die polari-
sirenden Elektroden zugleich auch den als Prüfungsreiz benützten
Inductionsstrom zuführte, wie dies bereits früher für den Muskel ge-
schildert wurde. Da sich jedoch seither herausgestellt hat, dass auch
inducirte Ströme polar erregend wirken, so ist klar, dass die Er-
gebnisse der betreffenden Versuche in dem ursprünglich beabsichtigten
Sinne nicht verwerthet wei'den können. Indessen hat Pflüger selbst
auch schon Versuche mit chemischer Reizung einzelner Stellen der
intrapolaren Nervenstrecke angestellt, wobei sich ergab, dass dieselbe
in zwei durch einen „Indifferenzpunkt" getrennte Ab-
schnitte zerfällt, in deren einem die Erregbarkeit
herabgesetzt ist, während sie im anderen gesteigert
erscheint, und zwar ist das Erstere Avieder in der Nach-
barschaft d e r A n o d e , d a s L e t z t e r e z u r S e i t e d e r K a t h o d e
der Fall. Mit wachsender Stromstärke verschiebt sich
der Indifferenzpunkt aus der Gegend der Anode nach
d e r K a t h o d e hin, und zwar u n a b h ä n g i g v o n d e r R i c h t u n g
des Stromes in um so höherem Grade, je stärker der
p 0 1 a r i s i r e n d e Strom ist. Es verbreitet sich also die anodische
Erregbarkeitsherabsetzung mit wachsender Stromstärke über einen
immer grösseren Theil der durchflossenen Nervenstrecke. Die zuletzt
erwähnten Thatsachen betrefl's der Erregbarkeitsveränderungen der
intrapolaren Strecke wurden neuerdings auch wieder von Tiger-
st e d t ( 20) mittels mechanischer Einzelreize festgestellt , welcher
5g4 I'iß elektrische Erregnag der Nerven.
übrigens auch alle anderen Resultate Pflüger's vollinhaltlich be-
stätigte.
Von nicht minderer Wichtigkeit und nicht geringerem Interesse
als die während der Schliessungsdauer eines polarisirenden Stromes
hervortretenden Erregbarkeitsveränderungen sind auch die Nach-
wirkungen des Constanten Stromes auf die Erregbarkeit
des Nerven, als deren unmittelbare Folge unter Anderem die Oeff-
nungserregung selbst aufzufassen ist. Auch auf diesem Gebiete begegnen
wir einzelnen Angaben schon aus den ersten Zeiten des Galvanismus,
welche von Pflüg er sorgfältig gesammelt wurden (vergl. Elektrotonus
p. 72 ff.), die sich jedoch hauptsächlich auf die Bedingungen des Hervor-
tretens, sowie die Deutung der Oeffnungserregung beziehen. Wie
jedoch Pflüger selbst gezeigt hat, äussern sich die Nachwirkungen
der Durchströmung nicht nur in sichtbaren Erregungserscheinungen,
sondern auch in gesetzmässigen Veränderungen der Anspruchsfähigkeit
aller derjenigen Nervenstrecken, welche auch während der Zeit des
Geschloss'enseins des polarisirenden Stromes eine veränderte Erregbar-
keit zeigten. In Kürze lässt sich der Thatbestand so ausdrücken, dass
man sagt : Im Allgemeinen herrscht an allen Punkten, wo
während der Dauer der Durchströmung ein Zustand er-
höh t e r E r r e g b a r k e i t nachweisbar war, u n m i 1 1 e 1 b a r n a c h
Oeffnung des Stromkreises verminderte Anspruchs-
fähigkeit und umgekehrt. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass
die positive Modilication (Erregbarkeitssteigerung) beiderseits von der
Kathode des polarisirenden Stromes nur vorübergehend nach der
Oeffnung sich in ihr Gegentheil verkehrt und schliesslich mit einer
neuerlichen Steigerung der Anspruchsfähigkeit abklingt, während die
negative Modilication (Erregbarkeitsherabsetzung) in der Umgebung
der Anode dauernd einer positiven Modilication Platz macht und
auch als solche abklingt. Die Dauer der ersten Phase des Abklingens
der kathodischen Erregbarkeitsveränderung (der negativen Modifieation)
ist unter sonst gleichen Umständen um so kürzer, je stärker der
polarisirende Strom war, so dass bisweilen deren Nachweis mit
Schwierigkeiten verbunden erscheint (vergl. Obernier, 21) und nur
möglich ist, wenn der Prüfungsreiz gleichzeitig mit oder unmittelbar
nach der Oeffnung des polarisirenden Stromes einwirkt. Im Uebrigen
hängt jedoch die Stärke und Dauer der Nachwirkungen durchaus
von der Stärke der ursprünglich vorhandenen Veränderungen und
damit natürlich auch von der Stärke des modificirenden Stromes ab.
Fassen wir die vorstehend mitgetheilten Thatsachen zusammen,
so ergiebt sich Folgendes als gesichertes Resultat: Wird ein Theil
eines markhaltigen Nerven dauernd von einem Kette n-
strom durchflössen, so geräth der Nerv nicht nur an und
zwischen den Elektroden, sondern auch extrapolar
weithin in einen veränderten Zustand (Elektrotonus),
der sich, abgesehen von anderen später zu besprechen-
den Erscheinungen, auch durch Veränderungen der
Anspruchsfähigkeit für beliebige Reize äussert, und
zwar herrscht während der Dauer der Durchströmung
im Bereich der Kathode eine Erhöhung, im Bereich der
Anode dagegen eine Herabsetzung der Erregbarkeit.
Für den ersteren Zustand hat man den Namen „Katelek-
trotonus", für den letzteren „Anelektrotonus" einge-
Die elektrische Erregung- der Nerven. 565
führt, wobei aber ausdrücklich bemerkt sei, dass beide
Ausdrücke nicht allein für die veränderte Erregbar-
keit, sondern überhaupt für den veränderten Zustand
der Nerven Substanz gebraucht werden, welcher durch
einen elektrischen Strom im Bereiche beider Pole ver-
ursacht wird und sich, wie wir sehen werden, auch noch
anders zu äussern vermag.
In sehr anschaulicher Weise lassen sich die elektrotonischen Er-
regbarkeitsveränderungen durch eine graphische Darstellung erläutern.
Denkt man sich auf den Nerven als Abscissenaxe die Erregbarkeit jedes
Punktes als Ordinate aufgetragen, so würde, wenn man von der Steige-
rung der Anspruchsfähigkeit in der Nähe des Querschnittendes absieht,
die Verbindungslinie der Gipfelpunkte aller einzelnen Ordinaten im
Allgemeinen eine der Abscisse parallel verlaufende Gerade darstellen.
Wird nun aber durch eine mittlere Strecke ein Strom geleitet, so
herrscht an der Stelle der Kathode selbst ein Zustand gesteigerter, an
der Anode dagegen verminderter Erregbarkeit. Drückt man das
Erstere durch eine nach Oben gezogene (positive) Ordinate aus, so lässt
sich das Letztere durch eine nach Unten gehende (negative) Ordinate
andeuten. Von beiden Stellen aus nimmt, Avie gezeigt wurde, die Er-
Fig. 185.
regbarkeit soAVohl extra- wie intrapolar ab und verbreitet sich über
um so grössere Strecken des Nerven, je stärker der polarisirende Strom
ist. Bezeichnet dahe rg i (Fig. 185) den Nerven, an welchen die Elektroden
A und B angelegt wurden, so lässt sich der Erregbarkeitszustand der
einzelnen Punkte für schwache, mittelstarke und starke Ströme während
der Schliessung durch die drei Curven {ahc) (def) und (ghi) darstellen.
Auch hier muss wieder bemerkt werden, dass die wahre Gestalt der
Curven nicht genauer bekannt ist, so dass dieselben die betreffenden
Verhältnisse nur im Allgemeinen ausdrücken. Wie die Curve {ahc)
zeigt, befindet sich bei den schwächsten Strömen fast die ganze intra-
polare Strecke im Zustand erhöhter Erregbarkeit (Katelektrotonus),
indem der IndifFerenzpunkt in diesem Falle nahe bei der Anode ge-
legen ist. Man sieht ferner, dass von dem genannten Punkte aus die
Erregbarkeit nach der einen Seite hin allmählich wächst, nach der
andern entsprechend abnimmt ; die Veränderung erreicht ihr Maximum
in nächster Nähe der beiden Elektroden, um von da aus wieder bis
auf Null abzunehmen. Im Vergleich zu dieser Curve ist die Strömen
mittlerer Stärke entsprechende, im Allgemeinen gleich gestaltete Curve
{def) vor Allem dadui-ch charakterisirt, dass sie eine viel grössere
Strecke des Nerven umfasst und wesentlich höhere Ordinatenwerthe
darbietet, während andererseits der Indifferenzpunkt etwa in der Mitte
der intrapolaren Strecke liegt. Es entsprechen diese Abweichungen
5(36 Die elektrische Erregung der Nerven.
dem Umstände, dass die elektrotonischen Erregbarkeitsveränderungen
einerseits an Intensität, andererseits auch an Ausbreitung gewinnen,
wenn die Stärke des polarisirenden Stromes wächst. Dasselbe lässt
auch wieder die dritte, starken Strömen entsprechende Curve ighi) er-
kennen, die insofern mit (abc) contrastirt, als der IndifFerenzpunkt
ganz nahe der Kathode liegt, so dass hier fast die ganze intra-
polare Strecke sich im Zustand des Anelektrotonus befindet. Es würde
leicht sein , auch die oben erwähnten Nachwirkungen des An- und
Katelektrotonus graphisch darzustellen, indem sich die Erregbarkeit
jedes Punktes wenigstens unmittelbar nach der Oeffnung gerade entgegen-
gesetzt verhält, wie während der Schliessung.
Es war bisher nur von dem Einfluss der Stärke des polari-
sirenden Stromes auf die Grösse und Ausbreitung der elektrotonischen
Erregbarkeitsänderungen die Rede, doch spielt, wie ebenfalls schon
Pflüger festgestellt hat, auch die Länge der durchflossenen
N e r V e n s t r e c k e , sowie die zeitlichen Verhältnisse der Durchströmung
eine nicht unwesentliche Rolle. In ersterer Beziehung liegen, abgesehen
von älteren Angaben Humboldt's, Ritter' s u. A. , insbesondere
Bemerkungen von Du Bois Reymond vor. Nach dem Ohm'schen
Gesetze ist die Intensität eines elektrischen Stromes direct proportional
der elektromotorischen Kraft und umgekehrt proportional dem Wider-
stand des Kreises. Will man daher den Einfluss der Streckenlänge
auf die Erregung selbst oder die elektromotorischen Erregbarkeits-
änderungen untersuchen , so muss bei dem grossen Widerstand des
Nerven vor Allem gesorgt werden, dass mit der Vergrösserung der
durchströmten Strecke der Gesammtwiderstand sich nicht erheblich
ändert. Du Bois Reymond erreichte dies, indem er als Widerstand
einen Alkoholrheostaten einschaltete, dem gegenüber der Widerstand
der durchströmten Nervenstrecke als verschwindend betrachtet werden
konnte. Dabei zeigte sich, dass der extrapolare Elektrotonus (d. h.
dessen galvanische Wirkungen) und die negative Schwankung als
Ausdruck der Erregung sich stärker entwickeln, wenn die Länge der
intrapolaren Strecke zunahm. Zu demselben Resultat gelangte später
auch Pflüger.
Willy (22) prüfte dann auch die unter gleichen Umständen hervor-
tretenden Unterschiede der Zuckungsgrösse. Er bediente sich zweier
Nerven, von denen der eine in kurzer, der andere in langer Strecke
vom Strome durchsetzt wurden. Es stellte sich dabei heraus, dass die
stärkere Erregung der längeren Strecke nur für die Schliessung ab-
steigender Ströme gilt, während bei Schliessung aufsteigender Ströme
ein umgekehrter Erfolg als Regel gilt. Willy formulirt daher seine
Beobachtungen folgendermaassen : „Die Erregbarkeit ist ceteris paribus
um so stärker, je näher dem Muskel die Kathode, je weiter von ihm
die Anode ist."
Unter Fick's Leitung untersuchte hierauf Marcus e (22) dasselbe
Problem, indem er den Nerven in einen mit physiologischer NaCl-Lösung
gefüllten kleinen parallelepipedischen Glastrog legte. Ein Paar gegen-
überstehende Wände desselben bestanden aus amalgamirtem Zink und
vermittelten die Zuleitung des inducirten Stromes. Je nachdem nun
eine kürzere oder längere Strecke des Nerven eintauchte, wurde die-
selbe vom Strom mit gleicher Dichte durchsetzt; mit wachsender Länge
nahm dann die kleinste, merklich reizend wirkende Stromstärke anfangs
rapid, dann immer langsamer ab „und scheint sich assymptotisch einem
Die elektrische Erregung der Nerven. 567
Grenzwerthe zu nähern oder nach Ueberschreitimg eines Minimums
wieder zu wachsen". Auch bei Anwendung des constanten Stromes
fand M a r c u s e sowohl bei aufsteigender wie bei absteigender Richtung
einen begünstigenden Einfluss der längeren intrapolaren Strecke, indem
die erste merkliche Zuckung früher eintrat, als bei kurzer Strecke.
Zu wesentlich gleichen Resultaten gelangte auch Tschirjew (16) und
Clara Haiperson (23).
Von den Verhältnissen der zeitlichen Entwicklung aller den
Elektrotonus charakterisirenden Veränderungen der Nervensubstanz,
also auch der hier in Rede stehenden Erregbarkeitsänderungen, wird
später im Zusammenhang zu handeln sein. Hier sei nur erwähnt, dass
nach Pflüger die katelektrotonische Erregbarkeits-
steigerung sofort nach der Schliessung des Kette n-
stromes nachweisbar ist, um dann langsam wieder abzunehmen,
während der An elektrotonus sich vergleichsweise lang-
sam entwickelt und ausbreitet; d a s M a x i m u m tritt unter
allen Umständen erst einige Zeit nach der Schliessung
ein. Wir werden später sehen, dass in dieser Beziehung volle Ueber-
einstimmung mit den galvanisclien Veränderungen des Nerven im
Zustand des Elektrotonus herrsclit.
Wenn das Leitungsvermögen, um mit Gad zu sprechen, nur der
Ausdruck der „Längserregbarkeit" des Nerven ist, d. h. der Fähigkeit
desselben, eine örtlich ausgelöste Erregung der Länge nach von
Querschnitt zu Querschnitt fortzupflanzen, so erscheint von vorneherein
die Annahme am wahrscheinlichsten, dass den elektrotonischen Er-
regbarkeitsveränderungen auch gleichsinnige Aenderungen des Leitungs-
vermögens entsprechen. In der That scheinen ja auch die Thatsachen
des Zuckungsgesetzes ganz unmittelbar darauf hinzuweisen, dass der
bestehende Anelektrotonus (bei aufsteigender Stromesrichtung), sowie
der schwindende Katelektrotonus (bei absteigender Stromesrichtung)
eine Leitungshemmung für die im ersteren Falle von der Kathode, im
letzteren von der Anode kommende Erregung bedingt. Mit Rücksicht
auf die L und 2. Stufe des Zuckungsgesetzes würde man ferner an-
nehmen müssen, dass die Herabsetzung des Leitungsvermögens erst
bei relativ starken polarisirenden Strömen ausreichend wird, um eine
wirksame Hemmung zu bedingen. Die Angaben v. Bezold's, welchem
wir eine ausführliche Untersuchung über die Erregungsleitung
des Nerven im elektrotonischen Zustande verdanken (19),
entsprechen den gemachten Voraussetzungen nur theilweise. Es wurde
früher schon hervorgehoben, dass jede oberhalb einer aufsteigend
oder absteigend durchflossenen Nervenstrecke ausgelöste Erregung
bei einer gewissen Intensität des polarisirenden Kettenstromes wirkungs-
los bleibt, weil dann, wie wir annahmen, die Herabminderung der
Erregbarkeit (und des Leitungsvermögens) in der ganzen anelektro-
tonischen Strecke so beträchtlich ist, dass dadurch ein wirksames
Hinderniss für die Fortleitung des Reizes zum Muskel gegeben ist.
Bevor es aber soweit kommt, macht sich dies, wie v. Bezold zeigte,
schon durch eine mehr oder Aveniger beträchtliche Verzögerung
im Eintritt der Muskelzuckung geltend, die um so grösser ist,
je stärker der polarisirende Strom war und je länger er geschlossen
blieb. Um den Antheil, welchen hierbei die polarisirte Strecke, die
beiden Pole, sowie die extrapolaren Nervenstrecken haben, näher fest-
zustellen, reizte v. Bezold zunächst den Muskel direct imd hierauf
568
Die elektrische Erregung der Nerven.
den Nerven an drei verschiedenen Stellen (a b c) seines Verlaufes durch
je einen einzelnen Inductionsschlag (Fig. 186); aus der beobachteten Ver-
schiedenheit der Latenzstadien Hess sich die Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der Erregung von a zum Muskel, von h zu a und von c zu &
berechnen ; wurde dann durch die Strecke (c) ein aufsteigender Ketten-
strom dauernd hindurch geleitet, in dessen Kreis zugleich die secundäre
Spirale eines Schlittenapparates eingeschaltet war, so musste sich bei
Wiederholung der genannten vier Zuckungen der eventuelle, verzögernde
Einfluss des extrapolaren Anelektrotonus auf die Geschwindigkeit der Er-
regungsleitung erkennen lassen. In der That zeigte sich dies ausnahms-
los bestätigt, und zwar war, abgesehen von dem schon erwähnten
Einfluss der Schliessungsdavier, der Werth dieser Verzögerung in jedem
einzelnen Nervenquerschnitte um so beträchtlicher, je näher sich der-
selbe am positiven Pole des polarisirenden Stromes befand. Wenn dieses
Resultat kaum überraschen konnte, indem es sich in vollster Ueber-
einstimmung mit dem
früher geschildertenVer-
halten der Erregbarkeit
an den einzelnen Punk-
ten der im Anelektro-
tonus belindlichen extra-
polaren Nervenstrecke
steht, so muss dagegen
die weitere Beobachtung
V. Bezold's auf den
ersten Blick sehr auf-
fallend erscheinen, der
zufolge ein ganz gleich-
artiges Verhalten der
Erregungsleitung auch
dann hervortritt, wenn
der polarisirende Strom
bei (c) absteigend ge-
richtet, die myopolare
Strecke des Nerven da-
her im Katelektrotonus
befindlich ist. Auf Grund
des Gegensatzes, welcher sich in allen übrigen Beziehungen zwischen
den anelektrotonischen und katelektrotonischen Veränderungen des
Nerven ausprägt, würde man von vorneherein eher das Gegentheil,
d. h. eine Beschleunigung der Leitung oder Avenigstens ein Gleich-
bleiben erwartet haben. Indessen wird die Thatsache minder be-
fremdlich, wenn man erwägt, dass v. Bezold sehr starke Ketten-
ströme verwendete und die Schliessungsdauer bis zu 13 Minuten aus-
dehnte. Unter diesen Umständen äussert sich aber auch der polar
beschränkte Katelektrotonus des Muskels durch eine starke Herab-
setzung der Erregbarkeit und wohl auch des Leitungsvermögens, die
dann auch die Oeffnung des polarisirenden Kreises noch lange über-
dauert (locale Ermüdung). In der That ist es Rutherford (24)
bei AnAvendung schwächerer polarisirender Ströme und kürzerer Ein-
wirkungsdauer derselben gelungen nachzuweisen, dass nur im An-
elektrotonus die Leitung verzögert, im Katelektrotonus dagegen be-
schleunigt ist; nur bei starken Strömen oder nach langer Einwirkung
Fig. 186. Einfluss der Elektrotonus auf die Erregung
leitung im Nerven. (Nach v. Bezold.)
Die elektrische Erregung der Nerven. 569
geht diese Beschleunigung in ihr Gegentheil über. Dass bei längerer
Schliessungsdauer stärkerer Ströme auch die anfangs gesteigerte Er-
regbarkeit der kathodisehen Nervenstellen einer sich allmählich
entwickelnden Unerregbarkeit weicht, welche bis zu völliger Undurch-
dringlichkeit derselben selbst für die Erregung mit stärksten In-
ductionsschlängen gehen kann, wurde schon von Hermann (25)
und Grünhagen (25) gezeigt, und später auch wieder von Werigo
(25) bestätigt. Dieser Zustand entwickelt sich wie beim Muskel um
so schneller, je stärker der polarisirende Strom ist und kann dann
intra- und extrapolar so rasch auftreten, dass es kaum möglich ist, die
vorhergehende Erregbarkeitssteigerung nachzuweisen. Bei schwachen
Strömen dauert es dagegen stundenlang, ehe diese secundäre Erreg-
barkeitsänderung hervortritt. Wird der polarisirende Strom in dem
Augenblick geöffnet, wo eben die Kathode undurchgängig geworden
ist, so kehrt fast in demselben Momente auch die Erregbarkeit (Leitungs-
fähigkeit) wieder, um bei neuerlicher Schliessung des Stromes sofort
wieder zu schwinden, v. Bezold versuchte es auch, sich über das
Leitungsvermögen innerhalb der intrapolaren Strecke selbst Aufschluss
zu verschaffen und gelangte zu der Annahme eines in seiner Lage
von der Stromstärke unabhängigen, die durchflossene Strecke halbiren-
den Indifferenzpunktes, von dem aus die Leitungsfähigkeit nach beiden
Polen hin gleichmässig abnimmt.
In nächster Beziehung zu den vorstehend besprochenen Ver-
änderungen der Erregbarkeit des Nerven im Zustande des Elektro-
tonus und insbesondere auch zu dessen unmittelbaren Nachwirkimgen
stehen eine Reihe von Erregungs- und Hemmungserscheinungen,
welche nun noch in Kürze erörtert werden müssen. Hinsichtlich der
Oeffnungserregung wurde schon früher bemerkt, dass sie als eine
Nachwirkung der Durchströmung im Sinne Ritter's, d. h. als eine
Reaction des Nerven gegen gewisse, durch den Strom
bewirkte Veränderungen aufzufassen ist. Ritter drückt sich
in dieser Beziehung sehr charakteristisch folgenderweise aus (Beiträge
zur näheren Kenntniss des Galvanismus, I. p. 78 ff. 1802): „Wir haben
die Phänomene bei der Trennung galvanischer Batterien einen Gegen-
stand von ganz eigenthümlicher Wichtigkeit genannt. Wir kommen
daran, dies zu rechtfertigen. Es geschieht in der einzigen Erwägung
des grossen Umstandes, dass sie eintreten im Augenblicke, wo der
organische Körper und seine Theile dem Einfluss der Batterie soeben
entzogen werden. Sie können also auf keine Weise eine directe
Wirkung der Batterie mehr sein, denn wie sollte doch diese der-
gleichen vermögen, da sie nicht mehr gegenwärtig ist? — Der in
ihrer Kette gewesene Organismus selbst muss sie geben,
und dass er sie giebt, kann blos darin liegen, dass er
eben in jener Kette war, denn ohne dies hätte er sie
nicht gegeben."
In der That dürfte es, wie Pflüger bemerkt, schwer sein, für
das eigentliche Wesen der Oeffnungserregung einen richtigeren und
treffenderen Ausdruck zu finden, und wenn in neuerer Zeit versucht
worden ist, dieser ursprünglichen Auffassung der Oeffnungserregung,
wonach dieselbe auf dem Verschwinden eines durch den Strom er-
zeugten eigenthümlichen Zustandes beruht, einen anderen Sinn unter-
zulegen, so kann man dem, wie noch zu zeigen sein wird, nur theil-
weise zustimmen.
Biedermann, Elektrophysiologie. 37
570 I^iö elektrische Erregung- der Nerven.
Mit Rücksicht auf die späteren Ermittelungen insbesondere
Pflüg er 's hat man dann den Sachverhalt gewöhnlich so ausgedrückt,
dass man sagte : So wie die Schliessungserregung durch das Entstehen
des Katelektrotonus (d. h. der Gesammtheit der an der Kathode durch
den Strom bewirkten Veränderungen der Nervensubstanz) bedingt
wird, so ist die Oeffnuugserregung die unmittelbare Folge des
Schwindens der anelektrotonischen Veränderungen. Die den Elektro-
tonus bezw. sein Schwinden begleitenden Erregbarkeitsänderungen ge-
statten nun aber, wie mir scheint, noch einen Schritt weiter zu gehen
in der Erklärung der betreffenden Phänomene. Man muss sich dabei
vor Allem erinnern, dass, wie dies mehrfach auch schon von anderer
Seite ausgesprochen Avorden ist, eine scharfe Grenze zwischen Er-
regbarkeitssteigerung und Erregung nicht wohl angenommen werden
kann. Eine über eine gCAvisse Grenze hinausgehende Erregbarkeits-
steigerung kann unmittelbar in Erregung übergehen, und umgekehrt
äussert sich eine schwache dauernde latente Erregung, die noch nicht
zu sichtbaren Folgewirkungen führt, nur durch eine gesteigerte An-
spruchsfähigkeit. Nun ist sowohl das Entstehen des Katelektrotonus
wie das Verschwinden des Anelektrotonus von einer immer leicht
nachweisbaren starken Erregbarkeitssteigerung begleitet, die an den
Polen selbst die grösste Intensität erreicht und hier in der That zur
Auslösung einer wirksamen Erregung führt, wenn sonst die Bedingungen
günstig sind. Nach dieser Auffassung stehen daher die nur eine Theil-
erscheinung des „Elektrotonus" ausmachenden Veränderungen der Er-
regbarkeit beim Nerven ebenso wie beim Muskel in einer ganz un-
mittelbaren Beziehung zu den die beiden Momente des Entstehens
und Verschwindens, der Schliessung und Oeffnung des Stromes
markirenden Erregungserscheinungen. Nicht um eine besondere
der Erregung zu Grunde liegende Veränderung der
lebendigen Substanz handelt es sich, welche ihrer
Natur nach verschieden wäre von den Veränderungen,
deren Ausdruck die Erregbarkeitssteigerung ist,
sondern Beides sind nur verschiedene Aeusserungen
einer und derselben Zustandsänderung, welche die er-
regbare Substanz unter dem Einfluss des elektrischen
Stromes im einen Falle an der Kathode, im andern an
der Anode erleidet.
Ein wie es scheint für alle irritablen Substanzen geltendes Gesetz
bezieht sich auf die Thatsache, dass nach länger andauernder oder
oft wiederholter Schliessung eines Kettenstromes bei unveränderter
Lage der Elektroden und unveränderter Richtung des Stromes der
Erfolg der Schliessungsreizung mehr und mehr abnimmt und schliess-
lich gänzlich ausbleibt. Es wurde schon beim Muskel darauf hin-
gewiesen, dass es sich hier nicht um eine sich allmählich entwickelnde
Unerregbarkeit der ganzen durchflossenen Sti'ecke handelt, sondern
vielmehr um eine locale Veränderung derjenigen Stelle (bezw.
Stellen), an welcher oder an welchen primär der Vorgang der Er-
regung, und zwar während der ganzen Schliessungsdauer des Stromes,
ausgelöst wird, d. h. nämlich an der physiologischen Kathode. Der
einfachste Beweis hiefür ist durch dem Umstand gegeben, dass der
Muskel bei Wendung des Stromes auf das Lebhafteste reagirt, in der
Regel sogar deutlich stärker als vordem. Ganz dasselbe gilt nun
auch für indirecte Muskelreizung vom Nerven aus. Schon Volta und
Die elektrische Erregung der Nerven. 571
nach ihm Marianini waren hier zu dem Resultate gekommen, dass
jede Stromesrichtung die Erregbarkeit für sich herab-
setzt, für die entgegengesetzte aber erhöht. „Denn leite
man einen Strom durch ein galvanisches Präparat so, dass der eine
Schenkel aufsteigend, der andere absteigend durchflössen ist, so ver-
lieren sich allmälilich um so mehr die Zuckungen in beiden Schenkeln,
je länger die Kette geschlossen war. Kehrt man aber dann den Strom
um, so erscheinen in beiden Schenkeln wiederum die lebhaftesten
Zusammenziehungen des Muskels." Wie schon früher erwähnt, be-
zeichnet man diese Erscheinungen demgemäss als „Volta'sche
Alternativen" oder „Abwechselungen". In neuerer Zeit hat
insbesondere Rosenthal (26) die einschlägigen Thatsachen zum
Gegenstande einer eingehenderen Untersuchung gemacht, deren wesent-
lichstes Resultat er in dem folgenden Satze zusammenfasst : „Jeder
Consta nte Strom, welcher eine Zeit lang einen moto-
rischen Nerven durchströmt, versetzt denselben in
einen Zustand, worin die Erregbarkeit für die Oeffnung
des einwirkenden und Schliessung des entgegengesetzten
Stromes erhöht, dagegen für die Schliessung des ersteren
und die Oeffnung des letzteren herabgesetzt ist." Schon
Ritter war es bekannt, dass der Oeffnungstetanus sofort verschwindet
und der Muskel augenblicklich erschlafft, wenn der auslösende Ketten-
strom in derselben Richtung wie vorher geschlossen wird, ganz ebenso
wie auch bei directer Muskelreizung die anodische Oeffnungsdauercon-
traction durch Schliessung des gleichgerichteten Stromes unterdrückt wird.
R 0 s e n t h a 1 fügte dem weiter hinzu, dass Schliessung des Stromes
in entgegengesetzter Richtung den Ritter'schen Tetanus nicht nur
nicht beseitigt, sondern sogar erheblich verstärkt, während
dann Oeffnung des Kreises so wirkt, wie Schliessung
des gleichgerichteten Stromes, d. h. den Tetanus auf-
hebt. Ein bereits erloschener Oefi'nungstetanus lässt sich durch
Schliessung eines entgegengesetzt gerichteten Stromes auch selbst dann
noch wieder hervorrufen, wenn Schliessung und schnelle Wiederöffnung
des gleichgerichteten Stromes dies nicht vermag. Hat man den nach
Oeffnung eines auf- oder absteigenden Stromes eingetretenen Tetanus
durch Schliessung des entgegengesetzt gerichteten verstärkt, und lässt
man nun diesen letzteren dauernd geschlossen, so verschwindet der
anfangs verstärkte Tetanus allmählich. Bleibt aber der Strom auch
nach dem Verschwinden noch länger geschlossen, so tritt endlich bei
der Oeffnung desselben wieder Tetanus ein, und das Präparat verhält
sich nun gegen diesen Strom wie vorher gegen den entgegengesetzten,
d. h. so, als ob dieser Strom ursprünglich auf den Nerven eingewirkt
hätte. Der neue Strom hat also dann die vom ursprünglichen erzeugte
Modification zunächst aufgehoben und fängt nun von vorne an, dieselbe
Modification in seinem Sinne zu erzeugen.
Alle diese Thatsachen erklären sich, wie man leicht sieht, un-
mittelbar aus den oben geschilderten polaren Erregbarkeitsänderungen,
beziehungsweise Erregungs- und Hemmungswirkungen am Nerven, ja
sie hätten sogar auf Grund derselben vorhergesagt werden können.
In diesem Sinne ist das Rosenthal'sche Gesetz nichts weiter als eine
Folgerung aus dem polaren Erregungsgesetze in der oben besprochenen
erweiterten Form, eine nothwendige Folge des gleichzeitigen Antago-
nismus der an beiden Polen durch den Strom erzeugten Veränderungen
37*
572 I^'ß elektrische Erregung der Nerven.
und des successiven Contrastes derselben an einem und demselben
Pole während der Schliessung und nach Oeffnung des Stromes. So
erscheint es fast selbstverständlich, dass Wiederschliessung des gleich-
gerichteten Stromes eine dauernde Oeffnungserregung sofort aufhebt,
da ja im gleichen Augenblick wieder Anelektrotonus an allen den
Stellen des Nerven herrscht, deren Erregbarkeit noch eben gesteigert
war. Umgekehrt muss natürlich Schliessung des entgegengesetzt
gerichteten Stromes wirken, wobei die Erregung in Folge des schwin-
denden Anelektrotonus durch den an gleicher Stelle entstehenden Kat-
elektrotonus unterstützt wird.
Bei der Bedeutung, welche die Anwendung des elektrischen
Stromes in der praktischen Heilkunde gCAvonnen hat, erschpinen die
zahlreichen Bestrebungen begreiflich, die elektrotonischen Erregbar-
keitsänderungen und das Zuckungsgesetz auch am lebenden Menschen
zu prüfen. Es ist jedoch von vorneherein ersichtlich, dass die
Schwierigkeiten der Untersuchung hier ganz unverhältnissmässig
grössere sind, indem die complicirten und zum Theil unübersehbaren
Verhältnisse der Stromverzweigung und -Leitung einen directen Ver-
gleich der Resultate mit den Erfahrungen bei Reizung frei präparirter
Nerven ausserordentlich erschweren und oft genug ganz unmöglich
machen. Unter allen Umständen erscheint aber bei Beurtheilung des
Werthes der am Menschen gewonnenen Erfahrungen die grösste Vor-
sicht geboten.
In der älteren Litteratur des Galvanismus findet sich betreffs
Erregbarkeitsänderungen menschlicher Nerven unter dem Ein-
fluss elektrischer Durchströmung nur eine oft citirte Angabe von
Ritter (1802). Tauchte er beide Hände in 2 Wassergefässe, welche
mit den Polen einer starken Batterie verbunden waren, so entstand
nach längerer Zeit — Ritter blieb V2 Stunde mit der Batterie in
Verbindung — in dem aufsteigenden durchströmten Arm eine merk-
liche Zunahme der Beweglickeit, in dem absteigenden durchflossenen
dagegen eine immer grösser werdende Abnahme derselben. Nach Oeff-
nung des Kreises dauerten diese Verändei'ungen noch eine kurze Zeit
an. Pflüg er erblickte in diesem Versuch eine vollkommene Be-
stätigung seiner am Froschpräparate gCAVonnenen Ergebnisse. Schliessen
wir eine Kette durch beide Arme, .,so Averden die Armnerven von
ungleich dichteren Strömen durchflössen, als das Armgeflecht oder
gar das Rückenmark mit seinen motorischen Wurzelnerven, weil hier
der Querschnitt der Strombahn so ausserordentlich gross ist, dass wir
im Allgemeinen die Stromdichte für verschwindend ansehen dürfen.
Aus diesem Grunde kann man den absteigend durchflossenen Arm
sich so vorstellen, als ob die positive Elektrode auf die Schulter, die
negative auf die Hand aufgesetzt sei. Für den aufsteigend durch-
flossenen findet demnach die umgekehrte Vertheilung statt." Da nun
Reize oberhalb eines absteigenden Stromes schAvächere Zuckungen
als normal auslösen, oberhalb eines aufsteigenden dagegen stärkere,
so scheint die Uebereinstimmung mit den Gesetzen des Elektrotonus
in der That eine vollständige zu sein, wenn man berücksichtigt, dass
hier „das Sensorium selber das Geschäft der Reizung einmal oberhalb
einer positiven Elektrode, dann oberhalb einer negativen übernimmt".
Erst viel später versuchte wieder Fick (27), elektrotonische Erreg-
barkeitsveränderungen am Menschen zu erzielen. Er wollte den
Ulnaris an der hinteren Seite des Condylus internus polarisiren, um
Die elektrische Erregung der Nerven. 573
den Anelektrotonus zu prüfen, aber es gelang nicht. „Bei einer fast
unerträglichen Stromstärke (lü— 14 Bunsen) war keine Spur von Läh-
mung in den vom Ulnaris abhängigen Muskeln wahrnehmbar." Fick
bezieht den Misserfolg auf die Unmöglichkeit, hinreichend starke
Ströme anzuwenden, was um so unwahrscheinlicher ist, als die elektro-
tonischen Erregbarkeitsänderungen sonst schon bei äusserst schwachen
Strömen hervortreten.
Es folgten Untersuchungen von Eulen bürg (27), Erb (27),
»Samt (27) und Anderen, welche zum Theil widersprechende Resul-
tate ergaben, anderentheils die Pflüger'schen Sätze bestätigten. Das
Letztere glaubte Eulenburg aus seinen Versuchen folgern zu dürfen,
indem er durchwegs im Bereich der Anode eine Abnahme, in dem
der Kathode eine Zunahme der Erregbarkeit fand. Erb dagegen be-
obachtete anfangs an seinem eigenen Nervus Ulnaris in der Nähe der
Kathode eine Abnahme, an der Anode eine Zunahme der Erregbar-
keit, was, wieHelmholtz später hervorhob und Erb bestätigt fand,
im Wesentlichen auf die durch die Leitungsverhältnisse im Arm be-
dingte Bildung secundärer Elektrodenstellen zurückzuführen ist.
Samt wieder gelangte in verschiedenen Fällen zu ganz widersprechen-
den Resultaten und führte diese scheinbare Inconstanz der Reaction
auf eine Inconstanz des Nerven
selbst zurück.
Für jeden Unbefcingenen
dürfte es ungeachtet der an-
gedeuteten Widersprüche von
vorneherein keinem Zweifel
unterliegen, dass, wenn es
möglich wäre , menschliche
motorische Nerven in derselben
einwandfreien Weise zu prüfen, Fig. 187. Schema der Stromvertheilimg bei
wie den Nerven eines Frosch- einem in situ befindlichen Nei-ven; kk virtuelle
schenkeis, sich auch im Wesent- ^'^^^«^*^"' "^ « ^'"'''f.ltnf' ^^^'^ ^ ' '" '
liehen dasselbe Verhalten der
Erregbarkeit unter dem Ein-
flüsse eines Kettenstromes lierausstellen würde, und dass am lebenden
Menschen oder am unversehrten Thier der eigentliche Thatbestand
nur dadurch verdeckt wird, weil die den Nerven umgebenden Gewebe-
massen und die Art der Elektrodenanlage so viele unberechenbare Com-
plicationen schaffen. In der That fand neuerdings auch A. de Watte-
ville(27) bei genauer Berücksichtigung aller möglichen P'ehlerquellen
eine vollkommene Uebereinstimmung der elektrotonischen Erregbarkeits-
änderungen am Nerven des lebenden Menschen mit jenen am Nerven
des Frosches, und zwar sowohl in Bezug auf die Wirkungen während
der Schliessungsdauer des modificirenden Kettenstromes, wie auch hin-
sichtlich der Nachwirkungen bei Oeffnung des Kreises.
Dieselben Erwägungen, welche soeben mit Bezug auf die Schwierig-
keiten und Fehlerquellen bei Untersuchung des Elektrotonus am lebenden
Menschen geltend gemacht wurden, kommen nicht minder auch bei allen
jenen Versuchen in Betracht, welche zum Nachweis des Zuckungsgesetzes
an unversehrten lebenden Thieren angestellt worden sind. Auch hier
herrscht eine ganz ähnliche Unsicherheit der Angaben verschiedener Au-
toren, die sich ebensosehr in der Verschiedenheit der Resultate wie in
der angewendeten Methodik ausprägt. Vor Allem scheint es unmöglich,
574 ^^® elektrische Erregung der Nerven.
von einer bestimmten Richtung des Stromes im Nerven zu sprechen^
solange sich derselbe noch in situ befindet, da, wie auch Hermann
hervorhebt, „der Strom sich dann nothwendig so verzweigt, dass er
beide scheinbar extra^jolare Strecken ebenfalls und zwar in einer der
intrapolaren entgegensetzen Richtung durchfliesst" (H. Handb. II. 1.
p. 62) (Fig. 187). Man hat daher vielfach auch hier zu der sogenannten
„unipolaren" (oder richtiger monopolaren) Reizmethode seine Zuflucht
genommen, deren Anwendung, wie früher gezeigt wurde, für die directe
Muskelreizung unter Umständen Vortheil gewährt, wo es nur darauf
ankommt, die localen sichtbaren Wirkungen des Stromes an Stelle
seiner grössten Dichte zu untersuchen. Für den Nerven muss es aber
als durchaus illusorisch bezeichnet werden, bei nur irgend erheblicher
Stromstärke die Wirkung des einen Poles sozusagen isolirt für
sich zur Geltung zu bringen. Zunächst ist klar, dass, wenn auch
nur der eine Pol möglichst begrenzt dem Nerven anliegt, während
der andere mit breiter Fläche eine entfernte (indifferente) Körperstelle
berührt, dadurch zwar erreicht wird, dass die Dichte des Stromes an
der physiologischen Anode und Kathode des Nerven ungleich ausfällt,
keineswegs aber, dass nur der eine Pol in Bezug auf seine physio-
logische Wirkung in Betracht kommen kann. Dies wird unter Um-
ständen bei schwächsten Strömen der Fall sein können, allein schon
bei geringer Steigerung der Stromesintensität wird dann auch jedesmal
die Wirkung des anderen Pols zur Geltung kommen müssen. Jeder
Nerv, der eine Anode hat, muss eben auch eine Kathode haben, auch
wenn nur eine Elektrode mit ihm in directer Verbindung steht, und
es kommt immer nur auf das Verhältniss der Dichte des Stromes an
beiden Polen an, ob die eine oder andere Wirkung überwiegt oder
allein hervortritt. Hiermit steht auch die Erfahrung in Ueberein-
stimmung , dass bei monopolarer Reizung eines motorischen Nerven
mit der Anode ganz ebenso wie mit der Kathode, nur vielleicht bei
etwas höherer Stromstärke, Schliessungszuckung (die „Anoden-
schliessungszuckung" der Pathologen) beobachtet wird. Wenn
unter den Pathologen vielfach- die Meinung verbreitet war (vergl.
z. B. Brenner 27), es seien die Resultate der monopolaren
Nervenr3izung in Bezug auf ihre theoretische Verwerthbarkeit un-
mittelbar den Ergebnissen der gewöhnlichen bipolaren Erregung an
die Seite zu stellen, und wenn diese Auffassung neuerdings auch
physiologischerseits getheilt wird (vergl. Jofe 28), so kann dies bei
aller Berechtigung, die monopolare Reizmethode in einzelnen Fällen
mit Vorsicht zu verwerthen, am allerwenigsten für das Studium der
elektrischen Nervenreizung zugegeben werden. Hier kommt man,
wie die erwähnte Untersuchung von Jofe zeigt, zu unzweifelhaft
falschen Schlussfolgerungen, denen gegenüber die durch zahllose
Thatsachen und Erfahrungen festbegründeten Fundamentalsätze der
Elektrophysiologie nach wie vor die Grundlage aller weiteren For-
schungen bilden werden. Ich darf daher hier auch alle jene Unter-
suchungen unberücksichtigt lassen, welche es sich zur Aufgabe
stellten, das Zuckungsgesetz am Menschen oder am unversehrten
Thier nachzuweisen, zumal irgendwelche neue Gesichtspunkte dabei
nicht gewonnen wurden.
Wie leicht ersichtlich ist, werden die dem Pflüger'schen Zuckungs-
gesetze zu Grunde liegenden Erscheinungen durch örtliche oder allge-
meine Veränderungen der Erregbarkeit des Nerven mehr oder weniger
Die elektrische Erregung der Nerven. 575
beeinflusst werden müssen , so class es nicht verwundern kann , wenn
unter gewissen Bedingungen scheinbare Ausnahmen von der Regel
sich geltend machen. Hier ist, abgesehen von der bekannten Neigung
der Präparate von „Kaltfröschen" zu tetanischer Dauererregung, welche
dieselben zur Demonstration des Zuckungsgesetzes fast ganz ungeeignet
erscheinen lässt, vor Allem des Einflusses zu gedenken, av eichen
die Nähe eines künstlichen Querschnittes nicht nur im
Allgemeinen auf die Erregbarkeit, sondern auch be-
sonders auf die Wirkungsweise von Kettenströmen
ausübt.
In ersterer Beziehung sei schon hier erwähnt, dass die erhöhte
Anspruchsfähigkeit des Querschnittendes eines markhaltigen Nerven
im Wesentlichen als eine Folge des Katelektrotonus aufzufassen ist,
welcher innerhalb einer gewissen Strecke vom Querschnitt aus durch
innere Nebenschliessung des Nervenstromes erzeugt wird, eine That-
sache, auf welche später noch näher einzugehen sein wird. Hier soll
zunächst nur von dem Einfluss des Querschnittes auf die
polaren Wirkungen des Stromes die Rede sein.
Legt man an das Querschnittende eines motorischen Frosch-
nerven unpolarisirbare Elektroden derart an, dass die untere, den
„Längsschnitt" berührende Elektrode der oberen, am Querschnitt ge-
legenen hinreichend genähert ist und so die intrapolare Strecke sehr
kurz wird, so erhält man selbst mit schwächsten Strömen immer nur
der dritten Stufe des Zuckungsgesetzes entsprechende Erfolge. Bei etwas
grösserem Abstände der peripher gelegenen Elektrode (intrapolare
Strecke = 1 — 2 cm) tritt dagegen als Reizerf9lg mit schwachen
Strömen in der Regel Schliessungszuckung bei aufsteigender,
Schliessungs- und Oeffnungszuckung bei absteigender Stromesrichtung
hervor. Hierher gehört offenbar auch der von H e i d e n h a i n (29)
angegebene Versuch', den Nerven zwischen den Elektroden zu durch-
schneiden und die Schnittenden wieder zu verkleben, wobei, wenn
der Schnitt hinreichend nahe an der myopolar gelegenen Elektrode
geführt wurde, nur die Wirkungen dieser letzteren übrig bleiben. Es
scheint, dass die Zone herabgesetzter Erregbarkeit in der Nähe der
Schnittfläche an Nerven warmblütiger Thiere beträchtlich grösser ist,
als an solchen von Kaltblütern. Wenigstens gelingen die in Rede
stehenden Versuche im ersteren Falle bei einer viel grösseren Distanz
der Elektroden, als im letzteren. Legt man den Nervus ischiadicus
eines Säugethieres oder Vogels in möglichst grosser Ausdehnung blos
und durchschneidet denselben, nachdem man sich vorher von der aus-
schliesslichen Wirksamkeit der Schliessung nicht zu starker, auf-
oder absteigender Ströme überzeugt hat, auf der dem Centrum näher
gelegenen Elektrode, so beobachtet man bei geringem Abstände der
Elektroden (etwa 1 cm) unter den gleichen Bedingungen wie früher
bei absteigender Stromesrichtung nur Schliessungszuckung , bei auf-
steigender nur Oeffnungszuckung. Aehnliche Erfolge lassen sich bei
Froschnerven durch Erwärmung des Schnittendes auf 40 — 60 ** C. oder
durch Gefrieren in einer Ausdehnung von etwa 1 cm erzielen. Durch
allmähliches Verschieben der Elektroden bei einer Spannweite von
1 — 2 cm findet man dann immer leicht die Lage derselben heraus,
bei welcher, von den schwächsten Strömen angefangen, bei aufsteigen-
der Stromesrichtung nur Oeffnungszuckung, bei absteigender nur
Schliessungszuckung ausgelöst wird. Es liegt hierin , wie man leicht
576 Die elektrische Erregung der Nerven.
sieht, ein neuer und sehr schlagender Beweis für die Richtigkeit des
polaren Erregungsgesetzes.
Wie früher gezeigt wurde, wirkt bei Durchströmung eines regel-
mässig parallelfaserigen Muskels die Schliessung oder Oeffnung eines
Stromes nur dann in normaler Weise erregend, wenn die wirksame
Elektrode an dem unversehrten Muskelende sich befindet. Die Er-
klärung, welche ich von dieser Erscheinung gegeben habe, legt bei
der weitgehenden Uebereinstimmung in dem Verhalten von Muskeln
und Nerven gegen den elektrischen Strom die Vermuthung nahe,
dass analoge Erscheinungen auch an partiell verletzten Nerven hervor-
treten würden. Wie jedoch die vorstehend erwähnten Thatsachen
zeigen, genügt es nicht, die eine Elektrode an den Querschnitt eines
sonst frischen Nerven zu legen, während die andere beliebige Punkte
der Längsoberfläche berührt, sondern es muss, um einen der dritten Stufe
des Pflüger'schen Gesetzes entsprechenden Erfolg zu erzielen, vom
Querschnitt aus eine beträchtliche Strecke des Nerven
unter möglichster Erhaltung der feineren histologischen Structur ab-
getödtet Averden. Es hat dies, wie später noch ausführlich zu erörtern
sein wird, seinen Grund in dem Umstände, dass beim markhaltigen
Nerven in Folge einer eigenartigen Ausbreitung des Reizstromes so-
wohl zu beiden Seiten der Kathode, wie auch beiderseits von der
Anode zahlreiche Aus- bezw. Eintrittsstellen von Stromfäden vor-
handen sind, so dass sich die „physiologische Kathode" resp. Anode
über einen nach der jeweiligen Stärke des Stromes verschieden grossen
Abschnitt des Nerven erstreckt. Es zerfällt daher nicht nur die intra-
polare Nervenstrecke in 2 je nach der Länge derselben und der Stärke
des Stromes verschieden grosse Abschnitte, welche man als den katho-
dischen und anodischen bezeichnen kann, sondern jeder derselben uni-
fasst auch noch einen grösseren oder kleineren Theil der extrapolaren
Nervenstrecken. Beide Abschnitte, in deren einem (dem kathodischen)
bei der Schliessung, in dem andern bei der Oeffnung des Stromes
gleichzeitig an vielen Stellen der EiTegungsvorgang ausgelöst wird,
sind durch einen Punkt von einander getrennt, den man als „In-
di fferenzpunkt" bezeichnet hat.
Tödtet man den Nerven in möglichst beschränkter Ausdehnung
und ohne wesentliche Aenderung der Structur an der Stelle ab, welche
dem Berührungspunkte der vom Muskel entfernteren Elektrode ent-
spricht, so hat man dadurch allerdings den extra polaren Antheil
des nach der jeweiligen Stromesrichtung kathodischen oder anodischen
Abschnittes ausgeschaltet; allein die erregende Wirkung des intra-
polaren Antheiles ist durch den genannten Eingriff keineswegs be-
seitigt, solange nicht auch die Erregbarkeit jener Stellen beträchtlich
herabgesetzt ist, welche dem erwähnten Indiflferenzpunkt zunächst ge-
legen sind. Denn nur diese spielen selbstverständlich in dem hier vor-
ausgesetzten Falle mit Rücksicht auf das Zustandekommen oder
Fehlen der von der oberen Elektrode ausgehenden Erregung dieselbe
Rolle, wie die Faserenden des durchströmten und an einem Ende ver-
letzten, parallelfaserigen Muskels (Biedermann 30).
Auch gewisse chemische Substanzen lassen sich zur partiellen Ab-
tödtung markhaltiger Nerven gut verwenden, und schon Harless (30)
theilte gelegentlich seiner Untersuchungen über die Wirkungen des
Ammoniak auf die Nervenstämme Versuche mit, deren Ergebnisse mit
den eben erwähnten Resultaten der localen Abtödtung eines Nerven
Die elektrische Erreg-ung der Nerven. 577
im Wesentlichen übereinstimmen. Bekanntlich zeichnet sich das
Ammoniak dadurch aus, dass es, in concentrirter Lösung angewendet,
ausserordentlich rasch die Lebenseigenschaften des Nerven am Orte
der Einwirkung zerstört, ohne denselben zu erregen und (wenigstens
in der ersten Zeit) die Structurverhältnisse wesentlich zu alteriren.
Man ist daher in den Stand gesetzt, durch Auftragen von Ammoniak
mittels eines kleinen Pinsels, wie dies Harless that, auf Stellen der
intrapolaren Strecke den kathodischen , beziehungsweise auodischen
Abschnitt eines durchströmten Nerven, d. i. die Gesammtheit aller jener
Punkte, welche bei einer gegebenen Stromstärke und Elektrodenstellung
als Aus-, beziehungsweise Eintrittsstellen des Stromes betrachtet werden
müssen, functionell abzutrennen, die intrapolare Strecke sozusagen
ohne Veränderung der Structur im Indifferenzpunkte zu durchschneiden,
so dass im betreifenden Falle immer nur jene Reizwirkung zur Geltung
kommen kann, welche der nach der Peripherie hin gelegenen Elek-
trode entspricht, also Schliessungserregung bei absteigender, Oeffnungs-
erregung bei aufsteigender Stromesrichtung. Da sich die Wirkung des
Ammoniaks (und in geringerem Grade auch die jeder anderen chemischen
Substanz in gelöstem Zustande) auch bei möglichst vorsichtiger localer
Application mit der Zeit über jene Stelle hinaus erstreckt, welche ur-
sprünglich mit demselben in Berührung gekommen war, jedoch um so
schwächer wird, je Aveiter man sich von dem Orte der directen Ein-
wirkung entfernt, so ist klar, dass nach dem Auftragen von Ammoniak
im Bereich der central gelegenen Elektrode die Abstufung der Erreg-
barkeit in auf einander folgenden Querschnitten der Nerven eine sehr
allmähliche sein wird. Es ist in Folge dessen auch gar nicht nöthig,
das Ammoniak auf die intrapolare Strecke selbst aufzutragen, vielmehr
genügt es, insbesondere bei nicht zu grosser Distanz der Elektroden,
diejenige Stelle der Nerven mit Ammoniak zu benetzen, welche der
centralen Elektrode aufliegt oder, wenn die Reizung in der Continuität
des Nerven erfolgt, gar sghon jenseits derselben innerhalb der „centro-
polaren" Strecke sich befindet. Wenn die fortschreitende Ammoniak-
wirkung bereits in das Bereich der unteren wirksamen Elektrode
vorgedrungen sein sollte, so erscheint es natürlich nöthig, mit den in
gleichem Abstand erhaltenen Elektroden etwas weiter am Nerven
herabzurücken. Befinden sich aber die Elektroden in richtiger Stellung,
so dass die Stromvertheilung den oben erörterten Bedingungen ent-
sprechend sich gestaltet, so besteht der Reizerfolg ausnahmslos in dem
alleinigen Auftreten der Schliessungszuckung bei absteigender Stromes-
richtung. Hinsichtlich der Wirkung aufsteigender schwacher Ströme
macht sich ein Unterschied bemerkbar gegenüber den früher be-
sprochenen Fällen partieller Abtödtung des Nerven, Denn während
dort stets schon bei sehr schwachen aufsteigenden Strömen und bei
einer Elektrodenstellung, bei welcher dieselben Ströme absteigend ge-
richtet nur Schliessungszuckung auslösen, deutliche, den letzteren an
Grösse kaum nachstehende Oeffnungszuckungen beobachtet werden,
fehlen dieselben nach örtlicher Aramoniakwirkung entweder ganz oder
treten nur spurweise im Beginn der Einwirkung oder bei beträchtlicher
Verstärkung des Stromes hervor.
Als Pflüger im Jahre 1859 sein Zuckungsgesetz aufstellte, schien
es kaum zweifelhaft, dass das Wirksamwerden des Oeffnungsreizes am
motorischen Nerven in erster Reihe von der jeweiligen Stromstärke
abhänge. Diese Ansicht wurde, wie es scheint, auch von der Mehrzahl
578 ^i® elektrische Erregung der Nerven.
der späteren Arbeiter auf diesem Gebiete angenommen. Als zweiten,
hier in Betracht kommenden Factor hatten jedoch, wie erwähnt, bereits
Ritter und später Nobili verschiedene „Erregbarkeitszustände" des
Nerven kennen gelehrt. Rosenthal und v. Bezold (32) haben
sodann in neuerer Zeit ein mit dem Pflüger 'sehen Zuckungsgesetz
völlig übereinstimmendes Zuckungsgesetz des absterbenden Nerven
aufgestellt, dem zufolge bei unveränderter (geringer) Stromstärke an
derselben Nervenstelle in drei aufeinanderfolgenden Stadien des Ab-
sterbens dieselben Avechselnden Reizerfolge beobachtet werden, Avelche
dem Pflüger ' sehen Gesetze entsprechend am frischen Nerven bei
schwachen, mittelstarken und starken Strömen auftreten. Die Erklärung
dieser Erscheinung schien sich unter Berücksichtigung der von Pflüg er
aufgestellten theoretischen Gesichtspunkte einfach aus dem Verlauf der
Erregbarkeitsveränderungen zu ergeben, welche den herrschenden An-
schauungen zufolge die einzelnen Nervenstellen, und zwar früher die
central gelegenen als die peripheren , im Verlauf des Absterbens er-
leiden sollen.
Pflüger hatte sein Gesetz zunächst abgeleitet aus Untersuchungen,
welche ausschliesslich an dem vom übrigen Organismus losgetrennten
Nerv-Muskelpräparate des Frosches angestellt worden waren, dessen
Erregbarkeitsverhältnisse als vom normalen Verhalten nicht wesentlich
verschieden betrachtet werden durften. Für dieses Präparat behielt
denn auch in der Folge das Pflüg er 'sehe Gesetz ziemlich unbestritten
Geltung.
Allein es fehlte nicht an Stimmen, welche die Giltigkeit des-
selben wenigstens in dem Falle bestritten, wo der gereizte Nerv mit
den Centralorganen des lebenden Thieres noch in Zusammenhang steht.
Bernard, Schiff und Valentin (33) haben übereinstimmend
hervorgehoben, dass man bei elektrischer Reizung undurchschnittener
Nerven „eine Muskelverkürzung nur bei dem Schluss, nicht aber bei
der OefFnung der Kette erzeugt, der Strom sei wie er wolle gerichtet",
vorausgesetzt, dass er nicht übermässig stark ist. Der letzterwähnte
Forscher, welcher dieses Verhalten als dem eigentlichen „Zuckungs-
gesetz des kräftigen und unveränderten, lebenden Nerven" entsprechend
bezeichnet, hatte seine diesbezüglichen Versuche allerdings unter Be-
dingungen angestellt, welche eine völlig klare Uebersicht der Strom-
vertheilung nicht gestatteten, indem er die (metallischen) Elektroden
in den Oberschenkel des unversehrten Thieres einführte. Indessen
verliert dieser Umstand um so mehr an Bedeutung, als bereit:, Bernard
und Schiff auch bei Reizung des blosgelegten, mit dem Centralorgan
in Zusammenhang stehenden Nerven von Wirbelthieren aus ver-
schiedenen Klassen zu analogen Resultaten gelangt waren. Es scheint,
dass Bernard sich schon der Ansicht zuneigte, die nervösen Centren
übten auf die abgehenden Nervenstämme einen eigenartigen Einfluss
aus, vermöge dessen ihre normale Erregbarkeit erhalten bleibt, die
sie befähigt, nur bei dem Entstehen (nicht allzu starker) Ströme in
Erregung zu gerathen. In diesem Sinne glaube ich wenigstens die
nachstehende Bemerkung Bernard's auffassen zu dürfen: „Le nerf
moteur tire ainsi ses proprietes de la moelle. II les perd a l'air; mais
il peut les reprendre, pourvu qu'il communique encore avec le centre
nerveux." Das Experiment, welches als Beweis hiefür dienen soll,
dürfte gegenwärtig eine solche Schlussfolgerung kaum mehr recht-
fertigen. Es besteht einfach darin, dass ein nur zum Theil freigelegter
Die elektrische Erregung der Nerven. 579
Ischiadicus vom Frosch seine normale Erregbarkeit wieder gewinnt,
wenn man die betreffende Stelle befeuchtet, nachdem sie vorher durch
Austrocknen verändert worden war.
Die Ansicht, dass das Fehlen der Oeffnungszuckung bei Reizung
undurchschnittener Nerven mit selbst starken Strömen durch einen
von dem Centralorgan ausgehenden, hemmenden Einfluss bedingt
werde, hat ihren bestimmtesten Ausdruck in einer neueren Arbeit von
Th. Rumpf (33) gefunden. Die Versuche sind zumeist an demselben
Präparate angestellt, dessen sich bereits Bern ard bedient hatte. Der
N. ischiadicus bildete die einzige Verbindung zwischen dem einen
Unterschenkel und dem sonst unversehrten Frosche. Aus dem Um-
stände nun, dass hier „an dem mit dem Centralorgan verbundenen
Nerven die Oeffnungszuckung des aufsteigenden Stromes bedeutend
später (d. i. erst bei stärkeren Strömen) auftritt, als an dem vom
Centralorgan getrennten", eine Thatsache, welche noch deutlicher
hervortreten soll, wenn das Rückenmark durch äusserliche Application
einer Kältemischung abgekühlt wurde, schliesst Rumpf, dass „indem
mit dem Centralorgan verbundenen motorischen Nerven ständige Ein-
wirkungen sich geltend machen, die sich durch Veränderung der elek-
trischen Erregbarkeit ausdrücken und in dem vom Centralorgan ge-
trennten Nerven jedenfalls nicht nachweisbar sind, „da in diesem Falle
die Oeffnungszuckung entweder fast gleichzeitig oder kurz nach der
Schliessungszuckung auftrat". Die letztere sollte aber durch die Durch-
schneidung „nicht modificirt" werden.
Hermann (84) weist endlich auf die Möglichkeit hin, „dass die
Oeffnungserregung, welche auf dem Schwinden einer Veränderung des
Nerven beruht, durch eine gewisse Resistenz des Nerven gegen tiefere
Einwirkungen des Stromes (auf einer ersten Stufe der Erregbarkeit)
beeinträchtigt wird".
Es ist bemerkenswerth, dass auch für den vom Centrum getrennten
Nerven die Angaben verschiedener Forscher bezüglich des ersten Auf-
tretens der Oeffnungserregung bei Reizung mit schAvachen Strömen,
also auf der ersten Stufe des P f lüg er ' sehen Zuckungsgesetzes,
durchaus nicht übereinstimmend lauten. Pflüger selbst giebt als
Regel an, dass Schliessungszuckung bei beiden Stromesrichtungen der
erste Erfolg der Reizung sei, und hiermit belinden sich die Beobachtungen
von Bernard, Schiff, v. Bezold und Rosenthal in Ueberein-
stimmung. Dagegen fand Heidenhain (18) in der Mehrzahl der
Fälle Schliessungszuckung bei aufsteigender und Oeffnungszuckung
bei absteigender Stromesrichtung als ersten Erfolg der Reizung mit
schwächsten Strömen. Bisweilen jedoch beobachtete er ebenfalls nur
Schliessungszuckung bei beiden Stromesrichtungen. Aehnliche Angaben
liegen vor von Wundt (35).
Die durchaus gesetzmässigen Reizerfolge, welche man bei einer
bestimmten Lagerung und Distanz der Elektroden an durchschnittenen
oder partiell abgetödteten Nerven wahrnimmt, lassen schon vermuthen,
dass die erwähnten Differenzen sich vielleicht durch Verschiedenheiten
der Lage der Elektroden an einem vom Centrum getrennten Nerven
erklären lassen.
Wie schon früher bemerkt wurde, beobachtet man bei Reizung
des Schnittendes eines frisch präparirten Nerven, wenn die eine Elek-
trode an dem Querschnitt selbst oder eine demselben sehr nahe liegende
Stelle des Nerven angelegt wurde, zunächst bei Schliessung der
580 I^ie elektrische Erregung der Nerven.
schwächsten absteigenden Ströme eine Zuckung des Muskels. Bei
geringer Verstärkung des Stromes gesellt sich dazu Schliessungszuckung
bei aufsteigender und gleichzeitig auch Oeffnungszuckung bei absteigender
Stromesrichtung. Beide sind meist ziemlich gleich stark und schwächer
als die absteigende Schliessungszuckung bei gleicher Stromstärke, Die
aufsteigende Oeffnungszuckung tritt in diesem Falle erst bei sehr viel
stärkeren Strömen hervor. Wesentlich verschieden gestalten sich unter
sonst gleichen Verhältnissen die Reizerfolge bei schwachen und selbst
mittelstarken Strömen, wenn man beide Elektroden an einem nur
wenig tiefer gelegenen Abschnitt desselben Nerven anlegt. Dann
sieht man ausnahmslos nur Schliessungszuckung bei
beiden Stromesrichtungen erfolgen, worauf bereits Rosenthal
und B e z 0 1 d aufmerksam machten.
Man kann mit den Elektroden bis in die unmittelbare Nähe des
Muskels herabrücken oder auch mittlere Nervenparthien reizen , so-
lange sich die centralwärts gelegene Reizstelle nur in genügender Ent-
fernung (etwa 1 cm) von dem Querschnitt befindet, erleidet das er-
wähnte Verhalten keine oder nur in dem Sinne eine Aenderung, dass
die an verschiedenen Stellen des Nerven bei gleichbleibendem Abstand
der Elektroden und gleicher Stromstärke ausgelösten Schliessungs-
zuckungen verschieden gross ausfallen, entsprechend dem Umstände,
dass die Erregbarkeit eines durchschnittenen Nerven nicht nur im
Allgemeinen in der Nähe des Schnittes grösser ist, als nach der Peri-
pherie hin, sondern dass bisweilen auch gewisse bevorzugte Punkte in
der Continuität vorhanden sind, die durch eine höhere Erregbarkeit
sich auszeichnen.
Wenn sich bei absteigender Stromesrichtung die centralwärts ge-
legene Elektrode in unmittelbarer Nähe des Querschnittes befindet, so
beobachtet man bei beliebigem Abstände der andern Elektrode aus-
nahmslos neben der Schliessungszuckung auch Oeffnungszuckung, und
zwar bei sehr geringer, die Grenze der Wirksamkeit nur wenig über-
steigender Intensität des Reizstromes ; bei aufsteigender Stromesrichtung
dagegen muss man die peripher gelegene Elektrode der am Querschnitt
befindlichen Kathode bis auf wenige Millimeter nähern, um ausser dem
Schliessungsreiz auch den Oeffnungsreiz wirksam zu finden. Die
Schliessungszuckung ist dann bei geringer Intensität des Stromes meist
sehr klein und fehlt oft ganz ; dasselbe gilt nach Wendung des Stromes
und der Oeffnungszuckung.
Die Abhängigkeit der Oeffnungserregung von der
Nähe des Querschnittes eines Nerven an der Anode tritt
besonders deutlich hervor , wenn man, wie H e i d e n h a i n (29) zuerst
zeigte, die Elektroden irgendwo in der Continuität eines Nerven anlegt
und die „centropolare" Strecke durch Abschneiden so weit verkürzt,
bis man mit dem Querschnitt in unmittelbare Nähe der oberen Elektrode
gelangt ist. Man sieht dann ebenfalls die Oeffnungszuckung zunächst
nur bei absteigender Stromesrichtung auftreten, und erst bei Verkürzung
der intrapolaren Strecke, sei es, dass man die untere Elektrode der
oberen sehr nahe bringt oder, wie bereits früher erwähnt wurde, den
Querschnitt innerhalb der intrapolaren Strecke selbst anlegt und die
Schnittenden des Nerven wieder aneinanderlegt, erscheint die Oeffnungs-
zuckung auch bei aufsteigender Stromesrichtung, während zugleich die
Schliessungszuckung kleiner wird oder fehlt.
Die elektrische Erregung der Nerven. 581
Die nächstliegende Deutung des Wirksarawerdens selbst sehr
schwacher OeflFnungsreize in nächster Nähe des Querschnittes eines
Nerven scheint sich auf den ersten Blick aus dem Umstände zu er-
geben, dass den bekannten Beobachtungen Heidenhain's (29) zufolge
durch Anlegen eines Querschnittes sowohl an frischen Nerven wie
auch an solchen , deren Erregbarkeit bereits im Sinken begriffen ist,
die Anspruchsfähigkeit jeder nicht zu Aveit entfernten .Stelle für den
elektrischen Reiz sehr bedeutend gesteigert wird. Es geht dies ohne
Weiteres daraus hervor, dass sowohl aufsteigende wie absteigende
Ströme, welche nur minimale Reizeffecte bei der Schliessung hervor-
bringen, wenn sie durch unpolarisirbare Elektroden unteren Nerven-
parthien zugeführt werden, fast maximale Schliessungszuckungen aus-
lösen, wenn man den Nerven in nicht zu grosser Entfernung von der
centralwärts gelegenen Elektrode durchschneidet. In demselben Sinne
scheint aber auch auf den ersten Blick das Auftreten der Oeffnungs-
zuckung gedeutet werden zu müssen, indem dieselbe bei geringer
Intensität des Heizstromes nur dann beobachtet wird, Avenn die Anode
in das Bereich der durch den Querschnitt offenbar am stärksten beein-
flussten Nervenstrecke fällt.
So sicher nun aber auch die Thatsache steht, dass die Oeffnungs-
erregung schon bei sehr geringer Intensität des Stromes wirksam wird,
wenn die Anode in nächster Nähe des an einem Nerven angelegten
(mechanischen , chemischen oder thermischen) Querschnittes sich be-
findet, so wenig dürfte die vorerwähnte, bisher wohl allgemein an-
genommene Deutung dieser Thatsache genügen. Ich will davon ab-
sehen, dass, wie ich mich oft überzeugt habe, die Oeffnungszuckung
gerade an solchen Nerv-Muskelpräparaten, welche frisch aus einem
kalten Raum in das Arbeitszimmer gebrachten Thieren entnommen
werden, und deren Erregbarkeit eine sehr hohe ist, erst bei verhältniss-
mässig starken Strömen deutlich hervortritt, während umgekehrt an
Präparaten minder erregbarer Frösche bisweilen, wenn auch nur selten,
bei geringen Stromstärken Oeffnungserregung erfolgt, ohne dass ein
Querschnitt angelegt worden wäre, denn der im ersteren Falle regel-
mässig eintretende Schliessungstetanus verhindert das Erkennen
schwächerer Oeffnungswirkungen , die sich dann nur durch eine Ver-
zögerung der Wiederverlängerung des Muskels verrathen konnten.
Entscheidend scheint mir jedoch gegen die ausschliessliche Be-
deutung der Erregbarkeitserhöhung für das Hervortreten der Oeffnungs-
zuckung die Thatsache zu sprechen, dass die Durchschneidung eines
Nerven in der Nähe der Anode selbst dann das sofortige Auftreten
der Oeffnungszuckung zur Folge hat, wenn die Erregbarkeit desselben
im Verlaufe des Versuches durch irgendwelche Einflüsse sehr be-
trächtlich gesunken ist, so dass dieselbe, soweit sich dies nach der
Höhe der dann ausgelösten Schliessungszuckungen beurtheilen lässt,
auch in der Nähe eines frisch angelegten Querschnittes bei Weitem
nicht so gross gefunden wird, als sie der betreffenden Stelle vorher
am unversehrten Nerven zukam. Nichtsdestoweniger fehlt bei gleicher
Stromstärke die Oeffnungszuckung im Beginn des Versuches vollständig,
während sie unmittelbar nach Anlegung des Querschnittes ungeachtet
der absolut geringeren Erregbarkeit vorhanden ist.
Sehr instructiv sind in dieser Beziehung besonders Reizversuche
an Nerven, welche Präparaten angehören, die mehrere Stunden in
einer feuchten Kammer bei Zimmertemperatur aufbewahrt Avurden,
582 I^i^ elektrische Erregung- der Nei-ven.
und deren Erregbarkeit in Folge dessen bedeutend herabgesetzt er-
scheint. Unmittelbar nach der Durchschneidung eines solchen Nerven
in nächster Nähe der vom Muskel entfernteren Elektrode löst ein ab-
steigend gerichteter schwacher Strom nebst der in ihren Grössenver-
hältnissen durch den Schnitt nicht wesentlich veränderten Schliessungs-
zuckung auch OefFnungszuckung aus. Die aufsteigende Schliessungs-
zuckung erscheint dann zwar in der Regel etwas grösser als vorher,
erreicht jedoch bei Weitem nicht ihre ursprüngliche Höhe. Es scheint
also , dass in der Nähe einer Schnittstelle noch andere Momente ins
Spiel kommen, welche unabhängig von der Erregbarkeitssteigerung
das Hervortreten der Oeifnungszuckung begünstigen.
Es drängt sich hier die Frage auf, ob überhaupt die Oeffnungs-
erregung des Nerven von dem jeweiligen Erregbarkeitszustande des-
selben in ähnlicher Weise abhängig ist, wie dies von der Schliessungs-
erregung als bewiesen gelten darf, ob es mit andern Worten möglich
ist, bei Anwendung schwacher Ströme durch künstliche Steigerung
der Anspruchsfähigkeit für Schliessungsreize OefFnungszuckungen aus-
zulösen,
Es könnte scheinen, als sei diese Frage bereits entschieden durch
die mehrfach erwähnten Versuche von Rosen thal und v. Bezold
(32), indem den Erfahrungen dieser Forscher zufolge die Oeffnungs-
zuckung wegen der im Verlauf des spontanen Absterbens des Nerven
angeblich eintretenden Erregbarkeitserhöhung schon bei Reizung mit
schwachen Strömen auftreten soll. Indessen scheint dies nur unter
gewissen, unten genauer zu erörternden Bedingungen der Fall zu sein.
Wenigstens gelang es mir bei Wiederholung der diesbezüglichen Ver-
suche nicht, mich von der regelmässigen Aufeinanderfolge der drei
Stadien des sogenannten Zuckungsgesetzes absterbender Nerven bei
Reizung einer und derselben Stelle mit gleichbleibenden, schwachen
Strömen zu überzeugen , sobald das Präparat durch Einschliessen in
einer feuchten Kammer auf das Sorgsamste vor Schädlichkeiten und
insbesondere vor Verdunstung geschützt war. Ich habe bereits oben
bemerkt, dass unter diesen Umständen auch das von R o s e n t h a 1 be-
schriebene primäre Stadium der Erregbarkeitserhöhung am absterbenden
Nerven nicht nachweisbar ist, vielmehr ein ganz allmähliches
Absinken d e r E r r e g b a r k e i t a 1 s R e g e 1 betrachtet werden
darf. Hierbei ist bemerkensAverth , dass bei unveränderter Lage der
Elektroden zunächst immer die Schliessung des aufsteigend gerichteten
Stromes unwirksam wird, so dass in einem gewissen Stadium des Ab-
sterbens die absteigende Schliessungzuckung den einzigen Reizerfolg
schwacher Ströme darstellt. Diese Thatsache würde als mit dem
sogenannten Ritter -Valli' sehen Gesetze in Uebereinstimmung
stehend zu betrachten sein, demzufolge die Erregbarkeit dem Centrum
näher gelegener Nervenstellen früher erlöschen soll, als die peripher
gelegener Punkte, Es scheint jedoch, dass es sich, wie schon erwähnt,
bei jenen Thatsachen, welche zur Aufstellung des erwähnten Gesetzes
führten, nicht sowohl um eine ungleiche Abnahme der Erregbarkeit
verschiedener Nervenstellen handelt, sondern vielmehr um eine Be-
einträchtigung des Leitungs Vermögens,
Dagegen ist es eine längst bekannte und leicht zu bestätigende
Thatsache . dass die Anspruchsfähigkeit eines Nerven für schwache
elektrische Reize durch Wasserverlust ausserordentlich gesteigert wird,
und zwar, wie besonders Harless undBirkner (36) gezeigt haben,
Die elektrische Erregung der Nerven. 583
schon zu einer Zeit, wo die den sogenannten Vertrocknungstetanus
einleitenden spontanen Zuckungen noch vollständig fehlen. Grün-
hagen und Mommsen (36) wiesen in neuerer Zeit ebenfalls darauf
hin, dass „ein Nerv gegen die Wirkung des galvanischen Stromes um
so empfindlicher wird, je mehr er vertrocknet, namentlich wenn die
bekannten spontanen Zuckungen eintreten". Es war daher von Interesse,
zu untersuchen, ob in diesem Falle die OefFnung eines Kettenstromes
von geringer Intensität als zureichender Reiz Avirkt. In der That liegt
bereits von Harless die Angabe vor, dass nach partiellem Wasser-
verlust eines Nerven schwache, sowohl auf- wie absteigende Ströme
Oeffnungserregung auslösen, und nichts ist leichter, als sich von der
Richtigkeit dieser Thatsache durch den einfachen Versuch zu über-
zeugen, einen über unpolarisirbare Elektroden gebrückten Froschnerven
bei nicht zu hoher Zimmertemperatur der allmählichen Verdunstung
auszusetzen und von Zeit zu Zeit in nicht zu grossen Zwischenräumen
mit auf- oder absteigenden Strömen zu reizen. Es ist zweckmässig,
sich bei diesen Versuchen eines Nerv-Muskelpräparates zu bedienen,
das mit dem Rückenmark noch in Zusammenhang steht*), um den
Einfluss des Querschnittes vollkommen auszuschliessen , obschon man
ganz dieselben Resultate auch bei Reizung peripherer Strecken durch-
schnittener Nerven erhält. Uebrigens kann man im letzteren Falle
nach M 0 m m s e n ' s Vorgang- die Präparate mit durchschnittenen Nerven
vor dem Gebrauche einige Stunden in 0.6 "/o NaCl-Lösung „ausruhen"
lassen, wobei die durch den Querschnitt verursachten Erregbarkeits-
änderungen sich so ziemlich ausgleichen.
Die erste Wirkung der beginnenden Vertrocknung macht sich bei
graphischer Verzeichnung der Muskelcontractionen dadurch bemerkbar,
dass die Höhe der ausgelösten Schliessungszuckungen mehr oder
weniger beträchtlich zunimmt. In einem späteren Stadium kommt es
dann bekanntlich bei Schliessung selbst schwacher Ströme zu tetanischer
Verkürzung des Muskels. Alsbald tritt aber neben der
Schliessungszuckung auch die Oeffnungszuckung hervor.
Bei welcher Stromesrichtung dies zuerst geschieht, hängt nicht sowohl
von dieser ab, als vielmehr davon, an welcher Stelle der in das Bereich
der beiden Elektroden fallenden Nervenstrecke sich der Einfluss des
Wasserverlustes früher und in höherem Maasse geltend macht. Hat
man an einen undurchschnittenen Nerven die Elektroden derart an-
gelegt, dass der Plexus sacralis zum grössten Theil in das Bereich
der oberen Elektrode fällt, so sieht man fast regelmässig wegen
der langsameren Vertrocknung dieses dicksten Nervenabschnittes die
Oeffnungszuckung zuerst bei aufsteigender Stromesrichtung hervor-
treten, während bei Lagerung der Elektroden etwa in der Mitte des
Nerven bei beiden Stromesrichtungen meist annähernd gleichzeitig
neben der verstärkten Schliessungszuckung auch Oeffnungszuckung
erfolgt, wenn nicht etwa absichtlich die eine oder andere Nervenstrecke
durch öfteres Benetzen mit 0.6*^/o NaCl-Lösung vor Wasserverlust
geschützt wird.
Wenn man sich auf Reizung mit schwachen Strömen beschränkt
und jedesmal nur so lange geschlossen lässt, als zur Auslösung deut-
*) Wenn im Folgenden von einem mit dem Centrum noch zusammenhängenden
Nerven die Eede ist, so ist dabei immer ein Präparat gemeint, das, einem chloralisirten
Frosch entnommen, aus der isolirten Wirbelsäule nach Abtrennung des Schädels, dem
N. ischiadicus der einen Seite und dem zugehörigen M. gastrocnemius besteht.
584 Die elektrische Erregung: der Nerven.
lieber Oeffnungserregung iiothwendig ist (es genügen in der Regel
wenige Secunden) , so beobachtet man ganz regelmässig ein mehr
oder weniger deutlich verspätetes Eintreten der Oeff-
nungszuckung, und ausserdem fällt sofort auf, dass die
Grösse derselben in hohem Grade von der Schliessungs-
dauer des Stromes abhängt.
Ist die letztere sehr kurz, so kann die Oeffnungszuckung voll-
ständig fehlen , selbst wenn die Erregbarkeit des Nerven bedeutend
gesteigert erscheint, während mit unfehlbarer Sicherheit eine kräftige
Zuckung ausgelöst wird, wenn der Strom um Weniges länger ge-
schlossen blieb. Es ist bemerkenswerth , dass auch die Form der
Zuckungscurve Avesentlich von der Schliessungsdauer des Stromes
abhängt, indem alle Uebergänge vorkommen zwischen einer einfachen,
in ihrem Vei'laufe von der Schliessungszuckung sich nicht unter-
scheidenden Muskelcontraction und lang anhaltender tetanischer Ver-
kürzung (Ritter' scher (,)effnungstetanus).
Dass in diesem Falle der Oeifnungstetanus, welcher in einem vor-
gerückteren Stadium der Vertrocknung leicht und schon nach kurzer
Schliessung schwacher Ströme auftritt, der Oeffnungszuckung früherer
Stadien insoferne als gleichwerthig betrachtet werden darf, als beide
einer und derselben später zu erörternden Ursache ihre Entstehung
verdanken, geht, abgesehen von dem Vorhandensein der eben erwähnten
Uebergangsformen, auch daraus hervor, dass der Oeffnungtetanus ganz
ebenso ein verspätetes Eintreten erkennen lässt, wie die anfängliche
Oeffnungszuckung.
Der Erste, welcher bezüglich der Oeffnungszuckung auf diesen
wichtigen Umstand aufmerksam gemacht hat, war Pflüg er (2. p. 75)
welcher bei Reizung der tieferen Theile des Ischiadicus von Rana
esculenta mit schwachen absteigenden Strömen wiederholt beobachtete,
„dass die Oeffnungszuckung dem Augenblick der Oeffnung des ab-
steigenden Stromes um eine sehr lange Zeit nachfolgt, die oft mehrere
Secunden beträgt".
Ich habe zwar eine so bedeutende Verzögerung nur in seltenen
Fällen und niemals an Nerven gesehen, deren Erregbarkeit durch
Wasserverlust gesteigert wurde, gleichwolil kann ich jedoch in Hinblick
auf die verhältnissmässig geringe Zahl meiner diesbezüglichen Ver-
suche, sowie die Möglichkeit individueller Verschiedenheiten den Ver-
dacht nicht unterdrücken, dass Pflüg er in den erwähnten Fällen
Präparate vor sich gehabt hat, welche sich im ersten Stadium der
Vertrocknung befanden, da ich sonst niemals die in Rede stehende
Erscheinung beobachtet habe, ausser wenn die Erregbarkeit des Nerven
künstlich durch gewisse, sofort zu erwähnende Eingriffe über die Norm
gesteigert wurde.
Bekanntlich erklärte Eckhardt (37) die Erregungserscheinungen,
welche man bei Einwirkung neutraler Alkalisalze und insbesondere
des NaCl in Substanz oder in stärkeren Lösungen auf Nerven beob-
achtet, als bedingt durch Wasserentziehung, und vergleicht dieselben
direct mit den die Vertrocknung eines Nerven begleitenden Reiz-
erscheinungen. Und in der That besteht eine grosse Uebereinstimmung
in dem Verlauf der Erscheinungen im ersteren wie letzteren Falle,
sowohl hinsichtlich der Veränderung der Erregbarkeit im Allgemeinen,
wie auch betreffs des Auftretens und Charakters der Oeffnungs-
erregung.
Die elektrische Erregung der Nerven. 585
Die Versuche mit NaCl in concentrirter Lösung gewähren zwar
einerseits den Vortheil, dass es besser als bei der Vertrocknung gelingt,
die Einwirkung auf eine bestimmte Nervenstrecke zu localisiren, allein
andererseits haben dieselben wieder den Nachtheil, dass bei elektrischer
Reizung eines mit NaCl behandelten Nervenabschnittes die Neigung
zu tetanischer Verkürzung des Muskels schon bei den schwächsten
Schliessungs- oder Oeffnungsreizen bei weitem ausgesprochener ist,
als im Verlaufe der Vertrocknung, so dass man fast immer nur
OefFnungstetanus und nur selten Oeffnungszuckungen auszulösen im
Stande ist.
Da ausserdem bei Behandlung der Nerven mit NaCl in seiner
ganzen Ausdehnung der alsbald auftretende, von der Stromesrichtung
(so lange es sich, wie hier durchwegs, um schwache Ströme handelt)
unabhängige Schliessungstetanus das Erkennen der Erregungser-
scheinungen bei Oeffnung des Stromes vielfach beeinträchtigen Avürde,
so thut man gut, die Einwirkung des NaCl so viel als thunlich auf das
Gebiet der Anode zu beschränken.
Fig. 188. Einfluss localer Kochsalzbeliandlung an der Kathode auf die Erregbarkeit.
Uebergang der absteigenden Schliessungszuckung in Schliessungstetanus.
Es ist am bequemsten, sich bei derartigen Versuchen derjenigen
Form unpolarisirbarer Rührenelektroden zu bedienen, welche zuerst
von Engel mann (38) beschrieben wurde. Man braucht dann nur
ein kleines, mit der betreffenden Salzlösung getränktes BaumwoU-
bäuschchen auf die eine oder andere Elektrode zu legen, so dass eine
etwa der Breite der Glasröhrchen entsprechende Nervenstrecke davon
bedeckt ist. Das ganze Präparat nebst den Elektroden bringt man
zweckmässig in eine feuchte Kammer, um bei längerer Dauer des Ver-
suches das Austrocknen der frei liegenden Nervenabschnitte zu ver-
hüten. Der Muskel steht vermittels eines um eine Rolle gehenden
Fadens mit einem ausserhalb der Kammer befindlichen Schreibstift in
Verbindung, welcher die Gestaltveränderungen auf dem mit wechselnder
Geschwindigkeit rotirenden Cylinder eines Kymographions zu ver-
zeichnen gestattet. Bei Reizung mit schwachen Strömen beobachtet man
schon nach wenigen Minuten eine deutliche Zunahme des Schliessungs-
reizerfolges, wenn der Austritt des Stromes in der mit dem NaCl
behandelten Nervenstrecke erfolgt. Die Zuckungen werden aber bald
tetanisch, und nach kurzer Zeit kommt es bei jeder Schliessung des
Stromes in der angedeuteten Richtung zu einem kräftigen Tetanus
(Fig. 188), der anfangs bei der Oeffnung wieder vollständig verschwindet,
in späteren Stadien der NaCl- Wirkung jedoch dauernd wird, womit
natürlich allen weiteren Beobachtungen ein Ziel gesetzt ist. Zu einer
Biedermann, Elektrophysiologie. 38
586 ^i^ elektrische Erregun,^ der Nerven.
Zeit, wo nach Application von NaCl auf die dem Muskel näher ge-
legene Elektrode ein absteigend gerichteter schwacher Strom bereits
kräftigen Schliessungstetanus auslöst, beobachtet man in der Regel
bei Schliessung desselben Stromes in umgekehrter Richtung nur eine
einfache Zuckung, deren Verlauf und Grösse sich nicht von jenen
Schliessungszuckungen unterscheidet, welche unter denselben Versuchs-
bedingungen vor der localen NaCl-Behandlung ausgelöst wurden. Es
dürfte dieser Umstand insoferne nicht ohne Interesse sein, als er zu
beweisen scheint, dass es für die Grösse des Enderfolges der Reizung
einer Nervenstelle gleichgiltig ist, wenn die ausgelöste „Reizwelle"
eine Nervenstrecke durchläuft, welche sich im Zustande erhöhter
Erregbarkeit befindet.
Die Oeffnung schwacher, aufsteigender Ströme bleibt nach localer
NaCl-Behandlung an der Anode in der Regel noch ohne Erfolg, wenn
nach Wendung des Stromes die Schliessung bereits kräftigen Tetanus
auslöst. Man muss dann entweder den aufsteigenden Strom etwas
v>v ^ Fig. 189. Nerv-Muskelpräpa-
rat vom Frosch. Reizung
in der Mitte der Länge des
Nerven. Aufsteigende Stro-
mesrichtung. 3 Min. nach
Auflegen eines mit concen-
trirter NaCl-Lösung getränk-
ten Bauwollbäuschchens auf
die Anode bewirkt Oetfnung
eines schwachen Kettenstro-
mes schon nach kurzer
Schliessungsdauer Tetanus, welcher verspätet eintritt (//). Nach einmaliger
Schliessung eines stärkeren »Stromes schiebt sich bei Oeffnung eines Stromes von
gleicher Intensität wie früher in die Phase zwischen dem Moment der Oeffnung und
dem Beginn des Tetanus die Oefihungszuckung / ein.
verstärken oder die Schliessungsdauer entsprechend vergrössern, um
wirksame (meist tetanische) Oeffnungserregung zu erzielen. Beides
erscheint überflüssig in einem etwas vorgerückteren Stadium der ört-
lichen NaCl- Wirkung. Dann dauert es aber auch in der Regel nicht
lange, bis der Muskel in Unruhe geräth, an welche sich unmittelbar
der bekannte Kochsalztetanus anschliesst und weitere Reizversuche
unmöglich macht, wenn man nicht vorher nach Entfernung des Baum-
wollbausches die betreffende Nervenstelle durch Auswaschen mit 0,5 °/o
NaCl-Lösung in den Zustand zurückversetzt, in welchem sie zwar noch
eine gesteigerte Erregbarkeit erkennen lässt, ohne dass jedoch spontane
Erregungserscheinungen ausgelöst werden.
Im Uebrigen entspricht der Charakter der nach NaCl-Behandlung
zu beobachtenden Oeffnungswirkungen fast vollkommen dem Verhalten
der analogen, oben geschilderten Erscheinungrn am vertrocknenden
Nerven, und ist insbesondere das verspätete Eintreten der Oeffnungs-
contraction, sowie deren Abhängigkeit von der Schliessungsdauer des
Stromes in den meisten Fällen sehr deutlich wahrnehmbar (Fig. 189).
Ich brauche mich daher auch unter Hinweis auf die beigegebenen
Curven nicht weiter bei der Beschreibung der hierher gehörigen That-
sachen aufzuhalten, gehe vielmehr sofort zur Besprechung der besonders
interessanten Wirkungsweise des Alkohols in hohen Verdünnungs-
graden über.
Die elektrische Erregung der Nerven.
587
Mo mm seil zeigte in der oben erwähnten Arbeit, dass die
Erregbarkeit motorischer Nerven durch Application einer schwach
alkoholhaltigen (1 — 2 Volum '^/o) NaCl-Lösung erheblich zunimmt,
welche Steigerung erst nach lange dauernder Einwirkung einer Ab-
nahme der Erregbarkeit bis zur völligen Unerregbarkeit Platz macht.
Selbst dann ist aber noch eine Restitution durch Auswaschen mit 0,6 ^/o
NaCl-Lösung möglich.
Wenn man den Ischiadicus eines Nerv-Muskelpräparates vom
Frosche in seiner ganzen Ausdehnung mit alkoholischer NaCl-Lösung
behandelt und von Minute zu Minute mit einem schwachen auf-
steigenden oder absteigenden Kettenstrom reizt, so bemerkt man
wieder zunächst eine sehr bedeutende Zunahme der Höhe der
Schliessungszuckungen, ohne dass dieselben jedoch tetanisch würden.
Fast gleichzeitig (gewöhnlich schon nach 2 — 4 Minuten) erfolgt
aber auch bei Oeffnung des Stromes eine, meist sehr
verspätet eintretende Muskelzuckung, vorausgesetzt,
dass die Schliessungsdauer nicht allzu kurz war (Fig. 190).
Fig. 190. Nerv-Muskelpräparat vom Frosch. Reizung in der Mitte der Nervenlänge.
Aufsteigende Stromesrichtung. Nach 30 See. langem Eintauchen des Nerven in alko-
holische Kochsalzlösung (10 Vol. °/o) löst der Strom nebst der Schliessungszuckung
verspätete Oeffnungszuckung (//) aus, welcher nach längerer Alkoholwirkung die Oeff-
nungszuckung / vorangeht, die je nach der Schliessungsdauer isolirt oder mit Oeffnungs-
zuckung // theilweise oder ganz verschmolzen auftritt.
Wie lange aber ein Strom unter den gegebenen Bedingungen ge-
schlossen bleiben muss, um bei der Oeffnung erregend zu wirken,
hängt natürlich, abgesehen von der Intensität desselben, auch von
dem Grade der Alkoholwirkung ab, also einerseits von der Stärke
der angewendeten Lösung, andererseits von der Dauer der Einwirkung
derselben.
Im Allgemeinen erfolgt das Ansteigen der Erregbarkeit eines
Nerven bei Behandlung mit einer nicht zu schwach alkoholischen
Kochsalzlösung ziemlich rasch und tritt dann dementsprechend auch
die Oeffnungszuckung selbst bei Anwendung schwacher Ströme sehr
bald und schon nach kurzer Schliessungsdauer auf. Zu bemerken
wäre noch, dass die Oeffnung aufsteigend gerichteter Ströme in der
Regel etwas früher erregend wirkt, als die absteigender, was wohl
mit dem Auftreten der sogenannten „negativen Moditication" des Kat-
elektrotonus im letzteren Falle zusammenhängen dürfte.
Da es bei Alkoholbehandlung des Nerven niemals zu spontanem
Tetanus kommt und, wie auch Mommsen hervorhebt, vereinzelte
38*
588 I^i^ elektrische Erregung der Nerven.
Muskelzuckiingen nur bei Anwendung stark alkoholhaltiger Salzlösung
(bis zu 20*^0 Vol.) bisweilen eintreten, so ist es hier, wie in keinem
anderen mir bekannten Falle möglich, die Abhängigkeit der Oeffnungs-
erregung von dem Erregbarkeitszustande des Nerven, sowie deren
besondere Eigenschaften mit Bequemlichkeit zu untersuchen, zumal
die Steigerung der Erregbarkeit lange Zeit hindurch gieichmässig anhält.
Als charakteristische Eigenthümlichkeiten der Oeffnungserregung,
welche bei künstlich gesteigerter Erregbarkeit eines Nerven durch
schwache Kettenströme ausgelöst werden kann, wurde bereits in zwei
Fällen erstlich das mehr oder weniger ausgesprochene,
immer aber merkliche, verspätete Eintreten derMuskel-
verkürzung constatirt , und zweitens die Abhängigkeit der
Grösse und Form der Zuck ungs cur ve von der Schliessungs-
dauer des Stromes.
Beides tritt in ausserordentlich klarer und überzeugender Weise
hervor bei graphischer Verzeichnung der OefFnungszuckungen, welche
bei Einwirkung schwacher Ströme auf alkoholisirte Nerven ausgelöst
h A A A A A-
Fig. 191. Alkoholbehandlung des Nerven. Versuchsverfahren wie bei Fig. 190. Einfluss
der Schliessungsdauer auf die Höhe der Oeffoungszuckung II. Oeffnuugszuckung I
zeigt sich davon ganz unabhängig.
werden. Was zunächst die Verspätung anbelangt, so ist zu erwähnen,
dass dieselbe innerhalb ziemlich weiter Grenzen schwankt.
Bisweilen nur eben merklich, kann die Verzögerung des Beginns
der Muskelverkürzung in anderen Fällen mehrere Secunden betragen.
Als bestimmende Momente kommen hier vor allem in Betracht die
Schliessungsdauer und Intensität des Stromes, mit deren Zunahme die
Grösse der „Latenzzeit" im Allgemeinen abnimmt.
In gleichem Sinne wird das „Latenzstadium der Oeffnungserregung"
bei Reizung alkoholisirter Nerven auch durch den Grad der Erregbar-
keitssteigerung beeinflusst, so dass dasselbe im Beginn einer Versuchs-
reihe gewöhnlich merklich grösser erscheint, als im Verlaufe derselben,
wenn auch hier vielleicht der Einfluss der in kurzen Pausen sich
folgenden Einzelreize (bei durchwegs gleicher Schliessungsdauer) von
grösserer Bedeutung ist, zumal bereits Pflüg er darauf hinweist,
„dass das Phänomen (der Verspätung) nach mehrmals wiederholtem
Schliessen sich änderte, indem die Oeffnungszuckung dann immer
schneller und schneller der Oeffnung folgte, bis endlich kein Intervall
mehr zu bemerken war".
Ein Blick auf die mit II bezeichneten Oeffnungszuckungscurven
der Fig. 191 lässt sofort auch die höchst auffallende Abhängigkeit
der Oeffnungserregung von der Schliessungsdauer des Keizstromes unter
Die elektrische Erregung der Nerven. 589
den gegebenen Versuchsbedingungen erkennen und zeigt, wie rerhältniss-
mässig geringfügige Aenderungen der letzteren genügen, um die erstere
entweder vollkommen zu unterdrücken oder umgekehrt maximale
Zuckungen auszulösen. Soweit stimmen die Ergebnisse der elektrischen
Reizung alkoholisirter Nerven und solcher, deren Anspruchsfähigkeit
durch partiellen Wasserverlust oder Kochsalzbehandlung erhöht wurde,
fast vollkommen überein ; dagegen macht sich ein, allerdings nur un-
wesentlicher, Unterschied bemerkbar hinsichtlich des vorwiegenden
Charakters der Zuckungscurve (Fig. 192 ZZ). Während nämlich am ver-
trocknenden Nerven die Auslösung einfacher Oeffnungs Zuckungen
in einem gewissen, dem Auftreten spontaner Erregungserscheinungen
unmittelbar vorausgehenden Stadium selbst bei Anwendung sehr schwa-
cher Ströme nicht mehr gelingt, und es dann immer nur zu tetanischer
Contraction des Muskels (Ritter' scher Oeffnungstetanus ) kommt, was
in noch höherem Maasse bei Kochsalzbehandlung eines Nerven gilt,
bedarf es umgekehrt ziemlich andauernder Dui-chströmung bei nicht zu
geringer Intensität des Stromes, um nach Alkoholbehandlung des Nerven
einen ausgesprochenen Oeffnungstetanus zu erzielen. Meist kommt es
Fig'. 192. Nerv-Muskelpräparat vom Frosch. Aufsteigende Stromesrichtung, im Uebrigeu
gleiche Versuchsanorduung wie in den vorhergehenden Figuren. Einfluss beginnender
Vertrocknung auf den Reizerfolg bei Oeffnung eines mittelstarken Kettenstromes : Oeff-
nungszuckung I tritt als "Vorschlag zu dem verspäteten Oeffnungstetanus II auf.
nach etwas längerer Schliessungsdauer nur zu gedehnt verlaufenden
Zuckungen, die als Uebergangsformen zwischen einer einfachen
Oeffnungszuckung und andauernder tetanischer Verkürzung des Muskels
betrachtet werden müssen.
Hiermit steht in Uebereinstimmung, dass auch das Auftreten des
Schliessungstetanus bei schwacher elektrischer Reizung alkoholisirter
Nerven als Ausnahme betrachtet werden muss, obschon die Curven,
sowohl der Schliessungs- wie auch der Oeffnungszuckungen sich durch
den meist abgerundeten Gipfel von solchen unterscheiden, welche bei
Erregung normaler Nerven durch Momentanreize (einzelne Inductions-
schläge) oder auch durch Schliessung eines Kettenstromes erhalten
werden.
Aus den vorstehend beschriebenen Versuchen geht nun mit aller
Sicherheit hervor, dass, während es am normalen, unversehrten
Nerven niemals gelingt, durch schwächere Ströme Oeffnungserregung
auszulösen, dies allerdings möglich ist, wenn die Erregbarkeit desselben
künstlich gesteigert wird, und es würde daher von dieser Seite die
Annahme durchaus berechtigt erscheinen, dass auch das Auftreten
der Oeffnungszuckung nach Anlegung eines Querschnittes am Nerven
als Folge der dadurch bedingten Erregbarkeitserhöhung zu be-
trachten sei.
590 I^iß elektrische Erregung der Nerven.
Ausser den schon früher angeführten und, wie mir scheint, triftigen
Gegengründen ergiebt jedoch schon die einfache Vergieichung der in
beiden Fällen zu beobachtenden OefFnungsreizerfolge , dass nicht nur
keine Uebereinstimmung der wesentlichsten Eigenschaften derselben
besteht, wie es doch wohl der Fall sein müsste, wenn der Oeffnungs-
erregung in beiden Fällen die gleiche Ursache zu Grunde liegen würde,
sondern es drängt sich bei genauerer Untersuchung der betreffenden
Erscheinungen mehr und mehr die Ueberzeugung auf, dass es sich
hier um zwei von einander streng zu sondernde Wirkungen des elek-
trischen Stromes handelt, verschieden nicht nur hinsichtlich der Be-
dingungen ihres Eintretens, sondern auch in der Art und Weise, wie
sie sich am Muskel äussern.
Als charakteristische Eigenthümlichkeiten der Oeffnungszuckungen,
welche bei Einwirkung schwächerer Ströme auf Nerven ausgelöst
werden, deren Erregbarkeit beträchtlich gesteigert wurde, macht sich
den oben mitgetheilten Erfahrungen zufolge vor allem das verspätete
Eintreten derselben , sowie deren Abhängigkeit von der Schliessungs-
dauer bemerkbar , und sie unterscheiden sich in dieser Beziehung
wesentlich von jenen C)effnungszuckungen, welche unter sonst gleichen
Versuchsbedingungen in nächster Nähe eines Querschnittes an sonst
normalen Nerven ausgelöst werden. Au der Curve dieser letzteren
las st sich ohne Zuhilfenahme feinerer, zeitmessender
Untersuchungsmethoden niemals ein merkliches Inter-
vall zwischen dem Moment der Oeffnung des Stromes
und dem Beginn der Muskelverkürzung wahrnehmen-,
auch verläuft die Curve viel steiler und zeigt stets einen spitzen Gipfel,
ohne jemals an Höhe den Oeffnungszuckungen gleich zu kommen,
welche in Folge künstlich gesteigerter Erregbarkeit des Nerven aus-
gelöst werden können. Besonders ist es aber bemerk enswerth , dass
die Schliessungsdauer des Reiz ström es nur innerhalb
sehr enger Grenzen die Grösse und in keiner Weise den
Charakter der „Querschnitts- Oeffnungszuckungen", wie
ich dieselben kurz bezeichnen will, zu beeinflussen vermag;
denn niemals sieht man die Curven derselben einen gedehnteren
Verlauf annehmen oder gar tetanisch werden, selbst wenn ein ziemlich
starker Strom in absteigender Richtung beliebig lange das Schnittende
eines vor Verdunstung geschützten Nerven durchfliesst.
Diese Momente dürften vielleicht allein schon genügen, um die
Annahme einer doppelten, in Ursache und Erscheinungsweise ver-
schiedenen Oeffnungserregung nicht ganz unberechtigt erscheinen zu
lassen-, indessen lassen sich hierfür noch weitere und, wie ich glaube,
zwingende Gründe beibringen.
Ich muss hier zunächst auf die Thatsache aufmerksam machen,
dass Oeffnungszuckungen von genau demselben Charakter,
Avie in der Nähe eines Querschnittes, auch am unverletzten
Nerven, also unabhängig von dem Einfluss des Schnittes
unter gewissen Bedingungen durch selbst sehr schwache
Ströme ausgelöst werden können. Merkwürdigerweise
ist es aber nicht sowohl eine erhöhte, als vielmehr eine
bedeutend verminderte Erregbarkeit des Nerven, welche
dann das Auftreten derselben zu begünstigen scheint.
Wenn man in der eben besprochenen Weise den N. ischiadicus
vom Frosche mit nicht zu schwacher alkoholischer Kochsalzlösung
Die elektrische Erregung der Nerven. 591
(etwa 10 Vol. ^/o) behandelt und von Minute zu Minute mit einem auf-
oder absteigend gerichteten Kettenstrom von geringer Intensität reizt
(es empfiehlt sich im Allgemeinen die aufsteigende Stromesrichtung
deshalb mehr^ weil sich bei derselben die Wirkung der Anode ganz
ungestört zu entfalten vermag), so bemerkt man bald neben der,
anfangs allein vorhandenen, bereits ausführlich be-
sprochenen, verspäteten Oeffnungszuckung eine zweite,
welche sich, im Momente der Oeffnung beginnend, in
die Pause zwischen diesem und dem Beginn der ver-
späteten Muskelzuckung einschiebt und so gewisser-
maassen einen Vorschlag derselben bildet (Fig. 190, 191 1).
Ob dieser Vorschlag als völlig gesonderte Zuckung hervortritt, indem
der Muskel vollständig wieder erschlafft, bevor die verspätete Zuckung
(Oeffnungszuckung II) beginnt, oder mit dieser theilweise oder ganz
verschmilzt, hängt natürlich von der Grösse des Zeitintervalls zwischen
dem Moment der Oeffnung und dem Beginn der Oeffnungszuckung II
und daher wesentlich von der Schliessungsdauer des Stromes ab.
In Folge der fortschreitenden Alkoholwirkung sinkt allmälig die
Anspruchsfähigkeit des Nerven, und dem entsprechend nimmt die Höhe
Fig. 193. Ende der Versuchsreihe Fig. 191. Abnahme der Oeffnungszuckung II bis
zum Verschwinden bei Gleichbleiben (ja eventuell Wachsen) der Oeffnungszuckung I.
der Schliessungszuckungscurven , wie auch der Oeffnungszuckung II
ab, und nun -zeigt sich die auffallende Thatsache, dass die erste
Oeffnungszuckung (Oeffnungszuckung I) ihren grössten
Werth erst dann erreicht, wenn die Erregbarkeit schon
beträchtlich abgenommen hat. Wenig später fehlt die
Oeffnungszuckung II vollständig und tritt auch bei be-
liebig langer Schliessungsdauer nicht mehr hervor,
gleichwohl bleibt dann die Oeffnungszuckung neben
der in ihrer Grösse beträchtlich reducirten Schliessungs-
zuckung bestehen, welcher sie meist gleichkommt, die-
selbe unterUmständen sogar übertrifft(Fig. 193). Bringt man
um diese Zeit das ganze Präparat in eine reichliche Menge 0,6 "/o NaCl-
Lösung, so gelingt es leicht, die normalen Erregbarkeitsverhältnisse
des Nerven vollständig Avieder herzustellen, so dass an jeder beliebigen
Stelle eine Schliessungszuckung den einzigen Reizerfolg nicht zu starker
aufsteigend oder absteigend gerichteter Ströme darstellt. Man kann
dann bei abermaliger Behandlung mit verdünntem Alkohol dieselbe
Reihenfolge der Erscheinungen auch ein zweites Mal, unter Umständen
sogar noch ein drittes Mal beobachten.
Die Behandlung eines Nerven mit alkoholischer Kochsalzlösung
gewährt den grossen Vortheil, dass man dabei, ohne die sonstigen
592 -^^^ elektrische Erregung der Nerven.
Veisuchsbedingung'en irgendwie zu ändern, an einem und demselben
Präparate die Art und Weise, wie sich die Reizerfolge bei Oeffnung
des Stromes im Verlaufe der Einwirkung ändern, genau zu verfolgen
und so den direkten Beweis zu liefern vermag, dass die beiden in
Rede stehenden Zuckungsformen gleichzeitig neben einander zu bestehen
vermögen, und daher als von einander verschiedene Wirkungen des
Stromes aufgefasst werden müssen. Dies lässt sich mit gleicher Sicher-
heit weder aus der alleinigen Untersuchung der Oeffnungsreizerfolge
vertrocknender oder mit Kochsalz behandelter Nerven erschliessen, da
der bald eintretende spontane Tetanus länger dauernde Beobachtungen
verhindert, noch würden die sofort zu besprechenden Fälle ausschlag-
gebend sein, wo nur die Oeffnungszuckung I zum Vorschein kommt,
da die anfängliche Erregbarkeitserhöhung entweder vollständig fehlt,
oder doch zu wenig ausgesprochen ist.
Ranke (39) gibt an, dass „durch die Kalisalzwirkung die Erreg-
barkeit der Nerven primär erhöht wird. Erst in der Folge und bei
stärkerer Kaliwirkung tritt die Herabsetzung der Erregbarkeit und
der Nerventod ein". Er rechnet daher die neutralen Kalisalze zu den
„Ermüdungsstoffen" des Nerven, indem er als charakteristisch für die
„Nervenermüdung" überhaupt angibt, dass sie „zwei verschiedene
Stadien erkennen lässt : das p r i m ä r e Stadium ist eine Erhöhung, das
secundäre eine Verminderung der Erregbarkeit", die schliesslich in
den Nerventod übergeht.
Diesen Erfahrungen zufolge wäre demnach die Aufeinanderfolge
der Erregbarkeitsänderungen in den verschiedenen Stadien der Kaii-
salzwirkung ganz dieselbe, wie bei Einwirkung alkoholischer Koch-
salzlösung, und wäre daher auch ein analoges Verhalten gegenüber
schwachen Oeffnungsreizen zu erwarten. Aus den im Folgenden mit-
zutheilenden Beobachtungen geht jedoch hervor, dass sich diese Er-
wartungen nur zum Theil erfüllen.
Wenn man den vom Centralorgan getrennten Nerven eines Nerv-
Muskelpräparates seiner ganzen Länge nach in eine stark verdünnte
(1 ^!o) Lösung von KNO3 taucht, so beobachtet man schon nach kurzer
Zeit (5—10 Min.) eine höchst charakteristische Veränderung der Reaction
des Muskels bei Reizung des Nerven mit schwachen Kettenströmen,
derart, dass eine Oeffnungszuckung (vom Charakter der Oeffnungs-
zuckung I) nicht nur, wie vorher, ausschliesslich bei absteigender
Stromesrichtung auftritt, sobald sich die Anode in nächster Nähe des
Querschnittes befindet, sondern unabhängig von der Lage und
dem Abstand der Elektroden bei absteigender wie auch
bei aufsteigender Richtung des Re izstromes ausgelöst wird,
ohne dass sich zu dieser Zeit eine irgend beträchtliche Steigerung
der Anspruchsfähigkeit für Schliessungsreize nachweisen Hesse. In den
meisten Fällen findet man sogar die Höhe der Schliessungszuckungen
geringer als vor Beginn der Kali Wirkung. Ganz gleiche Resultate
ergibt auch die Behandlung undurchschnittener, mit dem Rückenmark
noch zusammenhängender Nerven mit KNO3 in 1 "0 Lösung (Fig. 194).
Wenn man dann von Zeit zu Zeit verschiedene Stellen des Nerven
bei gleichbleibender Distanz der Elektroden (etwa 1 — 2 Ctm.) mit
schwachen Strömen reizt, so findet man zumeist, dass in der dem
Plexus entsprechenden Nervenstrecke der Oeffnungsreiz früher wirksam
wird, als an tiefer gelegenen Nervenparthieen. Da die Salzlösung
offenbar an jenen Stellen früher ihre Wirkung entfalten wird, wo die
Die elektrische Erregung der Nerven. 593
Fasermasse des Nerven noch in einzelne Bündel zerspalten ist, als
tiefer unten nach ihrer Vereinigung zu einem einzigen Stamme, dürfte
sich im Verein mit der an sieh grösseren Empfindlichkeit centraler
Nervenstrecken gegen Schädigungen (E f r o n , C 1 a r a H a 1 p e r s o n) das
eben erwähnte Verhalten leicht erklären. Wenn man nur den unter-
halb des Plexus gelegenen Nervenabschnitt bis etwa in die Nähe der
untersten Theilungsstelle mit KNO3 behandelt, indem man denselben
zwischen zwei mit der Salzlösung getränkten Papierbäuschen einbettet,
so kann Inan bei einer und derselben Stromstärke an allen Stellen
der betreffenden Nervenstrecke gleichzeitig gleichstarke Oeffnungs-
zuckungen auslösen. Legt man aber an einem derartig vorbereiteten
Präparate die Elektroden bei geringem Abstand an den Plexus selbst,
so beobachtet man entweder nur Schliessungszuckung bei beiden
Stromesrichtungen, Avenu der Zusammenhang mit dem Rückenmark
noch besteht, andernfalls dagegen wegen der Nähe des Querschnittes
Schliessungszuckung und Oeffnungszuckung bei absteigender Stromes-
richtunff.
i T 1 T I T
Fig. 194. Nerv-Muskelpräparat vom Frosch. Ein schwacher aufsteigend oder absteigend
gerichteter Strom löst bei beliebiger Lage der Elektroden nur Schliessungszuckung
aus (b). Nach 5 Min. dauerndem Eintauchen des Nerven in 1 "/o KNOg-Lösung er-
scheint die Erregbarkeit herabgesetzt. Gleichwohl löst derselbe Strom an allen
Punkten der veränderten Nerveustrecke auch Oetfiiungszuckungen von gleicher Höhe
wie die Schliessungszuckungen aus (c, d). Durch Auslaugen mit physiologischer Koch-
salzlösung (15 Min.) lässt sich die Oeflfnungszuckung wieder beseitigen (ff, h).
Wenn sich die Einwirkung der Kalisalpeterlösung nicht bis in
die unmittelbare Nähe des Muskels erstreckt, sondern daselbst ein
etwa 2 cm langer Nervenabschnitt derselben entzogen bleibt, so kann
man sich sehr schön davon überzeugen, wie bei allmäligem Vorrücken
der in gleichem Abstand (1 cm) erhaltenen Elektroden vom Centrum
nach der Peripherie die Oeffnungszuckung bei aufsteigender Stromes-
richtung immer kleiner wird, je näher man an die normal gebliebene
Nervenstrecke herankommt, und ein je grösserer Theil derselben daher
in das Bereich der Anode fällt, um schliesslich ganz zu verschwinden,
während die Höhe der Schliessungszuckungscurve unverändert bleibt
oder sogar merklich zunimmt. Das Gleiche gilt auch für den ab-
steigenden Strom, nur muss man in diesem Falle die Elektroden dem
Muskel noch mehr nähern, um die Oeffnungszuckung ganz zum Ver-
schwinden zu bringen, da dann zunächst die Kathode und später erst
die Anode in das Bereich des normal gebliebenen Nervenabschnittes
fällt. Die Höhe der Schliessungszuckung nimmt dann
immer bedeutend zu, was wieder darauf hinweist, dass die An-
594 Die elektrische Erregung der Nerven.
Spruchsfähigkeit für Scliliessungsreize an normalen Nervenstellen in
der Regel grösser ist, als an solchen, welche durch die Einwirkung
von Kalisalzen verändert wurden, ohne dass im ersteren Falle OefFnungs-
zuckung ausgelöst wird, die im letzteren niemals fehlt.
Wenn man in einem nicht allzu vorgerückten Stadium der KNO3-
Wirkung den Nerven, dessen Reizung mit schwachen Kettenströmen
an allen Punkten etwa gleich starke Schliessungszuckung und Oeffnungs-
zuckung auslöst, in eine genügend grosse Menge 0,6 "0 NaCl-Lösung
taucht, äo bemerkt man bald, dass, während die Grösse der
S c h 1 i e s s u n g s z u c k u n g e n zunächst unverändert bleibt,
die Höhe der Oeffnungszuckungen mehr und mehr ab-
nimmt, je länger das Auslaugen fortgesetzt wird, und
schliesslich bleiben dieselben nach etwa 10 — 15 Minuten
bei gleicher Stromstärke wie vorher, ja selbst bei An-
wendung viel stärkerer Ströme gänzlich aus, so dass die
Schliessungszuckung, wie vor Beginn des Versuches, den einzigen Reiz-
erfolg bei beiden Stromesrichtungen darstellt (Fig. 194 (/ A).
Wie schon oben erwähnt wurde, stimmen die (oeffnungszuckungen,
welche im Verlaufe der Kalisalzwirkung durch schwache Ströme aus-
gelöst werden können, hinsichtlich ihres Charakters vollkommen mit
jenen überein, die unter dem Einfluss der Alkoholwirkung als Vorschlag
der anfangs allein vorhandenen verspäteten Oeffnungszuckung II be-
obachtet Averden. Zuckungen, welche als Analoga dieser
letzteren aufgefasst werden dürften, fehlen dagegen am
Kalinerven vollständig.
Es schien von vorneherein nicht unwahrscheinlich zu sein, dass
es durch Behandlung kleinerer Nervenstrecken mit KNO3 auch gelingen
würde, ganz local jene Bedingungen herzustellen, welche das Auftreten
„primärer Oeffnungszuckungen" (Oeffnungszuckung I) in so hohem
Grade zu begünstigen scheinen, und daher schwachen aufsteigenden
oder absteigenden Strömen, bei einer bestimmten Lage der Elektroden,
die Fähigkeit zu ertheilen, wirksame Oeffnungserregung auszulösen.
Wenn man sich derselben Versuchsanordnung bedient, welche
oben bei Besprechung der örtlichen Behandlung des Nerven mit con-
centrirter Kochsalzlösung erwähnt Avurde und zur Reizung Ströme von
geringer Intensität verwendet, so beobachtet man einige Zeit nach dem
Auflegen des mit 1 "^/o KNOg-Lösung getränkten Baumwollbäuschchens
auf die eine oder andere Elektrode ein vei'schiedenes Verhalten , je
nachdem der Nerv im Bereich der dem Muskel oder dem Centrum
näher gelegenen Elektrode der Einwirkung der Kalisalzlösung aus-
gesetzt wurde. In beiden Fällen bleibt die Grösse der Schliessungs-
zuckung während der ersten Minuten unverändert, wie man sich leicht
bei graphischer Verzeichnung derselben überzeugen kann. In der Folge
tritt dann aber zumeist ein Unterschied in der Höhe der Schliessungs-
zuckung bei auf- und absteigenden Strömen hervor und zvv^ar stets zu
Gunsten derjenigen Stromesrichtung , bei welcher die Kathode die
normal gebliebene Nervenstelle berührt. Doch kommt es auch vor,
dass nach einer 10 Minuten und länger dauernden örtlichen Behandlung
des Nerven mit 1 "/'o KNOg-Lösung die Anspruchsfähigkeit der be-
treffenden Stelle (für Schliessungsreize) noch kaum merklich vermindert
erscheint. Dagegen entwickelt sich ausnahmslos während dieser Zeit
eine auffallend gesteigerte Empfindlichkeit der mit KNO3 behandelten
Nervenstrecke für selbst sehr schwache Oeffnungsreize , sei es nun,
Die elektrische Erregung der Nerven. 595
dass der Nerv vom Centralorgan getrennt ist oder mit demselben noch
zusammenhängt.
Je nach der Lage des Baumwollbausches auf der dem Muskel
näheren oder davon entfernteren Elektrode, tritt dann entweder bei
aufsteigender oder bei absteigender Ötromesrichtung zu der bereits
vorhandenen Schliessungszuckung auch die Oeffnungszuckung hinzu
und erreicht gewöhnlich bald dieselbe Grösse wie jene.
Ich brauche kaum besonders hervorzuheben, dass es auch in
diesem Falle gelingt, die örtlich veränderte Anspruchsfähigkeit des
Nerven für den Oeffnungsreiz durch Auswaschen mit 0.6 "o NaCl-
Lösung wieder zu beseitigen.
Aber nicht nur gewisse, künstlich erzeugte chemische Veränderungen
der Nervensubstanz, welche mit einer beträchtlichen Herabsetzung der
Erregbarkeit verbunden sein können und in besonders hohem Grade
durch Kalisalze hervorgebracht werden, begünstigen die Auslösung
„primärer Oeffnungszuckungen", sondern es scheint, dass auch der
elektrische Strom selbst an den Eintrittsstellen ähnliche
Veränderungen des Nerven zu erzeugen vermag.
Der Satz, dass bei elektrischer Reizung normaler unversehrter
Nerven unbhängig von der jeweiligen Stromesrichtung nur Schliessungs-
zuckungen des Muskels ausgelöst werden, gilt, wie schon erwähnt, im
Allgemeinen nur für schwache und mittelstarke Ströme. Bei meinen
Versuchen beobachtete ich fast ausnahmslos wirksame OefFnungserregung
bei Anwendung eines D a n i e 1 1 ' sehen Elementes nach Einschaltung
einer Widerstandseinheit des Du B o i s ' sehen Rheochords, sowohl vor
als nach der Trennung vom Centralorgan (im letzteren Falle an vom
Querschnitt genügend entfernter Nervenstelle).
Es stellte sich jedoch die bemerkenswerthe Thatsache heraus, dass
unmittelbar nach Ablauf einer durch einen stärkeren
Strom ausgelösten Oeffnungszuckung auch das Ver-
schwinden vorher nur bei Schliessung wirksamer,
schwacher Ströme erregend wirkt, und zwar in fast
gleichem Grade wie die Oeffnung des starken Stromes.
Dieser Reiz erfolg nimmt aber schon nach kurzer Zeit
an Grösse ab und verschwindet, wenn der Nerv hin-
reichend lebenskräftig Avar, nach wenigen Minuten der
Ruhe vollständig. Diese eigenthümliche Nachwirkung ist unter
sonst gleichen Umständen um so anhaltender, je länger vorher der
stärkere Strom einwirkte und je weniger lebenskräftig der Nerv war.
Man kann daher, wie durch locale Kalisalzbehandlung eine be-
liebige Stelle in der Continuität eines unversehrten Nerven auch dadurch
für schwache, unter normalen Verhältnissen niemals wirksame ( Jeffnungs-
reize empfänglich machen, dass man dieselbe für kurze Zeit zur Ein-
trittsstelle eines stärkeren Kettenstromes macht, und wie im ersteren
Falle die gesteigerte Disposition für die Oeffnungserregung durch
Auslaugen der schädlichen Substanzen mit einer indifferenten Flüssigkeit
beseitigt werden konnte, so genügen die im ausgeschnittenen Nerven
fortdauernden Restitutionsprocesse, um auch im letzteren Falle die
durch den Strom selbst bewirkten anodischen Veränderungen wieder
aufzuheben und die normale Unemplindlichkeit für Oeffnungsreize
wieder herzustellen.
Die Oeffnungserregung, welche nach kurzer Schliessung eines
stärkeren Stromes an den anodischen Nervenstellen durch Ströme von
596 I^ie elektrische Erregung der Nerven.
geringer Intensität ausgelöst werden kann, äussert sich, wie schon
erwähnt, stets durch Muskelzuckungen, deren Eigenschaften dieselben
als durchaus gleichwerthig mit jenen erscheinen lassen, die man nach
Einwirkung von Kalisalzlösungen oder in nächster Nähe eines frisch
angelegten Querschnittes auszulösen vermag. Abgesehen von dem
Fehlen eines merklichen Intervalls zwischen dem Moment der OefFnung
und dem Beginn der Verkürzung äussert sich dies insbesondere durch
die übereinstimmende Form der Zuckungscurven und den geringen
Einfluss der Intensität und Schliessungsdauer des Reizstromes auf die
Grösse der Zuckungen.
Ein weiterer Beweis für die Gleichwerthigkeit der Oeffnungs-
zuckungen, welche nach Kalisalzbehandlung eines Nerven ausgelöst
werden, die ihrerseits als identisch mit den „primären OefFnungs-
zuckungen" nach Einwirkung von Alkohol angesehen werden müssen,
und der durch stärkere Ströme an normalen, unversehrten Nerven
ausgelösten Oeffnungszuckungen ist dadurch gegeben , dass es gelingt,
die letzteren neben „secundären" verspäteten Oeffnungszuckungen
(Oeffnungszuckung II) an einem und demselben Präparate gleichzeitig
auftreten zu sehen. Da der Ritter 'sehe Oeffnungstetanus früheren
Auseinandersetzungen zufolge der Oeffnungszuckung II gleichwerthig ist,
und wie diese unter Umständen verspätet eintritt, was bereits Wu n d t
beobachtete, so besteht in solchen Fällen der Oeffnungsreizerfolg ent-
weder in einer vollständig oder unvollständig getrennten Doppel-
zuckung, oder es bildet die Oeffnungszuckung I einen Vorschlag zu
dem Ritt er 'sehen Tetanus (Fig. 189, 192).
Die betreffenden Curven wurden in der Weise gewonnen, dass,
nachdem die Erregbarkeit des Nerven durch Wasserverlust, Kochsalz-
oder Alkoholbehandlung beträchtlich gesteigert und in Folge dessen
die Disposition für die Auslösung secundärer Oeffnungserregung her-
gestellt war, ein stärkerer Strom während einiger Sekunden geschlossen
blieb, um die anodischen Faserstellen zugleich für die Auslösung
primärer Oeffnungszuckungen (durch Ströme von geringer Intensität)
zu disponiren. So lange dann die Nachwirkung der einmaligen
Schliessung eines starken Stromes anhält, beobachtet man auch bei
Oeftnung schwächerer Ströme die doppelten Reizerfolge, ja sie treten
sogar gerade dann besonders deutlich gesondert hervor, während bei
Anwendung stärkerer Ströme wegen der Verkürzung des „Latenz-
stadiums" der Oeffnungszuckung II beide Zuckungen leicht zu einer
einzigen verschmelzen, was in gleicher Weise auch vom Ritter 'sehen
Tetanus gilt. Dieser letztere Umstand lässt es auch begreiflich er-
scheinen, dass man bisher das Vorhandensein von zwei wesentlich
verschiedenen Oeffnungswirkungen des Stromes übersehen hat.
Es erhebt sich nunmehr die wichtige Frage, ob die beiden, unter
gewissen, im Vorstehenden erörterten Versuchsbedingungen zu beob-
achtenden Oeffnungsreizerfolge ungeachtet ihrer Verschiedenheit auf
eine und dieselbe Grundursache zurückgeführt werden können, und
wenn nicht, welche ursächliche Momente denselben zu Grunde liegen.
Was zunächst die erste Frage anbelangt, so dürfte eine unbefangene
und vorurtheilslose Prüfung der mitgetheilten Thatsachen genügen,
um die Unwahrscheinlichkeit einer einheitlichen Entstehungsursache
von Rdzerfolgen darzuthun, welche nicht nur betreffs der Bedingungen
sondern auch hinsichtlich ihrer Eigenschaften so wenig
Die elektrische Erregung der Nerven. 597
übereinstimmen wie die I. und II. Oeffnungszuekung. Während das
Auftreten der letzteren geknüpft erscheint an das Vorhandensein einer
beträchtlich erhöhten Erregbarkeit des Nerven, tritt die erstere um-
gekehrt gerade bei herabgesetzter Erregbarkeit desselben hervor, und
während bei Anwendung schwächerer Ströme ein verspätetes Eintreten
der Oeffnungszuekung II und des ihr gleichwerthigen Ritter' sehen
Tetanus als Regel gelten darf, und ausserdem die Abhängigkeit von
der Schliessungsdauer des Stromes auf das Deutlichste hervortritt, ist
ein merkliches Intervall zwischen dem Moment der Oeffnung und dem
Beginn der Oeffnungszuekung I niemals vorhanden ; auch ist dieselbe,
sobald einmal die Bedingungen ihres Auftretens gegeben sind, fast
ganz unabhängig von der Schliessungsdauer und Intensität des Reiz-
stromes.
Die unzweifelhafte Gleichwerthigkeit der Oeffnungszuekung II und
des Ritt er 'sehen Tetanus gestattet für beide die gleiche Entstehungs-
ursache anzunehmen. Pflüger, welcher jede Oeffnungszuekung als
Folge der Erregung des Nerven durch das Verschwinden des An-
elektrotonus betrachtete, erklärte auch den Ritter' sehen Tetanus in
derselben Weise und bewies in der That durch den bekannten Versuch
mit Abschneiden einer vorher anelektrotonisirten Nervenstrecke, dass
der Oeffnungstetanus in dieser selbst entsteht. Nach Engelmann' s
(4. p. 411) Anschauung verdankt er jedoch hier seine Entstehung
bereits vorhandenen, spontanen Reizen, welche, vorher unwirksam, in
Folge der nach der Oeffnung eintretenden positiven Modification der
Erregbarkeit der vorher anelektrotonischen Nervenstrecken zu wirk-
samen Reizen werden, und dann eine Gestaltveränderung des Muskels
herbeizuführen vermögen. Engelmann stützt diese Anschauung
besonders mit dem Hinweis auf die leicht zu bestätigende Thatsache,
dass „in frischen, vor Verdunstung geschützten Nerv-Muskelpräparaten
normaler Frösche nach der Oeffnung des Stromes eine einfache Zuckung
eintritt, die sich nicht unterscheidet von der Schliessungszuckung oder
der Zuckung nach einem einzelnen Inductionsschlag". „Mit der grössten
Regelmässigkeit dagegen tritt der Oeffnungstetanus (wie auch der
analoge Schliessungstetanus) bei erkältet gewesenen Präparaten ein",
deren Nerven sich durch eine ausserordentliche Reizbarkeit auszeichnen,
welche Engelmann eben auf das Vorhandensein innerer Reize bezieht,
die oft so mächtig werden, dass auch bei sorgfältigstem Schutz vor
Verdunstung spontane Zuckungen auftreten oder gar Tetanus ausbricht.
Als weitere Stütze der Engelmann ' sehen Ansicht über die Natur
des R i 1 1 e r ' sehen Tetanus könnte ein Versuch von Grün h a g e n (40)
gelten, welcher zeigt, dass „schwache tetanische Reizung, welche vor
Schluss des polarisirenden Stromes keinen sichtbaren Effect erzielte,
nach Oeffnung desselben einen deutlichen Tetanus hervorruft, dessen
Dauer um so länger ausfällt, je stärker der polarisirende Strom und
je empfindlicher der Nerv war". Grünhagen leitet hieraus folgenden
Satz ab : „Die gesteigerte Erregbarkeit des Nerven auf der zuvor an-
elektrotonisirten Strecke plus einer Vermehrung der im Nerven normal
ablaufenden Zersetzungsreize gibt uns den Oeffnungstetanus constanter
Ströme. Durch eine tetanisirende Reizung, welche noch nicht die
Schwelle der Erregung erreicht, lassen sich diese chemischen Reize
ersetzen."
Demzufolge wäre auch das Auftreten der secundären Oeffnungs-
zuekung nur in dem Falle zu erwarten, wenn der Nerv sich in einem
598 I^iß elektrische Erregung' der Nerven.
SO ZU sagen latenten Erregungszustände befindet. Und in der That
stimmt das, was oben über die Bedingungen des Auftretens der
Oeffnungszuckung II mitgetheilt wurde, auf das vollkommenste mit
dieser Anschauung überein. Denn sowohl bei Wasserverlust durch
Verdunstung, wie auch bei Behandlung mit concentrirter Kochsalz-
lösung geräth der Nerv alsbald in den Zustand der Erregung, die
anfangs zu schwach, um sich durch Zuckungen des Muskels zu ver-
rathen, später den heftigsten Tetanus vei'aniasst. Gerade zu jener
Zeit aber, wo die Erregung latent ist, vermag man Oeffnungszuckung II,
beziehungsweise Kittei 'scheu Tetanus durch selbst sehr schwache
Ströme auszulösen. In gleicher Weise muss, wie ich glaube, auch die
das Auftreten der Oeffnungszuckung II so ausserordentlich begünstigende
Wirkung des Alkohols in hohen Verdünnungsgraden gedeutet werden,
obschon Eckhardt und Kühne denselben nur bis etwa SQ^/o herab
erregend fanden. Indessen sah Moramsen nicht selten schon Muskel-
zuckungen auftreten bei Behandlung des Nerven mit relativ stark
verdünnter alkoholischer Salzlösung (20 Vol. °/q), und ich kann
diese Angabe durchaus bestätigen. Der Umstand, dass die Erregung
der Nerven durch Alkohol so schwach ist, dass sie nur selten die
Schwelle überschreitet, dagegen lange Zeit hindurch in ziemlich gleicher
Stärke latent bleibt, macht denselben zu dem geeignetesten Mittel, um
Oeffnungszuckung II hervorzurufen und deren Eigenschaften zu unter-
suchen.
In schlagendster Weise wird aber der Satz, dass die Auslösung
der Oeffnungszuckung II ganz ebenso Avie das Auftreten des Ritter'-
schen Tetanus an das Vorhandensein einer latenten Erregung des
Nerven geknüpft ist, dadui'ch bewiesen, dass es gelingt, Oeffnungs-
zuckung II mit allen ihren früher geschilderten, charak-
teristischen Eigenschaften an Nerven auszulösen, welche
nach dem Vorgange Grünhagen's durch schwaches Te-
tanisiren in den Zustand latenter Erregung versetzt
werden.
Man braucht zu diesem Zwecke nur das centrale Ende eines vom
Rückenmark getrennten oder auch mit demselben noch zusammen-
hängenden Ischiadicus mittelst des Du B o i s ' sehen Schlitteninducto-
riums bei einem Rolleuabstand zu tetanisiren, bei welchem man sich
gerade an der Grenze der Wirksamkeit befindet. Reizt man dann zu
gleicher Zeit eine tiefer gelegene Nervenstrecke mit schwachen, ab-
steigend gerichteten Kettenströmen, so beobachtet man bei passender
Regulirung der Schliessungsdauer stets Oeffnungszuckungen, welche
in jeder Beziehung den Oeffnungszuckungen II als gleichwerthig sich
erweisen, indem sie, wie diese, verspätet erfolgen und in hohem Grade
von der Schliessungsdauer des Stromes abhängig erscheinen. Wird
die Intensität des letzteren verstärkt, so werden die Oeffnungszuckungen
allmählich immer gedehnter und gehen schliesslich in Tetanus über, der,
wie vordem die Zuckungen, verspätet eintritt. Die Identität dieser
und der oben als secundär bezeichneten Oeffnungswirkungen wird
unzweifelhaft, wenn man sieht, dass auch hier doppelte Reizerfolge bei
Oeffnung schwacher Ströme auftreten , wenn durch vorhergehende
kurze Schliessung eines stärkeren Stromes die Disposition für Aus-
lösung primärer Oeffnungszuckungen gegeben ist. Man beobachtet
dann wiederum entweder Doppelzuckungen, oder es bildet die Oeffnungs-
zuckung I einen Vorschlag zu dem Ritter'schen Tetanus.
Die elektrische Erregung der Nerven. 599
Reizt man den Nerven Avährend des schwachen und an sich un-
wirksamen Tetanisirens mit aufsteigend gerichteten Kettenströmen, so
erfolgt, je nach der Intensität derselben, entweder nur Verstärkung
der Schliessungszuckung oder Schliessungstetanus, niemals beobachtet
man in diesem Falle Oeffnungserregung.
Im Wesentlichen denselben Erfolg, Avie schwaches Tetanisiren
oberhalb der mit Kettenströmen gereizten Nervenstrecke hat auch die
Application eines nicht zu schwach wirkenden chemischen Reizmittels
an derselben Stelle. Besonders fand ich hierzu Glycerin geeignet.
Kurz vor Ausbruch des Tetanus sieht man in günstigen Fällen schwache
absteigend gerichtete Ströme Oeffnungszuckungen II auslösen. In ähn-
licher Weise wurde der Versuch auch schon früher von Grün hagen
(36) angestellt. Kann es demnach wohl als bewiesen gelten, dass die
Oeffnungszuckung II und der Ritter' sehe Tetanus (sowie auch der
Schliessungstetanus) in vielen Fällen nicht, wie Pflüger meinte, auf
dem Versclnvinden des Anelektrotonus (beziehungsweise dem Entstehen
des Katelectrotonus) an sich beruht, sondern durch latente Reize be-
dingt wird, die, selbst unzureichend zur Erregung des Muskels, erst
dann Avirksam werden, wenn die Erregbarkeit der Nerven nach dem
Verschwinden des Anelektrotonus (oder während eines bestehenden
Katelektrotonus) gesteigert erscheint, so scheint doch in manchen Fällen
eine wirksame Oeffnungserregung von gleichem Charakter auch ohne
einen schon vorher bestehenden latenten Erregungszustand eintreten
zu können (Kaltnerven), Avas nicht verwundern kann, Avenn man sich
der früher erAvähnten Beziehungen zAvischen Erregbarkeitssteigerung
und Erregung erinnert. Andererseits bleibt jedoch die Natur der
Oeffnungszuckung I zunächst noch unaufgeklärt, wenn sich auch die
Bedingungen ihres Auftretens genauer als vordem präcisiren lassen.
Anknüpfend an Versuche, bei welchen die Oeffnungszuckung I
unmittelbar nach Anlegen eines (mechanischen, chemischen oder ther-
mischen) Querschnittes in nächster Nähe der Anode hervortritt, muss
man daran denken, den durch diesen Eingriff entwickelten Demar-
cationsstrom in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Hervortreten
der Oeffnungszuckung I zu bringen, allerdings nicht in dem Sinne,
dass die erhöhte Erregbarkeit in der Nähe des Querschnittes, deren
Ursache noch zu besprechen sein wird, das Wirksamwerden schwacher
Oeffnungsi-eize bedingt; denn diese Auffassung erscheint genügend
widerlegt durch die oben mitgetheilten Thatsachen. Auch die Ansicht
von G r ü n h a g e n , dass die Erscheinung des Auftretens der Oeffnungs-
zuckung nach Anlegen eines frischen Querschnittes am Nerven in der
Nähe der Anode in erster Reihe als das „Produkt einer Reizsummation"
aufzufassen sei, „einerseits der an und für sich zu schAvachen Erregung,
welche mit der Oeffnung des absteigenden Stromes verknüpft ist" —
des Anodenreizes also — andererseits des „fortbestehenden, scliAvachen,
mechanischen Reizes der Schnittführung", darf als widerlegt gelten.
Denn abgesehen davon, dass eine stundenlange Nachwirkung einer
einfachen Durchschneidung (und so lange dauert in der Nähe des
Querschnittes die Disposition für Auslösung der Oeffnungszuckung I)
an und für sich unwahrscheinlich ist, lässt sich gegen die Grünhagen'-
sche Auffassung auch geltend machen, dass dann die Schliessungs-
reizerfolge bei gleicher Lage der Elektroden und aufsteigender Stromes-
richtung entsprechend verstärkt sein müssten, was nicht der Fall ist.
Wohl aber wird man sich an die früher schon besprochene analoge
ßOQ Die elektrische Erregung der Nerven.
Thatsaclie erinnern, dass beim quergestreiften Muskel ganz ähnliche
Wirkungen hervortreten. Dort Hess sich der directe Nachweis liefern,
dass es sieh um „scheinbare", durch innere Abgleichung des während
der Schliessung des Kettenstromes im ableitenden Bogen compensirten
Demarcationsstromes verursachte Oeffnungszuckungen handelt. Es
liegt sehr nahe, dieselbe Erklärung auch für die primäre Querschnitts-
Oeifnungszuckung bei Nervenreizung heranzuziehen. In der That ist
dies in ausgedehntem Maasse von Grützner (41) und Tigerstedt
(41) geschehen, Avelche nur insoferne sicher zu weit gehen, als sie eine
wirkliche, durch das Verschwinden des Stromes bewirkte Oeffnungs-
erregung überhaupt gänzlich leugnen und annehmen, dass jede so-
genannte OefFnungserregung in ihrem Wesen eine Schliessungserregung
ist, die auf eine Interferenzwirkung des Reizstromes mit einem Nerven-
strome zurückzuführen ist, welcher letztere entweder ein Demarcations-
strom oder ein Polarisationsstrom sein kann.
Es muss dem gegenüber daran festgehalten werden, dass, wie
beim Muskel, so auch beim Nerven echte Oeffnungs-
erregung im Sinne einer Reaction der erregbaren Sub-
stanz gegen die (an der Anode) durch den Strom be-
wirkten Veränderungen besteht. Auf die den „scheinbaren
Oeffnungszuckungen zu Grunde liegenden Interferenz Wirkungen zwischen
dem Reizstrom und präexistirenden Spannungsdifferenzen kann erst
später näher eingegangen werden, wenn von den elektromotorischen
Wirkungen des Nerven die Rede sein wird.
Wenn , wie aus dem Vorstehenden unmittelbar hervorgeht , die
Erfolge der Reizung motorischer Nerven mit dem Kettenstrom sehr
wesentlich mit von den Erregbarkeitsverhältnissen des Nerven ab-
hängig sind , so darf man erwarten , dass das Verhalten eines Nerv-
Muskelpräparates sich ziemlich complicirt gestalten wird, wenn dasselbe
eine Vielheit functionell und in ihrer Erregbarkeit verschiedener
Elemente darstellt, wie dies beispielsweise schon für den stromprüfenden
Froschschenkel mit Beugern und Streckern in dem gemeinsamen
Nervenstamme, oder in noch viel höherem Maasse für die Krebsscheere
gilt. . In Bezug auf den ersteren Fall sei bemerkt, dass nach Grützner
(42) bei Reizung des Ischiadicus vom Frosch mit zunehmend stärkeren
Kettenströmen bei der Schliessung anfangs ganz andere Muskeln
zucken als später. Kommt es dann schliesslich zu wirksamer OefFnungs-
erregung, so sieht man dabei wieder diejenigen Muskeln allein zucken,
welche bei der Schliessung zunächst in Thätigkeit geriethen. Der Oeff-
nungsreiz wirkt also hier (bei Anwendung starker Ströme) so wie
schwache Schliessungsreize. Dies lässt sich auch am Menschen beobach-
ten, wenn man die Elektroden einer genügend starken Kette in den
sulcus bicipitalis internus anlegt. Bei einer gewissen Stromstärke
zucken dann bei der Schliessung andere Muskeln als bei der Oeffnung
(Beugung der Hand bei Schluss, Pronation bei Oeffnung).
An der Krebsscheere gestalten sich, wie zu erwarten war, die
Reizerfolge mit dem Kettenstrom unter Umständen ausserordentlich
verwickelt (Bieder m a n n , 43). Wie schon früher besprochen wurde
(p. 524 ff.), hatte sich bei tetanisirender Reizung des Scheerennerven
herausgestellt, dass der tonisch verkürzte Schliessmuskel ungefähr bei
derselben relativ geringen Stromstärke erschlafft, bei welcher sich der
Scheerenöffner kräftig contrahirt, während umgekehrt starke Ströme
zwar jenen in tetanische Contraction versetzen , an diesem dagegen
Die elektrische Erregung der Nerven. 601
entweder keinerlei sichtbare Gestaltveränderungen hervorrufen, oder,
falls Tonus vorhanden ist, Erschlaffung bewirken. Es schien demnach
ein vollständiger Antagonismus der Erregungsbedingungen für die
beiden Muskeln zugehörigen Nerven zu bestehen.
Dem gegenüber gestalten sich die Reizerfolge bei Anwendung von
Kettenströmen wesentlich verwickelter, und ist vor Allem zu betonen,
dass eine „neutrale Zone" der Stromstärke in dem oben erwähnten
Sinne dann niemals nachweisbar ist, wenngleich auffallende und
durchaus gesetzmässige Unterschiede der Wirkungsweise verschieden
starker Ströme auch hier nicht fehlen. In Uebereinstimmung mit dem
Verhalten der Reizerfolge bei tetanisirender Erregung des Nerven
mittels Wechselströmen lässt sich nämlich zeigen, dass auch bei
Schliessung eines Kettenstromes an dem Oeffnungsmuskel die Erregungs-
erscheinungen, an dem Schliessmuskel dagegen die Hemmungswirkungen
tiberwiegen oder auch allein hervortreten, wenn die Stromesintensität
gering ist, während bei Anwendung starker Ströme der umgekehrte
Erfolg eintritt. Doch sind die Erscheinungen im Einzelnen viel
schwerer zu übersehen, weil bei jeder nicht zu schwachen Reizung
in der Regel beiderlei Wirkungen (Erregung und Hemmung) sich
geltend machen, so dass bei graphischer Darstellung der Gestalt-
veränderungen eines der beiden tonisch verkürzten Muskeln unter
Umständen höchst complicirte Curven erhalten werden, deren Deutung
nur auf Grund der früheren Erfahrungen möglich war.
Am einfachsten und den Erfahrungen an anderen Nerv-
Muskelpräparaten durchaus entsprechend gestalten sich die Erregungs-
erscheinungen an dem tonusfreien Schliessmuskel, indem dieselben
vollkommen dem P f 1 ü g e r ' sehen Zuckungsgesetze entsprechen. Mittel-
starke Ströme wirken hier unabhängig von der Richtung, in welcher
sie den Nei'ven durchfliessen, sowohl bei der Schliessung wie bei der
Oeffnung erregend, während ein starker, absteigender Strom nur
Schliessungserregung, ein starker aufsteigender dagegen nur Oeffnungs-
erregung bewirkt. Bemerkenswerth erscheint bei diesen Versuchen
der Umstand, dass jede stärkere Reizung zu einer mehr oder weniger
lang anhaltenden, tetanischen Verkürzung des Muskels Anlass giebt,
so dass hier, wie schon erwähnt, die Dauererregung durch
den Constanten Strom zur Regel wird.
Abgesehen von anderen, noch näher zu erörternden Unterschieden
zeigt sich bei gleichartigen Versuchen an dem tonusfreien Oeffnungs-
muskel, dass hier in der Regel schon viel schwächere Ströme erregend
wirken, als bei dem Schliessmuskel, während starke unter Umständen
gänzlich wirkungslos bleiben, in anderen Fällen aber erheblich
schwächere Contractionen auslösen als Ströme von geringerer Intensität.
Doch gehört dieses letztere paradoxe Verhalten keineswegs zur Regel
und kann nicht einmal als sehr häufiges Vorkommniss bezeichnet
werden.
Die Stromesrichtung erscheint bei allen Versuchen an den Scheeren-
muskeln insoferne von Belang, als die Schliessungserregung in der
Mehrzahl der Fälle eher bei aufsteigendem als bei absteigendem Strome
beginnt, während für den Oeffnungsreizerfolg das Umgekehrte gilt.
Die Ursache dieses Verhaltens dürfte nicht sowohl in besonderen
Eigenschaften der Nervenfasern, als vielmehr in dem Umstände zu
suchen sein, dass bei der gewählten Versuchsanordnung die Strom-
dichte an Stelle der beiden Elektroden nicht gleich, sondern an dem
Biedermann, Elektrophysiologie. 39
602
Die elektrische Erregung der Nerven.
nach der Peripherie hin gelegenen Reizorte geringer ist, als an dem
centralen. Es hängt dies wohl von der Gestalt des zur Einführung
der (Faden-) Elektroden benützten Armgliedes ab, dessen Querschnitt
nach der Scheere hin beträchtlich zunimmt. Es gelingt, den erwähnten
Unterschied auszugleichen oder sogar in das Gegentheil zu verkehren,
wenn man die Fäden möglichst nahe dem an der inneren Kante des
betreffenden Gliedes verlaufenden Nerven durchzieht, oder überhaupt
ein mehr basalwärts gelegenes Armglied zur Reizung benützt.
Jeder Zweifel bezüglich der Giltigkeit des P f 1 ü g e r ' sehen Er-
regungsgesetzes für die Nerven des Schliessmuskels sowohl wie für
jene des Oeffnungsmuskels lässt sich übrigens in einfachster Weise
durch später noch zu erwähnende Versuche mit Ausschaltung der central
gelegenen Elektrode ausschliessen.
Fig. 195. Schliessmuskel der Krebs-
scheere. Reizung des Nerven mit Ketteu-
strömen. Der vorhandene Tonus wird
durch Schliessung schwächerer Ströme
(«, b) nur wenig oder gar nicht verstärkt,
sondern wesentlich gehemmt. Umge-
kehrt wirkt Schliessung eines starken
Stromes (c).
Während an tonusfreien, in der angegebenen Weise behandelten
Präparaten die Folgeerscheinungen der Reizung mit Kettenströmen
sich im Ganzen ziemlich gleichförmig gestalten, herrscht bei aller
Gesetzmässigkeit im Einzelnen eine überraschende Mannigfaltigkeit
der Reizerfolge, wenn es sich um Präparate eines der beiden Scheeren-
muskeln mit mehr oder weniger entwickeltem Tonus handelt. Bei
dem Umstände, dass dann, wie schon erwähnt wurde, jede einzelne
Reizung den betreffenden Muskel in gerade entgegengesetztem Sinne
zu beeinflussen vermag und, wie gezeigt werden soll, auch thatsächlich
gegensinnige Gestaltveränderungen hervorbringt, indem je nach dem
Zustande des Präparates, sowie der Stärke und Richtung des Reiz-
stromes, bald die Wirkungen der Erregung, bald die Folgen der Hemmung
überwiegen, erscheint dies leicht begreiflich.
Um die gesetzmässige Abhängigkeit der Hemmungs- und Er-
regungswirkungen des Kettenstromes von dessen Richtung und Stärke
Die elektrische Erregung der Nerven. 603
ZU übersehen , erscheinen jene Präparate des Schliessmuskels am ge-
eignetsten, welche sich in einem mittleren tonischen Contractions-
zustande befinden und daher beiderlei Folgewirkungen der Erregung
durch entsprechende Gestaltveränderungen verrathen können.
Reizt man dann bei zunehmender Stromesintensität abwechselnd
mit auf- oder absteigendem Strome oder bei unveränderter Stromes-
richtung, so treten in der Regel auf den ersten Blick gewisse charak-
teristische Eigenthümlichkeiten der Reactionsweise hervoi-, welche mit
Berücksichtigung früherer Erfahrungen über die Erfolge tetanisirender
Nervenreizung den Schliessmuskel auf das Schärfste von dem Oeffnungs-
muskel zu unterscheiden gestatten.
Zunächst fällt sofort auf, dass bei Präparaten des ersterwähnten
Muskels schwächere und mittelstarke Ströme vorwiegend hemmend
wirken, während bei Anwendung starker Ströme die Folgen der
Erregung überwiegen, beziehungsweise allein sich geltend machen
(Fig. 195 a, &). P]s äussert sich dies einerseits in dem Umstände, dass
die stets dem Momente der Schliessung entsprechende Verstärkung des
Tonus, also die Verkürzung des Muskels, bei wachsender Reizstärke
bis zu einer gewissen oberen Grenze, welche in Folge der mechanischen
Bedingungen des Versuches vielleicht nicht dem erreichbaren Maximum
der Contraction entspricht, zunimmt, während anderseits auch die Dauer
des Schliessungstetanus wächst, wodurch es bedingt wird, dass die bei
jeder Einzelreizung deutlich hervortretende Hemmung (Erschlaffung)
sich um so später nach Beginn der Reizung (Schliessung) geltend
macht, je stärker der benützte Strom war.
Fasst man demnach nur die aufeinander folgenden Veränderungen
der Verkürzungserscheinungen ins Auge, so kann man von einem all-
mählichen Uebergang an Höhe zunehmender, mehr oder weniger gedehn-
ter Zuckungen in einen ausgeprägten, lang anhaltenden Schliessungs-
tetanus sprechen und bemerkt dann sofort die Uebereinstimmung mit
dem Verhalten des erschlafften tonusfreien Muskels unter gleichen
Verhältnissen. Nicht selten kommen letzterenfalls bei einer gewissen
Stromstärke Schliessungszuckungen von auffallender Kürze vor, deren
Curve durch einen sehr spitzen Gipfel sich auszeichnet, und ich möchte
die Vermuthung aussprechen, dass es sich hier um die Folgenwirkung
einer rasch nach der Schliessung zur Geltung gelangenden Hemmung
handeln dürfte, da sonst in der Regel der Verlauf der Schliessungs-
zuckungen ein gedehnter zu sein pflegt.
Anfang und Ende einer Versuchsreihe an einem tonischen Schliess-
muskel sind gewöhnlich durch einsinnige (und zwar gerade entgegen-
gesetzte) Reizerfolge gekennzeichnet, während zahlreiche und mannig-
faltige Uebergänge doppelsinniger Wirkungen dazwischen liegen, die
je nach der Stromstärke durchaus gesetzmässige Beziehungen in dem
gegenseitigen Verhältnisse zwischen Erregung und Hemmung, Con-
traction und Erschlaffung erkennen lassen.
Ausnahmslos und in Uebereinstimmung mit allen früheren Er-
fahrungen zeigt sich, dass einsinnige Hemmungswirkungen bei indirecter
Reizung des Schliessmuskels mit Kettenströmen, nur bei verhältniss-
mässig geringer Intensität der letzteren hervortreten, während sehr
starke Ströme ausschliesslich erregend wirken; wenigstens gilt dies
während der ersten Zeit nach der Schliessung.
Es ist mit Rücksicht auf die noch mitzutheilenden Erfahrungen
an dem Oeffnungsmuskel der Krebsscheere besonders hervorzuheben,
39*
g()4 Die elektrische Erregung der Nerven.
dass, sobald einmal der Reizstrom eine genügende Intensität besitzt,
um eine merkliche Verstärkung des bestehenden Tonus bei der Schliessung
hervorzurufen, diese unter allen Umständen der darauffol-
genden, durch Hemmung bewirkten Verminderung des
Tonus vorangeht.
An der Curve macht sich jene anfangs nur als kleine Erhebung
vor der tiefen Einsenkung bemerkbar, welche der Schreibhebel infolge
des durch Hemmung des Tonus bewirkten Herabsinkens des nach
unten gekehrten, frei beweglichen Scheerenarmes verzeichnet. Jede
folgende stärkere Reizung lässt dann die Folgewirkungen der Erregung
immer deutlicher hervortreten, während jene der Hemmung anfangs
zwar noch in gleicher Stärke, aber infolge der zunehmenden Dauer
des Schliessungstetanus mehr und mehr verspätet zur Geltung gelangen.
Die Curve erhebt sich daher zunächst steil über die anfängliche,
dem bestehenden Tonus entsprechende Abscissenlinie, um früher oder
später plötzlich tief unter dieselbe herabzusinken (Fig. 196), worauf sie
entweder sofort oder nach einiger Zeit langsamer wieder ansteigt,
so dass der Schreibhebel seine Anfangslage oft noch Avährend der
Schliessungsdauer, anderenfalls jedoch erst
nach Oeffnung des Kreises erreicht. Es
kommt nicht selten vor, dass bei einer ge-
wissen Stromstärke die Verkürzung des
tonischen Muskels bei Schliessung des
Kreises der darauf folgenden Erschlaffung,
sowohl hinsichtlich der Grösse, als auch
bezüglich der Dauer nahezu entspricht, so
dass der oberhalb der Abscisse gelegene
erste Abschnitt der Curve dem unterhalb be-
findlichen fast vollkommen gleicht (Fig. 196).
Bei Stromstärken diesseits dieser Grenze
pflegt dann im Allgemeinen die zweite Hälfte
Fig. 196. der Curve zu überwiegen, während jenseits
derselben die Wirkungen der Erregung auf
Kosten der Hemmungserfolge immer mehr in den Vordergrund treten
und daher der erste Abschnitt der Curve charakteristische Bedeutung
erlangt.
Die Hemmungswirkungen sind oft so wenig scharf ausgeprägt,
dass man sie ohne Kenntniss der Wirkungsweise schwächerer Ströme
als selbständige Reizerfolge leicht ganz übersehen und möglicherweise
nur als Ermüdungserscheinungen infolge der unmittelbar vorhergehenden
Dauererregung auffassen könnte. Dagegen spricht freilich schon der
bereits erwähnte Umstand, dass die Wiederentwicklung des in mehr
oder weniger hohem Grade gehemmten Tonus in der Regel noch während
der Schliessungsdauer erfolgt, vor Allem aber die Thatsache, dass, wie
sich nicht selten zeigt, die Oeffnung eines stärkeren Stromes in der-
selben Weise hemmend wirkt, wie die Schliessung eines schwachen.
Man beobachtet dann bei Oeffnung des Reizkreises ein ähnliches Ab-
sinken der Curve wie vorher, während der Dauer der Schliessung
(Fig. 195 c).
Wenn, wie die vorstehend geschilderten Versuchsergebnisse lehren,
das Verhalten des tonisch verkürzten Schiiessmuskels bei Reizung des
Nerven mit Kettenströmen dadurch charakterisirt ist, dass mit zu-
nehmender Stromstärke die Hemmungswirkungen gegenüber den Folge-
Die elektrische Erregung der Nerven.
605
erscheinungen der Erregung mehr und mehr zurücktreten und schliesslich
unmerklich werden, ist bei dem durch seinen wesentlich stärkeren
und insbesondere viel beständigeren Tonus ausgezeichneten Oeffnungs-
muskel gerade das Gegentheil der Fall. Dies ergiebt sich sofort
aus der Vergleichung der unter möglichst gleichartigen Versuchs-
bedingungen gewonnenen Curven (Fig. 195 und Fig. 197), die in mancher
Beziehung in geradem Gegensatze zu einander stehen.
Während der Tonus des Schliessmuskels durch die schwächsten,
eben wirksamen Ströme in der Regel gehemmt wird, ohne dass
eine merkliche Erregung vorhergeht oder im Verlaufe einer längeren
Schliessung folgt, besteht die erste Wirkung schwacher Reize bei
dem Oeffnungsmuskel ganz vorwiegend in einer Verstärkung des eben
Fig. 197. Oefihungsmuskel der Krebsscheere (tonisch) ; Reizung mit Kettenströmen von
zunehmender Intensität; wachsende Hemmungserfolge als primäre Reizwirkungen. Die
Zeitmarken entsprechen Secunden.
bestehenden Tonus, und herrscht somit in dieser Beziehung vollständige
Uebereinstimmung zwischen dem Erfolge der Reizung mit tetanisirenden
Wechselströmen und mit dem Kettenstrome. Doch macht sich schon
bei geringer Verstärkung des letzteren sowohl im einen wie im anderen
Falle als sehr bemerkenswerther Unterschied der Umstand geltend,
dass nunmehr jeder Einzelreizung doppelsinnige Wirkungen entsprechen.
Wä hrend aber bei dem Schliessmuskel die Erregung
der Hemmung stets vorangeht, ist gerade das Ge gen-
theil bei dem Oeffnungsmuskel der Fall. In Bezug auf
den Moment der Schliessung des Reizkreises tritt dem-
nach hier die Erregung (Contraction), dort dagegen die
Hemmung (Erschlaffung) verspätet ein, und es ist im
einen Falle diese, im anderen jene als primäre Stromes-
wirkung zu bezeichnen.
606
Die elektrische Erregung der Nerven.
Wie bei dem Schliessmuskel die Folgewirkung der Erregung zur
Zeit ihres ersten Auftretens als selbständiger Bestandtheil der Curve
eben nur angedeutet erscheint, so gilt das Gleiche auch bezüglich des
Hemmungserfolges bei indirecter Reizung des Oeffnungsmuskels. So
zeigt Fig. 197« nach einem ganz geringfügigen, im Augenblicke der
Schliessung beginnenden Absinken der Curve ein beträchtliches An-
steigen derselben als Folge der nun erst zur Geltung kommenden
Schliessungserregung, welche in h und c zu einer dauernden Ver-
stärkung des ursprünglich vorhandenen Tonus führt. Derselbe
schwache Strom bewirkte bei der minder günstigen, absteigenden
Richtung nur Schliessungserregung ohne vorhergehende Hemmung
und wirkte daher im Sinne eines schwächeren Reizes. Derselbe grad-
weise Unterschied der Wirkung beider Stromesrichtungen macht sich
in den meisten Fällen mehr oder weniger deutlich bemerkbar, wo ab-
wechselnd mit auf- und absteigendem Strome gereizt wird. Bei zu-
nehmender Stärke des Reizes tritt der primäre Hemraungserfolg immer
deutlicher hervor, indem einerseits die Curve bei Schliessung des
Fig. 198. Oefifnungsmuskel der Krebsscheere (tonusfrei); Reizung mit schwachem (a)
und starkem {b) Kettenstrom; letzterenfalls bedeutende Verspätung der Schliessungs •
contraction.
Stromes tiefer absinkt und anderseits um so später wieder zur Abscissen-
linie ansteigt, beziehungsweise über dieselbe sich erhebt, je stärker
der benützte Strom ist.
Da bei indirecter Reizung des Schliessmuskels mit nicht zu
schwachen Kettenströmen die Hemmung, bei Reizung des Oeffnungs-
muskels mit starken vStrömen dagegen die Erregung mehr weniger
verspätet nach der Schliessung sich durch entsprechende Gestaltver-
änderungen des betreffenden Muskels geltend macht, so kann man
bei nicht hinreichend langer Schliessungsdauer in beiden Fällen leicht
zu der Annahme verleitet werden, dass es sich nur um einsinnige oder
fehlende Reizerfolge handelt. Dies ist bei Präparaten des Oeffnungs-
muskels besonders dann der Fall, wenn infolge des mangelnden Tonus
direct durch Gestaltveränderungen des Muskels erkennbare Hemmungs-
wirkungen fehlen.
Diese verrathen sich dann eben nur durch eine unter
Umständenmehrere Secunden betragendeVerlängerung
des Latenzstadiums, eine Thatsache, welche den betreffenden
Curven ein ganz charakteristisches Gepräge verleiht und dieselben
sofort, als von dem Oeffnungsmuskel herrührend, erkennen lässt
(Fig. 198 a, h). Dass es sich dabei wirklich um nichts Anderes, als um
die Folge einer der erregenden Wirkung des Stromes vorausgehenden
Die elektrisclie Erregung der Nerven. 607
Hemmung handelt, zeigt sieh mit besonderer Deutlichkeit in solchen
Fällen, wo bei einer und derselben Stromstärke der Muskel einmal
gereizt wird, solange noch ein erheblicher Tonus vorhanden ist, und
ebenso später in vollkommen erschlafftem Zustande.
In beiden Fällen erscheint dann die Schliessungscontraction in an-
nähernd gleichem Grade verspätet, während aber einmal bei Schliessung
des Kreises eine sichtbare Verminderung des Tonus eintritt, veiTäth
sich die Hemmung anderenfalls nur durch die entsprechende Ver-
längerung des Latenzstadiums.
Man ist bei Beachtung dieses Umstandes in der Lage, eine der
Erregung vorausgehende hemmende Wirkung des Kettenstromes fast in
jedem einzelnen Falle und selbst schon bei Anwendung verhältniss-
mässig schwacher Ströme nachzuweisen, indem eine schon bei geringer
Geschwindigkeit der Schreibfläche merkliche Verzögerung im Eintritte
der Verkürzung in der Regel nur bei der geringsten, eben wirksamen
Stromstärke fehlt. Im Uebrigen fallen begreiflicherweise die Zeit-
werthe der Verzögerung bei verschiedenen Präparaten sehr verschieden
aus und nehmen in der Regel auch an demselben Präparate bei öfters
wiederholter Reizung ab, wenngleich die erregenden Wirkungen des
Stromes noch keine Verminderung erkennen lassen.
Gerade wie bei Präparaten des Schliessmuskels , je nach dem
Zustande derselben, der hemmende Erfolg der Reizung manchmal sehr
deutlich ausgeprägt erscheint, während er in anderen Fällen ungeachtet
der etwa gleichen Entwicklung des Tonus nur angedeutet oder ganz
unmerklich ist, ein Verhalten, das wohl in erster Linie auf wechselnde
Zustände des betreffenden Muskels zu beziehen sein dürfte, so hat
man vielfach auch an dem Oeffnungsmuskel Gelegenheit, ähnliche
Verschiedenheiten zu beobachten, wiewohl sich die Hemmungswirkungen
hier im Allgemeinen mit viel grösserer Sicherheit einstellen, als an
dem Antagonisten.
Wie oben erwähnt wurde, überwiegt die erregende Wirkung
starker Kettenströme bei dem Schliessmuskel so sehr deren hemmenden
Einfluss, dass dieser letztere bei starker Reizung nur ausnahmsweise
noch zur Geltung gelangt, indem eine vorübergehende Erschlaffung
den Schliessungstetanus früher oder später unterbricht. Dies gilt nicht
in gleicher Weise für den Oeffnungsmuskel, wo selbst bei Anwendung
starker Ströme die Hemmung, welche hier bezüglich der Abhängigkeit
von der Reizstärke der Erregung des antagonistischen Muskels ent-
spricht, im Verlaufe einer längeren Schliessung fast regelmässig von
der darauffolgenden Erregung durchbrochen wird, die, wie die Hemmung
des Schliessmuskels, offenbar erst dann zur Geltung kommen kann,
wenn die Stärke des Reizes während der Schliessungsdauer allmählich
abnimmt. In diesem letzteren Umstände ist wohl auch hauptsächlich
der Unterschied der Reizerfolge bei Anwendung des Kettenstromes
und tetanisirender Wechselströme begründet.
Bezüglich der Oeffnungsreizerfolge ist zu bemerken, dass dieselben,
Avie überhaupt, so auch hier immer erst bei stärkeren Strömen hervor-
treten als die Wirkungen der Schliessungsreize, und wie diese je nach
Umständen zu entgegengesetzten Gestaltveränderungen des Muskels
führen. Infolge der geringeren Stärke des Oeffnungsreizes wirkt der-
selbe jedoch in der Mehrzahl der Fälle auf den Oeffnungsmuskel nur
erregend und erreicht selten genügende Stärke , um Hemmung eines
vorhandenen Tonus zu bewirken. Kommen jedoch in einem solchen
608 Die elektrische Erregung der Nerven.
Falle die erregenden Wirkungen des Stromes überhaupt nicht zum
Ausdrucke, so kann der Reizerfolg sowohl bei Schliessung, wie bei
Oeffnung des Kreises in einer vorübergehenden Erschlaffung des tonisch
verkürzten Muskels bestehen ; die Curve bildet dann zwei Einsenkungen,
deren eine bei der Schliessung beginnt und sich noch während der
Schliessungsdauer wieder ausgleicht, während die andere kleinere der
Oeffnung des Reizkreises entspricht (Fig. 199).
Mit Rücksicht auf die doppelsinnigen, theils hemmenden, theils
erregenden Wirkungen der Reizung mit Kettenströmen bei beiden
Muskeln der Krebsscheere erschien die Untersuchung der Frage von
Wichtigkeit, ob unter der Voraussetzung rein polarer Wirkungen des
Stromes beiderlei Erfolge einerseits bei der Schliessung, anderseits
bei der Oeffnung von derselben Elektrode ausgehen, oder ob etwa in
dieser Beziehung ein Gegensatz zwischen den Auslösungsbedingungen
der Erregungs- und Hemmungserfolge besteht.
Für den tonusfreien Schliessmuskel
ist bereits früher erwähnt worden, dass
die erregenden "Wirkungen hinsichtlich
ihrer Entstehung durchaus dem Pflüger'-
schen Gesetze entsprechen, indem sowohl
bei Anwendung sehr starker Ströme, wie
auch nach Ausschaltung des Einflusses der
centralwärts gelegenen Elektrode durch par-
tielle Aljtödtung des Nerven der absteigend
gerichtete Strom nur bei der Schliessung,
Fig. 199. der aufsteigende dagegen nur bei der Oeff-
nung des Kreises erregend wirkt.
Da ersterenfalls wegen der sehr bedeutenden Widerstände im
Reizkreise und der geringen Dichte innerhalb der durchflossenen
Strecke der Strom eine sehr beträchtliche Intensität besitzen muss,
um mit Beibehaltung uupolarisirbarer Elektroden der dritten Stufe
des Pflüger ' sehen Zuckungsgesetzes entsprechende Reizerfolge zu
erzielen, so ist das zweite oben erwähnte Verfahren im Allgemeinen
vorzuziehen.
Mit Hülfe desselben lässt sich in einfacher Weise bei beliebiger
Intensität des Stromes für den Schliessmuskel sowohl wie für den
Oeffnungsmuskel der Beweis liefern, dass in der That nicht nur
die erregenden Wi r k u u g e n , sondern auch d i e H e m m u n g s -
erfolge bei der Schliessung von der Kathode, bei der
Oeffnung dagegen von der Anode ausgehen.
Es genügt hierzu, den Scheerennerven in der Nähe der central-
wärts gelegenen Elektrode zu durchschneiden oder ein entsprechendes
Stück desselben von vorneherein durch Erwärmen (Eintauchen des
Scheerenarmes in heisses Wasser bis in die Nähe der Reizstrecke)
abzutödten. Dabei leidet freilich bisweilen der Tonus des betreffenden
Muskels , so dass es nicht immer gelingt, durchaus befriedigende Re-
sultate zu erzielen, die jedoch in anderen Fällen vollkommen beweisend
ausfallen.
An den Hemmungsfasern des Vagus für das Herz hat Donders
(44) polare Wirkungen im Sinne des Pflüg er 'sehen Gesetzes constatirt,
indem er die Herzschläge graphisch verzeichnete; bei wirksamer
Schliessung oder Oeffnung eines Kettenstromes beobachtet man nach
kurzer Latenzzeit eine deutliche Verlängerung der folgenden, besonders
Die elektrische Erregung der Nerven. 609
der zwei nächsten Pulsationen, und zwar treten mit zunehmender Strom-
stärke die Wirkungen in folgender Reihenfolge auf: aufsteigende
Schliessung, absteigende Schliessung, absteigende Oeffnung, aufsteigende
Oeffnung. Die Wirkungen der aufsteigenden Schliessung und ab-
steigenden Oeffnung erreichen bald ein Maximum, nehmen dann aber
ab und fehlen bei starken Strömen ganz, also genau dem Zuckungs-
gesetz entsprechend.
Mit Rücksicht auf die Trägheit der meisten glatten Muskeln und
ihre dadurch bedingte Unfähigkeit, auf einen einmaligen kurzen Reiz-
anstoss zu reagiren, war von vorneherein zu erwarten, dass hier die
Erscheinungen des polaren Erregungsgesetzes bei indirecter Reizung
entweder gar nicht oder nur ausnahmsweise hervortreten werden. So
sieht man keinerlei Erfolg bei einmaliger Schliessung oder Oeffnung,
wenn ein Kettenstrom auf den Halssympathicus einwirkt, während
wiederholte Schliessung und Oeffnung deutliche Verengerung der Ohr-
gefässe beim Kaninchen bewirkt. Dagegen gelingt es, an den ver-
hältnissmässig rasch reagirenden Muskeln des Sphynkter iridis (bei
Katzen) das Pflüger'sche Gesetz zu demonstriren. Ebenso am Mantel-
nerven von Eledone (v. Uexküll 45). Schliessung und Oeffnung
mittelstarker Ströme giebt bei auf- wie absteigender Richtung Con-
traction. Schliessung eines starken, absteigenden Stromes giebt Tetanus
während der ganzen Schliessungsdauer, bleibt dagegen bei aufsteigender
Richtung erfolglos; Oeffnung des Kreises erzeugt in diesem Falle lang-
anhaltenden Oeffnungstetanus. Oft ist der absteigende Schliessungs-
tetanus rhythmisch.
Auch an secretorischen Nerven lässt sich das Pflüger'sche
Gesetz nachweisen, wenn man sich als Index der Erregung der galva-
nischen Veränderungen der Drüsenzellen bedient. Besonders leicht
gelingt dies an der Froschzunge bei Reizung des N. glossopharyngeus
(Biedermann 8). Es zeigt sich hierbei wieder, in wie viel höherem
Grade Kettenströme geeignet sind, die secretorischen Nerven zu erregen
als etwa einzelne Inductionsschläge, welche selbst bei beträchtlicher
Intensität noch kaum eine Veränderung des Zungenstromes bewirken,
während einmalige Schliessung eines mittelstarken Kettenstromes stets
von sehr deutlichem Erfolge begleitet ist. Unzweifelhaft hängt diese
auffallende Verschiedenheit der Wirkung in beiden Fällen nur von
der verschiedenen Dauer des Stromes ab, und es liegt hierin nicht
nur ein neuer Beweis gegen die Allgemeingiltigkeit des Du B o i s ' -
sehen allgemeinen Erregungsgesetzes, sondern zugleich auch ein weiterer
Beleg für die Richtigkeit der von G r ü t z n e r und Schott vertretenen
Ansicht, dass schnelle Reize wesentlich die rasch reagirenden, langsame
dagegen die trägeren Endapparate in Erregung zu versetzen geeignet
sind. Wird bei stark entwickeltem, einsteigendem Zungenstrom nach
vorhergehender Compensation der Strom von 3—6 Dan. Elementen in
absteigender Richtung geschlossen, so erfolgt regelmässig nach kurzer
Latenzzeit (von 1 — 2 See.) eine einsinnig negative Schwankung von
oft sehr beträchtlicher Stärke, die während der Schliessung einige Zeit
bestehen bleibt und sich nach Oeffnung des Reizkreises rasch aus-
gleicht, wobei sich bei nicht zu starken Strömen die Oeffnungserregung
als ein Zögern, oder selbst als ein kurzer Stillstand des Rückganges
geltend macht. Dies ist in der Regel noch viel deutlicher ausgeprägt
bei Reizung mit aufsteigend gerichteten Strömen, deren Schliessung
ebenfalls eine einsinnige, aber wesentlich schwächere, negative Schwan-
Q1Q Die elektrische Erregung der Nerven.
kung bedingt als- bei absteigender Stromesrichtung. Bedient man sich
sehr starker Ströme, so können die Reizerfolge durchaus der dritten
Stufe des „Zuckungsgesetzes" entsprechen, indem bei absteigender
Richtung lediglich eine „Schliessungsschwankung", bei aufsteigender
dagegen nur eine „Oeffnungsschwankung" hervortritt. Wie von vorne-
herein zu erwarten war, bewirkt abwechselndes Schliessen bei entgegen-
gesetzter Stromesrichtung durch Hin- und Herwenden der Pohl 'sehen
Wippe stets eine ausserordentlich starke Schwankung des Ruhestromes.
An centripetalleitenden (sensiblen) Nerven hat wieder Pflüger
(46) zuerst die Wirkungen von Strömen verschiedener Richtung und
Stärke untersucht, indem er sich als Reagens der Erregung der aus-
gelösten Reflexbewegungen bediente. Die Frösche waren schwach mit
Strychnin vergiftet, und es wurden die Ströme dem isolirten Ischiadicus
zugeleitet und zur Vermeidung künstlicher Querschnitte der unent-
häutete Unterschenkel am Nerven belassen. Es zeigten sich dabei
die Angaben von Marianini und Matte ucci für die starken
Ströme völlig bestätigt. Nur die Schliessung des aufsteigenden und
die Oeffnung des absteigenden Stromes erregten Reflexe, weil im ersten
Falle die katelektrotonische, im letzteren die anelektrotonische Nerven-
strecke direct mit dem Rückenmark communicirte; der am Nerven
belassene Unterschenkel zuckte dagegen, dem Zuckungsgesetz ent-
sprechend, nur bei den beiden entgegengesetzten Acten. Bei mittel-
starken Strömen Avurden alle vier Acte mit Reflex beantwortet, wie
auch schon Matteucci gesehen hatte. In neuerer Zeit haben Set-
schenow und H allsten (46) über denselben Gegenstand Unter-
suchungen angestellt, Avelche im Wesentlichen auch zu gleichen Re-
sultaten führten.
Wesentlich complicirter gestalten sich die Erfolge bei Reizung
gemischter, aus antagonistisch wirkenden Fasern bestehender, centri-
petalleitender Nerven, wie beispielsweise des N. vagus. Schon
Grützner hatte gefunden, dass Schliessung und Dauer constanter,
aufsteigender Ströme, in minderem Maasse auch Oeffnung absteigender
Ströme die Athmung im hemmenden, exspiratorischen Sinne be-
einflusst, während Oeffnung des aufsteigenden und Schliessung des
absteigenden Stromes wirkungslos bleiben. Neuerdings haben Langen-
der ff und R. Oldag (7) diese Thatsachen einer abermaligen genaueren
Untersuchung unterzogen und gezeigt, dass in der That ein auf das
centrale Vagusende wirkender aufsteigender Kettenstrom „in allen
Fällen die Athmung im exspiratorischen Sinne beeinflusst, d. h. entweder
einen längeren exspiratorischen Stillstand herbeiführt, oder doch
die Athmung durch Hervorrufung exspiratorischer Pausen verlangsamt",
und zwar ist dies nicht nur der Fall im Momente der Schliessung,
sondern auch während dauernder Durchströmung. Die Oeffnung des
Stromes bedingt in der Mehrzahl der Fälle eine deutliche inspira-
torische Wirkung, die sich entweder nur durch eine Vertiefung der
Inspiration oder durch einen kurz dauernden inspiratorischen Stillstand
verräth. Die Schliessung und Dauer des absteigenden Kettenstromes
fanden Langend orff und Oldag stets viel schwächer wirksam, als
die des aufsteigenden, und zwar im antagonistischen Sinne, d. h. inspi-
ratorisch, während Oeffnung des Kreises dann, wenn überhaupt,
einen exspiratorischen Stillstand bedingt.
„Athmungshemmend (exspiratorisch) wirkt demnach
Schliessung des aufsteigenden und Oeffnung des ab-
Die elektrische Erregung' der Nerven. 611
steigenden Kettenstromes; athmungser regend (inspira-
torisch) Oeffnung des aufsteigenden und Schliessung
des absteigenden Stromes."
Dieselbe (exspiratorische) Wirkung, wie durch aufsteigende Dauer-
ströme, lässt sich bei gut betäubten Thieren auch durch unterbrochene
Kettenströme gleicher Richtung erzielen, besonders wenn die Unter-
brechungszahl klein und die jedesmalige Schliessungsdauer lang gewählt
wird. Umgekehrt lassen sich inspiratorische Wirkungen nicht nur
durch Schliessung absteigender Dauerströme, sondern vor Allem durch
rhythmische Reizung bei gleicher Stromesrichtung erzielen. Eine sichere
Deutung aller dieser Thatsachen ist ohne weitere Untersuchungen
kaum möglich; jedenfalls aber bedarf die Annahme Langend orff s,
dass „einfache galvanische Stromschwankungen und die Stromesdauer
nur hemmend, oscillatorische Schwankungen aber erregend Avirken",
und dass „die von der unteren, distalen Elektrode ausgehende Erregung
ein tetanisirendes Element enthalte", sehr der weiteren Prüfung.
Von grösstem theoretischen Interesse sind Versuche über die
polare Erregung der höheren Sinnesnerven durch den
Kettenstrom, bei welchen die Empfindung als Reagens der Erregung
dient. Schon die älteren Galvaniker haben auf diesem Gebiete eine
Fülle von Erfahrungen gesammelt, deren Deutung allerdings vielfach
sehr berechtigte Zweifel wachruft. Am übersichtlichsten liegen die
Verhältnisse beim Geschmackssinn. Hier wie in allen übrigen
noch zu erwähnenden Fällen muss vor Allem berücksichtigt werden,
dass eine isolirte Reizung desbetre f f e nden Sinnes nerven
nicht möglich ist, sondern dass unte?* allen Umständen
die peripheren Endorgane (Sinneszellen) miterregt
werden.
Als das erste und wichtigste Resultat aller älteren Versuche ist
die folgende Thatsache zu bezeichnen: Wenn durch die Zunge
ein elektrischer Strom geht, so hat man an der Stelle,
an welcher der Strom eintritt (Anode) einen säuerlichen,
an der Austrittsstelle dagegen (Kathode) einen andern
Geschmack, der wohl für gewöhnlich als alkalisch be-
zeichnet wird, obwohl schon Volta ihn nur als etwas alkalisch,
scharf, herb, sich dem bittern nähernd, beschrieb. Diese beiden
Empfindungen, von denen die eine (kathodische) immer wesentlich
schwächer ist als die andere (anodische), dauern so lange fort,
als der Strom anhält, und erleiden beim Oeffnen des
Kreises, wie schon Ritter beobachtete, eine deutliche Umkehr.
Rosenthal (47) vermochte dies zwar nicht zu constatiren und fand
bloss, dass der saure Geschmack nach der Oeffnung des Stromes
kurze Zeit fortdauerte, der alkalische dagegen rasch verschwand.
Indessen bestätigte v. Vintschgau (47) die alten Beobachtungen
Ritter 's, indem, wenn die Kathode auf dem Zungengrunde lag, im
Momente des Oeffnens der vorwiegend säuerliche Geschmack in einen
schwach metallischen überging.
Schon 1793 hatte Pfaff die Verschiedenheiten des elektrischen
Geschmackes, je nach der Vertheilung der Metalle an der Zunge mit
der Verschiedenheit der Zuckungen je nach deren Vertheilung an Nerv
und Muskel in Zusammenhang gebracht, und in der That liegt es sehr
nahe, die qualitativ verschiedenen, in gewissem Sinne antagonistischen
Polwirkungen bei Reizung der empfindlichen Zungenschleimhaut direct
ßJ2 I^iß elektrische Erregung der Nerven.
mit jenen zu vergleichen, welche an so vielen andern irritablen Sub-
stanzen hervortreten , umsomehr , als auch der Gegensatz zwischen
Schliessungs- und OefFnungswirkungen seine vollständige Analogie in
dem Gresetze der polaren Stromwirkungen findet.
Von weiteren Einzelheiten betreffs der elektrischen Geschmacks-
empfindungen seien hier noch folgende Thatsachen erwähnt, welche
durch neuere Untersuchungen von Laser st ein (47) festgestellt
wurden. Wie es individuelle Verschiedenheiten des Geschmacksinnes
giebt, so zeigt sich auch die Empfindlichkeit verschiedener Individuen,
sowie desselben Individuums zu verschiedenen Zeiten gegenüber dem
Strome wechselnd. Wie schon auf Grund der grösseren Intensität
des anodischen, sauren Geschmackes zu erwarten war, liegt der
Schwellenwerth für den einsteigenden Strom (sauren Geschmack) weit
niedriger als für den aussteigenden. Bei Anwendung unpolarisirbarer
Elektroden ergab sich als Schwellenwerth des Stromes für sauren
Geschmack etwa ^/ise Milli-Ampere. Dieser sehr niedrige Betrag wird
zweifellos durch die hohe specifische Erregbarkeit des Ge-
schmacksorgan es für constante Ströme bedingt, in welcher Hin-
sicht dasselbe alle anderen Sinnesorgane bei Weitem übertrifft. Stromes-
schwankungen erzeugen keine deutliche Verstärkung
der Geschmacksempfindungen.
Bezüglich der Erklärung des elektrischen Geschmackes
gehen die Ansichten noch immer ziemlich auseinander. Hier ist
offenbar vor Allem eine Frage von principieller Bedeutung zu ent-
scheiden: Rühren die Geschmacksempfindungen her von
einer unmittelbaren Reizung der Geschmacksnerven
durch den elektrischen Strom, oder werden sie indirect
durch elektrolytische Zersetzung der Mund flüssigkeit
bedingt? Bekanntlich werden, wenn ein elektrischer Strom durch
eine Flüssigkeit geht, welche Salze der Alkalien enthält — und die
Mundflüssigkeit, welche die Zungenschleimhaut durchfeuchtet, ist eine
solche — , die Salze in der Art zersetzt, dass die Säuren an der Anode,
die Alkalien aber, welche sich sogleich oxydiren, an der Kathode
frei werden. Das Vorhandensein freier Säure am positiven, freien
Alkalis am negativen Pole würde also auf eine sehr einfache Weise
den sauren Geschmack im ersten, den alkalischen im zweiten erklären.
Nun könnte man gegen diese Auffassung die Thatsache geltend machen
wollen, dass die elektrischen Geschmacksempfindungen auch in dem
Falle auftreten, wenn der Strom nicht durch metallische Elektroden
ein- und austritt, wobei ja unzweifelhaft Elektrolyse stattfindet, sondern
der Zunge durch andere Elektrolyte oder unpolarisirbare Elektroden
zugeleitet wird; derartige Versuche sind schon von Monro, Volta
und neuerdings wieder von Rosen thal (47) angestellt worden.
„Rosenthal Hess zwei Personen sich mit der Zungenspitze be-
rühren , die eine hielt mit feuchter Hand den positiven , die andere,
ebenfalls mit feuchter Hand, den negativen Pol einer Kette: die erste
Person hatte einen alkalischen, die zweite einen sauren Geschmack.
In diesem Falle befinden sich beide Personen unter ganz gleichen
Bedingungen bis auf die Richtung des Stromes in ihren Zungen, dieser
ist in beiden entgegengesetzt, und beide haben entgegengesetzte
Empfindungen, obgleich ihre Zungen sich berühren, und somit dieselbe
capilläre Flüssigkeitsschicht, die eine wie die andere Zunge bedeckt. —
Ausserdem hat Rosenthal durch den Körper und durch die Zungen-
Die elektrische Erregimg der Nerven. 613
spitze den Strom einer aus 1 — 4 Elementen bestehenden Daniell'schen
Kette circuliren lassen, jedoch in der Art, dass beide Pole aus Zink-
platten bestanden und in zwei mit Zinkvitriol gefüllte Gefässchen
tauchten; diese standen durch heberförmige Röhren mit zwei andern
Gefässen in Verbindung, von denen das eine mit gesättigter Kochsalz-
lösung, das andere mit destillirtem Wasser gefüllt war. Aus letzterem
ragte ein ebenfalls mit destillirtem Wasser getränkter Fliesspapierbausch
hervor. Wurde nun die eine Hand in die Chlornatriumlösung getaucht
und mit der Zungenspitze der Fliesspapierbausch berührt, so ging der
Strom entweder von der Zunge zum Bausch, oder umgekehrt, was
man durch einen im Kreise belindlichen Stromwender in seiner Gewalt
hatte. Auf den Papierbausch wurde ein Stückchen rothes Lackmus-
papier derart gelegt, dass die Zunge beide berührte. Das rothe Papier
wird bei der Berührung mit der alkalischen Mundflüssigkeit schwach
gebläut, das blaue bleibt unverändert. Beim Schliessen des Stromes
entsteht eine deutliche Geschmacksempflndung, aber die Farbe der
beiden Papierchen bleibt unverändert, mag nun der Strom in der einen
oder in der andern Richtung hindurchgehen." (v. Vintschgau I.e.)
Gegen die Beweiskraft dieser Versuche, welche zeigen sollen, dass
der elektrische Geschmack nicht von der Elektrolyse der Mundflüssig-
keit abhängt, sondern einer directen Erregung der Geschmacksnerven
entstammt, lassen sich jedoch gewichtige Bedenken geltend machen.
Vor Allem ist daran zu erinnern, dass, wie Du Bois Reymond
zeigte, eine Polarisation an der Grenze ungleichartiger
Elektro lyte existirt (Ges. Abh. I. p. 1), und dass hierbei unter ge-
eigneten Umständen in der That sogar Säure und Alkali auftreten
kann (Hermann 48). Es steht daher nichts im Wege, den elektrischen
Geschmack auf elektrolytische Processe innerhalb des Zung en-
geweb es zu beziehen, gleichgültig, wie immer auch die Zuleitung
des Stromes erfolgen mag. Von diesem Gesichtspunkt aus verliert
auch der Versuch von Volta mit dem zinnernen, mit Lauge ge-
füllten Becher (34, HI. 2. p. 185) durchaus alle Beweiskraft, die von
Hermann (I.e.) auch dem zweiten der oben angeführten Rosenthal'-
schen Versuche abgesprochen wird. Gleichwohl dürfte die elektro-
lytische Theorie nicht haltbar sein, wie insbesondere die Resultate der
elektrischen Erregung anderer Sinnesorgane, sowie die gegensinnigen
Nachempfindungen nach OefFnung des Stromes bei Reizung der Zunge
beweisen. Auf die letztere Schwierigkeit weist auch Hermann (1. c.
p. 538) hin, indem er bemerkt, dass im Momente der OefFnung eines
aussteigenden Stromes zwar ein in die polarisirten Organe einsteigen-
der Depolarisationsstrom frei Avird, derselbe kann aber nur vorhandenes
Alkali neutralisiren , nie aber Säure bilden und daher auch keinen
sauren Nachgeschmack an der Kathode erzeugen, der aber thatsäch-
lich auftritt.
Suchen wir uns nun von dem Standpunkte aus Rechenschaft über
die in Rede stehenden Erscheinungen zu geben, dass es sich dabei um
die Folgen directer polarer Erregung nervöser Theile handelt, so be-
gegnen wir als erster Schwierigkeit der, zu entscheiden, welche Theile
primär durch den in wechselnder Richtung fliessenden Strom gereizt
werden. Einen bedeutsamen Beitrag zur Lösung dieser Frage hat
Laser stein in seiner schon erwähnten Arbeit geliefert. Bekanntlich
besitzt das Cocain die merkwürdige Eigenschaft, dass es die Erreg-
barkeit der meisten peripheren, sensiblen Nervenendigungen aufhebt;
Q\4: -Die elektrische Erregung der Nerven.
dies gilt auch für das Geschmacks vermögen. Bei Laser stein wurde
dasselbe durch Cocain nicht vöUig beseitigt; es verschwand zuerst
für Bitter und Süss , dann auch für Salzig , dagegen nicht ganz für
Sauer, obwohl es auch hier enorm vermindert war. Dem entsprechend
blieb nun auch eine Spur des sauren elektrischen Geschmacks bei
einsteigendem Strom bestehen, jedoch musste hier der volle Strom
eines Daniell verwendet werden, Avährend vor der Einpinselung ein
Strom von 5000 Ohm Haupt- und 210 Nebenschliessungswiderstand
genügt hatte. Bei Hermann selbst hob Cocain jeden und so auch
den elektrischen Geschmack gänzlich auf. Aus diesem Versuch ergiebt
sich vor Allem, dass diejenigen Gebilde, auf deren Veränderung durch
den Strom der Geschmack beruht, in der ä u s s e r s t e n Peripherie
zu suchen sind. Bei der Schwäche der zur Hervorrufung ausreichenden
Intensitäten im Vergleich zu andern physiologischen Dauerwirkungen
des Stromes kann nur unmittelbar unter der Elektrode die Dichte als
gross genug betrachtet werden. Handelte es sich um Durchströmung
der Stämme, so müssten jedesmal noch andere Empfindungen im Be-
reiche der Kopfnerven sich beimischen. Ferner kann nur unmittelbar
unter der Elektrode von orientirter Durchströmung von Nerven-
fasern oder Endorganen die Rede sein, und so wird es auch begreif-
lich, dass, Avenn beide Elektroden der Zunge anliegen, unter der einen
sauer, unter der andern alkalisch geschmeckt wird. Der elektrische
Geschmack beruht also ganz sicher ausschliesslich auf
der Durch Strömung der Endorgane oder der letzten in
die Sc h l ei m h aut eins tra blenden Nerven faseren digungen.
Stellt man sich auf den Boden des Gesetzes der specifischen Energien,
wonach jeder Sinnesnerv, wo und wie immer er gereizt werden möge,
stets nur ein- und dieselbe specifische Empfindung erzeugt, so steht
offenbar das Resultat der elektrischen Reizung der Zunge damit im
Allgemeinen in Uebereinstimmung und wird auch gewöhnlich als ein
Beweis für die Richtigkeit des genannten Princips angeführt. Wenn
man dasselbe freilich in aller Strenge festhalten will und alle Nerven-
fasern bloss als gänzlich indifferente Erregungsleiter betrachtet, ihre
Wirkungsdifferenzen nur durch die centralen oder peripheren End-
organe bedingt sein lässt, dann muss die Thatsache befremdend er-
scheinen, dass beide Stromesrichtungen durch ihre erregenden Wir-
kungen auf die Nerven oder deren Endorgane in der Zunge ver-
schiedene Empfindungen hervorrufen. Mag man nun annehmen,
dass z. B. der aufsteigende Strom ausschliesslich oder hauptsächlich
die sauer empfindenden Fasern erregte, was sicher höchst unwahr-
scheinlich ist, oder dass die Wirkung des aufsteigenden Stromes in
jeder Faser eine andere als die des absteigenden ist, stets ergiebt sich
ein Widerspi-uch mit dem Gesetze der specifischen Energie, wenn man
dasselbe in dem herkömmlichen Sinne auffasst. Dagegen hat es keinerlei
Schwierigkeiten, die Thatsachen mit der Theorie in Einklang zu bringen,
ja es erscheinen dieselben sogar als eine nothwendige Consequenz der
letzteren, wenn man die Folgen der polaren Erregung der Ge-
schmacksnervenenden in Parallele stellt mit den antagonistischen Pol-
wirkungen des elektrischen Stromes an anderen irritablen Substanzen
(Muskeln, Nerven). Dann handelt es sich nur noch um einen einzigen
Punkt, bezüglich dessen die Erfolge der elektrischen Erregung von
centrifugalleitenden Nerven und Muskeln sich von jenen der Sinnes-
nerven unterscheiden, nämlich darum, dass letzterenfalls die Erfolgs-
Die elektrische Erregung der Nerven. 615
Organe (centrale Ganglienzellen) sowohl auf die an der Kathode wie
auf die an der Anode ausgelösten Veränderungen mit qualitativ ver-
schiedenen (antagonistischen) Empfindungen reagiren, woraus unmittel-
bar folgt, dass die centripetalleitenden Nervenfasern beiderlei einander
entgegengesetzte Veränderungen geleitet haben mussten.
Im Sinne der von Hering entwickelten Anschauungen kann man
annehmen, dass ein sensibler Nerv zu entgegengesetzten Empfindungen
Anlass giebt, wenn entweder die dissimilatorischen oder assimilato-
rischen Processe ins Uebergewicht kommen (vergl. Hermann, Pflü-
ger's Arch. 49, p. 536): nimmt man Aveiter an, dass das erstere stets
und zwar dauernd an der Kathode, das letztere an der Anode der
Fall ist, so lassen sich die Erscheinungen des elektrischen Geschmackes
in einfachster Weise erklären, ohne das Princip der specifischen
Energie zu verletzen. Wie wir sehen werden, ordnen sich dann auch
die Erscheinungen der elektrischen Reizung anderer Sinnesorgane
völlig ungezwungen ein, indem es, wie auch Hermann (1. c. p. 537)
hervorhebt, keinerlei Schwierigkeiten hat, von dem erwähnten Stand-
punkte aus entgegengesetzte Empfindungen aus entgegengesetzten
Stromesrichtungen herzuleiten. Nur muss man in den meisten Fällen
an die peripheren End Organe anknüpfen, da entsprechend den
Versuchsbedingungen in der Regel nur diese merklich polarisirt werden
können; der einsteigende Strom würde die assimilatorische, der aus-
steigende die dissimilatorische Veränderung zum Ueberwiegen bringen ;
immer aber wird angenommen werden müssen, dass die elektropolaren
Empfindungen zu einander in einem complementären oder, was auf
dasselbe herauskommt, in einem Contrastverhältniss stehen (Her-
mann 1. c.)
Dies geht noch viel deutlicher als beim Geschmackssinn aus
Versuchen über die elektrische Erregung des Auges hervor.
Aus der neuesten zusammenfassenden Darstellung von H elm h oltz (49)
hebe ich insbesondere folgende Thatsachen hervor.
Wird das Auge durch Stromschwankungen von genügender In-
tensität gereizt, indem man etwa die eine Elektrode an die Stirn oder
auf die geschlossenen Augenlider legt, während die andere im Nacken
liegt, so entstehen mehr oder weniger starke L i c h t b 1 i t z e , welche das
ganze Gesichtsfeld überziehen und bei Anwendung galvanischer Ströme
sowohl bei der Schliessung wie bei der Oeffnung hervortreten können.
Um die dauernde Wirkung eines gleichmässig anhaltenden Stromes
wahrzunehmen, bedarf es im Allgemeinen stärkerer Ströme, als zur
Erzeugung der Schliessungs- oder Oeffnungsblitze. Um diese, sowie
auch das Muskelzucken bei Schliessung und Oeffnung des Stromes zu
vermeiden, fand es Helmholtz vortheilhaft, am Rande des Tisches,
neben welchen sich der Experimentirende setzt, zwei mit Pappe, die
mit Salzwasser getränkt ist, umwickelte Metallcylinder hinzulegen, die
mit den beiden Polen einer Daniell'schen Batterie von 12 — 24 Elementen
verbunden sind. Man stützt zuerst die Stirne fest auf einen der Cy-
linder und berührt dann mit der Hand den anderen, wobei man durch
langsames Anlegen der Hand erreichen kann, dass die Wirkungen der
Stromes s ch wan kun gen sehr gering sind. Die Stromesrichtung
lässt sich wechseln, indem man die Stii-ne bald auf den einen, bald
auf den andern Cylinder legt. „Wenn ein schwacher aufsteigender
Strom durch den Sehnerven geleitet wird, wird das dunkle Gesichts-
feld der geschlossenen Augen heller als vorher und nimmt eine w^eiss-
616
Die elektrische Erregung der Nerven.
lich-violette Farbe an. In dem erhellten Felde erscheint in den ersten
Augenblicken die Eintrittsstelle des Sehnerven als eine dunkle Kreis-
scheibe. Die Erhellung nimmt schnell an Intensität ab und ver-
schwindet ganz bei der Unterbrechung des Stromes; dafür tritt nun,
im Gegensatz zu dem vorausgegangenen Blau, mit der Verdunkelung
des Gesichtsfeldes auch eine röthlich-gelbe Färbung des Eigenlichtes
der Netzhaut ein." „Bei der Schliessung der entgegengesetzten, ab-
steigenden Stromesrichtung tritt der auffallende Erfolg ein, dass das
nur mit dem Eigenlicht der Netzhaut gefüllte Gesichtsfeld im Allge-
meinen dunkler wird, als vorher, und sich etwas röthlich-gelb färbt;
nur die Eintrittsstelle des Sehnerven zeichnet sich als eine helle blaue
Kreisscheibe auf dem dunklen Grunde ab. Bei Unterbrechung dieser
Stromesrichtung wird das Gesichtsfeld wieder heller und zwar bläulich-
weiss beleuchtet, und der Sehnerveneintritt erscheint dunkel." Andere
Beobachter haben die Erscheinungen zum Theil etwas anders be-
schrieben, und findet man eine Uebersicht der Angaben von Ritter,
Purkinje, Helmholtz, Brenner in der beistehenden, vonRoss-
bach zusammengestellten Tabelle.
Strom-
zustand.
Ritter.
Purkinje.
Brenner.
1) Anode auf dem Auge oder aufsteigende Stromrichtung.
Schliessimg
der Kette.
Grössere Hellig-
keit des Sehfel-
des (Eintritt des
positiven Licht-
Zustandes), Em-
pfindung glän-
zender blauer
Farbe, Blitz.
Wahrnehmung
eines Licht-
scheines , der
sich wie ein
gelblicher Dunst
über einen
schwarzen Hin-
tergrund zieht.
An der Eintritts-
stelle des Seh-
nerven eine hell-
violette lichte
Scheibe; im
Axenpunkt des
Auges ein rau-
tenförmiger
dunkler Fleck,
mit einem rau-
tenförmigen
gelblichenLicht-
bande umgeben,
auf welches ein
finsterer Zwi-
schenraum und
noch ein etwas
schwächer leuch-
tendes gelb-
liches Rauten-
band folgt; die
äusserste Peri-
pherie des Licht-
feldes hat einen
schwachen licht-
violetten Schein.
Bei schwachem
Strom wird das
dunkle Gesichts-
feld der geschlos-
senen Augen
heller als vorher
und nimmt eine
vveisslich-violet-
te Farbe an; in
dem erhellten
Felde erscheint
in den ersten
Augenblicken
die Eintritts-
stelle des Seh-
nerven als eine
dunkele Kreis-
scheibe.
Im ' Grunde des
Auges erscheint
eine gelbgrüne
Scheibe auf dun-
kelem Hinter-
grunde , welche
umgeben ist von
einem im Anfang
der Erscheinung
grösseren und
glänzenderen,
hell himmelblau
gefärbten Hofe.
Das plötzliche
Auftreten dieses
im ersten Mo-
ment glänzende-
ren und grösse-
ren Hofes macht
den Eindruck
eines Blitzes.
Die elektrische Erregung der Nerven.
617
Strom-
zustand.
Ritter.
P u r k i n j e.
Helmholtz.
B r e n n e r.
Während des
Der posit. Licht-
Die Erhellung
Der hell himmel-
Geschlossen-
zustand dauert
nimmt schnell
blaue Hof ver-
seins d. Kette.
so lange an, als
die Kette ge-
schlossen bleibt.
an Intensität ab.
kleinert sich im-
mer mehr, wird
matter und ver-
schwindet end-
lich ganz. Die
centraleErschei-
nung dauert et-
was länger, ver-
schwindet aber
schliesslich eben-
falls.
Oeffnung der
Es entsteht die
Es kehren sich die
Es tritt im Gegen-
Es entsteht das
Kette.
Empfindung ro-
Farben um; die
satz zumvoraus-
umgekehrte Bild
ther Farbe (Ver-
vorher centrale
gegangenenBlau
der Schliessung,
dunkelung des
Farbenempfin-
mit der Verdun-
nämlich hell-
Sehfeldes, nega-
dung wird zur
kelung des Ge-
blaues Centrum,
tiver Licht-Zu-
peripheren, die
sichtsfeldes auch
gelbgrüner Hof,
stand) und wie-
periphere zur
eine röthlich-
von welchem
der ein Blitz.
centralen.
gelbe Färbung
des Eigenlichtes
derNetzhautein.
Brenner jedoch
nur das himmel-
blau gefärbte
Centrum mit Si-
cherheit zu er-
kennen vermag.
Nach der Oeff-
Beharrender ne-
_
nung.
gativer Licht-
zustand. AU-
mäliges Zurück-
gehen aller Ei--
scheinungen auf
Null.
2) Kathode auf dem Auge oder absteigende Str omrichtunj
Schliessung
der Kette.
Verdunkelung d.
Sehfeldes (nega-
tiver Licht-Zu-
stand). — Blitz.
— Rothe Farbe.
Umkehr der obi-
gen (Anoden-
schliessungs-)
Erscheinung ;
Erleuchtung des
Axenpunktes,
Verdunkelung d.
Nerveneintritts;
an der Eintritts-
stelle des Seh-
nerven ist ein
finsterer kreis-
runder Fl eck mit
einem hellviolet-
ten Scheine um-
geben; im Axen-
punkt des Seh-
feldes eine glän-
zende hellviolet-
te Rautenfläche.
Das Lichtviolett
deckt in dieser
Das nur mit dem
Eigenlicht der
Netzhaut erfüllte
Gesichtsfeld wird
im Allgemeinen
dunkler als vor-
her u. färbt sich
etwas röthlich-
gelb ; nur die
Eintrittsstelle d.
Sehnerven zeich-
net sich als eine
helle blaueKreis-
Scheibe auf dem
dunklen Grunde
ab, von welcher
Scheibe häufig
auch nur die der
Mitte des Ge-
sichtsfeldes zu-
gekehrte Hälfte
erscheint.
Das Centrum der
Scheibe wird
glänzend him-
melblau, dieFär-
bung des Hofes
ist gelbgrün.
Biedermann, Elektrophy siologie.
40
618
Die elektrisclie Erregung der Nerven.
Strom-
zustand.
Ritter.
Helm holt z.
Brenner.
Während des
Geschlossen-
seins d. Kette.
Oeffnung der
Kette.
Beharrender ne-
gativer Licht-
zustand , rothe
Farbe.
Aufhören des ne-
gativen Licht-
zustandes und
Uebergang in d.
positiven. Blitz,
blaue Farbe.
Erscheinung den
Grund vollkom-
men , während
das gelbliche
Licht, selbst bei
den höchsten
Stromstärken,
nur wie der
Uebei-zug eines
schwachen Fir-
nisses erscheint,
wie wenn eine
gelbe Saftfarbe
auf schwarzen
Grund aufgetra-
gen wäre.
Das Gesichtsfeld
wird wieder hel-
ler und zwar
bläulich-weiss
beleuchtet, und
der Sehnerven-
eintritt erscheint
dunkel.
Die obige Er-
scheinung hält
eine Zeit lang
an, wii-d dann
immer matter,
um schliesslich
ganz zu ver-
schwinden ; die
centraleEi-schei-
nung überdauert
auch hier die
periphere.
Umkehr der obi-
gen Bilder , in
der Peripherie
ein hellblaues
Aufleuchten, im
Centrum eine
gut erkennbare
gelb - grüne
Scheibe.
Bei sehr starken Strömen fand Helmholtz „ein wildes Durch-
einanderwogen von Farben", in welchem keine Regel zu entdecken war.
„Die elektrische Reizung lässt sich auch auf einzelne Theile der
Netzhaut beschränken, wenn sie auch nicht örtlich scharf begrenzt
werden kann. Diese Erscheinungen sind in ihren wesentlichen Zügen
schon von Purkinje beschrieben worden. Helmholtz bildete den
einen Zuleiter aus einem dünnen Cylinder von Badeschwamm, der
um ein Kupferstcäbchen mit isolirendem Handgriff festgebunden imd
reichlich mit Salzwasser getränkt war. Die andere Elektrode legt
man in den Nacken oder fasst sie mit der linken Hand und berührt
mit dem Schwamm die Haut neben dem äusseren oder inneren Augen-
winkel, während man unter den geschlossenen Augenlidern das Auge
hin und her bewegen kann. Ist der Schwamm die positive Elektrode,
so dringt der elektrische Strom auf der ihm zugewendeten Seite des
Auges durch die Netzhaut von aussen nach innen, auf der abgewen-
Die elektrische Erregung der Nerven, 619
deten von innen nach aussen; umgekehrt, wenn der Schwamm nega-
tive Elektricität zuleitet. Dabei zeigt sich, dass die von aussen nach
innen durchflossene Hälfte der Netzhaut Dunkel empfindet, die von
innen nach aussen durchflossene dagegen Helligkeit. Zu beachten ist,
dass diese Empfindungen vom Beobachter immer in die gegenüber-
liegende Hälfte des Gesichtsfeldes verlegt werden, als wäre diese
elektrische Helligkeit von aussen kommendes Licht. Unter dieselben
Regeln fallen auch die Erscheinungen, welche man beobachtet, wenn
man die Elektrode vorn auf die von den Lidern bedeckte Hornhaut
setzt. Dann giebt eine positive Elektrode Strom von innen nach
aussen durch die ganze Netzhaut, und diese sieht hell." Die Ein-
trittstelle des Sehnerven zeigte Helmholtz stets den entgegengesetzten
Zustand des Feldes, in dem sie liegt.
„Tritt nun positive Elektricität auf der Schläfenseite in das Auge
ein, so ist der periphere Theil der Netzhaut von aussen nach innen,
d. h. von den Zapfen zu den Ganglienzellen, durchströmt und sieht
dunkel. Die nach der Schläfenseite gerichteten Faserzüge des gelben
Fleckes aber werden von den Ganglienzellen zu den Zapfen durch-
strömt und sehen hell. In diesem Sinne kann man die beobachteten
Erscheinungen zusammenbegreifen in der Regel : Elektrische con-
stante Durchströmung der Netzhaut in der Richtung
von den Zapfen zu den zugehörigen Ganglienzellen
giebt die Empfindung von Dunkel; die entgegengesetzte
Durchströmung giebt die Empfindung von Hell."
Wir sehen also hier fast noch deutlicher als beim Geschmacks-
organ den Antagonismus der Empfindungen bei gegensinniger Durch-
strömung derselben Endorgane des Sehnerven. Eine andere Deu-
tung als die aus der verschiedenen Wirkung der beiden Pole dürfte
in diesem Falle kaum denkbar sein.
Von einer geordneten, in bestimmter Richtung erfolgenden Durch-
strömung der Endapparate des Hörnerven kann naturgemäss kaum
die Rede sein. Brenner (27), dem wir die ausgedehntesten Versuche
über diesen Gegenstand verdanken, setzte die eine Elektrode (die in-
differente) irgendwo in grösserer Entfernung von den Ohren (Hinter-
kopf, Brust, Hand) auf, während die andere, deren Wirkung unter-
sucht werden soll, entweder in Gestalt eines dünnen Drahtes in den
mit Wasser gefüllten Gehörgang eingeführt oder in Form eines kleinen,
mit angefeuchtetem Flanell überzogenen Knopfes neben dem Gehör-
gang auf die Haut angedrückt wird.
Ist dann die wirksame Elektrode die Kathode, so hört man bei
Anwendung constanter Ströme von massiger Stärke bei der Schliessung
einen Klang, der sich während der Schliessungsdauer allmählich ver-
liert; Oefi:nung des Stromkreises erzeugt keinerlei Gehörsempfindung.
Umgekehrt bleibt die Schliessung erfolglos, wenn die Anode am Ohre
liegt, während dann die Oeffnung von einer Klangempfindung be-
gleitet ist, die in der Regel schwächer ist, als jene der Schliessung des
entgegengesetzt gerichteten Stromes. Durch Wendung von der Anode
auf die Kathode gelingt es, Gehörssensationen bei einer Stromstärke
zu erzeugen, bei welcher eine einfache Kathodenschliessung reactions-
los bleibt (Volta'sche Alternative). Auch Stromesschwankungen, Avelche
nicht von Null, sondern von irgend einem endlichen Werth der Strom-
stärke ausgehen, erzeugen analoge Schallempfindungen.
40*
Q20 ^'® elektrische Erregung der Nerven.
In Bezug auf den Charakter der ausgelösten galvanischen Gehör-
empündung gilt die Regel, dass es sich bei gut angestellten Versuchen
mit nicht zu starken Strömen immer um einen echten musikalischen
Klang handelt. Nach Kiesselbach (49) würde die Höhe desselben
der des Eigentons seines Ohres entsprechen. Da dies auch für die
Höhe des subjectiven Klanges gilt, welchen man beim sogenannten
Ohrenklingen hört, so vermuthet Rosenthal (1. c), „dass man bei
gleichzeitiger schwacher Erregung sämmtlicher Hörnervenfasern stets
diesen Ton aus der Gesammtzahl heraushört, weil man sozusagen an
ihn am meisten gewöhnt ist."
Auch über die elektrische Erregung der Hautsinnesnerven linden
sich schon bei Ritter sehr weitgehende Angaben , unter denen be-
sonders die Thatsache hervorzuheben sein dürfte, dass ein aufsteigen-
der Strom während seiner Schliessung Wärme, ein absteigender da-
gegen Kältegefühl erzeugt. Auch Du Bois-Reymond fühlte bei
Anwendung einer Zink-Kupfersäule von 150 Paaren, deren Pole in
Becken mit Kochsalzlösung endeten, in welche die Hände getaucht
wurden, „Fluthen von Wärme und Schauer von Kälte die Arme bis zu
den Schultern herauf abwechselnd anhauchen oder überrieseln" ; doch
vermochte er sich nicht zu überzeugen , dass der eine Arm vorzugs-
weise Wärme, der andere Kälte empfand. Gold scheid er (49) con-
statirte dagegen schon von 12 Elementen an Wärmegefühl im Arm
der Anode, vermisste aber Kälte am andern Arm.
Polare Wirkung sehr kurzdauernder Ströme.
(Inductionsschläge.)
Schon mehrfach fand die Thatsache Erwähnung, dass zur Aus-
lösung einer wirksamen elektrischen Erregung irritabler Substanzen
der Strom während einer gewissen Dauer, deren absoluter Werth je
nach der Natur der erregbaren Gebilde innerhalb weiter Grenzen
wechselt, einwirken muss. Dies gielt vor Allem für die Oeffnungs-
erregung durch den Kettenstrom, deren Zustandekommen ausser einer
genügenden Intensität auch eine ausreichende Schliessungsdaner zur
Voraussetzung hat, indem der anelektrotonische Zustand, d. i. die
anodischen Strom-Veränderungen, an deren Schwinden sich jene knüpft,
nur dann eine genügende Entwicklung erreichen. In diesem Falle
kann es bei indirecter Muskel-Reizung nicht zweifelhaft sein, dass die
Entwicklung eines hinreichend starken Anelektrotonus im Nerven
selbst so lange Zeit beansprucht; dagegen giebt es Fälle, avo man
fragen könnte, ob die Unwirksamkeit eines Schliessungs-Reizes
bei Anwendung von Strömen kurzer Dauer auf einer Eigenschaft des
Nerven oder des mit ihm zusammenhängenden Endorganes (Muskels)
beruht. Findet man beispielsweise einen einzelnen Stromstoss oder
Inductionsschlag wirksam, Avenn er auf den Nerv eines quergestreiften
Muskels applicirt wird, dagegen unwirksam, wenn er auf motorische
Fasern glatter Muskeln einwirkt, so liegt es ja sehr nahe, anzunehmen,
dass die Schuld für das Ausbleiben der Contraction im letzteren Falle
nur am Muskel liegt, d. h. dass eine Erregung im Nerven abläuft,
vielleicht ebenso gross und gleich geartet wie im ersten Falle, aber
nicht gross genug oder überhaupt ungeeignet, das trägere Gebilde zu
Die elektrische Erregung der Nerven. 621
erregen. Allein man könnte doch auch Verschiedenheiten der Nerven
selbst mit verantwortlich machen wollen.
Wie dem auch sei, jedenfalls werden bei Anwendung sehr kurz-
dauernder Ströme die Erscheinungen des Zuckungsgesetzes auch in
dem Falle erhebliche Abweichungen zeigen müssen, wenn man selbst
möglichst rasch reagirende Nerv-Muskel- Präparate verwendet. Vor
Allem lässt das Pflüger'sche Erregungsgesetz erwarten, dass sehr kurze
Ströme keine Oeffnungs-Zuckung bewirken, und in der That zeigen
dies viele Thatsachen. So wurde schon früher gezeigt, dass Inductions-
ströme, welche der Theorie nach eine doppelte Erregung bedingen
sollten, da sie gleichsam aus Schliessung und Oeffnung bestehen, am
quergestreiften Muskel bei nicht zu grosser Intensität nur kathodisch
wirken, und innerhalb gewisser Grenzen der Stromstärke gilt dasselbe
sicher auch für die indirecte Muskel-Reizung vom Nerven aus.
Andererseits ist es ebenso bekannt, dass stärkere Inductionsströme,
wenn sie auf curarisirte Muskeln wirken, auch an der Eintrittsstelle
(Anode) Veränderungen erzeugen, welche, wenn sie sich auch nicht
immer als sichtbare Gestaltveränderungen äussern, doch wohl nicht
anders gedeutet werden können, wie als Folgen einer Oeffnungs-
Erregung. Es gehören hierher insbesondere die positiven anodi-
schen P 0 1 a r i s a t i 0 n s - S t r ö m e , welche als Nachwirkung der Er-
regung durch einzelne Inductionsschläge hervortreten. Für den Nerven
kann man ebenso wie beim Muskel vermittels aller jener bereits be-
schriebenen Methoden, welche den Beweis der polaren Wirkung des
Kettenstromes liefern, zeigen, dass auch Stromstösse und einzelne
Inductionsschläge innerhalb gewisser Intensitätsgrenzen nur an der
Kathode Erregung bewirken, und dass daher die so ausgelösten Muskel-
Zuckungen stets nur als Schliessungszuckungen zu deuten sind. Auf
den Vorschlag von Fick stellte Lamansky (50) Versuche an, bei
welchen nach dem von ß e z o 1 d für Kettenströme benützten Princip aus
der Differenz der Latenzstadien bei Anwendung auf- und absteigender
Inductionsströme auf den Ort der Reizung geschlossen werden sollte.
In der That zeigte sich, dass für die aufsteigende Richtung die Latenz-
zeit länger war, als für die absteigende, v. Vintschgau (51) zeigte
hierauf, dass bei Anwendung maximaler oder nahezu maximaler
Inductionsströme dieser Unterschied der Latenzstadien erheblich grösser
ist, als bei Reizung mit schwachen Strömen, und ist geneigt, dies auf
Verschiedenheiten der räumlichen Ausdehnung und relativen Intensität
der durch den Strom bedingten elektrotonischen Veränderungen der
Nerven zu beziehen.
Sehr anschaulich lässt sich die polare Wirkung inducirter
Ströme auch durch den Unterschied der Reizerfolge demonstriren,
welche bei verschiedener Richtung der ersteren an markhaltigen
Nerven hervortreten, deren Erregbarkeit im Bereiche der central-
wärts gelegenen Elektrode herabgesetzt ist (Biedermann 30). Die
hierher gehörigen Thatsachen wurden schon von Harless richtig er-
kannt, indem er fand, dass nach dem Auftragen von Ammoniak auf
einen Theil der intrapolaren Nervenstrecke „selbst der an sich wirk-
samere Oeifnungsschlag nach der Ammoniakwirkung erfolglos wird,
wenn er den Nerv mit der früheren Stärke in aufsteigender Richtung
trifft", während dann der in umgekehrter Richtung den Nerv durch-
setzende Schliessungsschlag sich wirksam erweist. Niemals aber erfolgt
bei gleichem Rollenabstand Erregung, wenn bei aufsteigender Stromes-
ß22 Die elektrische Erregung der Nerven.
richtung der kathodische Abschnitt durch Ammoniak oder irgend ein
anderes entsprechend wirkendes Mittel unerregbar gemacht wurde, so
dass der Erregungsvorgang nur von der Kathode ausgehen kann.
Es beweist dieser Umstand abermals, dass durch i n d u c i r t e S t r ö m e
von gewisser Intensität nur Kathodenerregung ausgelöst
wird. Sehr leicht ist es auch, sich am Warmblüternerven unmittel-
bar nach der Durchschneidung und ohne irgend einen vorbereitenden
Eingriff von der Richtigkeit der vorstehenden, sich auf den Frosch-
nerven beziehenden Angaben zu überzeugen. Man braucht nur zwei un-
polarisirbare Elektroden einerseits an den frischen Querschnitt, anderer-
seits an eine etwa 1 Ctm. tiefer gelegene Stelle eines Kaninchen-
Ischiadicus anzulegen, um bei Reizung mit einzelnen nicht zu starken
Inductionsschlägen zu beobachten, dass nur in dem Falle eine Zuckung
ausgelöst wird, Avenn die Ströme im Nerven absteigend gerichtet sind.
Unter Umständen hat dieses bemerkenswerthe Verhalten auch eine
methodische Bedeutung, denn es ist klar, dass, wenn man irgend einen
Nervenabschnitt, innerhalb dessen an jedem Punkte annähernd gleiche
Erregbarheit vorausgesetzt werden darf, mit Wechselströmen reizt, bei
einem gewissen Rollenabstand sowohl jeder einzelne Schliessungsschlag
als auch jeder Oeffnungsschlag wirken muss. Dies wird aber nicht
mehr der Fall sein, wenn man das Schnittende eines Warmblüternerven
reizt. Denn dann werden eben nur die absteigend gerichteten Ströme
Erregung auslösen, also je nach der Richtung des primären Stromes
entweder nur die Schliessungsschläge oder nur die Oeffnungsschläge.
Bei grösserem Rollenabstand aber, wo sich schliesslich die erregende
Wirkung der Oeffnungsinductionsströme allein geltend macht, wird ein
Reizerfolg überhaupt nur dann zu erwirken sein, wenn jene in ab-
steigender Richtung den Nerven durchsetzen, so dass man also bei
einer und derselben Elektrodenstellung und gleichbleibendem Rollen-
abstand je nach der Richtung des primären Stromes das eine Mal einen
deutlichen Reizerfolg beobachtet, während derselbe andernfalls voll-
ständig fehlen kann. Auch die von Fick (52) beobachtete Thatsache,
dass die Wirkung eines Inductionsschlages nur dann verstärkt wird,
wenn seine Kathode, nicht wenn seine Anode in den katelektrotonischen
Bereich eines polarisirenden Kettenstromes fällt, muss als ein directer
Beweis für die polare kathodische Wirkung inducirter Ströme gelten.
Wenn daher Pflüger seiner Zeit glaubte, die Gesamm t er regbar -
keit der intrapolaren Strecke messen zu können, indem er einen
Inductionsschlag während des bestehenden polarisirenden Stromes
durch dieselbe schickte, so Avar dies nur unter der Voraussetzung-
richtig, dass der Inductionsstrom die ganze Strecke gleichzeitig erregt.
Pflüger nahm den Inductions-Strom stets von gleicher Richtung mit
dem polarisirenden, untersuchte also in Wirklichkeit jedesmal die
Erregbarkeit an der Kathode (auf welche die Kathode des inducirten
Stromes fiel); sein Resultat, dass schwache polarisirende Ströme die
Wirkung des (gleichgerichteten) Inductions-Stromes verstärken, starke
sie rasch vermindern bezw. aufheben, erklärt sich ebenso wie die
analogen Thatsachen bei directer Muskel-Reizung. Es zeigen diese
Erfahrungen zugleich, dass blosse Schwankungen der Dichte des
Stromes im Nerven (wie auch im Muskel) in analoger Weise erregend
Avirken können, wie das Entstehen oder Verschwinden des Stromes
vom Werthe Null aus (Schliessung oder Oeffnung des Kreises). Später
ist die Frage, welchen Einfluss bei plötzlichen Intensitätsschwankungen
Die elektrisclie Erregung- der Nerven. 623
der während der Schliessung an der Kathode, nach der Oeffnung an
der Anode bestehenden („elektrotonischen") Veränderungen des Nerven
auf die Auslösung einer Muskelzuckung die absolute Höhe der bereits
bestehenden polaren Veränderungen besitzt, des Oefteren untersucht
worden, so insbesondere von O. Nasse (53) und Hermann (53)-,
(vergl. auch Du Bois-Reymond 53). Der Erstere erzeugte mittels
eines Fallapparates, welcher einen durch ein Rheochord abgezweigten
Zuwachsstrom schloss oder öffnete, eine auf den schon bestehenden
Kettenstrom superponirte positive oder negative Intensitätsschwankung.
Es ergab sich für positive Schwankungen absteigender Ströme bei
schwachen Bestandströmen erhöhte, bei stärkeren verminderte Wirkung,
dagegen für negative Schwankungen aufsteigender Ströme bei jeder
Stärke des Bestandstromes herabgesetzte Wirkung. Hermann fasst
das Resultat seiner nach der erwähnten Eckhardt-Pflüger'schen Methode
angestellten Untersuchungen in dem Satze zusammen, dass die
Wirkung eines gegebenen I n d u c t i o n s s t r o m e s (wie auch
beim Muskel) durch gleichgerichtete Bestandströme
(wenn diese nicht eine gewisse Grenze der Intensität
überschreiten) erhöht, durch entgegengesetzte herab-
gesetzt wird (bis zur AnnuUirung). Da, wie Hermann aus-
führt, Verstärkung eines gleichgerichteten Stromes gleichbedeutend ist
mit Schliessung eines gleichgerichteten oder Oeffnung eines entgegen-
gesetzten, sowie plötzliche Schwächung eines Stromes der Schliessung
eines entgegengesetzten resp. Oeffnung eines gleichgerichteten Stromes
entspricht, so dass im ersteren Falle der Ort der Erregung auf schon
bestehenden Katelektrotonus, andernfalls dagegen auf bestehenden
Anelektrotonus fällt, so erscheint das Versuchsresultat bei indirecter
wie bei directer Muskelreizung von den gleichen Gesichtspunkten aus
verständlich.
Wenn somit für schwache inducirte Ströme die ausschliesslich
kathodische Reizwirkung als sicher stehend zu betrachten ist, so muss
andererseits die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit zugegeben werden,
dass für starke die, wenn auch noch so kurze, Stromesdauer zur
Entwicklung eines genügenden Anelektrotonus doch hinreichen könnte,
um auch dem absteigenden Theil eine Erregungswirkung zu verleihen.
Hierauf deuten schon gewisse Beobachtungen von Fick, Lamansky
u. A. hin. Dieselben beziehen sich zunächst auf ein eigenthümliches
Verhalten der Zuckungs-Höhen bei indirecter Muskel-Reizung mit sehr
kurz dauernden Kettenströmen (Stromstössen), wenn Stärke, Dauer
und Richtung derselben verändert werden. Wie schon früher er-
wähnt wurde, hatte Fick festgestellt, dass „es für jede Stromstärke
eine Kleinheitsgrenze der Stromdauer giebt, unter welche sie nicht
hinabsinken darf, ohne dass überhaupt die Zuckung ausbleibt, und
dass, wenn man die Stromdauer über die fragliche Grenze hinaus
wachsen lässt, die Zuckung von Null an stetig wächst, um allmählich
zu dem für die betreffende Stromstärke erreichbaren Maximum zu
kommen. Die Werthe der Zeitdauer, um die es sich hier handelt,
sind bei Nerven-Reizung sehr klein. Bei einer Dauer von 0,002" ist
das Maximum stets schon erreicht. Fick fand nun, dass das Wach-
sen der Zuckung mit wachsender Dauer eines den Nerven
absteigend durch fliessenden gleichstarken Stromes
nicht stetig geschieht, sondern absatzweise, indem die
Zuckungen nach einem ersten Maximum wieder zu nehmen.
624 Die elektrische Erregung der Nerven.
wenn die Dauer des Stromes mehr und mehr verlängert
wird; löst beispielsweise ein absteigender Strom von bestimmter Stärke
bei einer Schliessungs-Dauer von 0,003 — 0,004 " eine maximale Zuckung
aus, so wächst diese bei Aveiterer Vermehrung der Stromstärke nicht, wenn
der Strom immer wieder während derselben sehr kurzen Zeit fliesst.
Schliesst man aber denselben Strom dauernd, so erhält man eine
Zuckung, welche das bei momentaner Stromwirkung nicht vermehr-
bare Maximum sehr bedeutend übertrifft, also im gewissen Sinne eine
„ü her maximale" Zuckung. Hier kann es sich wohl nur darum
handeln, dass infolge der dauernden Durchströmung die kathodische
Schliessungs-Erregung das überhaujDt erreichbare Maximum zeigt, eine
Thatsache, die sich ja bei directer wie indirecter Muskel-Reizung auch
in dem Umstände ausprägt, dass durch einen auch noch so energischen
Inductions- Schlag niemals der Grad von Verkürzung erreicht wird,
wie bei Schliessung eines selbst nur massig stai'ken Kettenstromes.
Mit einzelnen Inductions-Schlägen erreicht man eben immer nur jenes
relative Maximum, das auch bei kurz dauernden Kettenströmen nicht
überschritten werden kann (Fick 1. c. p. 25). Zwischen diesen bei-
den Grenzfällen aber, dem sehr kurzen Stromstoss und dem dauernd
geschlossenen Strom, wäre es ganz gut möglich, dass das unstete
Wachsen der Zuckungshöhen bei zunehmender Stromdauer zum Theil
auf einer Einwirkung der anodi sehen Oeffnungserregung
beruht, indem sich die Effecte der Schliessungs- und der unmittelbar
darauffolgenden Oeffnungs-Erregung im Muskel summiren. Zu Gunsten
dieser Deutung spricht vor Allem auch der Umstand, dass, wie Fick
später fand, bei Anwendung von absteigenden Inductions-
strömen genau dieselben Erscheinungen eintreten, wenn
deren Intensität zunimmt, indem sich zeigt, dass nach Er-
reichung des ersten Maximums die Zuckungen neuerdings bis zu
einem zweiton wachsen.
An diese Erfahrungen reiht sich eine zweite, für die vorliegende
Frage noch wichtigere Beobachtung von Fick (54). Erfand nämlich,
dass bei aufsteigenden Stroms tössen (Kettenstrom) die
Zuckungen nach dem e r s t e n M a x i m u m b i s a u f N u 1 1 a b -
nehmen (die sog. „Lücke"), sobald die Dauer des während
des ganzen Versuches gleich starken Stromes einen ge-
wissen Werth überschreitet; wenn dann die Versuchs-
reihe m i t i m m e r w a c h s e n d e r S t r o m d a u e r fo r t g e s e t z t w i r d,
erscheinen die Zuckungen wieder und wachsen bis zu
einemzweitenMaximum,welchesvonnunanbeiweiterem
Wachsthum der Stroradauer constant bleibt. Ganz dieselbe
Erscheinung tritt auch hervor, Avenn bei unveränderter Stromes-
dauer die Stärke des Stromstosses variirt wird; dabei zeigt es
sich ferner, dass für immer kleinere Werthe der Stromesdauer die
Abnahme und das Verschwinden der Zuckungen immer grössere Stärke
des Stromes beansprucht (Tigerstedt 53, p. 4). Später hat dann
Fick dieselbe Erscheinung bei Anwendung a u f s t e i g e n d e r
I n d u c t i o n s s t r ö m e constatirt, indem sich auch hier bei zunehmender
Intensität eine „Lücke" nach dem ersten Maximum zeigt, auf welche
bei weiterem Wachsthum der Stromstärke neue Zuckungen folgen,
welche bald bis zu „übermaximalen" zunehmen. Die Thatsache
der „Lücke" wurde von Tiegel (55) und neuerdings von Grütz-
ner (55) bestätigt. Tiegel giebt an, dass er die Lücke sowohl bei
Die elektrische Erregung der Nerven. 625
auf-, wie bei absteigenden Strömen gesehen hat. Grützner konnte
dagegen bei absteigenden Inductionsströmen ebensowenig wie Tiger-
stedt die Lücke finden. Bei aufsteigenden Inductionsströmen ist
die Erscheinung eine überaus gesetzmässige. Die Zuckungen nehmen,
von einer bestimmten, unter gleichen Versuchsbedingungen ziemlich
Constanten Stromstärke (Rollenabstand) angefangen, rasch ab, um
nachher wieder langsamer anzusteigen; ausnahmsweise geht die Ab-
nahme der Zuckungshöhe bei steigender Stromstärke nicht bis auf
Null herab, so dass hier die „Lücke" so zu sagen nur eine unvoll-
ständige ist. Was nun die Deutung der Erscheinung anlangt, so würde
man die Lücke nach Fick aufzufassen haben als eine Folge der
Hemmung am positiven Pol, welche bei einer gewissen Strom-
stärke (Stromesdauer) genügend stark Avird, um die vom negativen Pol
ausgehende Erregung unwirksam zu machen. Wie die nach der Lücke
auftretenden Zuckungen aufzufassen sind, soll später erörtert werden.
Die Abnahme und das Verschwinden der Zuckungen beim aufsteigen-
den Stromstoss oder Inductionsstrom wäre also ganz analog mit den
entsprechenden Erscheinungen beim aufsteigenden Dauerstrom (Fick
55). Die Theorie Grützner's, welche die Lücke auf eine Art von
Interferenz zwischen präexistenten Spannungsdifferenzen des Nerven
und des Reizstromes zurückführt, dürfte durch Tigers tedt endgiltig
widerlegt sein. Zu Gunsten der Fick'schen Erklärung spricht vor
Allem der Umstand, dass die Lücke nur bei aufsteigender
Strom es -Richtung beobachtet wird; ist die Hemmung an der
Anode nicht stark genug, um die kathodische Erregung völlig auszu-
löschen, so kommt es nur zu einer Abnahme der Zuckungshöhen.
Bei Strömen von sehr kurzer Zeitdauer hat die Hemmung nicht die
genügende Zeit, um sich in hinreichender Stärke zu entwickeln und
eine Lücke hervorzurufen, wenigstens wenn nicht ausserordentlich
starke Ströme angewendet werden. Darauf beruht es Avohl auch, dass
die Lücke lange nicht so leicht bei Oeffnungs-, wie bei
Schli essungsinductionsströmen auftritt (Tigerstedt 54),
wenigstens in dem Falle, wenn der primäre Kreis völlig geöffnet Avird.
Schliesst man sich der Anschauung von Fick in Bezug auf die
Ursache der „Lücke" an, so bedarf doch das Wiederauftreten der
Zuckungen und deren Wachsen über das anfängliche Maximum hinaus
(„übermaximale Zuckungen") einer besonderen Erörterung, und zwar
gerade dann, Avenn man vom Standpunkte des Pflüger'schen Zuckungs-
gesetzes aus die Erfolge aufsteigender Reizung mit dem Kettenstrom
(Dauerstrom) und einzelnen Inductionsschlägen vergleicht. Ersteren-
falls tritt bei beliebiger Steigerung der Stromes-Intensität jenseits der
III. Stufe niemals Avieder die Schliessungs-Zuckung hervor, und nu r d i e
Oe.ff nungserregung allein bleibt wirksam. Es liegt daher
sehr nahe, die jenseits der „Lücke" auftretenden Zuckungen auch
bei Reizung mit aufsteigenden Stromstössen oder einzelnen aufsteigen-
den Inductionsschlägen als Oeffnungs- Zuckungen zu deuten.
Wie schon gesagt, fangen die Zuckungen nach der Lücke wieder an
zu wachsen und erreichen bei fortgesetzter Steigerung des Reizes all-
mählich dieselbe Höhe wie vor der Lücke. In einigen Fällen (nicht
immer) sieht man auch, AAde die Zuckungen bei noch gesteigerter
Reizstärke über das erste Maximum wachsen und eine dasselbe beträcht-
lich übersteigende Höhe erreichen („übermaximal" A\'erden); wie
Tigerstedt (l. c. p. 22) gezeigt hat, kann man auch dann, AA^enn
626 Die elektrische Erregung der Nei*veii.
„übermaximale" Zuckungen selbst bei übergeschobenen Rollen nicht
auftreten, solche stets hei'vorrufen, wenn man bei unveränderter Strom-
stärke den Nerven im gleichen Rhythmus weiter reizt. Ob es sich hier-
bei um eine Art von Summation der Wirkungen oder um andersartige,
durch den Strom bewirkte Veränderungen des Nerven handelt, muss
vorläulig unentschieden bleiben. Man sieht leicht, dass auch das oben
erwähnte Auftreten „übermaximaler" Zuckungen bei absteigenden kurz-
dauernden Strömen sich nach demselben Princip erklären lässt. Im
Sinne der Theorie von F i ck Avürde es sich hier nur um eine Summirung
von den durch das Entstehen und Verschwinden des Stromes bewirk-
ten Erregungen handeln. Wir wissen, dass beim absteigenden In-
ductionsstrom die Erregung von dem Pole ausgeht, Avelcher näher dem
Muskel liegt. Bei ihrer Fortpflanzung bis zum Muskel begegnet sie
daher keiner Hemmung und gelangt mit unveränderter Stärke dahin 5
geht nun aber auch vom positiven Pole des Inductionsstromes eine
(Oeffnungs-)Erregung aus, so hat dieselbe einen längeren Weg als die
Schliessungs- Erregung zurückzulegen, so dass sie wohl merklich später
als diese letztere zum Muskel gelangt. Die Schliessungs-Erregung sei
eine maximale ; wenn nun die durch sie hervorgerufene Muskel-Zuckung
schon begonnen hat, bevor die Enderregung nach dem Muskel gelangt
ist, so muss eine Summirung der von beiden hervorgerufenen Zuckun-
gen stattfinden, d. h. eine „übermaximale" Zuckung erscheinen. Mit
dieser Auffassung stimmen auch die zeitlichen Verhältnisse der be-
treffenden Zuckungen überein.
Bei einem Versuch über die Latenzdauer der Zuckungen bei
steigender Reizstärke fand F i c k , dass n a c h d e r L ü c k e d i e zuerst
auftretenden, beträchtlich verminderten Zuckungen
„ein enorm verlängertes Stadium der latenten Reizung"
hatten ; dies kann nicht von der geringeren Stärke der Reizung
unmittelbar nach der „Lücke" abhängen, denn auch wenn die
Zuckungen nach der Lücke beträchtlich diejenigen vor der Lücke
überragen, ist die Latenzdauer der ersteren noch beträchtlich
grösser als die der letzteren. Diese scharfe Grenze zwischen den
Zuckungen vor und nach der Lücke deutet mit grosser Be-
stimmtheit darauf, dass diese Zuckungen nicht ganz gleichartig sein
können. Durch Versuche von Waller (56) wissen wir, dass die
Latenzdauer der Oeffnungszuckungen bei Anwendung des constanten
Stromes beträchtlich grösser ist, als jene von Schliessungszuckungen,
und ich selbst hatte oft Gelegenheit, diese Thatsache zu bestätigen.
Wenn nun die Zuckungen nach der Lücke, sowie diejenigen, welche
bei sinkender Reizstärke die Lücke füllen, den Oeffnungszuckungen
beim constanten Strom wirklich entsprechen, so ist es auch von vorn-
herein anzunehmen, dass sie dieselbe Eigenschaft bezüglich ihrer
Latenzdauer zeigen werden.
Fassen wir alles Gesagte zusammen, so lässt sich daher mit grosser
Wahrscheinlichkeit Folgendes behaupten :
„Die Zuckungen vor der Lücke werden durch das Entstehen des
Liductionsstromes (Stromstosses) ausgelöst, ihre Latenzdauer ist kurz;
die Zuckungen nach der Lücke, sowie die Zuckungen, welche bei
sinkender Reizstärke die Lücke füllen, werden durch das Ver-
schwinden der kurzdauernden Ströme hervorgerufen. Wie alle Oeff-
nungszuckungen haben sie im Vergleich mit den Schliessungszuckungen
ein langes Latenzstadium. Kommt man bei sinkender Reizstärke an
Die elektrische Erregung der Nerven. 627
den Punkt, wo die Hemmung am positiven Pol nicht mehr die Fort-
pflanzung der Erregung zum Muskel hindert, dann stellt sich (plötzlich)
die kurze Latenzdauer wieder ein." (Tiger s tedt.)
Wenn gewisse „übermaximale" Zuckungen auf einer Summation
der kathodischen und anodischen Erregung beruhen, so könnte man
daran denken, dies dadurch nachzuweisen, dass man die beiden Reize
zeitlich so weit von einander zu trennen versucht, dass das Intervall
wenigstens so gross wäre, wie die Latenzzeit der Zuckung. Dies
könnte man nach Fick und Lamansky dadurch anstreben, dass
man die intrapolare Strecke sehr lang machte. Um aber so das nöthige
Intervall zwischen Kathoden- und Anodenerregung zu erzielen, müsste
die intrapolare Strecke mindestens 150 mm betragen, die Leitungs-
geschwindigkeit zu 30 m und die Latenzdauer zu 0,005 Secunde ge-
rechnet. Auf diese Weise ist es daher am Froschpräparat nicht möglich,
eine Summirung der Muskelzuckung bei Inductionsströmen nachzuweisen
(Marcs 57). Dagegen lassen sich durch zeitmessende Versuche noch
weitere Anhaltspunkte für die supponirte bipolare Erregung durch
starke Inductionsströme gewinnen. Wenn nämlich die Erregung nur
an einem Pole, der Kathode, geschieht, so muss die Latenzzeit der Muskel-
zuckung, wie dies in der That seit lange bekannt ist, bei aufsteigender
Stromesrichtung grösser sein, als bei absteigender, und zwar mindestens
um die Zeit, welche der Fortpflanzungsgeschwindigkeit in der intra-
polaren Nervenstrecke entspricht; geschieht aber die Erregung an
beiden Polen, so wird die Latenzzeit der beiden Stromesrichtungen
gleich sein und wird der Erregung durch den dem Muskel näheren
Pol entsprechen. In der That fand Marcs (1. c.) diese Voraussetzung
durch den Versuch bestätigt.
Wirkung mehrfacher Reize.
Welcher Vorstellung immer man sich auch hinsichtlich des Wesens
des Erregungsprocesses zuneigen mag, unter allen Umständen bean-
sprucht die Frage Interesse, wie sich an einem für eine derartige
Untersuchung geeigneten Erfolgsorgan die Wirkung mehrerer gleich-
zeitiger oder nach einander auf verschiedene Stellen des Nerven wir-
kender Reize äussern wird. Im Vorhergehenden war schon von dem
hierher gehörigen Fall der bipolaren Erregung durch den inducirten
oder Kettenstrom die Rede, doch bieten gleichzeitig einwirkende
Reize noch grösseres Interesse. Von vornherein erscheint es, wie
Hermann bemerkt, als die wahrscheinlichste Annahme, dass zwei von
einander unabhängig verlaufende Erregungsvorgänge ungestört mit dem
Intervall, welches der Distanz beider Reizstellen entspricht, über den
Nerven ablaufen und mit dem entsprechenden Zeitintervall im End-
organ anlangen; was dort geschieht, hinge dann lediglich von der
Natur des Endorganes ab. Im Muskel z. B. würde je nach dem Betrage
des Intervalls die zweite Reizung wirkungslos sein oder eine superponirte
Zuckung ergeben oder endlich eine zweite selbständige Zuckung ver-
anlassen. Selbst wenn zwei Reizungen einander in derselben Faser
begegnen, wäre ein ungestörtes Uebereinanderweggehen denkbar, und
in der That wird ja eine solche Begegnung immer bei jeder gleich-
zeitigen Reizung zweier Nervenstellen stattfinden müssen, da die obere
Erregung nicht zum Muskel gelangen kann, ohne sich mit der nach
628
Die elektrische Erregung der Xerven.
oben so gut wie nach unten fortschreitenden unteren zu kreuzen, (Her-
mann 34 p. 109.) Alle Beobachtungen, welche bisher in dieser
Richtung angestellt wurden, beruhen fast ausschliesslich auf Unter-
suchungen mit zwei elektrisch en Reizen. Die Resultate derselben,
welche bald als Summations-, bald als Interferenzwirkungen gedeutet
wurden, sind leider nicht eindeutig. Wir haben es eben bei Anwen-
dung elektrischer Reize nicht einfach mit der Combination zweier un-
abhängig verlaufender Erregungsvorgänge zu thun, sondern es treten,
bedingt durch die Eigenart des elektrischen Reizes, Veränderungen in
der Leitungsfähigkeit des
Nerven auf, welche die
Reinheit und Klarheit
des Versuches beein-
trächtigen.
Um zwei oder meh-
rere gesonderte Strom-
reize mit absoluter Gleich-
zeitigkeit auf verschie-
dene Strecken eines und
desselben Nerven ein-
wirken zu lassen , be-
diente sich G r ü n h a g e n
(57) des Kunstgriffes, den
Strom einer hinreichend
starken Kette durch zwei
oder mehrere primäre
Inductionsrollen zu leiten,
welchen ebenso viele se-
cundäre Spiralen ent-
sprechen. Dann löst jede
Schliessung oder Oeff-
nung des Kettenkreises
in allen secundären Rol-
len absolut gleichzeitig
Inductionsströme aus,
welche nun den betref-
fenden Nervenstellen mit-
tels unpolarisirbarerElek-
troden zugeleitet werden
können. Die ganze An-
ordnung des Versuches ist nach Wer ig o (58) in beistehender Fig. 200
wiedergegeben.
Es sind, wie man sieht, vier verschiedene Combinationen in Bezug
auf die Richtung beider Reizströme denkbar; dieselben können ent-
weder gleichgerichtet (auf- oder absteigend) sein, oder sie können bei
ungleicher Richtung entweder zu einander hin oder von einander weg-
fliessen, so dass ersterenfalls die Kathoden, letzterenfalls die Anoden
einander zugewendet sind. Wählt man die Stromstärke zunächst so,
dass der eine Strom für sich allein eine minimale, der andere dagegen
überhaupt keine Zuckung auslöst, und sind beide Schläge aufsteigend,
so zeigt sich eine gegenseitige Beeinflussung in dem Sinne, dass bei
nicht zu grossem Abstand der beiden Reizelektroden die muskelwärts
(peripher) erfolgende, an sich unzulängliche (inframinimale) aufsteigende
Fig. 200. Schema der Versuchsanordnung bei gleich-
zeitiger Reizung eines Nerven durch Inductionsschläge
an verschiedenen Stellen. (Nach Werigo.)
Die elektrische Erregung der Nerven. 629
Reizung die Wirkung des centralen aufsteigenden Stromes merklich
verstärkt, während umgekehrt eine central erfolgende inframinimale
aufsteigende Reizung den an sich minimalen Erfolg des peripheren
aufsteigenden Stromes hemmt. Sind beide Inductionsströme absteigend
gerichtet, so gilt Alles, was eben bezüglich der peripheren, infra-
minimalen Reizung bemerkt wurde, von der centralen und umgekehrt.
Fliessen die Ströme zu einander hin, so verstärken sie gegenseitig ihre
Wirkung eventuell in solchem Grade, dass aus zwei Reizen, die an
und für sich erfolglos bleiben, eine maximale Zuckung entstehen kann,
während bei nicht zu grossem Abstand der Reizstrecken eine gegen-
seitige Hemmung bemerkbar wird.
Diese Resultate stimmen mit den Versuchsergebnissen von
S e w a 1 1 (58) durchaus überein und lassen sich sämmtlich leicht auf
die polare Wirkung der Ströme zurückführen. „Man beobachtet stets
eine Erregungszunahme bei der Application des reizenden Stromes in
der Nähe der Kathode des moditicirenden und umgekehrt eine Abnahme
der Wirkung, wenn der reizende Schlag in die Nähe der Anode
kommt." Stets zeigt sich jedoch, dass die Erregbarkeitssteigerung im
Gebiete des Katelektrotonus stärker ausgeprägt ist, als die Erregbar-
keitsabnahme im Gebiete des Anelektrotonus. Sind beide Schläge
wirksam, wenn auch in ungleichem Grade, und ist die Entfernung der
beiden Reizstrecken von einander eine derartige, dass die Einwirkung
elektrotonischer Erscheinungen sicher ausgeschlossen ist, so reagirt der
Muskel immer nur auf die stärkere Erregung, und zwar so, als wäre
diese allein wirksam. Es scheint daher keine wahre Interferenz im
Sinne einer Addition oder Subtraction der Erregungen stattzufinden.
Ist in diesem Falle der Abstand der Reizstrecken geringer, so gestalten
sich wegen Einmischung der elektrotonischen Erregbarkeitsänderungen
die Erscheinungen wesentlich verwickelter, als dann, wenn nur
ein Schlag wirksam ist, da sowohl die Wirkung des peripheren
Stromes auf den P]ffect des centralen, als die Wirkung des centralen
auf den Erfolg des peripheren in Betracht zu ziehen ist. Doch zeig-
ten sich auch hier alle beobachteten Wirkungen in Uebereinstimmung
mit den Gesetzen des Elektrotonus.
Einen eigenthümlichen Fall von Interferenzwirkung zweier an
verschiedenen Stellen eines Nerven ausgelöster Erregungen beschrieb
jüngst K. Kaiser (59). Kaiser beobachtete nämlich bei gleich-
zeitiger Reizung des Ischiadicus beim Frosch an zwei möglichst von
einander entfernten Stellen einerseits mit tetanisirenden Wechselströmen,
andererseits mit Glycerin unter Umständen eine Hemmung des Gly-
cerintetanus bei Beginn und während der Dauer der elektrischen
Reizung. Da die Erscheinung auch beobachtet werden konnte, wenn
gleichzeitig zwei verschiedene chemische Reize (Glycerin und NaCl
oder Glycerin an beiden Stellen) einwirkten, so ist jede Möglichkeit
einer Erklärung durch elektrotonische Erregbarkeitsänderungen von
vornherein ausgeschlossen. Wirkt derselbe chemische Reiz an zwei
verschiedenen Stellen des Nerven, so entsteht, wenn überhaupt, nur
ein sehr massiger Tetanus, dessen plötzliche Verstärkung nach Ab-
trennung der oberen Reizstrecke dann sehr auffallend ist. Es scheint
ziemlich sicher, dass die Hemmung, welche zwei dieselben Nerven-
fasern gleichzeitig an zwei verschiedenen Stellen treffende, tetanisirende
Reize auf einander ausüben, durch Vorgänge bedingt wird, welche
sich im Nerven selbst abspielen. Da die negative Schwankung nach
630 I^i^ elektrische Erregung der Nerven.
Ausweis des Capillarelektrometers unter gleichen Umständen stets eine
Verstärkung erfährt, statt, wie man von vornherein erwarten würde,
auch ihrerseits abzunehmen, so kann es sich nicht einfach um Inter-
ferenzwirkungen der elektrischen Schwankungswellen im Nerven
handeln, in dem physikalischen Sinne, dass dieselben durch Zusammen-
fallen ungleichartiger Phasen vernichtet würden, sondern überall, wo
eine ablaufende Keizwelle von einer ihr folgenden überholt und über-
deckt wird, würde nach Kaiser „eine Summation der Negativität der
auf einander fallenden Punkte erfolgen", so dass im gegebenen Falle
„die von den beiden Reizen erzeugten Erregungswellen mehr oder
weniger mit einander verschmelzen und die Amplituden der Schwankungs-
wellen unter den Grenzwerth sinken, der für die Hervorrufung einer
Wirkung auf den Muskel nothwendig ist".
Dass sich Erregungszustände an einer und derselben Ner-
venstelle einfach summiren können, ergiebt sich schon aus den
zahlreichen Erfahrungen, wo die Anspruchsfähigkeit einer Nervenstrecke
dadurch gesteigert erscheint, dass sie der Sitz einer schwachen, an
sich unwirksamen (latenten) Erregung ist, wofür im Vorhergehenden
eine ganze Reihe von Beispielen aufgezählt worden ist.
Unipolare Wirkungen.
Bei Reizung mit inducirten Strömen kommen unter Umständen
gewisse Erscheinungen in Betracht, die nicht nur von theoretischem
Interesse sind, sondern auch die grösste praktische Bedeutung bei
allen Reizversuchen besitzen. Es betrifft dies die sogenannten uni-
polaren In d uc ti 0 n s Wirkungen, die zuerst von Du Bois-
Reymond beobachtet und näher untersucht worden sind (1. p. 423).
Die Grund thatsache des ganzen Gebietes ist folgende:
„Steht der Nerv des stromprüfenden Schenkels in Verbindung
mit dem einen Ende eines offenen Inductionskreises, und entweder
der Schenkel oder das andere Ende des Kreises ist nach dem Erd-
boden hin abgeleitet, so findet Zuckung statt, jedesmal dass man in
der Nähe des Kreises einen solchen Vorgang erregt, der, wenn der
Kreis geschlossen wäre, einen secundären Strom in demselben zur
Folge haben würde" (1. c. p. 429). Es ist dies auch bei vollkommen-
ster Isolirung des Präparates der Fall und bei einem gewissen geringen
Rollenabstande selbst dann, wenn gar keine Ableitung zur Erde (durch
Berührung des Präparates oder Verbindung des anderen freien Poles
mit dem Erdboden) besteht. Die Erregung bleibt aus, wenn das
metallische Ende des Inductionskreises unterhalb oder oberhalb der
Stelle, wo der Nerv aufliegt, ableitend berührt wird, oder wenn bei
freihängendem Nerven der Fuss des Präparates aufliegt und die Mus-
keln ableitend berührt werden. Unterbindung oder Quetschen des
Nerven hemmt ersterenfalls die Erregung nicht, was leicht begreiflich
ist, da der Nerv in seiner ganzen Länge, also auch unterhalb der ge-
quetschten Stelle, von der Elektricität durchflössen Avird. Wie Pflü-
ger (2, p. 51, 121, 410) fand, erweisen sich ganz vorwiegend Oeffnungs-
schläge wirksam, was nach Du Bois-Reymond auf der Verzögerung
der Ladung der secundären Spiralenden infolge der Entwicklung des
Extrastromes beruht.
Die elektrische Erregung der Nerven. 631
Zum Zustandekommen unipolarer Wirkungen ist es durchaus nicht
erforderlich, dass die Ableitung von dem einen Pole nach einem un-
endlich grossen Conductor (wie der Erde) erfolge, vielmehr beginnen
dieselben, worauf zuerst Pflüger (1. c. p. 128 f ) aufmerksam gemacht
hat, schon dann, wenn der abgeleitete Pol mit einer relativ geringen
Oberfläche in Berührung steht, und zwar um so eher, je höher die
Spannungen sind, welche die durch Induction erzeugte elektromotorische
Kraft hervorruft. „Mit der Grösse jener Ableitung nimmt dann die
unipolare Wirkung in raschem Maasse zu, und zwar ist die unipolare
Reizung bei beschränkter ableitender Oberfläche an einem gegebenen
Punkte derselben um so grösser, je näher dieser Punkt dem unipolar
wirkenden Metallpole liegt." Pflüg er legte nach möglichst vollkom-
mener Isoliruug aller Reizvorrichtungen eine ganze Reihe von Frosch-
schenkeln (4 — 6) derart auf eine Glasplatte, dass nur der Nerv des
ersten den einen Metallpol berührte, während der des zweiten den
Fuss des ersten, der des dritten den Fuss des zweiten u. s. w. be-
rührte. Bei allmählicher Näherung der Rollen des Inductionsapparates
beginnen dann die Schenkel der Reihe nach vom ersten aus zu zucken.
Es ergiebt sich hieraus, „dass in der Nähe des metallischen Poles die
unipolare Wirkung auch bei der scheinbar sorgfältigsten Isolation
stets sehr zu fürchten bleibt".
Sehr wesentlich w^erden die unipolaren Reizwirkungen unter ge-
wissen Umständen durch den Einfluss der I n f 1 u e n z unterstützt und
befördert. Schon Du Bois-Reymond hatte gelegentlich bemerkt,
dass bei grosser Annäherung eines Fingei-s an ein unipolar aufliegen-
des Nerv-Muskelpräparat Zuckungen entstanden, welche sonst bei
gleicher Reizstärke fehlten. Dies ist, wie F. W. Zahn (60) fand,
nicht nur der Fall, wenn das freie Ende des Kreises durch Berührung
mit der andern Hand abgeleitet wird, sondern auch selbst ohne eine
solche. Zahn modificirte diesen Versuch in mannigfaltiger Weise; er
legte das Präparat auf eine runde Glasplatte, deren Unterfläche bis
10 cm vom Rande mit Stanniol beklebt war; wurde dann der eine Pol
mit dem Schenkel, der andere mit der Belegung verbunden, so trat
schon bei schwachen Strömen Tetanus ein. Dasselbe geschah bei etwas
stärkeren Strömen, wenn der Schenkel ohne jede Verbindung mit der
secundären Spirale blieb, im Augenblicke, wo er ableitend berührt
wurde, oder wenn mit einer Hand der freie Metallpol gefasst, die
andere aber dem Präparat genähert wurde. Noch erfolgreicher ge-
stalten sich die Versuche , wenn die Glasplatte auf beiden Seiten in
gleicher Ausdehnung metallisch belegt und so zu einer Franklin'schen
Tafel umgestaltet wird. Wird dann die eine Belegung mit dem einen
Pol, die andere mit dem Nerven des Präparates verbunden, während
der Schenkel auf dem metallfreien Glasrand liegt und mit dem andern,
freien Pol berührt wird, so dass der Kreis nur durch die zwischen den
beiden Stanniolplatten laefindliche Glasscheibe unterbrochen ist, so ge-
lingt es, schon mit ganz schwachen Strömen Zuckung und Tetanus
hervorzurufen. Dasselbe war der Fall, wenn das eine Ende des In-
ductionskreises mit der unteren Belegung verbunden Avird, Avährend
das andere in eine Stanniolplatte ausläuft, welche dem Schenkel ge-
nähert wird. Bei übergeschobenen Rollen trat Erregung auch dann
ein, w^enn das eine Ende des Kreises ganz frei und isolirt blieb,
während eine Stanniolplatte dem Schenkel hinreichend genähert wurde.
Tiegel (60) verband den einen Pol eines Inductionsapparates mit der
g32 -^^^ elektrisclie Erregung der Nerven.
Gasleitung, während clei' andere in eine isolirte Metallplatte auslief^
welcher eine zweite gleich beschaffene Platte verschiebbar gerade
gegenüber stand. Mit dieser war eine mit Stanniol belegte Glasplatte
in leitender Verbindung, auf der das Präparat liegt. Bei jeder Be-
rührung des letzteren erfolgt Erregung, welche je nach dem Platten-
abstand sehr verschieden stark ausfällt und bei geeigneter Ableitungs-
art (mit einer feinen Metallspitze) ausserordentlich fein localisirt werden
kann. Auch hierbei erwiesen sich nur OefFnungsschläge wirksam.
Schiff und Fuchs (60) erzielten unipolare Wirkungen auch ohne
Induction bei alleiniger Anwendung statischer Elektricität, indem
sie die Ladung der Enden einer offenen Kette auf einen grossen Con-
ductor oder die Belegungen eines Condensators übertrugen und sie
dabei durch einen empfindlichen Nerven leiteten. Sehr anschaulich
ist auch der folgende Versuch von Rosenthal (60). Einem auf einer
Glasplatte isolirten Nerv-Muskel-Präparat, bei welchem Nerv und Mus-
kel in einer Flucht liegen, wird plötzlich ein geladener Conductor ge-
nähert, den man an seinem isolirenden Glasfuss hält, so erfolgt unter
Umständen schon eine kleine Zuckung, wenn das Ende des Nerven
dem Conductor zunächst liegt, niemals aber, wenn der Conductor dem
Muskelende genähert wird. Wird aber letzterenfalls der Nerv ab-
leitend berührt oder auch nur mit einem isolirten Leiter von beträcht-
licher Grösse verbunden, so erfolgt stets starke Erregung.
Die Theorie der unipolaren Reizwirkungen, für welche im Vor-
stehenden einige besonders instructive Beispiele angeführt wurden, ist
in allen wesentlichen Punkten bereits von Du Bois-Reymond ent-
wickelt worden, indem er zeigte, dass dieselben auf der Spannung der
Elektricität an den beiden freien Enden einer Inductionsspirale beruhen.
Es stellt ein offener Liductionskreis im Augenblick der Schliessung oder
Oeffnung des primären Kreises so zu sagen eine offene Säule dar, an
deren Enden sich freie Elektricität befindet. Steht nun jeder Pol der
secundären Spirale mit dem Nerven eines Froschschenkels in Berüh-
rung, so zucken beide Präparate, wenn von dem einen zur Erde ab-
geleitet wird, weil offenbar beide Nerven, nur in entgegengesetzter
Richtung, von der abströmenden Elektricität durchflössen werden.
Dasselbe muss natürlich auch der Fall sein, wenn nur der eine Metall-
pol von dem Nerven eines Präparates berührt und entweder vom
Schenkel oder vom andern freien Pol abgeleitet wird. Stets fliesst
die zur Ladung des Schenkels nöthige Elektricität durch den Nerven
und erregt denselben hierbei. Es ist klar, dass die Intensität der Er-
regung zunächst von der Quantität der Elektricität abhängig ist, welche
durch den Nerven fliesst, und daher mit der Grösse der Spannung,
Annäherung der Rollen, Ableitung des freien Poles zunehmen wird.
Aber auch durch Vergrösserung der elektrischen Capacität des Schen-
kels wird dasselbe Ziel erreicht. Darauf beruht der begünstigende
Einfluss der Verbindung eines unipolar aufliegenden Präparates mit
Leitern von grosser Oberfläche (dem menschlichen Körper etc.), sowie
der Annäherung eines neutralen oder besser noch eines entgegengesetzt
(vom anderen Ende der Inductionsspirale her) geladenen Körpers
(I n f 1 u e n z).
Wird, wie in dem oben erwähnten Versuch von Tiegel, der eine
Pol der secundären Spirale zur Erde abgeleitet, so entsteht offenbar
auf der mit dem anderen verbundenen Metallplatte im Momente der
Induction eine gewisse (positive oder negative) Ladung (Spannung),
Die elektrische Erregung der Nerven. 633
die doppelt so gross ist, als sie sein würde, wenn der andere Pol nicht
abgeleitet wäre. Durch Influenz entsteht auf der zweiten, isolirten,
parallel zur ersten aufgestellten Metallplatte eine je nach dem Abstand
verschieden grosse Spannung von entgegengesetztem Zeichen. Im
nächsten Augenblick fliesst dann die, sagen wir, negative Elektricität
der ladenden Polplatte durch die secundäre Spirale über den andern
Pol und die positive Elektricität der durch Influenz geladenen Platte
durch das Nerv-Muskel-Präparat nach der Erde ab, wodurch eben die
Erregung bewirkt wird.
Von grösster praktischer Bedeutung bei allen mit inducirten
Strömen angestellten elektrischen Reizversuchen sind jene unipolaren
Wirkungen, welche, wie ebenfalls Du Bois-Reymond zuerst fand,
bei unvollkommener Schliessung des Kreises unter Um-
ständen hervortreten. Brückt man den Nerven eines Froschschenkels
über beide mit den Polen einer secundären Spirale verbundenen Elek-
troden, so dass er den Inductionskreis wirklich schliesst, und unter-
bindet man innerhalb der myopolaren Strecke, so beobachtet man
nichtsdestoweniger Tetanus des wohl isolirten Schenkels, wenn man
ihn bei einem gewissen Rollenabstand ableitend berührt. Es ist leicht
ersichtlich, dass dies auch dann der Fall sein wird, wenn der Nerv
oberhalb der zerquetschten, nicht mehr erregungsleitenden Stelle ab-
geschnitten und durch einen beliebigen feuchten Leiter ersetzt wird.
Hier soAvohl, wie auch in allen früher erwähnten Versuchen bei ganz
offenem Kreise macht sich auch der Einfluss der Richtung der uni-
polaren Strömung geltend, und zwar im Sinne des Zuckungsgesetzes :
Erregung erfolgt immer nur da, wo bei der Ladung positive Elektri-
cität aus dem Nerven aus- oder negative in ihn eintritt. Man sieht
leicht, wie bei vivisectorischen Versuchen der verschiedensten Art,
sowie auch bei Versuchen mit dem Galvanometer unipolare Wirkungen
sehr störend werden und unter Umständen Irrthümer veranlassen
können, wenn nicht durch entsprechende Vorkehrungen deren Zu-
standekommen verhindert wird. Wie Hering (61) zeigte, kann bei
einer Versuchsanordnung, wie sie zur Untersuchung der negativen
Schwankung des Nervenstromes dient, wobei der Bussol- und Reiz-
kreis durch eine längere Nervenstrecke getrennt sind, auch die voll-
kommenste Isolirung beider Kreise keinen Schutz gegen das Abfliessen
der Inductionselektricität durch die extrapolare Strecke des Nerven in
den Bussolkreis gewähren.
Stets findet neben dem Ausgleich durch die iuterpolare Strecke
zugleich ein Abströmen in den Complex von Leitern statt, welcher
den Bussolkreis bildet und, wenn auch noch so gut isolirt, durch den
Nerven mit der secundären Spirale zusammenhängt. Dass übrigens
die plötzlichen Ladungen und Entladungen des Bussolkreises, welche
durch die unter allen Umständen extrapolar abfliessende Elektricität
bedingt sind, im Allgemeinen keine Ablenkungen des Magneten be-
wirken, hat Hering durch besondere Versuche gezeigt.
In wie hohem Grade die Verbindung des Nerven mit dem Bussol-
kreis das Zustandekommen unipolarer Wirkungen begünstigt, zeigt
der folgende Versuch in sehr klarer Weise: „Einem noch mit dem
Unterschenkel verbundenen N. ischiadicus wurden die Reiz- und Bussol-
elektroden in ganz derselben Weise wie bei der Untersuchung der
negativen Schwankung angelegt. (Reizstrecke =^ 5 mm. Zwischen-
strecke = 25—30 mm, Bussolstrecke = 6—8 mm.) Der Stumpf des
Biedermauu, Elektrophysiologie. 41
ß34 D^^ elektrische Erregung der Nerven.
Oberschenkelknochens wurde dnrch eine mit entsprechender Bohrung
versehene Paraftinkerze gehalten, so dass der Schenkel selbst möglichst
gut isolirt war. Nach wiederholter Durchquetschung der Zwischen-
strecke wurde gereizt und die secundäre Rolle allmählich angeschoben.
Bei 20 — 25 cm Rollenabstand begann die unipolare Wirkung, und ge-
rieth der Muskel in Tetanus, und zwar auch dann, wenn nur eine
Bussolelektrode den Nerven berührte. Wurden jetzt beide Bussol-
elektroden vom Nerven abgerückt, so blieb der Muskel in Ruhe"
(Hering). Der Unterschied gegenüber gewöhnlicher unipolarer
Reizung liegt hier darin, dass nicht wie dort Elektricität auf den
Muskel überfliesst, sondern weil sich solche durch die Bussolelektroden
in den Bussolkreis ergiesst und hierbei den Nerven theils unterhalb
der Quetschungsstelle, theils an Stelle der anliegenden Bussolelektroden
(insbesondere der den Längsschnitt berührenden) reizt.
Man sieht leicht, wie ausserordentlich gefährlich diese Art uni-
polarer Reizung bei allen Versuchen über Actionsströme und negative
Schwankung bei Nerven werden kann, und in wie enge Grenzen jene
Stromstärken eingeschlossen sind, welche man bei derartigen Unter-
suchungen verwenden darf.
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f A. Fiek. W. S.-B. IL Abth. XLVI. p. 350, XLVII. p. 79 und XLVIH. p. 220.
54. { 1862—1863.
I Tigerstedt, Arbeiten aus dem physiol. Labor, zu Stockholm. IH. Heft.
(Tiegel, P. A. XIII. p. 280.
Grützner, P. A. 28. Bd. p. 174 imd 177.
r Würzburger Verhandlungen. N. F. H. 1871. p. 150 ff.
' \ Ueber das Phänomen der Lücke. Inaug.-Diss. Beni 1883.
56. Waller, Archives de Phys.iologie. 1882. I. p. 383.
57. Mares, Berichte der k. böhm. Ges. der Wiss. 1891.
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58. J Werigo, P. A. 36. Bd.
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59. K. Kaiser, Zeitschr. für Bio]. 28. N. F. X.
F. W. Zahn, P. A. I. p. 256.
Tiegel, P. A. 14. Bd. p. 330.
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61. E. Hering, W. S.-B. LXXXIX. 1884. III. Abth. p. 219.
55
60
J. Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
I. Der Strom des „ruhenden" Nerren.
Im Jahre 1843 machte Du Bois-Reymond zuerst Mittheilung
über galvanische Wirkungen von Seiten durchschnittener Nerven,
nachdem bereits zahlreiche Forscher, vor Allem auch Matteucci,
sich seit lange vergeblich bemüht hatten, dieses Ziel zu erreichen.
Man findet eine vortreffliche und umfassende geschichtliche Darstel-
lung aller dieser Bestrebungen im zweiten Bande des grossen Haupt-
werkes von Du Bois-Reymond. Mit unseren heutigen Mitteln der
Untersuchung ist es ausserordentlich leicht, an jedem beliebigen aus
der Continuität eines Kalt- oder Warmblüternerven herausgeschnittenen
Stückchen das „Gesetz des Nervenstromes" zu erkennen, welches, ab-
gesehen von Unterschieden der Stärke der in Betracht kommenden
Wirkungen, in jeder Beziehung mit dem Gesetze des Muskelstromes
übereinstimmt. Hier wie dort verhält sich jeder Punkt der natürlichen
unversehrten Oberfläche (des „natürlichen Längsschnittes") positiv zu
jedem Punkt eines „künstlichen Querschnittes"; hier Avie dort ist die
Spannungsdifferenz am grössten, Avenn der „Aequator" mit dem Quer-
schnitt durch den ableitenden Bogen verbunden wird, und lassen sich
schwache und starke Anordnungen unterscheiden, indem die Punkte
des Längsschnittes um so weniger positiv gegenüber dem Querschnitte
erscheinen, je näher sie demselben liegen; demgemäss verhält sich
auch jeder dem Aequator nähere Punkt positiv gegen jeden entfernteren
(schwache Längschnittsströme). Wie beim Muskel, darf man auch
annehmen, dass jede einzelne Nervenfaser in derselben Weise elektro-
motorisch wirkt, wie man es am ganzen Nerven stamm zu beobachten
Gelegenheit hat.
Die absolute elektromotorische Kraft des Nervenstromes bestimmte
Du Bois-Reymond beim Frosch bis zu 0,022 Dan., beim Kanin-
chen 0,026 Dan. Während, wie die folgende von L. Frede ricq (1)
mitgetheilte Tabelle zeigt, die elektromotorische Kraft der mark-
haltigen Nerven des Frosches, sowie verschiedener Warmblüter nicht
erheblich verschieden ist, zeichnen sich, wie zuerst Kühne und
Stein er (2) fanden, die aus marklosen Fasern bestehenden Nerven
der Wirbelthiere und Wirbellosen durch ein ganz auffallendes Ueber-
wiegen der elektromotorischen Kraft aus.
(338 Diß elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Katze 0,018 Dan.
Hund . 0,018—0,021 Dan.
Kaninchen 0,020—0,028 Dan.
Ente 0,024 Dan.
Hummer 0,048 Dan.
Am marklosen N. olfactorius des Hechtes, dessen Dicke
etwa der eines Froschischiadicus entspricht, beträgt die elektromoto-
rische Kraft nach Kühne und Steiner 0,0215—0,0105 Dan., wäh-
rend sie nach denselben Autoren am Froschischiadicus nur 0,002 bis
0,006 Dan. entspricht. Unter allen Umständen ergiebt sich auch aus
diesen Zahlen, dass die elektromotorische Kraft des marklosen Riech-
nerven vom Hechte beträchtlich jene des markhaltigen Froschnerven
übersteigt. Der Unterschied beträgt mehr als die Hälfte. Erst der
markhaltige N. opticus vom Hechte, dessen Querschnitt um viele
Male grösser ist als der des Olfactorius, erreicht den niedrigsten
Werth (0,0100 Dan.), der an dem letzteren beobachtet wurde. Fragt
man nach der Ursache dieses auffallenden Unterschiedes zwischen
marklosen und markhaltigen Nerven, so kann man mit Kühne an-
nehmen, „dass entweder die specifische elektromotorische Wirksamkeit
der marklosen Nervenfaser eine grössere ist, als die der markhaltigen,
oder man kann vermuthen, dass das Nervenmark der markhaltigen
Faser selbst elektromotorisch unwirksam ist und diese Kraft nur
dem Axencylinder eigen wäre, so dass der gleiche anatomische Quer-
schnitt eines marklosen und markhaltigen Nerven durchaus nicht ihren
gewissermaassen elektromotorischen Querschnitten entsprechen könnte,
und es würde für die markhaltigen Nerven ein gleicher elektromoto-
rischer Querschnitt, wie ihn der marklose Nerv besitzt, erst dann er-
reicht sein , wenn der anatomische Querschnitt des ersteren den des
letzteren um so viel übertrifft, als eben dort das Mark im Querschnitt
einnimmt" (Kühne und Steiner 1. c. p. 160).
Zu Gunsten der Folgerung, dass die elektromotorische
Wirksamkeit der markhaltigen Nervenfasern nur dem
Axencylinder ohne Betheiligung des Nervenmarkes zu-
kommt, spricht auch das Verhalten der sehr dünnen, marklosen
Verbindungsnerven von Anodonta (3), welche bei günstiger Ab-
leitung auffallend starke Ströme liefern, sowie der Mantelnerven von
Eledone, deren elektromotorische Kraft nach S. Fuchs (4) bis zu
0,0259 Dan. beträgt, obschon die Dicke bisweilen nicht dem Hüft-
nerven der grossen siebenbürgischen Frösche gleichkommt. Auffallend
gross ist nach den Beobachtungen von F. Gotch und V. Horsley (5)
die Spannungsdifferenz zwischen Längsschnitt und künstlichem Quer-
schnitt bei den Spinalwurzeln von Säugethieren. Während die ge-
nannten Autoren die elektromotorische Kraft des Demarcationsstromes
gemischter Säugethiernerven bei der Katze zu 0,01 , beim Affen nur
0,005 Dan. fanden, beträgt dieselbe bei den hinteren Spinalwurzeln
des ersteren Thieres 0,025 Dan., für das Rückenmark aber bisweilen
sogar 0,046 Dan. bei der Katze, 0,029 Dan. beim Affen. Dass dies
nicht allein auf dem grösseren Querschnitt beruht, ergiebt sich aus
der Vergleichung des Rückenmarkes junger, mit dicken Nervenstämmen
ausgCAvachsener Thiere.
Bei allen Versuchen über den sogenannten ruhenden Nervenstrom
(Demarcationsstrom im Sinne Hermann 's) ist es wichtig und wesent-
lich, dass die Querschnittsableitung möglichst rein sei. Dies ist natür-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 639
lieh bei sehr dünnen Nerven durch einfaches Anlegen der Querschnitts-
fläche viel schwerer zu erreichen als bei dicken. Ana besten ist es
daher immer, wenn man das Querschnittsende in einer gewissen
Strecke abtödtet und vom todten Ende ableitet. Unter Umständen,
wo dem Demarcationsstrom des Froschischiadicus höchstens ein Aus-
schlag an der Bussole von etwa 70 Scalentheilen entspricht, beob-
achtete ich an den beiden zusammengelegten Muschelnerven, deren
Dicke noch immer beträchtlich hinter jener eines einzelnen Froschnerven
zurückbleibt, Ablenkungen von 60 — 200 Scalentheilen. In der Nähe
der Demarcationsfläche lässt sich auch an marklosen Nerven
eine Zone rasch abnehmender Negativität nachweisen,
welche hier ebenfalls „s chwache Längsschnittsströme"
bedingt, wofür sich in meiner citirten Arbeit, sowie in der Abhand-
lung von Kühne und Steiner Zahlenbelege finden.
Sehr bemerkenswerth ist das Verhalten functioneU ver-
schiedener Nerven bei Ableitung von zwei Quer-
schnitten, Avobei der Strom gleich Null sein müsste, wenn die
Negativität beiderseits gleich gross wäre; dieses ist nun aber, wie
schon Du B 0 i s - R e y m o n d (6) bemerkte, keineswegs der Fall, viel-
mehr zeigten sich Unterschiede in dieser Richtung sowohl beim Ischia-
dicus des Frosches, wie auch bei Warmblüternerven (L. Frede ricq 1,
p. 68, Anm.). Später fand dann M. Mendelssohn (6), dass an rein
centripetal oder rein centrifugal leitenden Nerven gesetzmässige, und
wie es scheint, constante Unterschiede der Negativität zweier beliebiger
Querschnitte bestehen. An den elektrischen Nerven hatte schon D u
Bois-Reymond durchweg grössere Negativität des peripheren Quer-
schnittes gegen den „Aeqviator" gefunden, so dass der Strom von
Querschnitt zu Querschnitt, der sogenannte „ Axial ström ", stets
eine aufsteigende Richtung hatte; dasselbe ist nun nach Mendels-
sohn auch bei den (rein centrifugalen) Muskelästen des Ischiadicus
vom Kaninchen der Fall, während ebenso regelmässig die Richtung
des Axialstromes in den hinteren Wurzeln beim Frosch und Kaninchen,
wie auch im Opticus und Olfactorius der Fische eine absteigende ist.
In dem gemischten Ischiadicusstamm Avürde dagegen die Richtung eine
wechselnde sein. Dürfte man aus diesen Beobachtungen wirklich ein
Gesetz ableiten, so würde dasselbe lauten müssen: die Richtung des
axialen Nervenstromes ist der physiologischen Wirkungsrichtung der
Nervenfasern entgegengesetzt. Möglicherweise lassen sich diese Er-
fahrungen in einen Zusammenhang bringen mit den schon früher er-
wähnten Beobachtungen über Verschiedenheiten der Erregbarkeit und
Empfindlichkeit gegen Schädlichkeiten an verschiedenen Stellen gänz-
lich unversehrter Nerven. Mendelssohn glaubt sich auch über-
zeugt zu haben, dass die elektromotorische Kraft des Axialstromes
um so beträchtlicher ist, je grösser die Zahl der Erregungsimpulse ist,
welche den Nerven in der einen oder andern Richtung durchsetzen,
je mehr also der Nerv im Organismus in Anspruch genommen wird.
Es ist selbstverständlich, dass aus der Thatsache einer streng ge-
setzmässigen elektromotorischen Wirkung durchschnittener oder irgend-
wie verletzter Nerven ebensowenig ein Schluss auf etwaige Präexistenz
elektrischer Spannungen im Innern desselben geschlossen werden kann,
wie dies beim Muskel der Fall ist. Vielmehr gilt hier ganz ebenso
wie dort der Satz , dass der wirklich unversehrte Nerv
elektromotorisch unwirksam ist. Es liegt auf der Hand,
(340 Diö elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
dass mit Rücksicht auf die Endigungsweise der Nervenfasern in peri-
pheren Organen oder im Centrum, von einer Ableitung vom „natür-
lichen Querschnitt" (im Sinne dieses Ausdruckes beim Muskel) nicht
wohl gesprochen werden kann, zumal nicht nur nachgewiesenermaassen
die motorischen Endorgane (Muskeln), sondern auch andere (Drüsen-
zellen) der Sitz elektromotorischer Kräfte sind oder doch sein können.
Dies gilt unter Anderem auch von jenem zur Entscheidung der
schAvebenden Frage, wie es auf den ersten Blick scheint, sehr geeig-
neten Organ, an welchem bereits Du Bois-Reymond und nachher
viele andere Forscher Versuche anstellten, nämlich vom Auge, dessen
elektromotorische Wirkungen an anderer Stelle im Zusammenhang zu
besprechen sein Averden.
Wie die elektromotorischen Wirkungen der Muskeln, so sind auch
jene der Nerven als eine Lebenseigenschaft der betreffenden Gewebs-
elemente zu bezeichnen. Die Nerven der Leiche verlieren allmählich,
wiewohl bei Wirbelthieren im Allgemeinen nur sehr langsam, die
Fähigkeit, SpannungsdifFerenzen zwischen einer frischen Demarcations-
fläche und irgend einem Punkte der unversehrten Oberfläche zu ent-
wickeln. Dass dies bei Warmblütern früher der Fall ist als bei Kalt-
blütern, dass ferner im Körper belassene Nervenstämme ihre normalen
Eigenschaften länger bewahren als ausgeschnittene, ist leicht verständ-
lich; ebenso auch das raschere Unwirksamwerden centraler gelegener
Strecken, die sich ja überhaupt als minder resistenzfähig erwiesen
haben. Mit steigender Temperatur sah Steiner (7) innerhalb ge-
wisser Grenzen die Kraft des Nervenstromes zunehmen and etwa
zwischen 14 und 25" ein Maximum erreichen. Bei Siedehitze fand
Du Bois-Reymond verkehrten Strom, ebenso Harless in einem
gewissen Stadium der Vertrocknung. Im Verlaufe des Degenerations-
processes, welchem vom Centrum getrennte Nerven nach und nach
verfallen, scheint sich die Fähigkeit zu elektromotorischen Wirkungen
unter Umständen sehr lange zu erhalten, was begreiflich wird, Avenn
man berücksichtigt, dass es bei markhaltigen Fasern zunächst die
Markscheide ist, welche dem Zerfall entgegengeht. Schiff und
Valentin (8) fanden, dass Nerven von Säugethieren und Vigeln,
welche am lebenden Thier durchschnitten worden waren, noch Wochen
und Monate lang nachher einen normalen Strom lieferten, obwohl sie
bereits 8 — 14 Tage nach der Durchschneidung ihre Erregbarkeit ein-
gebüsst hatten. Schi ff selbst giebt an, dass trotz weit vorgeschrittenem
Zerfall der Markscheide die Axency linder noch vorhanden
gewesen sind; ein weiterer Beweis für die Bedeutung gerade dieser
Theile der Fasern.
Von grossem Interesse sind die zeitlichen Veränderungen, welche
der einmal hervorgerufene Demarcationsstrom markhaltiger Nerven in
der Folge erleidet, indem sich hierbei ein ganz ähnliches Verhalten
herausstellt Avie beim Herzmuskel und glattmuskeligen Theilen. Hier
hatte Engelmann (9) gefunden, dass die manifeste Kraft des Quer-
schnittes ausserordentlich rasch sinkt, um sofort Avieder in voller
Stärke hervorzutreten, Avenn ein neuer Querschnitt angelegt Avird.
Die Erklärung ergab sich in dem Umstände, dass die einzelnen Zell-
individuen ungeachtet ihrer physiologischen Zusammengehörigkeit für
sich absterben, dass der Absterbeprocess auf die unmittelbar ver-
letzten Zellen beschränkt bleibt. Aehnliche Verhältnisse scheinen bei
markhaltigen Nervenfasern gegeben zu sein, obgleich dieselben nicht als
Die elektromotorischen Wirkiing-en der Nerven. 641
aus einzelnen verschmolzenen Zellindividuen bestehend betrachtet werden
können. Schon nach 1 — 2 Stunden fand Engelmann die Kraft des
künstlichen Querschnittes aut 60 — 25 "/o des Anfangswerthes, in 20 bis
24 Stunden aber auf mindestens 35V 2 ''/o, meist aber auf Null ge-
sunken; oft trat auch, wie schon früher beobachtet worden war, ein
schwacher verkehrter Strom auf. Durch Anfrischen des Quer-
schnittes lässt sich immer sofort die volle ui'sprüngliche Stromstärke
wiederherstellen.
Bei Wiederholung dieser E n g e 1 m a n n ' s c h e n Versuche fand
H. Head (10) die Abnahme des Demarcationsstromes namentlich an
den Nerven von Sonimerfröschen ausserordentlich auffallend, so dass
das Wachsen der Kraft infolge des Anlegens eines neuen Quer-
schnittes hier besonders deutlich bemerkbar wird. Schon nach 14 Mi-
nuten sah Head den aussergewöhnlich starken Ruhestrom um ^5
seines ursprünglichen Werthes sinken. 28 Minuten nach Beginn des
Versuches wird ein neuer Querschnitt gemacht, wonach der Nerven-
strom unmittelbar in seiner früheren Kraft wiedererscheint. In der
Regel machte sich dann sogar eine beträchtliche Steigerung der Kraft
über die ursprüngliche Grösse bemerkbar. In einem speciellen Falle
ergab der Ruhestrom eines Froschischiadicus eine Ablenkung von
155 Scalentheilen, 20 Minuten später nur noch 32 Scalentheile. Nach
Anlegen eines neuen Querschnittes stieg der Strom sofort auf 120
Scalentheile, um nach abermaligem raschen Sinken bei Anlegen eines
neuen (vierten) Querschnittes (33 Minuten nach Beginn des Versuches)
einen Ausschlag von 232 (!) Scalentheilen zu verursachen. Die Er-
klärung für dieses auffallende Verhalten würde nach Engel mann
in dem Umstände zu suchen sein, dass der Absterbeprocess der ver-
letzten Nervenfasern bei dem nächsten Ranvier'schen Schnürringe
Halt macht, doch lässt sich dieselbe Thatsache auch am
N. o])ticus (der Fische, Kühne 9), dessen Fasern
keine Schnürringe besitzen sollen, sowie an marklosen
Nerven (Biedermann 3 ) , wenn auch nicht in so ausge-
prägter Weise, c 0 n s t a t i r e n , so dass wohl kaum genügender
Grund vorliegt, an bestimmte anatomische Grenzlinien in der Con-
tinuität der Axencjlinder zu denken, an welchen das Fortschreiten des
Absterbeprocesses aufgehalten würde. Falls es allgemeine Geltung
haben sollte, dass beim Herzmuskel und bei glattmuskeligen Organen
die einzelnen Zellindividuen durch Plasmabrücken mit einander in
directem Zusammenhang stehen, so würde man wohl auch hier die
Wirkung des Anfrischens lediglich darauf beziehen müssen, dass der
Absterbeprocess in einiger Entfernung von der Schnittfläche Halt
macht, ohne dass vorher gegebene anatomische Grenzen ihn be-
schränken.
Wie der Muskel durch seinen eigenen Demarcationsstrom erregt
werden kann, so ist dies auch beim Nerven möglich. Hierher gehörige
Thatsachen sind schon seit Galvani bekannt und in neuerer Zeit
besonders von Kühne und Hering (11) untersucht worden.
Galvani lagerte den Nerven eines stromprüfenden Schenkels in einem
offenen Bogen und liess den Nerven eines andern, von dem ersten völlig
isolirten Schenkels derart auf den Bogen fallen, dass der Querschnitt
des ersten Nerv einen der beiden Berührungspunkte bildete. In
günstigen Fällen zuckten dann beide Schenkel. Du Bois-Reymond
legte das Hirnende des mit dem Unterschenkel zusammenhängenden
642
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
N. ischiadicus mit Querschnitt und Längsschnitt auf die Bäusche
seiner Zinktrogelektroden und schloss und öffnete den Nerven ström
mittels eines Quecksilberschlüssels. „Beim Schliessen und auch beim
Oeffnen zuckte der Schenkel, in einigen Fällen auch nur beim Oeffnen."
In der Folge gab Du Bois-Reymond diesem Versuche noch eine
einfachere Form, indem er auf eine isolirende Unterlage zwei lange,
mit Kochsalzlösung getränkte Fliesspapierbäusche nahe neben einander
legte und den Nerven des stromprüfenden Schenkels mit Quer- und
Längsschnitt darüber brückte. Durch rasches Auflegen eines dritten
Bausches konnte der Kreis geschlossen werden, wobei wieder eine
Zuckung erfolgte (Fig. 201). Da es hierbei wesendich auf genügende
Raschheit der Schliessung und Oeffnung ankommt, so kann man ent-
weder nach Hering (1. c.) die beiden Bäusche, auf Avelchen der
Nerv liegt, zur Hälfte über den Rand einer Glasplatte frei herab-
hängen lassen und ein mit Kochsalzlösung gefülltes Gefäss von unten
her rasch bis zur Berührung nähern oder entfernen, oder man bedient
sich wie Kühne (1. c.)
zweier Blöcke aus Koch-
salzthon , welche sich
leicht in jede beliebige
Form bringen lassen.
Die Zuckungen, welche
man auf diese Weise
erhält, sind, wie auch
Kühne hervorhebt , im
günstigen Falle sehr ener-
gische. Bei emptind-
lichen Präparaten erhielt
Hering noch kräftige
Schliessungs- und Oeff-
nungszuckungen , wenn
die zwischen den Thon-
blöcken liegende Nervenstrecke bis auf 1 cm vergrössert Avurde.
Dies berechtigte auch zu der Erwartung, dass es gelingen würde,
einen Nerven durch seinen eigenen Strom ebenso ^vie durch Unter-
brechungen eines Kettenstromes zu tetanisiren. Kühne bediente sich
hierzu eines vibrirenden Quecksilberschlüssels; Hering construirte
dagegen einen besonderen kleinen Apparat, welcher es ermöglichte,
einen „Tetanus ohne Metalle" zu erzielen. Dabei wurden „die
raschen Hebungen und Senkungen des (oben erwähnten) Schliessungs-
bausches dadurch herbeigeführt, dass die Zähne eines rotirenden Zahn-
rades den einarmigen Hebel, an dessen freiem Ende der Schliessungs-
bausch befestigt ist, heben und eine am Hebel befestigte Feder ihn
nach jeder Hebung wieder herabzieht". „Das einfachste Mittel, eine
Erregung des Nerv durch seinen Strom herbeizuführen, besteht, wie
Hering (1. c. p. 241) bemerkt, darin, dass man sein Endstück auf
einen andern stromlosen feuchten Leiter fallen lässt." Metalle
(Platin, amalgamirtes Zink) sind hierzu weniger geeignet, da sich
ausserordentlich rasch Polarisationsströme störend einmischen. „Wäh-
rend das Fallenlassen des Nervenendes auf einen Tropfen Lymphe, Blut-
serum oder schwache Kochsalzlösung meist nur einmal von Erfolg ist,
weil die beim Wiederaufheben am Nerven haften bleibende Flüssigkeit
dem Strome eine dauernde, relativ gute Nebenschliessung giebt, lässt
Fig. 201. Reizung des Nerven durch den eigenen
Strom.
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 643
sich der Versuch öfter wiederholen, wenn man den Nerven auf einen
geronnenen Blutstropfen oder auf einen Thonblock fallen lässt, der
mit Kochsalzlösung von 0,6 "/o hergestellt ist." Dass auch ein strom-
loser Muskel in diesem Sinne eine geeignete Unterlage abgiebt, ist
nach dem Gesagten leicht verständlich. „Lässt man also in üblicher
Weise den Schenkelnerven, der noch mit dem Unterschenkel in Ver-
bindung steht, auf den Wadenmuskel fallen, so ist eine erfolgende
Zuckung kein genügender Beweis dafür, dass der Nerv durch einen
Muskelstrom erregt wurde , wenn dies auch meistens der Fall sein
wird." Schon Czermak fand, dass Froschschenkel von höchster
Erregbarkeit zuckten, wenn ihr Nerv auf Theile des Darmes von
Kaninchen oder auf die Nieren oder die Leber auffielen, Avoraus natür-
lich ebensowenig auf präexistente Spannungsdifferenzen dieser Theile
zu schliessen ist, wie aus der Beobachtung von Donders, dass
Froschschenkel unter Umständen zucken, wenn das Schnittende des
Nerven auf den Herzbeutel während der Herzpause rasch auffällt (vgl.
Kühne 1. c. p. 85).
Oft genügt es, wie bei dem Muskel, nur eben den Querschnitt
des Nerven mit einem Tröpfchen leitender Flüssigkeit in Berührung
zu bringen, um eine Zuckung auszulösen.
Wie Kühne für den Muskel, so bediente sich Eckhardt (12)
dieser letzteren Methode zur Untersuchung der chemischen Reizung
der Nerven; es handelt sich daher hier wie dort darum, die durch
Nebenschliessung des Demarcationsstromes bedingten elektrischen Reiz-
erfolge von den chemischen zu unterscheiden, eine Aufgabe, die
in vielen Fällen grosse Schwierigkeiten darbietet oder ganz unlösbar
scheint. Kann es kaum zweifelhaft sein, dass die Zuckung, welche
man, wie Hering fand, im Moment der Berührung eines frisch
angelegten Nervenquerschnittes mit einem Tröpfchen 0,6 " o Kochsalz-
lösung oder der nach Eckhardt ganz unwirksamen concentrirten
Lösungen von Zink- und Kupfervitriol beobachtet, wesentlich elek-
trischen Ursprungs ist, so lässt sich dies schon nicht mit gleicher
Sicherheit bei Anwendung der ganz besonders wirksamen Lösungen
fixer Alkalien behaupten, wobei allerdings in Betracht kommt, dass
die Stärke der Zuckung hier vielleicht lediglich dem Umstände zu-
zuschreiben ist, „dass sie den Nerven leichter und rascher benetzen als
andere Flüssigkeiten und daher eine schnellere elektrische Schwankung
im Nerv erzeugen". Für alle Versuche über Erregung der Nerven
und Muskeln durch den eigenen Strom ist, wie schon erwähnt, grosse
Erregbarkeit der Präparate wesentliche Vorbedingung; dieselben
lassen sich daher im Allgemeinen auch nur während der kalten Jahres-
zeit mit Aussicht auf Erfolg anstellen. Wenn man dann mit Nerven
von Fröschen experimentirt, die im kalten Räume (etwa bei 0^ C.)
aufbewahrt wurden, so ist ein Umstand bemerkenswerth, auf welchen
Hering wieder die Aufmerksamkeit lenkte, nämlich die ausserordent-
liche Neigung zu tetanischer Erregung, die unter den er-
wähnten Umständen, besonders bei R. esculenta, weniger bei R.
temporaria, hervortritt. In der Regel genügt schon die einfache
Durchschneidung oder Umschnürung des N. ischiadicus, um einen
langdauernden ruhigen Starrkrampf des betreffenden Beines herbei-
zuführen , welcher durchschnittlich um so stärker ist, je
höher oben der Nerv d u r c h t r e n n t wird und nach der
()44 I^iö elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Beruhigung d u r c h A n 1 e g e n e i n e s f r i s c li e n Q ue r s c h n i 1 1 e s
neuerdings hervorzurufen ist.
Da nun derartige höchst empfindliche Präparate selbst bei An-
wendung der schwächsten Kettenströme in einen während der ganzen
Dauer der Durchströmung anhaltenden „Schliessungstetanus" ver-
fallen, so erscheint es begreifh'ch, dass unter diesen Umständen auch
die einfache Nebenschliessung des Demarcationsstromes genügen kann,
um eine tetanische Erregung zu erzeugen, wie dies Hering vielfach
beobachtete. So gelang es nicht nur durch Umbiegen eines frisch
angelegten Querschnittes des N. ischiadicus bis zur Berührung
mit einem möglichst nahe gelegenen Punkte der Längsoberfläche,
sondern auch durch Fallenlassen des Schnittendes auf das eines zweiten
Nerven kräftige Schliessungszuckungen mit oder ohne nachfolgender
klonischer Unruhe auszulösen. Im letzteren Falle trat dies jedoch
nur dann ein, wenn beide Querschnitte nicht in einer Flucht zu lieg'en
kamen, sondern der eine Nerv in die Verlängerung des andern fiel
und beide Schnittenden aufeinander zu liegen kamen, wobei sich die
beiden Demarcationsströme gegenseitig in ihrer Wirkung unterstützen,
indem sie den von beiden Schnittenden gebildeten Kreis in gleicher
Richtung durchfliessen. (Beide Versuche hatte Hering bereits früher
auch mit zwei curarisirten Froschmuskeln (Sartorius) mit Erfolg an-
gestellt.) „Die Thatsache, dass hinreichend erregbare Nerven in
dauernde Erregung gerathen, wenn man ihrem eigenen Strom eine
gute äussere Nebenschliessung giebt, legt den Gedanken nahe, dass
auch die oben erwähnte tetanische Erregung, welche nach Durch-
schneidung des Schenkelnerven oder des Plexus ischiadicus bei Kalt-
fröschen auftritt, auch nur durch den Strom bedingt sei, welcher in-
folge der Durchschneidung entsteht", da sowohl die Scheiden der
einzelnen Fasern, wie auch die gemeinsame Nervenhülle den Einzel-
strömchen der Fasern eine innere Schliessung geben.
Das bisher Mitgetheilte bezieht sich nur auf motorische Frosch-
nerven. Knoll (13) zeigte jedoch, dass unter Umständen auch cen-
tripetal leitende Warmblüternerven durch den eigenen Strom erregt
werden können. Die betreffenden Untersuchungen beziehen sich
ausschliesslich auf den Halsvagus von Kaninchen und Hunden, und
zwar zunächst auf den mit dem Athmungscentrum in Verbindung
stehenden, centralen Theil desselben. Schon das Freipräpariren des
genannten Nerven führt, besonders, wenn es mit Verletzung desselben
verbunden ist, bei Kaninchen häufig zu Verzögerung der Exspiration
oder gar zu exspiratorischen Stillständen der Athmung von kurzer
Dauer, und gleiche Wirkungen von längerer Dauer lassen sich mit
grosser Regelmässigkeit bei Abheben des am Brustende umschnürten
und frei präparirten Halsvagus von der Wunde oder bei dem Heraus-
heben aus einer leitenden, indifferenten Flüssigkeit erzielen, besonders
wenn der Nerv zuvor peripher von der Schnürstelle durchschnitten
wird (vergl. Langend or ff 13). Desgleichen beobachtet man bei
dem Wiederniedersenken des Vagus auf die Halswunde oder bei Be-
netzung des Nerven mit einer leitenden Flüssigkeit (Kochsalzlösung
von 0,6 " o) exspiratorische Stillstände von mehr oder Aveniger erheb-
licher Dauer. Da sich zeigen lässt, dass in allen diesen Fällen weder
mechanische, noch auch thermische oder chemische Reizwirkungen ins
Spiel kommen, und da „alle Umstände, welche nachgewiesenermaassen
einen Nervenstrom erzeugen, auf den Ei'folg der beschriebenen Ver-
Die elektromotorischen Wirkimgen der Nerven. 645
suche begünstigend einwirken", die Athmung ferner unverändert bleibt,
wenn man dafür sorgt, dass „bei möglichster Gleichheit aller andern
Bedingungen die Herstellung oder Anschwellung einer Nebenschliessung
in Wegfall kommt", so kann es keinem Zweifel unterworfen sein, dass
jene e x s p i r a t o r i s c h e n Wirkungen durch Erregung der
im Halsvagus verlaufenden exspiratorischen Fasern in-
folge einer Schwankung im Eigenstrom des Nerven be-
dingt sind. Es ist selbstverständlich , dass bei dem Abheben und
Senken des Nerven auf die angelegte Halswunde auch die Ströme der
verletzten Muskeln wesentlich mit in Betracht kommen. Die nach
blosser Durchschneidung oder Abschnürung der in situ befindlichen
Vagi häutig zu beobachtenden, vorübergehenden exspiratorischen Wir-
kungen bezieht K n o 1 1 ebenfalls auf eine Erregung des Nerven durch
seinen eigenen Strom, und es dürfte diese Erscheinung wohl als ein
Analogen des Tetanus nach Durchschneidung des Schenkelnerven
eines Kaltfrosches aufzufassen sein. Bemerkenswerth ist, dass es
nicht gelingt, den peripheren Vagusstumpf durch seinen Eigenstrom
wirksam zu erregen und dadurch Verlangsamung des Herzschlages
herbeizuführen.
Die grosse elektromotorische Kraft des marklosen Olfactorius vom
Hecht lässt es erklärlich erscheinen, dass durch den Strom desselben
Froschnerven sehr leicht und sicher erregt werden. In Gestalt eines
kurzen Hakens auf das ausgezogene Ende eines Glasstabes genommen,
ist dieser feine Nerv, wie Kühne fand, an jeder Stelle eines Frosch-
nerven nach Art eines feinen Elektrodenpaares zu verwenden und er-
regt immer kräftige Zuckungen des Schenkels, wenn er jenen mit
Quer- und Längsschnitt berührt (Kühne 11, p. 97). Es gelang
Kühne sogar, den curarisirten Sartorius vom Frosch durch den
Demarcationsstrom des Hechtolfactorius zu erregen.
Von besonderem Interesse, insbesondere für die Theorie der Oeff-
nungszuckung , sind die durch Interferenz zwischen dem
Nervenstrom und einem künstlichen Strom hervorgeru-
fenen Er scheinungen, wenn die Reizelektroden in der Nähe eines
Querschnittes oder einer aus irgend welchem Grunde elektromotorisch
wirksamen Stelle in der Continuität eines Nerven angelegt werden.
Schon Pflüger machte seiner Zeit darauf aufmerksam, dass die Er-
regbarkeit einer Nervenstrecke durch den Eigenstrom in positivem
Sinne beeinflusst werden muss, wenn oberhalb derselben ein Quer-
schnitt angelegt oder ein Seitenzweig des Nerven abgeschnitten wird,
indem der Demarcationsstrom die betreffende Nervenstrecke in Kat-
elektrotonus versetzt. Verbindet ein ableitender Bogen den Quer-
schnitt oder einen diesem nahe gelegenen Punkt des Längsschnittes
mit einem beliebigen anderen Punkt des letzteren, so geht bekanntlich
ein Strom durch die zwischen den Fusspunkten gelegene Nervenstrecke
in der Richtung vom Querschnitt zum Längsschnitt. Da nun die
einzelnen Axencylinder , wie auch der ganze Nervenstamm, ringsum
von indifferenten leitenden Hüllen umgeben sind, so müssen, ganz ab-
gesehen von besonderen, bei markhaltigen Nerven gegebenen Ver-
hältnissen, Stromfäden in derselben Richtung innerhalb der Hüllen
verlaufen, welche an verschiedenen Stellen der Oberfläche der einzelnen
Fasern wie des Gesammtnerven in der Nähe des Querschnittes austreten,
wie dies insbesondere Hermann wiederholt betont hat. Sind nun die
ableitenden gleichzeitig Reizelektroden, d. h. führen sie dem Nerven
Q4:Q Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
einen künstlichen Strom zu, so wird dieser dem im ganzen System
bereits vorhandenen Strom entweder gleich oder entgegengesetzt ge-
richtet sein, und zwar das erstere, wenn die Anode dem Querschnitt
näher liegt. Da nun unter sonst gleichen Umständen die Schliessung
eines dem Bestandstrom gleich gerichteten Stromes stärker erregend
wirkt, so ist leicht verständlich, dass in der Nähe des Querschnitts-
endes eines motorischen Nerven absteigend gerichtete Ströme wirk-
samer sind als aufsteigend gerichtete. Mit Rücksicht auf frühere Aus-
einandersetzungen ist ohne Weiteres klar, dass es sich bei diesen
Interferenzwirkungen zwischen Reiz- und Nervenstrom streng genommen
nicht um Addition und Subtraction der betreffenden Ströme handelt
(ein Reizstrom um den Betrag des Nervenstromes vermehrt oder ver-
mindert würde, wie Grünhagen richtig bemerkt, in seinen physio-
logischen Wirkungen kaum wesentlich geändert) , sondern um polare
Stromeswirkungen, welche an Stellen ausgelöst werden, deren Anspruchs-
fähigkeit durch den im Nerven selbst sich abgleichenden Bestandstrom
im einen oder andern Sinne verändert wurde.
Giebt es in der Continuität des undurchschnittenen Nerven elektro-
motorisch wirkende (negative) Stellen, so werden dieselben Betrach-
tungen natürlich auch hier gelten müssen. Grützner (14) ist in der
That geneigt, alle in der Continuität sonst unversehrter Nerven zu be-
obachtenden Veränderungen der Anspruchsfähigkeit und so insbesondere
auch die von Hermann undFleischl beschriebene Ungleichheit
der Wirkung gleich starker, aber entgegengesetzt gerichteter Ströme in
verschiedenen Strecken eines und desselben Nerven auf Spannungs-
differenzen zu beziehen, welche durch die Präparation erzeugt werden.
Tastet man mit unpolarisirbaren Elektroden bei einer Spannweite
von 5 — 8 mm den Ischiadicus eines Frosches ab, so findet man nach
Grütznei- regelmässig unterhalb des Abganges der Oberschenkel-
äste einen absteigenden, oberhalb des M. gastrocnemius dagegen einen
aufsteigenden Strom. Etwa in der Mitte zwischen Hüfte nnd Knie
ist eine Stelle, von der aus keine Ströme zur Bussole abgeleitet werden
können ( F 1 e i s c h 1' s „ Aequator"). Zweifellos werden jene Spannungs-
differenzen bedingt durch die vom Hauptstamra abgehenden Nebenäste.
Werden diese möglichst geschont, so sind die Ströme sehr schwach.
Jede VerzweiguDgsstelle eines Nerven ist in diesem Sinne sozusagen
prädestinirt für das Auftreten von Spannungsdifferenzen, indem sie
einen besonders geeigneten Angriffspunkt für allerlei Schädlichkeiten
darzustellen scheint.
„Da wo die Ströme im Nerven selbst absteigend sind, erweisen
sich in hervorragender Weise wirksam absteigende, da wo das Um-
gekehrte stattfindet, aufsteigende Reizströme. Haben dagegen der
Nerven- und der Reizstrom entgegengesetzte Richtung, so wird die
Wirkung des Reizstromes geschwächt oder völlig aufgehoben" (Grütz-
ner 1. c). Fleischl (15) suchte später diese Deutung als unzutref-
fend zu erweisen, indem er seinem „Zuckungsgesetz" entsprechende
Wirkungen auch an Nerven beobachtete, deren Spannungsdifferenzen
durch einen künstlichen Strom compensirt worden waren; dem gegen-
über muss jedoch, wie schon Grützner und Hermann betonten,
hervorgehoben werden, dass durch Compensation nur der im angelegten
Bogen fliessende Stromzweig aufgehoben wird, nicht aber auch die im
Innern des Nerven (oder Muskels) bestehenden Spann ungsdifferenzen
beziehungsweise die ihnen entsprechenden Stromzweige,
Die elektromotorisohen Wirkungen der Nerven. 647
Ein interessanter Fall von Interferenzwirkung des Nerven- und
Muskelstromes liegt in der Tliatsaclie vor, dass, wie Hering (11)
fand , der oben erwähnte Durchschneidungs-Tetanus an Präparaten
selbst der emptindlichsten Kaltfrösche vollständig ausbleibt, wenn man
mit einem einzigen Schnitt den ganzen Oberschenkel durchtrennt, wo-
bei die im Nerven aufsteigend gerichteten Ströme der durchschnittenen
Muskeln auf den ersteren wirken und dessen Strom compensiren.
Sowie es beim quergestreiften, durch Curare entnervten Muskel
(Sartorius) durch Interferenz des Demarcationsstromes mit einem künst-
lichen Reizstrom zur Auslösung „scheinbarer Oeflfnungszuckungen"
kommen kann, so ist das Gleiche auch für den Nerven der Fall. Die
so überaus auffallende Abhängigkeit der Oeffnungserregung von der
Nähe der Anode an einem künstlichen Querschnitt des Nerven wurde
früher bereits ausführlich erörtert. Es ist nun in hohem Grade wahr-
scheinlich, um nicht zu sagen sicher, dass diese Querschnitts-
Oe ffn ungszuckungen gar keine echten Oeffnungs-
zuckungen sind, sondern vielmehr Schliessungszuckun-
gen durch den im ableitenden Bogen vorher compen-
sirten Nerven ström, dass es sich also um eine ganz analoge
Erscheinung handelt, wie bei jenen scheinbaren Oeffnungszuckungen
verletzter Muskeln (Hering, Grützner, 11).
Bedient man sich eines Rheochords, um einen Kettenstromzweig
durch einen mit Querschnitt und Längsschnitt über gleichartige, un-
polarisirbare Elektroden gebrückten Nerven zu schicken, wobei die
Schliessung oder Oeffnung des Kreises durch einen zwischen Rheo-
chord und Elektroden eingeschalteten Schlüssel vermittelt wird, so
wird, wie Hering (11) auseinandersetzt, günstigen Falles, sowohl bei
Schliessung wie bei Oeffnung dieses, die äussere Nebenschliessung des
Demarcationsstromes vermittelnden „Nervenkreises" eine Zuckung
erfolgen können , auch wenn zunächst das Rheochord gar nicht mit
einer Kette verbunden ist. Wird dies hierauf bewerkstelligt, und
schaltet man auch in diesen (den „Ketten-) Kreis" nebst einem Strom-
wender einen Schlüssel ein, so muss, wenn der Zweigstrom der Kette
im Nerven aufsteigend gerichtet ist und somit bei passender Intensität
den Demarcationszweig gerade compensirt, der Reizerfolg verschieden
ausfallen, je nachdem man bei schon geschlossenem Nervenkreis den
Kettenkreis, oder bei schon geschlossenem Kettenkreis den Nerven-
kreis schliesst. Die nur im ersteren Falle eintretende „scheinbare"
Schliessungszuckung würde, wie man leicht sieht, in Wahrheit eine
Oeffnungswirkung des Nervenstromes sein, und ebenso wäre umge-
kehrt die nach vorheriger Schliessung beider Kreise durch Oeffnung
des im Kettenkreis befindlichen Schlüssels auszulösende „scheinbare"
Oeflfnungszuckung eine Schliessungswirkung des Nervenstromes, wie
sich daraus ergiebt, dass sie bei alleiniger Oeffnung des Nervenkreises
ausbleibt. „Ist der Zweigstrom der Kette zu schwach, um den Nerven-
strom im Nervenkreise zu compensiren, so wird sich gleichwohl sein
Einfluss in demselben Sinne, wenn auch nicht in demselben Maasse,
geltend machen. Ist er dagegen etwas stärker, als zur Corapensation
erforderlich ist, so wird der Nerv nach Schliessung beider Kreise that-
sächlich aufsteigend, wenn auch sozusagen nur von dem Reste des
Kettenstromzweiges durchflössen. Schliesst man also bei schon ge-
schlossenem Kettenkreise den Nervenkreis, so bekommt man keine
Zuckung, sofern der Kettenstromzweig nicht allzu stark ist; schliesst
548 I^iö elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
man dagegen bei schon geschlossenem Nervenkreise den Kettenkreis,
so gesellt sich zur schwachen und an sich ungenügenden Schliessungs-
wirkung des Zweigstromes der Kette die Oeffilungswirkung des Nerven-
stromes, und man erhält eine Zuckung."
„Oeffnet man bei zuvor geschlossenem Kettenkreis den Nerven-
kreis, so erfolgt keine Zuckung, immer vorausgesetzt, dass der im
Nerven aufsteigende Kettenstrom nicht so stark ist, dass er trotz seiner
theilweisen Compensation durch den Nervenstrom an sich schon OefF-
nungszuckung geben müsste. Oeffnet man dagegen bei geschlossenem
Nervenkreise den Kettenkreis, so findet der Nervenstrom gleichsam
neue Nebenschliessung, und es erfolgt eine Zuckung, welche hier
noch verstärkt wird durch den Einfluss der Volta' sehen Alternative"
(Hering 11).
Man erhält daher, „wenn man mit den schwächsten, durch den
Querschnitt des Nerven austretenden Stromzweigen der Kette zu
arbeiten beginnt, die Oeffnungszuckung zuerst bei Oeffnung des Ketten-
kreises und erst mit wesentlich stärkeren Strömen auch bei Oeffnung
des Nervenkreises-, und analog zeigt sich die „Schliessungszuckung"
zunächst bei Schliessung des Kettenkreises und erst bei Verstärkung
des Stromzweiges auch bei Schliessung im Nervenkreise".
Tritt der Kettenstrom durch den Querschnitt des Nerven ein
(ist er also absteigend), so wird, wie Hering auseinandersetzt, der
Erfolg ebenfalls verschieden sein, je nachdem der Kettenkreis bei
schon geschlossenem Nervenkreise geschlossen oder umgekehrt ver-
fahren wird. „Denn ersteren Falls wird in die Längsschnittselektrode
bereits ein Strom, nämlich der des Nerven, eintreten, welcher durch
das Hinzutreten des Kettenstromzweiges nur einen Zuwachs erhält.
Wird aber der Nervenkreis erst nach dem Kettenkreise geschlossen,
so addiren sich der Nervenstrom- und der Kettenstromzweig schon im
Augenblicke der Schliessung und demnach wird der Erfolg der letz-
teren ein grösserer sein. Ebenso verschwinden bei Oeffnung im
Nervenkreise beide Ströme gleichzeitig." „In der That erhält man,
wenn man mit dem schwächsten, durch den Querschnitt des Nerven
eintretenden Strome beginnt, die Schliessungszuckung zuerst bei
Schliessung im Nervenkreise und erst bei stärkeren Strömen auch bei
Schliessung im Kettenkreise. Das Analoge gilt von den Oeffnungs-
zuckungen" (Hering 11).
Schon Du Bois-Reymond (Ges. Abhandl. I. p. 196) hat
seiner Zeit darauf hingewiesen, dass es bei elektrischen Reizversuchen
unter Umständen einen ganz wesentlichen Unterschied macht, ob man
den Strom im Haupt- oder Nebenkreise (Ketten- oder Nervenkreis)
schliesst oder öffnet. Da jedoch bei den betreffenden Versuchen aus-
schH esslich metallische Elektroden verwendet wurden, so mischte sich
naturgemäss die äussere Polarisation zwischen den thierischen Geweben
und Elektroden sehr störend ein.
Als eine eigenthümliche Interferenzwirkung zwischen Reiz- und
Nervenstrom ist auch die von Grützner (14) zuerst beobachtete
„Lücke" in der Reihe der Oeffnungszuckungen zu betrachten, Avelche
auftritt, wenn eine Nervenstrecke, in welcher ein absteigender Strom
vorhanden ist (wie etwa gerade auch am Querschnittsende), mit immer
stärker werdenden aufsteigenden Kettenströmen gereizt wird, dann
treten Oeffnungszuckungen schon bei sehr geringer Stromesintensität
hervor, bei deren Steigerung sie zunächst wachsen, dann bis zum Ver-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 649
schwinden abnehmen, um schhesslich neuerdings an Grösse zuzunehmen.
Die Grösse, d. h, die elektromotorische Kraft des Stromes, weicher in
einem ableitenden Bogen iliesst, dessen einer Fusspunkt am Quer-
schnitt eines Nerven liegt, während der andere einen Punkt der
Längsobei-fläche berührt, hängt natürlich sehr ab von der Spannweite
des Bogens. Beträgt dieselbe etwa 5 — 7 mm, so ist erfahrungsgemäss
der abgezweigte Stromantlieil am grössten, und es wird daher die Com-
pensation durch einen künstlichen Gegenstrom am vollständigsten sein.
Viel ungünstiger gestalten sich die Bedingungen dafür bei geringem
Abstände der Reiz- (beziehungsweise ableitenden) Elektroden. Dem
entspricht es nun, dass die Lücke in der Reilie der Oeffnungszuckungen
ersterenfalls viel deutlicher hervortritt, als im letzteren Falle (Lud-
milla Nemerowsky 16). Zu einer Erklärung der in Rede stehen-
den Erscheinung führt nach Grützner (1. c.) die Erwägung folgender
Möglichkeiten: „Der Reizstrom kann entweder schwächer, gleich oder
stärker als der Nervenstrom sein. Im ersteren Falle würde bei
Schliessung des Reizstromes sich der Nervenstrom abschwächen und
bei Oeffnung desselben wieder auf seine frühere Höhe zurückkehren.
Wäre der Reizstrom gleich dem Nervenstrom, so würde bei Schliessung
des ersteren der Nervenstrom (im ableitenden Bogen) auf Null sinken,
bei der Oeffnung von Null aus zu seiner vollen Höhe ansteigen. Wäre
schliesslich der Reizstrom stärker als der Nervenstrom , so würde bei
Schliessung des ersteren in den Nerven ein um den Nervenstrom ver-
minderter und diesem entgegengesetzter Strom einbrechen, bei dessen
Oeffnung hingegen dieser verminderte Reizstrom verschwinden und in
den momentan stromlosen Nerven der Nervenstrom wieder von Null
aus aufsteigen." Nach Grützner w^irkt nun sowohl derjenige Reiz-
strom, welcher schwächer ist als der Nervenstrom, wie auch der
stärkere, bei der Oeffnung des Kreises erregend; denn ersterenfalls
Avird die Erregung an einer Stelle ausgelöst, welche durch die Kathode
des Bestandstromes wesentlich erregbarer geworden ist, letzterenfalls
macht sich dagegen die Wirkung der Volta'schen Alternative geltend,
indem in den Nerven ein Strom einbricht, nachdem kurz vorher ein
entgegengesetzt gerichteter Strom dieselbe Strecke durchsetzt hat. Das
Verschwinden des eben compensirenden Stromes wirkt dagegen nicht
erregend, weil hier der von Null aus entstehende Strom an keiner
besonders erregbaren Stelle austritt. Mit dieser Auffassung steht in
Uebereinstimmung, dass die Lücke der Oeffnungszuckungen an strom-
losen Nervenstellen niemals auftritt, es sei denn, dass dieselben durch
vorhergehende Behandlung mit stärkeren Strömen polarisirt Avorden
sind. In diesem Falle tritt die „Lücke" wieder hervor, wenn Reiz-
ströme verwendet werden, deren Richtung dem im Nerven gerade vor-
handenen Polarisationsstrom entgegengesetzt ist.
Auf einer Interferenzwirkung zwischen dem Nervenstrom und
künstlichen Reizströmen beruht endlich auch noch das eigenthümliche
Verhalten, welches, wie Hering zuerst nälier auseinandersetzte (11),
Nerven bei Reizung mit Inductionsströmen in der Nähe ihres (Quer-
schnittes zeigen. „Legt man am frisch durchschnittenen oder unter-
bundenen Nerven die beiden, nur 2—3 mm von einander entfernten
Elektroden der secundären Spirale eines Schlittenapparates derart an,
dass die eine sich am Querschnitt oder an der Unterbindungsstelle
befindet, so erhält man mit äusserst schwachen Strömen schon sehr
kräftige Wirkungen , falls die Oeffnungsströme im Nerven abterminal
Biedermann, Elektrophysiologie. 42
650 Die elektroniotorischeu Wirkungen der Nerven.
(d. h. dem Nervenstromzweig gleich) gerichtet sind. Bei atterminaler
Richtung dieser Ströme ist dagegen trotz unveränderter Lage der Elek-
troden und gleicher Stromstärke die Wirkung viel schwächer oder
bleibt ganz aus. Rückt man bei abterminaler Richtung der Oeffnungs-
ströme die Elektroden weiter und weiter vom Querschnitt weg, so
nimmt ihre Wirkung schnell ab und verschwindet bald gänzlich. Sind
dagegen die Oeffnungsströme atterminal gerichtet, so nimmt ihre Wir-
kung beim Abrücken der Elektroden vom Querschnitt schnell zu, er-
reicht bald ein Maximum und nimmt endlich bei noch weiterem Ab-
rücken meistens wieder ab, um endlich ebenfalls ganz zu verschwinden."
II. Elektromotorische Wirkungen der Nerven bei der
Tliäti^keit (Actionsströme).
Bekanntlich giebt sich der thätige Zustand der Nervenfasern
durch gar keine direct sichtbaren Veränderungen am Nerven selbst
kund, so dass man stets darauf angewiesen ist, um die Thätigkeit
des Nerven zu erkennen, denselben in Verbindung mit dem Muskel
oder überhaupt dem Erfolgsorgane zu lassen. Es dient dieses dann
gleichsam als Reagens für den Nerven, da an diesem selbst weder
optisch noch chemisch, noch sonst irgendwie nachweisbare Verände-
rungen beobachtet werden können. In dem elektromotorischen Ver-
halten erkannte jedoch DuBois-Reymond ein Mittel, den thätigen
Zustand des Nerven an diesem selbst zu erkennen. Unmittelbar nach
Entdeckung des Nervenstromes fand Du Bois-Reymond im Jahre
1843, dass derselbe durch Tetanisiren abnimmt, oder eine
„negative Schwankung" erleidet, deren Erscheinungsweise mit
jener der negativen Schwankung des Muskelstromes im Wesentlichen
übereinstimmt. Wie bei dieser letzteren hat Du Bois-Reymond
den Nachweis geliefert, dass die Erscheinung als Ausdruck eines ver-
änderten Zustandes des Nerven anzusehen ist und nicht etwa auf
irgendwelchen Versuchsfehlern beruht. Es ergiebt sich dies, abgesehen
von später noch zu erwähnenden Thatsachen, insbesondere aus dem
Umstände, dass die negative Schwankung schon bei sehr schwachen,
abwechselnd gerichteten Inductionsströmen und völlig unabhängig von
der Länge der Nervenstrecke beobachtet wird, welche zwischen der
abgeleiteten und der Reizstrecke liegt, so dass es sich mit aller Be-
stimmtheit nur- um eine, den Zustand der tetanischen Erregung be-
gleitende Verminderung der elektromotorischen Kraft des durchschnit-
tenen Nerven handelt. Der Betrag der negativen Schwankung,
bemessen durch die Grösse des durch sie veranlassten Rückschwunges
des Bussolmagneten, ist an allen Stellen eines Nerven der Stärke des
ursprünglichen Demarcationsstromes proportional und daher am grössten,
wenn der Querschnitt und der positivste Punkt der Längsoberfläche,
Null, wenn zwei elektrisch gleichartige Punkte abgeleitet werden. Auch
im Falle grösster Stärke der negativen Schwankung lässt sich bei
Anwendung eines aperiodisch schwingenden Bussolmagneten unmittel-
bar erkennen, dass die Verminderung des Nervenstromes während
tetanisirender Reizung niemals bis zu dessen völliger Annullirung geht,
so dass stets ein mehr oder weniger grosser Bruchtheil der Kraft er-
halten bleibt. Wie von vornherein zu erwarten war, zeigen marklose
Nerven die negative Schwankung des Demarcationsstromes ganz ebenso
Die elektromotorischen Wirkung'en der Nerven. 651
wie markhaltige. Kühne und Steiner fanden dieselbe am Heclit-
Olfactorius entsprechend der hohen elektromotorischen Kraft des „Ruhe-
stromes" sehr mächtig. Da, wie es scheint, marklose Nerven ähnlich
den Muskeln auf Reize von längerer Dauer besser reagiren als auf
kurz dauernde Inductionsschläge , so beobachtet man eine erheblich
stärkere negative Schwankung, wenn die tetanisirende Erregung durch
rasch wiederholte Schliessung und OefFnung eines Kettenstromes be-
wirkt wird. Besonders ist dies, wie ich selbst (3) am Muschelnerven
fand, der Fall, wenn man den ungünstigen Einfluss des immer gleich
gerichteten Stromes durch Einschaltung eines rotirenden Stromwenders,
oder einfach dadurch ausschliesst, dass man durch rasch wechselndes
Umlegen einer Pohl'schen Wippe reizt. Nach Beendigung der rhyth-
mischen Reizung kehrt der Magnet in der Regel mit abnehmender
Geschwindigkeit in seine Ruhelage zurück, oder es bleibt wohl auch
bei nicht mehr ganz lebensfrischen Präparaten ein negativer Rest der
Ablenkung zurück. Versucht man es, den Muschelnerven in der ge-
wöhnlichen Weise mittelst eines Du Bois-Reymond'schen Schlitten-
apparates zu tetanisiren und dadurch eine negative Schwankung des
Demarcationsstromes zu erzielen, so bleibt in der Regel auch bei den
günstigsten Erregbarkeitsverhältnissen des Präparates jeglicher Erfolg
aus, selbst wenn die Rollen bis zur Berührung genähert werden. Diese
geringe Wii'ksamkeit kurzdauernder Ströme tritt übrigens auch schon
bei Anwendung des unterbrochenen Kettenstromes deutlich hervor,
indem dann die Grösse der negativen Schwankung nicht wie unter
gleichen Bedingungen bei markhaltigen Nerven mit steigender Reiz-
frequenz im Allgemeinen zunimmt, sondern gerade im Gegentheil eine
Verminderung erfährt, die um so beträchtlicher ist, je rascher die
Unterbrechungen des Stromes einander folgen, je kürzer also jeder
Einzelreiz ist. Da ein ganz ähnliches Verhalten auch bei elektrischer
Erregung des marklosen Scheerennerven des Krebses beobachtet wird,
so dürfte es sich hier wohl um eine weitverbreitete Eigenschaft mark-
loser Nerven handeln, welche sich dann in dieser Beziehung den
markhaltigen gegenüber ähnlich verhalten würden, wie die glatten zu
den quergestreiften Muskeln. Es steht hiermit in Uebereinstimmung,
dass an m a r k 1 o s e n Nerven selbst schon eine einmalige
Schliessung (eventuell auch (Jeffnung) eines Ketten-
stromes in der Regel eine deutliche negative Schwan-
kung des Demarcationsstromes bedingt, was am mark-
haltigen Froschnerven nur unter ganz besonderen Be-
dingungen der Fall ist (Biedermann 3).
Präparirt man beide Verbindungsnerven von A n od o n ta zusammen
und legt nach Abtödtung des einen Endes ableitende Elektroden einer-
seits an den Querschnitt, anderseits an einen etwa 6 mm höher ge-
legenen Punkt der Längsschnittoberfläche, während zugleich in der
Nähe des anderen Endes des zwischen zwei Ständern massig ausge-
spannten Nervenpaares unpolarisirbare Reizelektroden angelegt werden,
welche unter Zwischenschaltung eines Stromwenders mit 1 — 2 Dan.
Elementen in Verbindung stehen , so beobachtet man nach Compen-
sation des Demarcationsstromes bei jeder Schliessung des Reizkreises
eine mehr oder minder beträchtliche Ablenkung des Magneten im
Sinne einer Abnahme oder negativen Schwankung des Nervenstromes,
deren Grösse, wie sich bald herausstellt, wesentlich mit von der Rich-
tung des Reizstromes abhängt. Fliesst der Reizstrom nach dem ab-
42*
552 Die elektromotonschen Wirkungen der Nerven.
geleiteten Ende hin (was als absteigend bezeichnet werden soll), so ist
die Wirkung immer wesentlich stärker als im andern Falle. Die ge-
nauere Untersuchung dieser Erscheinung lässt keinen Zweifel daran
aufkommen, dass man es hier mit einer Folgewirkung der Erregung
des Nerven durch den Kettenstrom und daher mit einer negativen
SchAvankung im eigentlichen Wortsinne zu thun hat. Dafür spricht
nicht nur die Unabhängigkeit der Richtung der Ablenkung von der des
Stromes, sondern auch der zeitliche Verlauf der Erscheinung und die
Beziehungen, welche, wie sich zeigt, zwischen Stärke und Richtung
des Reizstromes einerseits und der Grösse der am Galvanometer zu
beobachtenden Wirkungen andererseits bestehen.
Was zunächst den Verlauf der negativen Schwankung betrifft, so
gestaltet sich derselbe bei absteigender Stromesrichtung in
der Mehrzahl der Fälle so, dass die Ablenkung scheinbar im Momente
der Schliessung oder kaum merklich später beginnt, ziemlich rasch
ein Maximum erreicht, um dann, noch während der Schliessungsdauer
des Stromes, allmählich und zwar Anfangs rasch, dann immer lang-
samer abzuklingen. Oeffnet man um diese Zeit, so tritt bisweilen eine
merkliche Verzögerung des Rückganges, unter Umständen wohl auch
eine neuerliche Verstärkung der negativen Ablenkung ein, in der
Mehrzahl der Fälle bleibt dagegen die Oeffnung erfolglos, oder es tritt
sogar eine positive Nach seh wankung hervor, die bei längerem
Geschlossenbleiben des Reizstromes noch während der Schliessungs-
dauer sich entwickeln kann. Diese Ablenkung im Sinne einer Zu-
nahme des Nervenstromes, auf Avelche unten noch ausführlicher
zurückzukommen sein wird , kann , wie in der Mehrzahl der Fälle,
kleiner, gleich oder wohl auch grösser sein, als die vorhergehende
negative Schwankung. Ihr Auftreten scheint an das Vorhandensein
möglichst günstiger Erregbarkeitsverhältnisse der Nerven gebunden zu
sein, so dass es auch erklärlich wird, weshalb oft bei den ersten
Reizungen eine deutliche positive Nachschwankung auftritt, die später
gänzlich fehlt. Bezüglich der Abhängigkeit der beschriebenen Reiz-
erfolge von der Stärke des benützten Stromes ist zu erwähnen, dass
am Galvanometer erkennbare Wirkungen überhaupt erst bei einer
verhältnissmässig bedeutenden Intensität des Reizstromes, und zwar
immer zuerst bei absteigender Richtung desselben, hervortreten, dann
rasch an Grösse zunehmen und ein Maximum erreichen, das in der
Folge bei beliebiger Verstärkung des absteigenden Sti'omes nicht
überschritten wird, während dagegen die negative Schliessungsschwan-
kung bei aufsteigender Stromesrichtung mit der Verstärkung des
Stromes über ein gewisses Maass hinaus sogar abnimmt, beziehungs-
weise gänzlich ausbleibt. Wie die aufsteigende Schliessung ausnahms-
los eine schwächere negative Schwankung des Demarcationsstromes
bewirkt, so beobachtet man auch regelmässig ein rascheres Abklingen
derselben, als nach Schliessung eines absteigend gerichteten Stromes.
Ist die Entfernung der Reizstrecke von der abgeleiteten Bussolstrecke
beträchtlich, so kehrt der Magnet in der Regel noch während der
Schliessungsdauer in seine Ruhelage zurück ; bei geringerem Abstände
treten dagegen sehr auffallende, später näher zu beschreibende Wir-
kungen-hervor, die mit den hier zu erörternden Erregungserscheinungen
nichts zu thun haben.
In sehr charakteristischer Weise tritt die Verschiedenheit der
Wirkung des ab- oder aufsteigend gerichteten Stromes auch bei
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 653
der Oeffnung des Reizkreises hervor. Während eine negative „OefF-
nimgsschwankung" bei absteigender Stromesrichtung im Ganzen nur
selten deuth'ch hervortritt, kann sie bei aufsteigender Stromesrichtung
unter Umständen ebenso stark oder sogar stärker sein als die anfäng-
liche Ablenkung bei Schliessung des Reizkreises, die dann in der
Regel schon sehr zurücktritt oder wohl gänzlich fehlt. Bei Anwen-
dung hinreichend starker aufsteigender Ströme und grosser Distanz
der abgeleiteten und der Reizstrecke bildet dann di^ negative Oeffnungs-
schwankung überhaupt den alleinigen Erfolg der Reizung.
Aus den mitgetheilten Erfahrungen ist leicht zu ersehen , dass
zwischen der Grösse der bei Schliessung oder Oeffnung eines hin-
reichend starken Kettenstromes eintretenden negativen Schwankung und
der Intensität, Richtung und Dauer des ersteren einfache und gesetz-
mässige Beziehungen bestehen, welche auf den ersten Blick erkennen
lassen, dass es sich der Hauptsache nach um Folgeerscheinungen der
Schliessungs- und Oeffnungserregung handelt.
Wir finden sowohl bei Schliessung des absteigenden wie aufstei-
genden Stromes eine oft sehr beträchtliche Abnahme der elektromoto-
rischen Kraft zwischen Längsschnitt und Querschnitt des Nerven, die
jedoch letzterenfalls ausnahmslos geringer und zugleich von kürzerer
Dauer ist. Bleibt der Strom hinreichend lange geschlossen, so klingt
die negative Schwankung im Verlaufe mehrerer Secunden entweder
vollständig ab, oder es bleibt wohl auch (bei absteigender Stromes-
ricl>tung) ein Rest negativer Ablenkung zurück, Avelcher erst bei Oeff-
nung des Reizkreises oder gar nicht mehr schwindet. Die Grösse der
negativen Schwankung zeigt sich hierbei fast gänzlich unabhängig von
dem Abstand der ableitenden und der Reizelektroden; sie nimmt bei
Verkürzung der Zwischenstrecke nicht merklich zu, und ebensowenig
lässt sie sich durch Verstärkung des absteigend gerichteten Reizstromes
über eine gewisse, bald erreichte Grenze hinaus steigern. Ist dagegen
der Strom aufsteigend gerichtet, so nimmt mit wachsender Intensität
desselben die negative Schwankung sogar ab und bleibt schliesslich
aus, zeigt also in dieser Beziehung ein ganz gleiches Verhalten, wie
die Schliessungserregung bei aufsteigender Stromesrichtung. Was
endlich den Erfolg der Oeffnung betrifft, so macht sich auch hier die
weitestgehende Uebereinstimmung geltend zwischen dem Verhalten der
Oeffnungserregung, insoweit sie sich bei Reizung motorischer Nerven
durch Gestaltveränderungen des anhängenden Muskels äussert, und
den Veränderungen des Demarcationsstromes im vorliegenden Falle.
Insbesondere gilt dies bezüglich der Abhängigkeit der negativen Oeff-
nungsschwankung von Stärke und Dauer des aufsteigenden Reiz-
stromes. Immer tritt dieselbe erst bei einer viel höheren Stromes-
intensität hervor, als die Schliessungsschwankung, und wird um so
grösser, je länger der Reizkreis geschlossen bleibt. Bei hinreichend
ausgedehnter Schliessungszeit gelingt es daher, selbst bei Anwendung
verhältnissmässig schwacher aufsteigender Ströme, noch eine deutliche
negative Oeffnungssch wankung zu beobachten. Bei absteigender Rich-
tung des Kettenstromes kommt es im Ganzen nur selten zu einer deut-
lich ausgeprägten negativen Schwankung bei der Oeffnung; in der
Mehrzahl der Fälle ist dieselbe nur durch ein vorübergehendes Zögern
im Rückgang des Scalenbildes angedeutet. Am überzeugendsten tritt
daher die Uebei-einstimmung der galvanischen Reizerfolge am mark-
losen Muschelnerven und der mechanischen an einem gewöhnlichen
ß54 ßie elektromotorischen Wirkung^en der Nerven.
Nerv-Muskel-Präparate bei einer der ersten oder dritten Stufe des
Pflüger'schen Zuckungsgesetzes entsprechenden, elektrischen Reizung
hervor, indem ersterenfalls eine negative Schwankung (Schliessungs-
erregung) sowohl bei Schliessung des aufsteigenden wie absteigenden
Stromes beobachtet wird, während die Oeffnung des Reizkreises ohne
sichtbare Wirkung bleibt; andernfalls sind aber die Erfolge bei beiden
Stromesrichtungen einander gerade entgegengesetzt, indem dann nur
die Schliessung des absteigenden und die Oeffnung des aufsteigenden
Stromes eine negative Schwankung bewirkt, während die Schliessung
des aufsteigenden und Oeffnung des absteigenden Stromes wirkungslos
bleiben.
Ein weiterer Beweis für die ursächliche Beziehung zwischen den
in Rede stehenden galvanischen Erscheinungen und der durch den
Strom bewirkten Erregung des Nerven ist durch den Umstand gegeben,
dass diese wie jene durch Abtödtung des Endstückes der Reizstrecke
in gleicher Weise beeinflusst werden. Es wurde früher bereits gezeigt,
dass bei dem markhaltigen und marklosen Nerven, wie bei quergestreiften
und glatten Muskeln das Zustandekommen der Erregung erschwert
oder ganz behindert wird , wenn der Strom an einer irgendwie ver-
letzten Stelle aus- oder eintritt. In der That sieht man nach Abtödtung
eines Theiles der Reizstrecke (2—4 mm) die negative Schliessungs-
schwankung bei aufsteigender Stromesrichtung am Muschelnerven ganz
ebenso wegfallen, wie andernfalls die Schliessungserregung des Muskels.
Dagegen wird die negative Schwankung bei Schliessung des absteigen-
den Stromes durch den genannten Eingriff ebensowenig beeinflusst,
wie die bei Oeffnung des aufsteigenden, womit zugleich bewiesen ist,
dass die erstere Wirkung durch eine von der Kathode, die letztere
durch eine von der Anode ausgehende Veränderung des Nerven be-
dingt wird.
Bei markhaltigen Froschnerven werden analoge Wirkungen offen-
bar nur durch die für gewöhnlich sehr wenig ausgesprochene Neigung
zur Dauererregung durch den in constanter Dichte fliessenden Strom
verhindert. In der That beobachtete Engel mann (17) schon vor
längerer Zeit, dass bei Nerven, welche sich in jenem eigenthümlichen
Zustande befinden, wo jede Schliessung, beziehungsweise Oeffnung
eines Kettenstromes zu einer mehr oder minder lang anhaltenden
Dauererregung führt, die sich am anhängenden Muskel als Schliessungs-
oder Oeffnungstetanus äussert, das Galvanometer bei Ableitung vom
Querschnittende dem entsprechend eine negative Schwankung des De-
marcationsstromes anzeigt. Um diese Erscheinung an markhaltigen
Nerven rein und ungetrübt durch später zu erörternde galvanische
Wirkungen zu beobachten, bedient man sich am besten sehr empfind-
licher Präparate von Kaltfröschen und prüft die Wirkung bei mög-
lichst grossem Abstand der abgeleiteten von der Reizstrecke unter
Anwendung der schwächsten Ströme. Unterhalb der Kathode eines
absteigenden Stromes zeigt sich dann regelmässig eine deutliche negative
Schliessungsschwankung, die schon bei sehr geringer Stromesintensität
ihr Maximum erreicht und immer viel beträchtlicher ist, als bei
Schliessung eines aufsteigenden Stromes. Dagegen erfolgt in diesem
letzteren Falle in der Regel eine in ihrer Grösse wesentlich von der
Dauer der vorhergehenden Durchströmung abhängige negative Ab-
lenkung (als galvanischer Ausdruck des Oeffnungstetanus), die nur
langsam abklingt.
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 655
Es wurde schon oben bemerkt, class der negativen Schwankung
am marklosen Muschelnerven unter Umständen eine deutliche posi-
tive Nach Schwankung im Sinne einer Verstärkung des Demar-
cationsstromes folgt. Schon vorher hatte Hering (18) dieselbe Er-
scheinung am markhaltigen Froschnerven bei tetanisirender Reizung
wahrgenommen, indem auch hier die negative Schwankung des Nerven-
stromes im Allgemeinen von einer positiven Schwankung gefolgt ist,
welche nach Schluss der Reizung eintritt und sich daher unmittelbar
an die negative Schwankung anschhesst. Die Angabe Du Bois-
Reymond's, „dass die Nadel des Multiplicators nach dem Tetanisiren
stets nur mehr oder weniger unvollständig ihren Stand wieder ein-
nimmt", was er auf einen Verlust des Nerven an elektromotorischer
Kraft in Folge der vorausgegangenen Erregung bezieht, erweist sich
daher, wie Hering zeigt, im Allgemeinen als nicht zutreffend.
Am sichersten lässt sich die Erscheinung beobachten, wenn man
den Nervenstrom zuvor compensirt. „Die negative Schwankung findet
dann ihren Ausdruck bekanntlich darin, dass der Magnet unter dem
Einflüsse des jetzt überwiegenden Compensationsstromes aus seiner
Gleichgewichtslage im entgegengesetzten Sinne abgelenkt wird. Nach
Schluss der Reizung geht nun aber der Magnet nicht nur in die
Gleichgewichtslage zurück, sondern über dieselbe hinaus und
kehrt sodann entweder sofort oder wenigstens nach kurzer Zeit wieder
um und langsam in die Gleichgewichtslage zurück. Hiermit ist die
positive Nachschwankung abgelaufen." Wegen des raschen Ablaufes
derselben und der Trägheit des Magneten erhält man in der Regel
.noch stärkere Wirkungen, wenn der Bussolkreis während der Dauer
der Reizung geöffnet bleibt und erst unmittelbar nachher in geeigneter
Weise geschlossen wird. „Die positive Nachschwankung wächst", wie
Hering fand , bis zu einer gewissen Grenze mit der Dauer der Er-
regung. Sie wird schon bemerklich, wenn die Reizdauer auch nur
einen Bruchtheil einer Secunde beträgt, und war nach einer durch eine
Secunde dauernden Reizung bisweilen schon beträchtlich. Die von
der Reizdauer abhängige Zunahme ist nur bei überhaupt kurzen
Reizungen auffällig, weiterhin wächst sie nur noch wenig mit zu-
nehmender Dauer der Reizung, nimmt wieder ab, wenn die Reizdauer
eine gewisse Grenze überschreitet, und verschwindet mit weiterem
Wachsen derselben schliesslich ganz." Auch Head, welcher sich in
der Folge unter Hering 's Leitung näher mit der Erscheinung der
positiven Nachschwankung beschäftigte, fand (10) dieselbe innerhalb
gewisser Grenzen zunehmend mit der Intensität und Dauer der Rei-
zung. Unter günstigen Umständen (besonders an Präparaten von
kalt gehaltenen Temporarien) übertrifft der positive Ausschlag nicht
selten die vorhergehende negative Schwankung. Bei Esculenten
beträgt nach Head der Mittelwerth der grössten positiven Schwan-
kungen etwas über 50 ^ o des Mittelwerthes der grössten negativen,
bei Temporarien durchschnittlich über 81 "o. Bei „Warmfröschen",
Av eiche mehrere Tage lang in einem Raum aufbewalirt wurden, dessen
Temperatur auch des Nachts nicht unter Ib^ C. herabging, fehlt un-
geachtet starker negativer Schwankung die positive Nachschwankung
immer. Es scheint, dass dieselbe auf einer Veränderung an der Stelle
des abgeleiteten Längsschnittpunktes beruht, welche sich daselbst nach
Schluss der Reizung entwickelt und in elektrischer Beziehung eine
dem Erfolg der Erregung entgegengesetzte Wirkung hat. Man darf
556 l^i^ elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
in derselben vielleicht den galvanischen Ausdruck einer Art von
Reaction der reizbaren Substanz gegen die vorausgegangene Erregung
erblicken, als deren galvanischen Erfolg wir die negative Schwankung
betrachten müssen, eines Restitutionsprocesses, der nur unter günstigen
Bedingungen voll zur Geltung kommt.
Unter dieser Voraussetzung wird es verständlich, dass innerhalb
gewisser Grenzen die Grösse der positiven Nachschwankung mit der
Dauer der vorhergehenden Erregung wächst, sowie dass bei wieder-
holter Reizung die positive Schwankung früher abnimmt als die nega-
tive. Denn die Reactionsfähigkeit des Nerven wird wohl in erster
Linie durch anhaltende Thätigkeit leiden, wenn mit dieser ein merk-
licher, wenn auch noch so geringer Stoffverbrauch Hand in Hand
geht. Die „ünermüdbarkeit" markhaltiger Nerven zeigt, dass dies
in der That nur in einem äusserst geringen, direct nicht nachweis-
baren Grade der Fall sein kann. Die positive Nachschwankung (oder
richtiger ihr Fehlen) würde demgemäss zur Zeit als einziges sicheres
Kriterium des Ermüdungszustandes der Nervensubstanz angesehen
werden können. „Der mehr oder weniger erschöpfte Nerv charak-
terisirt sich zunächst nicht sowohl dadurch, dass er den Reiz' mit
schwächerer Erregung beantwortet, sondern vielmehr dadurch, dass
er nach Ablauf der Erregung nicht mehr mit der Energie des frischen
Nerven durch den gegentheiligen Process reagirt. Die Stärke
dieser Reaction, welche i n der positive n(Nach-)Sch wan-
kung ihren Ausdruck findet, ist geradezu ein Maass für
die Tüchtigkeit des Nerven." (Head.)
Mit Rücksicht auf die bereits früher besprochene ausserordentliche
Resistenzfähigkeit markhaltiger Kalt- und Warmblüternerven gegen-
über völliger Unterbrechung ihrer normalen Ernährungsverhältnisse
kann es wohl kaum überraschen, wenn die negative Schwankung am
Galvanometer als Ausdruck der Erregung, gerade wie diese selbst, an
den normal ernährten natürlichen Endapparaten auffallend lange
nach dem Freipräpariren des Nerven beobachtet werden kann. So
sah schon Hermann (19) an Kaninchennerven häufig galva-
nische Erregungserscheinungen noch mehrere Stunden, nachdem die
Wirkung auf den Muskel, ja selbst die directe Erregbarkeit des letz-
teren verloren gegangen war. L. Fredericq (1) sah negative
Schwankung an Kaninchen-, Hunde- und Pferdenerven bei elektrischer
Reizung noch bis zu 24 Stunden nach dem Tode, und Boruttau
(20) führt an, dass es gelingt, Froschpräparate bei niederer Temperatur
7 — 12 Tage aufzubewahren, ohne dass dieselben die Fähigkeit ver-
lieren, bei elektrischer Reizung eine deutliche, wiewohl schwache
negative Schwankung zu geben. Endlich würde auch noch die Beob-
achtung Stein ach 's (21) zu erwähnen sein, dass eben trocken ge-
wordene Froschnerven nach Aufweichung in 0,6^*0 Kochsalzlösung
wieder deutliche negative Schwankung zeigen. Ausgehend von ge-
wissen, später noch zu besprechenden, rein physikalischen Erscheinungen
an sogenannten Kernleitern hält sich Boruttau für berechtigt, aus
den erwähnten Thatsachen den Schluss abzuleiten, „dass die Persistenz
derjenigen Eigenschaften des Nerven, auf Grund deren die galvanischen
Erscheinungen an ihm in der Ruhe (Demarcationsstrom) und bei elek-
trischen EinwirkiTngen (negative Schwankung) zu beobachten sind,
nicht sowohl dadurch bestimmt wird, dass zugleich auch dasjenige be-
steht, auf Grund dessen vom Nerven aus auch noch eine Auslösung
Die elektromotorischen Wirkungen der Nei'ven. 657
von Muskelaction möglich ist, als vielmehr durch die Conservirung
der normalen Structur." Es würde also mit anderen Worten „die als
negative Stromesschwankung bezeichnete galvanische Erscheinung auch
am Nerven des abgestorbenen Präparates eintreten müssen, wenn
derselbe solchen elektrischen Einwirkungen unterworfen wird, welche
am frischen Präparat ihn zur Auslösung von Muskelaction reizen".
Auch durch mechanische Einwirkungen (Zerschneiden, Zerquetschen),
sowie bei chemischer Reizung will Boruttau mittels des Capillar-
elektrometers an „abgestorbenen", über 8 Tage aufbewahrten Frosch-
nerven negative Schwankung gesehen haben, und das gleiche Resultat
erhielt er am Vagosympathicus des Hundes 2 — 3 Tage nach dem
Ausschneiden bei mechanischem Tetanisiren.
Wenn man auch an dem Thatsächlichen dieser Beobachtungen
nicht zweifeln mag, so wird man doch den daraus gezogenen Schluss-
folgerungen kaum beistimmen können. Wenn nicht absolut zwingende
Gründe beigebracht werden, ist man, glaube ich, unter allen Um-
ständen berechtigt, daran festzuhalten, dass die negative Schwan-
kung des Nervenstromes ganz ebenso wie die des Muskels als gal-
vanischer Ausdruck der Erregung des lebenden Nerven
eine vitale physiologische Erscheinung ist und nicht bloss
„wellenförmig ablaufender (physikalischer) Katelektrotonus." Nie-
mand, der die Erregungserscheinungen lebendiger Substanzen von
einem allgemeineren Standpunkte aus zu betrachten gewöhnt ist,
wird auch nur einen Augenblick daran zweifeln, dass die negative
Schwankung als ein specieller Fall der Actionsströme nicht nur
bei markhaltigen , sondern auch bei marklosen Nerven , glatten und
quergestreiften Muskeln und wahrscheinlich noch vielen andern
Arten irritablen Plasmas als Begleit- und Folgeerscheinung jener
chemischen Veränderungen anzusehen ist, welche das eigentliche
Wesen der Erregung ausmachen. Es scheint durchaus geboten, eine
einseitig physikalische Auffassung vitaler Phänomene, die sich
neuerdings auf den verschiedensten Gebieten physiologischer Forschung
als unhaltbar erwiesen hat, auch in der „Nerven- und Muskelphysik"
nicht wieder zu beleben, wo sie lange genug den Fortschritt hemmte.
Dass aber andererseits durchaus kein genügender Grund vorliegt, die
Nerven, an welchen Boruttau experimentirte, für wirklich abge-
storben zu halten und ihnen nicht noch einen Rest von physiologischer
Erregbarkeit zuzuschreiben, wird Jeder zugeben, der sich einmal davon
überzeugt hat, wie selbst durchschnittene Warmblüternerven (wie
B. der Vagus), gänzlich freipräparirt und aus der Wunde heraus-
')en, also sicher nicht normal ernährt, noch viele Stunden hin-
durch erfolgreich gereizt werden können, wenn nur eben das Erfolgs-
organ (Herz, Athmungscentrum) sich in gutem Zustand befindet.
Unter allen Umständen ist aus dem Fehlen der indirecten und selbst
der directen Muskelreizbarkeit in keiner Weise auf das völlige Ab-
gestorbensein der zugehörigen Nerven zu schliessen, und trotz des
Einspruches von Boruttau wird es bis auf Weiteres erlaubt sein,
die Actionsströme und somit auch die negative Schwankung aller
irritablen Gebilde unter einheitlichen Gesichtspunkten zu be-
trachten.
Wenn man sich, wie die vorstehenden Erörterungen wohl hin-
länglich beweisen, des Galvanometers wirklich bedienen kann, um
durch Beobachtung der negativen Schwankung den Zustand der Er-
658 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
regimg" eines Nerven unabhängig von den Veränderungen eines natür-
lichen Ertblgsorganes zu erkennen, so haben Avir damit, wie leicht er-
sichtlich ist, zugleich ein Mittel gewonnen, das doppelsinnige Leitungs-
vermögen in einer völlig einwandfreien Weise zu beweisen, denn
reizen ^v\r einen rein motorischen Nerven am peripheren Ende, so
zeigt sich am abgeleiteten centralen Schnittende die negative Schwan-
kung ganz ebenso wie im umgekehrten Falle, und ebenso lässt sich bei
Reizung eines rein centripetal leitenden (sensiblen) Nerven an einer
beliebigen, peripher von der Reizstelle gelegenen Strecke die negative
Schwankung nachweisen. Von diesem Gesichtspunkte aus ist es nun
sehr wesentlich,
Die negative Schwankung bei nicht elektrischer
Reizung
zu prüfen. Es wurde bereits mehrfach der Thatsache gedacht, dass
sich functionell verschiedene Nerven denselben Reizen gegenüber
nicht ganz gleichartig, sondern in höchstem Maasse verschieden ver-
halten. So hat Grützner (22) gezeigt, dass centrifugal und centri-
petal leitende Nerven bei thermischer Reizung ganz verschieden
reagiren, indem durch Erwärmung auf 40 — 50 '^ C die letzteren fast
ausnahmslos stark erregt werden, während die ersteren (mit Ausnahme
der Vasodilatatoren) anscheinend nicht gereizt werden. Es Avurde
aber auch schon hervorgehoben, dass diese Versuche streng genommen
keinen Aufschluss über die in d e n N e r v e n s e 1 b s t sich abspielenden
Vorgänge geben, sondern dass hier nur aus dem Verhalten der Er-
folgsorgane Rückschlüsse gemacht werden. Gerathen diese Apparate
in Thätigkeit, wenn ihre Nerven in irgend einer Weise gereizt werden,
so kann hinsichtlich deren Erregung natürlich kein Zweifel bestehen.
Anderenfalls sind aber offenbar zwei Möglichkeiten denkbar : Entweder
die Nerven selbst werden wirklich nicht erregt, oder aber der Er-
regungsvorgang pflanzt sich wenigstens nicht weiter fort, oder endlich
der betreffende Endapparat ist nicht im Stande, auf den ihm zu-
geleiteten Reiz zu reagiren. (Grützner 1. c.)
Ist nun aber wirklich die negative Schwankung der Ausdruck
der Erregung des Nerven, so bietet die Untersuchung derselben ein
einfaches und bequemes Mittel, die Erregung bezw. Erregbarkeit ver-
schiedener Nerven ganz unabhängig vom Erfolgsorgan bei verschiede-
nen Reizen zu untersuchen. Hierbei sind wieder zwei Möglichkeiten
denkbar: Entweder bedingen gleichartige Reize, auf verschiedene
Nerven wirkend, auch eine gleichartige negative Schwankung; dann
würde die Ursache des verschiedenen Erfolges in den Endorganen
zu suchen sein, oder es könnte entsprechend der Verschiedenheit des
Reizerfolges an den letzteren auch die negative Schwankung sich
verschieden erweisen; dann würde die Ursache der Verschieden-
heit der Wirkungen in den Nerven selbst gelegen sein. Von diesem
Gesichtspunkte aus hat Grützner (22) zunächst den Einfluss
thermischer Reizung auf die negative Schwankung an verschie-
denen Nerven untersucht. Einen hierher gehörigen, allerdings zu
mancherlei Einwänden Anlass gebenden Versuch hat schon Du
Bois-Reymond (23) angestellt. Er legte den Nerven (Ischiadicus
vom Frosch) auf eine Schichte angefeuchteten Schiesspulvers, durch
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 659
dessen Abbrennen vom einen Ende her der Nerv successive verkohlt
wird. Ungeachtet der zweifellos sehr eingreifenden Reizung aufein-
ander, folgender Querschnitte des Nerven, die übrigens kaum als eine
rein thermische aufgefasst werden kann, waren die galvanischen Er-
folge sehr geringfügig und jedenfalls nicht zu vergleichen mit den
kräftigen Wirkungen bei elektrischer Reizung. Offenbar kann, wie
Grützner bemerkt, bei solchen Versuchen eine negative Schwankung
schon durch die unvermeidliche Verkürzung der wirksamen Nerven-
strecke vorgetäuscht werden.
Auch mittels der inzwischen sehr vervollkommneten Versuchs-
technik gelang es in der Folge Grützner nicht, irgend beträcht-
lichere Wirkungen zu erzielen. Bei Temperaturen von 40—50" C
nahm der Demarcationsstrom des Froschnerven zwar merklich ab,
allein immer nur in geringem Grade und sehr langsam, auch blieb in
der Regel eine dauernde Abnahme des Stromes bestehen, so dass
das Phänomen mit dem Ergebniss der elektrischen Reizung kaum zu
vergleichen war. Versuche an den vorderen und hinteren Wurzeln
ergaben noch weniger sichere Resultate, so dass die Frage, ob ther-
mische Reize stärker auf centripetale als centrifugale Nerven wirken,
insoweit sich diese Wirkung in der Grösse der negativen Schwankung
äussert, unentschieden bleiben muss. Auch durch mechanische
Einzelreize (Abschneiden mit der Scheere) in grösserer Entfernung
von der Reizstelle konnte Grützner keine negative Schwankung
bewirken. Erst wenn der Schnitt der Längsschnittselektrode auf
10 mm nahe kam, war eine geringe, und zwar dauernde Schwächung
des Stromes zu bemerken. Dagegen beobachtete Hering (24) bei
Durchschneidung des marklosen Hecht-Olfactorius nicht nur eine
starke negative Schwankung, sondern auch eine deutliche positive
Nachschwankung, und analoge Wirkungen habe ich selbst am mark-
losen Muschelnerven constatirt. St ei nach (21) gelanges neuerdings,
in einwandfreier Weise zu zeigen, dass auch an hierzu geeigneten
Froschnerven (besonders von kalt gehaltenen Thieren) jede einmalige
Durchschneidung eine unter Umständen sehr erhebliche negative
Schwankung bewirkt, deren zeitlicher Verlauf im Allgemeinen dem
bei elektrischer Reizung entspricht. Der Spiegel schwingt rasch
zurück und erreicht dann viel langsamer wieder seine Ruhelage. Es
hängt dies offenbar mit dem langsamen Abklingen der Dauererregung
zusammen, das sich ja auch in der Neigung der Muskeln zu tetanischer
Erregung bei Reizung der Nerven mit dem Kettenstrome oder durch
Nebenschliessung des eigenen Stromes ausspricht. Auch Boruttau
(1. c. p. 31) verzeichnete an Froschnerven bei mechanischer Reizung
positive Resultate, und zwar sowohl bei einfacher Durchschneidung wie
bei mechanischem Tetanisiren.
Bei chemischer Reizung mittels NaCl beobachtete schon
Grützner eine allmähliche Stromabnahme, und auch Kühne und
Steiner (2) erhielten Negativschwankung des Demarcationsstromes
am marklosen Hechtolfactorius unter gleichen Umständen. Ob an der
geringen Wirkung nur die ungleichzeitige Erregung der einzelnen
Fasern des Nervenstammes Schuld trägt, wie Grützner meint, oder
noch andere Momente, ist fraglich.
Nach Abschneiden der gereizten Nervenstrecke oder Auswaschen
derselben mit physiologischer Kochsalzlösung sah Stein ach die im
Verlauf der chemischen Reizung entstandene Verminderung des
QQQ Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Demarcationsstromes sich wieder völlig ausgleichen. Als Reizmittel
bewährte sich ihm am besten Alkohol, und es zeigte sich auch hier-
bei wieder der wesentliche Unterschied zwischen Kalt- und Warm-
fröschen, indem Eintauchen des centralen Nervenendes bei den ersteren
zunächst Tetanus der Beuger verursacht, dem sich später ein heftiger
Strecktetanus anschliesst, während ein Nerv-Muskelpräparat von einem
Warmfrosch unter gleichen Umständen nur wenige Zuckungen macht,
worauf Ruhe eintritt.
Unter allen Umständen m u s s aber die negative
Schwankung des Nervenstromes als ein weit minder
empfindliches Reagens der Erregung gelten, als die
Reaction des natürlichen Erfolgsorganes. Denn stets tritt,
(auch bei elektrischer Reizung) die sichtbare Reaction am Muskel
früher, d. h. bei einem grösseren Rollenabstande auf, als die negative
Ablenkung am Galvanometer. Der Unterschied der erforderlichen
Reizstärke ist bei Warrafröschen immer viel grösser, als bei Präpa-
raten von Kaltfröschen. Steinach reizte mit Inductionsströmen
gleichzeitig beide Ischiadici, von welchen der eine mit dem Unter-
schenkel zusammenhing, während vom andern zum Galvanometer ab-
geleitet wurde. Bei einem Warmfrosch trat Tetanus bei. einem Rollen-
abstand von 43 cm, negative Schwankung erst bei 27 cm ein, beim
Kaltfrosch betrug der Unterschied 39 und 38 cm. Wenn aus allen
diesen Versuchen sich auch kein sicherer Schluss hinsichtlich des
Vorhandenseins von qualitativen Unterschieden der Nervenfasern ziehen
lässt, so weist doch wieder die Thatsache, dass auch bei elektrischer
Reizung, wobei alle Fasern gleichzeitig und gleich stark erregt Averden,
unter Umständen die negative Schwankung auffallend schwach ist
oder ganz fehlt, auf derartige Unterschiede hin. Schon L. F r e d e r i c q ( 1 )
war der ausserordentlich geringe Betrag der negativen Schwankung
bei elektrischer Reizung von Säugethierner ven aufgefallen, und
dieselbe Thatsache constatirte neuerdings auch wieder Grützner.
An einem künstlich abgekühlten Kaninchen Hess sich keine Spur
negativer Schwankung nachweisen, obschon dieselbe Erregung des
Hüftnerven die Muskeln zu stärkstem Tetanus anregte. Es scheint
also , als ob hier die, der negativen Schwankung zu Grunde liegende
Veränderung sich nicht fortpflanzte, obschon der ganze Nerv noch an
jeder Stelle erregbar und leitungsfähig ist. An normalen Nerven
nicht abgekühlter Säugethiere beobachtet man zwar negative Schwan-
kung, aber immer in einem auffallend geringen Grade, verglichen mit
der beim Froschnerven, Während hier die stärksten anwendbaren
Ströme leicht eine negative Schwankung von 10 '^ o des Nervenstromes
erzeugen, rufen dieselben bei Säugethiernerven höchstens eine solche
von 4" 0 hervor.
In den bisher besprochenen Fällen handelte es sich stets um Er-
regung des Nerven in der Continuität. Es fragt sich: wie verhält
sich die negative Schwankung bei Reizung der natür-
lichen centralen oder peripheren Endorgane derNerven-
fasern? Wieder verdanken wir Du B o i s - R e y m o n d die ersten
hierher gehörigen Beobachtungen, indem es ihm gelungen ist, beim
Ausbruch des Stry chnin krampfes eine deutliche Ver-
minderung des L ä n g s - Q, u e r s c h n i 1 1 s t r o m e s an dem mit
demRückenmark in Zusammenhang befindlic hen Nervus
ischiadicus vom Frosche zu sehen. In der Ueberzeugung, dass
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 661
die negative Schwankung als galvanischer Ausdruck der Erregung zu
betrachten sei, vergiftete Du B o i s - R e y m o n d einen gehörig fixirten
Frosch mit Strychnin, worauf nacli Unterbindung der A. iliaca
der einen Seite der Nervus ischiadicus derselben Seite in der Kniekehle
durchschnitten und bis zur Wirbelsäule freipräparirt wurde. Vom
peripheren Schnittende wurde zum Multiplicator abgeleitet. Glückt es
nun, dass der Strychninkrampf in dem Augenblicke ausbricht, wenn
die durch den Nervenstrom abgelenkte Nadel eben zur Ruhe ge-
kommen ist, so sieht man beim Eintritt des Krampfes die Nadel um
mehrere Grade zurückschwingen. Doch ist der Versuch sehr unsicher
und sein Gelingen von vielen, nicht sicher zu beherrschenden Neben-
umständen abhängig. Dagegen beobachtet man bei künstlicher Reizung
der motorischen Zone der Grosshirnrinde sehr regelmässig eine negative
Schwankung des Längs-Querschnittstromes am Rückenmark, die sich
bei Anwendung des Capillarelektrometers als aus rhythmischen Oscilla-
tionen bestehend erweist, wenn gleichzeitig epileptiforme Krämpfe der
Muskeln auftreten.
In einem gewissen Gegensatz zu den sehr starken Wirkungen bei
Ableitung vom Längsschnitt und Querschnitt des Rückenmarkes steht,
wie Gotch und Horsley (5) bemerken, die Geringfügigkeit der
Erfolge bei Ableitung vom Schnittende des Nervus ischiadicus während
der Reizung der motorischen Zone. Nach den Beobachtungen von
V. Horsley nimmt die Grösse der Erregung auf dem Wege vom
Rückenmark in den gemischten Nerven um mehr als 80*^0 ab. Der-
selbe Unterschied macht sich auch dann geltend, Avenn nicht die Rinde,
sondern die Faserzüge des Stabkranzes direct gereizt werden.
Ist es somit als festgestellt anzusehen, dass centrifugale, von den
irgendwie erregten Centren selbst ausgehende Impulse eine negative
Schwankung des Nervenstromes bewirken können, so scheint dasselbe
auch für sensorische Impulse durch neuere Beobachtungen sicher-
gestellt; einen Versuch, um zu sehen, ob ein sensibler Nerv auf Er-
regung seiner natürlichen Enden, und zwar durch den adäquaten Reiz,
statt Empfindung zu veranlassen, den Magneten des Multiplicators
bewegen könne , derart wie der motorische Nerv in dem oben er-
wähnten Strychninversuch die Nadel statt des Muskels bewegte, war
schon Du Bois-Reymond bestrebt zu machen. Er beobachtete
negative Schwankung am Ischiadicus des Frosches, wenn der behäutete
Unterschenkel mit siedender Salzlösung von den Zehen zum Knie
fortschreitend verbrüht oder von concentrirter Schwefelsäure verätzt
und erhitzt wurde (23). Allein hierbei handelt es sich, Avie Du Bois-
Reymond selbst es ausdrückt, wohl mehr um ein „Tetauisiren des
Ischiadicus von seinen Hautverzweigungen aus", als um eine Erregung
der sensiblen Endorgane der Haut. In der That sah Kühne (9),
dass die negative Schwankung bestehen bleibt, wenn man vor der
Verbrühung die Haut bis zu einer um den Fuss gelegten Ligatur ab-
zieht und nach dem Durchreissen der Hautnerven wieder zum Knie
emporzieht oder dieselbe auch ganz entfernt. Dagegen gelang es
Kühne (9) am Hechtauge, später auch beim Barsch und am voll-
kommensten beim Frosch die n e g a t i v e S c h w a n k u n g d e s O p t i c u s
bei Licht reizung der Retina sicher zu erweisen, so dass es als
sicher gelten darf, dass der Strom des sensiblen Nerven in diesem Falle
auf die gewiss sehr eigenthümliche Erregungsweise des epithelialen
Endapparates durch Licht ganz in derselben Weise reagirt, wie der des
QQ2 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
gemischten oder motorischen Nerven auf Erregungen aller Art, gleich-
viel, ob diese von den centralen Ganglienzellen ausgehen oder den
Nerven selbst in der Continuität als mechanische, chemische, thermi-
sche oder elektrische Reize betreffen. Immer jedoch ist es nur dieselbe
wohlbekannte negative Schwankung der stromgebenden Nerven, der
wir als Begleiterscheinung der Erregung begegnen, eine Thatsache,
die als eine der wesentlichsten Stützen für die herrschende Annahme
der physiologischen Gleichwerthigkeit aller Nervenfasern und der
Identität des Erregungsvorganges in denselben anzusehen ist. Daneben
ist es bemerkenswerth, „dass der Nervus opticus während continuirlicher
Reizung seiner Endapparate durch Licht sich nicht anders verhält,
wie ein elektrisch tetanisirter, discon tinuirlich erregter Nerv.
Giebt es Gründe, das Galvanometer im letzteren Falle für ungenügend
zu halten, um uns die zu vermuthende Discontinuität der Schwankung
wahrnehmen zu lassen, so darf man ihm im ersteren Falle wohl trauen,
da keine Gründe vorliegen, die nächsten Folgen anhaltender Belichtung
nach Art der meisten sonst bekannten Tetani für discontinuirlich zu
halten (Kühne).
Die dauernde Stromabnahme in N. opticus würde also folglich
als Phototonus zu benennen sein. (Kühne.) Höchst bemerkens-
werth ist die Thatsache, dass auch der Abschluss der Belichtung,
d. i. das Aufhören der Erregung durch Licht „oder vielleicht
richtiger das Hereinbrechen gewisser, vom Lichte gehinderter retinaler
Processe, ebenfalls durch eine letzte negative Schwankung des Opticus-
stammes angezeigt wird, die für nichts Anderes zu nehmen ist, als für
eine abermalige, den Nerven durchlaufende Erregung". Wenn dann
der „Phototonus" ein Zeichen des thätigen Zustandes der Opticus-
fasern ist, so kommt man, wie Kühne (l. c.) mit Recht bemerkt, zu
dem Schlüsse, „dass Lichtentziehung grössere Effecte zum Central-
organ befördere und intensivere Empfindung (Erregung) auslösen könne,
als anhaltendes Einfallen desselben Lichtes ins Auge."
Dabei ist freilich nicht zu vergessen, dass die beobachtete Gleich-
heit des elektromotorischen Verhaltens in beiden Fällen nichts beweist
für die qualitative Gleichheit der chemischen Processe, „Wenn wir'",
wie Hering bemerkt, „die unendliche Mannichfaltigkeit der verschiede-
nen chemischen Vorgänge bedenken, durch welche elektrische Ströme
erzeugt werden können, müssen wir sicher Bedenken tragen, aus der
Gleichheit des elektromotorischen Verhaltens zweier Nervenfasern, ins-
besondere solcher, deren Reizung zu ganz verschiedenen centralen oder
peripheren Reizerfolgen führt, sowie einer und derselben Faser unter
verschiedenen Bedingungen den Schluss auf eine Gleichheit der inneren
Vorgänge in den Nerven zu ziehen, die Möglichkeit auszuschliessen,
dass in gewissen Nerven verschiedene Arten der inneren Aenderung
geleitet werden können, oder gar anzunehmen, dass in allen Nerven,
mit einziger Ausnahme vielleicht gewisser Sinnesnerven, allenthalben
dasselbe geschieht." „Der Muskel, die Drüsenzelle, die Pflanzenzelle,
vielleicht jede lebendige Substanz zeigt unter Umständen elektrische
Erscheinungen, die sogar in ihrem Auftreten auffallende Analogie mit
den elektrischen Erscheinungen am Nerven haben : dürfen wir daraus,
fragt Hering mit Recht, schliessen, dass die inneren, chemischen
Vorgänge, welche die Ursache dieser Erscheinungen sind, in der
lebendigen Substanz aller dieser Theile dieselben sind, oder dass, wenn
Avir an einer und derselben Substanz in zwei Fällen dieselben elektri-
Die elektroniotorischeii Wirkungen der Nerven. 663
sehen Erscheinungen beobachten, auch die zu Grunde liegenden
chemischen Veränderungen in beiden Fällen nothwendig dieselben
sind" (Hering 24 p. 19 ff.)? Von diesem Gesichtspunkte aus er-
scheint es nun, wenn auch vielleicht auffallend, so doch verständlich,
dass die, wie früher gezeigt wurde, wahrscheinlich assimilatorisch
wirkenden, herzhemmenden Vagusfasern, deren Erregung eine positive
Schwankung des Muskelstromes bedingt, sich selbst in Bezug auf ihr
galvanisches Verhalten bei der Erregung in nichts von andern Nerven-
fasern unterscheiden.
Interessante Beobaclitungen über negative Schwankung des Stromes
centripetalleitender Nerven bei adäquater Reizung der zugehörigen
peripheren Endorgane hat S. Fuchs jüngst (25) mitgetheilt. Be-
kanntlich besitzen die S e 1 a c h i e r und speciell auch die T o r p e d i n e e n
unter der Haut eigenartige Canalsysteme , welche sich zum Theil auf
der Haut öffnen (Lo renzini ' sehe Ampullen und Gallertröhren),
zum Theil blind geschlossene Blasen darstellen (Savi'sche Bläschen),
immer aber zum Nervensystem in nächster Beziehung stehen und un-
zweifelhafte Sinnesorgane darstellen. Bei Torpedo bilden die
Lorenzinischen Ampullen kugelige, durch Scheidewände vierkammerige
Blasen, welche in eigene Kapseln eingeschlossen sind, deren es bei
Torpedo zwei Paare giebt ; das eine liegt an der Schnauze in gerader
Richtung vor den Augen und enthält in beiden Kapseln nach der
Angabe von Leydig etwa 100 Ampullen, deren Canäle meist gegen
den Rand der Körperscheibe ausmünden. Das zweite Paar der
Ampullenkapseln liegt weiter nach rückwärts am äusseren Rande des
elektrischen (Jrganes. Das System der Savi'schen Bläschen stellt etwa
2 — 3 mm im Durchmesser haltende, im Leben völlig durchsichtige
Bläschen dar, welche den ungefähr viereckigen Raum zwischen den
vorderen Enden der elektrischen Organe bis zur Oberlippe hin ein-
nehmen , sich aber auch noch weiter nach rückwärts erstrecken.
„Jedes Bläschen besteht aus einer homogenen, bindegCAvebigen Mem-
bran und ist von einer hellen Gallertmasse erfüllt. Der in dasselbe
eintretende Nerv durchbohrt ein eigenthümlich verfilztes Gewebe,
welches wie ein Polster im untern Theil des Bläschens lagert, und
pflegt dann in drei Aestchen zu zerfallen, von denen das mittelste
am stärksten ist. Jedes derselben bildet eine Art Sohle, auf welcher
erst das eigentliche Sinnesepithel sitzt (Haarzellen vom Charakter der
Hörzellen des Corti'schen Organes). Im Bereiche des Kopfes ist es
der N. trigeminus, im Bereich des Rumpfes der Vagus, welcher diese
Gebilde versorgt.
Wurde nun nach Ausbohren des Gehirns und Rückenmarkes der
Trigeminusast präparirt, welcher die lateralen Ampullen und Savi 'sehen
Bläschen versorgt, und das centrale Schnittende des 2—3 cm langen
Nerven mit Längs- und Querschnitt auf unpolarisirbare Elektroden
gebrückt , so zeigte sich jedesmal eine deutliche, wenn
auch geringe Ablenkung am Galvanometer im Sinne
einer negativen Schwankung, wenn einfach die Haut
über dem seitlichen Packet der Lorenzini'schen Am-
pullen und über den Savi'schen Bläschen ganz schwach
gedrückt wurde. Später stellte sich heraus, dass nur die letzteren
für die erwähnten Erfolge verantwortlich zu machen sind.
Es würde dies also der zweite sicher eonstatirte Fall sein, wo
auf Erregung peripherer Sinnesnervenenden durch adäquate Reize
ßß4 I^i^ elektromotorischeu Wirkungeu der Nerven.
eine negative Schwankung des Demarcationsstromes des durch-
schnittenen Nervenstammes erfolgt. Wie man sieht, eröffnet sich hier
ein weites Forschungsgebiet, dessen erfolgreiche Bearbeitung noch
aussteht. Von grösstem Interesse, wiewohl in theoretischer Beziehung
noch äusserst unklar sind die elektromotorischen Veränderungen an
den centralen Endstationen der höheren Sinnesnerven, d. h. den
sensorischen Rindengebieten bei adäquater Reizung der peripheren
Sinnesorgane (Auge, Ohr), ein Gebiet, auf welches an dieser Stelle
nicht näher einzugehen ist. Wir kehren zunächst wieder zur Unter-
suchung der negativen Schwankung peripherer Nerven bei künstlicher
Reizung zurück.
Trifft ein einzelner, sehr kurz dauernder Reiz, wie etwa ein In-
ductionsschlag, den Nerven, so lässt sich natürlich mittels des Galvano-
meters in Folge der Trägheit des Magneten kaum das Vorhandensein,
geschweige denn der zeitliche Verlauf der negativen Schwankung
feststellen, und man ist daher gezwungen, wieder zu der Ptepetitions-
methode mittels des Rheotomes zu greifen, wenn es darauf ankommt,
die gleichen Fragen wie beim Muskel auch hier zu lösen. Das Princip
der Methode, sowie das Instrument wurden schon früher des Näheren
erläutert.
Bei seinen Untersuchungen über den Verlauf der negativen
Schwankung des Nervenstromes bei tetanisirender, elektrischer Reizung
fand Bernstein (26) zunächst, dass zwischen der Reizung
an einem Punkte des Nerven und dem Beginn der nega-
tiven Schwankung (d. h. dem Negativ werden) einer ent-
fernten abgeleiteten Stelle eine messbare Zeit vergeht,
welche der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der nega-
tiven Schwankung im Nerven entspricht und der Ent-
fernung zwischen der Reizstelle und der ersten ab-
leitenden Längsschnittelektrode proportional ist. Der
Abstand zwischen Reizstelle und Querschnitt der Nerven ist dagegen
gleichgültig. Daraus würde ganz ebenso wie beim Muskel zu folgern
sein, dass der Vorgang der negativen SchAvankung in der abgeleiteten
Strecke genau in dem Momente beginnt, in Avelchem die Fortpflanzung
des Nervenprocesses (der Erregung) bis zur Längsschnittelektrode vor-
geschritten ist. Weiter zeigt sich, dass zwischen dem ^Momente der
Reizung durch Inductionsströme und dem Beginn des Negativwerdens
an der gereizten Stelle keine merkliche Zeit vergeht. Die negative
Schwankung hat kein Latenz Stadium. Sowohl beim mark-
haltigen wie beim marklosen Nerven stimmt die Fortpflanzungsge-
schwindigkeit der negativen Schwankung mit der der Erregung
überein , so dass wie beim Muskel das Negativwerden einer Nerven-
strecke als der galvanische Ausdruck der Erregung angesehen werden
muss. An Cephalopoden- Nerven bestimmte S i g m . Fuchs (4)
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der negativen Schwankung je nach
der herrschenden Temperatur zwischen weniger als 1 m und 3,5 m
in der See. Sie wuchs ausserdem innerhalb gewisser
Grenzen auch mit der »Stärke des Reizes.
Es stellte sich ferner heraus, dass der Vorgang der negativen
Schwankung in einer von Längs- und Querschnitt abgeleiteten Nerven-
strecke kein momentaner ist, sondern eine mit den verfügbaren Mitteln
wohl messbare Zeit dauert. Er tritt ferner nicht momentan in
seiner vollen Stärke auf und verschwindet ebensowenig plötzlich.
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. ß65
Vielmehr zeigen die Versuche, dass jedesmal, nachdem ein einzelner
Reiz erfolgt ist, die Negativität (an der abgeleiteten
Längsschnittstelle) innerhalb einer gewissen kleinen
Zeit ein Maximum erreicht, um dann langsamer wieder
zu verschwinden. Nach seiner Methode, wobei am Rheotom die
Schieberstellungen aufgesucht werden, bei denen Anfang und Ende
der Schwankung eintritt, und von der der Differenz dieser Stellungen
entsprechenden Zeit diejenige Zeit in Abzug gebracht wird, Avelche
der Bussolschluss selbst bei jedem Umgang in Anspruch nimmt,
fand Bernstein die Dauer der negativen Schwankung beim mark-
haltigen Froschnerven zu nur etwa 0,0007 (tjot)) Secunde. Dieser
schon rein theoretisch sehr unwahrscheinliche, cäusserst geringe Werth
hat sich in der Folge thatsächlich als unrichtig erwiesen. Nachdem
schon Hermann (27) aus seinen Versuchen an demselben Object
eine wesentlich längere Dauer der negativen Schwankung gefunden
hatte (0,0056 See), bestimmte Head (10) dieselbe mittels eines besonderen,
von Hering construirten Rheotoms sogar zu 0,024 See, also einen
Werth, der mehr als 30 mal so gross ist, als der ursprünglich von
Bernstein gefundene.
Im Uebrigen wechselte die Dauer der negativen Schwankung mit
dem Zustand der Frösche zwischen 0,0079 und 0,0239 See. Hermann
glaubte die aus seinen Versuchen abgeleitete grössere Dauer der
negativen Schwankung zunächst darauf zurückführen zu sollen, dass
die von ihm benützte Abkühlung der Nerven den zeitlichen Verlauf
der Erregung und der damit verbundenen Negativität jedes Nerven-
elementes beträchtlich verzögert habe ; doch ergaben weitere Versuche,
dass auch bei gewöhnlicher Temperatur die Dauer der Schwankung
weit grösser ist, als sie Bernstein gefunden hatte. Hermann meint
deshalb, dass seine sehr empfindliche Bussole und die Anwendung
eines Paquets von 6 Nerven den letzten Theil der allmählich ab-
klingenden Schwankung besser erkennen Hesse. Der von Head
bestimmte auffallend grosse Werth ist vor Allem daraus zu erklären,
dass das von ihm benützte Rheotom gestattete, den absteigenden
Theil der Curve jeder negativen Einzelschwankung viel weiter zu
verfolgen, als es bei dem Bernstein ' sehen Verfaliren möglich ist,
weil durch länger dauernde Schliessungen des Bussolkreises die
Wirkung des Schwankungs- oder Actionsstromes auf den Magneten
vergrössert und durch grössere Reizfrequenzen viel stärker multiplicirt
werden konnte, als dies Bernstein und Hermann möglich war.
(S. Fuchs 4.)
Die Versuche von Head bestätigten, dass die Grösse der negativen
Schwankung in directer Abhängigkeit von der Grösse des Nerven-
stromes steht; dagegen ergab sich, dass sie auffallend unabhängig ist
von der Ermüdung des Nerven — nach Versuchen von S. Fuchs
an marklosen Nerven scheint eine solche Abhängigkeit zu bestehen — ,
in welcher Beziehung sie sich ganz anders verhält, als die positive
Nachschwankung. Endlich zeigte sich, dass die Dauer der negativen
Einzelschwankung in hohem Grade von dem jeweiligen Zustande der
Frösche beeinflusst wird. An Winterfröschen ergab sich eine relativ
lange Dauer der negativen Einzelschwankung trotz relativ kleiner
negativer Gesammtsch wankung, während die Frühlingsfrösche bei
Biedermann, Elektrophysiologie. 43
QQQ Die elektromotorischen Wirkungea der Nerven.
kurzer Dauer der Einzelschwankungen relativ grosse negative Ge-
sammtschwankung zeigten.
Für den marklosen Cepbalopodennerven berechnet sich aus
den Versuchen von S. Fuchs (1. c) die Dauer der negativen
Schwankung für stärkere Reize im Mittel zu 0,0113 See, für
schwächere zu 0,0082 See, Werthe, welche zwischen den von
Bernstein und He ad bestimmten mitten inne liegen. Es dürfte
kaum zu bezweifeln sein, dass mit Hilfe einer dem Hering-
H e a d ' sehen Verfahren entsprechenden Methode die Dauer der
negativen Schwankung noch beträchtlich grösser gefunden würde, als
die Head' sehen Werthe vom Froschnerven sind.
S. Fuchs wirft auch die Frage auf, welche Bedeutung wohl
der Verlängerung der Schwankungsdauer am marklosen Nerven
zukommen möchte, und erwähnt die Möglichkeit einer Beziehung zu
der langsamen Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Erregungsvorganges.
In der That ward, wenn, wie nicht zu bezweifeln ist, die Fortleitung
der Erregung auf einer irgendwie vermittelten Uebertragung derselben
von einem Querschnitt auf den nächst angrenzenden beruht, eine
längere Dauer des Processes von Vortheil sein müssen, da ja er-
fahrungsgemäss marklose Nerven für sehr kurz dauernde Reize viel
weniger empfindlich sind, als markhaltige.
Die vorstehend mitgetheilten Thatsachen liefern nun zugleich den
Beweis dafür, dass, wie beim Muskel, so auch beim Nerven die
tetanische negative Schwankung rhythmisch discontinuirlich und trotz
scheinbarer Stetigkeit oscillirender Natur ist, wobei sich sofort wieder
die wichtige Frage erhebt, bis zu welcher Grösse die negative Einzel-
schwankung bei Verstärkung der Reize anwachsen kann, ob, Avie dies
Bernstein für den markhaltigen Froschnerven gefunden hat, der
Demarcationsstrom dem Maximum der Schwankung entsprechend
jedesmal gleich Null wird oder sich sogar umkehrt, oder ob, wie
beim Muskel, nur eine mehr oder weniger weitgehende Verminderung
der bestehenden SpannungsdifFerenz im Rhythmus der Reizung sich
einstellt. Die Frage lässt sich mittels des Rheotomverfahrens in
beiden Fällen derart entscheiden, dass man den Bussolschluss so kurz
als möglich macht und dann jene Schieberstellung aufsucht, welche
dem Maximum der Schwankung entspricht. Wird dann die Compen-
sation aufgehoben und zunächst der Bruchtheil des Sti'omes gemessen,
welchen das in Rotation befindliche Rheotom im Bussolkreise bestehen
lässt, und dann der Schlüssel zum Tetanisiren geöffnet, so erfährt man
unmittelbar, ob die Schwankung kleiner, gleich oder grösser als der
Ruhestrom ist. Bernstein hatte bei solchen Versuchen in der That
gefunden, dass die negative Schwankung bei stärkeren
Reizen die Grösse des Ruhestromes von Froschnerven
um ein Vielfaches übertreffen könne.
Bei Wiederholung der Versuche hat dann allerdings L. Hermann
(27, p. 585) zunächst die Schwankung stets beträchtlich kleiner ge-
funden als den Ruhestrom, und auch Bernstein selbst hatte schon
vorher die Richtigkeit seiner eigenen Beobachtungen bezweifelt (28);
indessen konnte Hermann in der Folge doch die ursprünglichen
Angaben Bernstein's bestätigen, indem er statt vom thermischen
Querschnitte, der beim Aulegen dadurch schädigend wirkt, dass die
dünnen Nerven von den Dämpfen des heissen Wassers leiden, vom
mechanisch (durch Zerquetschung) angelegten Querschnitte ab-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 667
leitete. Hierbei beobachtete er öfters Fälle, in welchen die negative
Schwankung auf ihrer Höhe den Ruhesti'om bis über das Doppelte
übertraf. Wie H e a d theoretisch entwickelte (1. c. p. 241 f.), uiüsste
aber, wenn man den kleinen von Bernstein angenommenen Werth
für die Dauer der negativen Einzelschwankung (0,0007") zu Grunde
legt, der Schwankungsstrom ( d. h. der in Folge der negativen
Schwankung im Bussolkreise entstandene Strom) im Augenblicke
seiner maximalen Intensität 4V2 — 9 mal so stark werden, wie der Nerven-
strom, was sehr unwahrscheinlich ist, „solange die Stärke der reizenden
Inductionsströme innerhalb jener, allerdings engen Grenzen bleibt,
wo eine directe Reizung der Nerven in der abgeleiteten Strecke
(Bussolstrecke) durch unipolare Wirkungen mit voller Sicherheit
ausgeschlossen ist." Seine eigenen Versuche, bei welchen es aller-
dings die angewendete Methode nicht gestattete, die Intensität des
Schwankungsstromes direct festzustellen, sondern nur zu berechnen,
wie hoch die Curve der negativen Schwankung mindestens sein
muss, nicht aber, wie es das Bernstein'sche Verfahren ermöglicht, wie
hoch sie wirklich ist, boten keinen Anlass, so starke Schwankungs-
ströme anzunehmen, wie dies Bernstein und Hermann thun.
Für den marklosen Nerven der C e p h al o p o d e n ergaben die Versuche
von S. Fuchs durchwegs das Resultat, „dass auch bei jener Schieber-
stellung (am Rheotom), welche dem Maximum der negativen Schwankung
entspricht, diese letztere nur eine mehr oder weniger beträcht-
liche Schwächung des Ruhestromes bewirkt, nie aber
zur Annullirung desselben oder gar zur Stromumkehr
führt.'-
Unvei'gleichlich viel schwieriger als bei Ableitung von Längs-
schnitt und künstlichem Querschnitt gelingt der Nachweis der
phasischen Actio nsströme zwischen zwei Längsschnitt-
punkten des unversehrten Nerven. Wie früher auseinandergesetzt
wurde , hat Bernstein am quergestreiften Muskel zuerst den Nach-
weis geliefert, dass beim Ablauf einer direct erzeugten Erregungswelle
immer diejenige Stelle, an welcher sich jene gerade befindet, sich gegen
alle übrigen , unerregten Punkte negativ verhält. Hermann dehnte
dann diesen Satz auch auf die natürlichen Enden des unversehrten
Muskels, sowie auf den Fall indirecter Reizung aus und wies das
allgemeine Vorkommen doppelsinniger, phasischer Actions-
ströme an allen unversehrten Muskeln mit Einschluss derjenigen
des Menschen nach. Es ist klar, dass von vorneherein auch am
Nerven ein ähnliches Verhalten zu erwarten war. Indessen sind, wie
leicht zu ersehen, die Schwierigkeiten des Versuches ausserordentlich
gross. Bei der grossen Geschwindigkeit der Nervenleitung nämlich
sind die Momente, wo die Welle unter zwei Ableitungsstellen hindurch-
geht, selbst bei grosser Distanz der letzteren, einander zu nahe, um
durch das Rheotom getrennt dargestellt zu werden ; macht man ferner
die abgeleitete Strecke so lang als möglich, so wachsen die Wider-
stände, schon ohnehin beim Nerven so gross, sehr beträchtlich, und die
Wirkungen werden unmerklich.
Hermann (27) ist es dem ungeachtet gelungen, durch Herab-
setzung der Leitungsgeschwindigkeit durch Kälte und durch An-
wendung eines Packets von 4 — 6 Ischiadici der erwähnten Schwierig-
keiten Herr zu werden. Es Hess sich dann auf das Deutlichste mittels
des Rheotoms eine Sonderung der beiden gegenläufigen Ströme erzielen
43*
668 I^ie elektromotorischeii Wirkungen der Nerven.
und so die Thatsache des wellenförmigen Ablaufes einer Veränderung'
der Nervensubstanz über jeden Zweifel sicher stellen, welche als
galvanischer Ausdruck der Erregung durch Negativität charakterisirt
ist. Liegt die eine Ablenkungsstelle am künstlichen Querschnitt, so
fällt wie beim Muskel die entsprechende Phase aus oder ist wenigstens
„bis zur Unnachweisbarkeit vermindert" . Ausnahmslos fand Hermann
bei seinen Versuchen die zweite Phase niedriger und zeitlich gedehnter
als die erste, doch ist dies hier nicht wie beim Muskel auf ein Decre-
ment der Erregung zu beziehen , sondern beruht wesentlich in dem
Umstände, dass zur Zeit des Maximums der zweiten Phase die erste
noch lange nicht abgelaufen ist. Die beistehende Figur 202 nach
Hermann mag zur Erläuterung dienen. „Die Abscissenaxe ot be-
deutet die Zeiten, positive Ordinalen gleichläufige, negative gegenläufige
Stromrichtung; die Curve Aaa ist der zeitliche Verlauf des Actions-
stromes der ersten Ablei-
tungsstelle, Bhh der des
Actionsstromes der zwei-
ten , A B die zur Fort-
pflanzung der Erregung
zwischen beiden Ablei-
tungsstellen erforderliche
Zeit; Äccc ist dann die
Curve des resultirenden
doppelsinnigen Actions-
stromes , dessen zweite
Phase (2) niedriger und
gedehnter ist, als die erste
(1), und ausserdem ihr
^^^" Maximum an anderer Stelle
hat, als das Maximum der
Erregung an der zweiten Ableitungsstelle. Der Flächeninhalt der den
beiden Phasen entsprechenden Curvenstücke muss übrigens gleich gross
sein ; daher heben sich beim Tetanisiren ihre Wirkungen auf die Bus-
sole gegenseitig auf."
Beim Muskel haben wir ein ausserordentlich bequemes Hülfsmittel
sowohl zum Nachweis der discontinuirlichen Natur der negativen
Schwankung des Demarcationsstromes, wie auch zum Nachweis der
Actionsströme des unversehrten, an sich stromlosen Muskels in der
Anwendung des physiologischen Rheoskopes und dessen secundärer
Erregung. Schon Du Bois-Reymond bemühte sich vergeblich,
secundäre Erregung auch von einem Nerven zum andern zu erhalten,
und spätere Beobachter sind hierin nicht glücklicher gewesen, so dass
es unmöglich schien, mit Hülfe eines erregbaren Nerven zu entscheiden,
ob ein anderer erregt sei oder nicht. Von vornherein hätte man aller-
dings eher das Gegentheil erwarten sollen. Denn die elektrische
Schwankung im Nerven ist absolut und relativ genommen ein mäch-
tigerer Vorgang als die des Muskels, und es bleiben somit keine jetzt
zu bezeichnenden Gründe übrig, welche uns begreiflich machen, wes-
halb anscheinend kein Nerv erregend auf einen anderen anliegenden
zu wirken vermag. In der That ist es nun aber Hering (11) ge-
lungen, die Möglichkeit echter secundärer Erregung von Nerv zu
Nerv sicher nachzuweisen, indem er alle Vortheile, insbesondere auch
die gesteigerte Erregbarkeit in der Nähe eines künstlichen Querschnittes,
Die elektromotorischeu Wirkungen der Nerven. QQQ
ausnützte. Wird das pei'iphere Ende eines möglichst erregbaren, von
der Wirbelsäule bis zum Knie präparirten und beiderseits abgeschnit-
tenen Ischiadicus von einem Kaltfrosch derart an das centrale Ende
eines zweiten , noch mit dem Schenkel zusammenhängenden Nerven
angelegt, dass beide Nerven 5—6 mm lang dicht aneinander und ihre
Querschnitte in einer Flucht liegen, so compensirt der Demarcations-
strom des einen Nerven sozusagen den des andern. „Gesetzt nun, es
verschwände in Folge einer Momentreizung des primären Nerven
plötzlich der Längs-Querschnittstrom seines peripheren Endes (durch
negative Schwankung bis auf Null), so ist damit für den Strom des
anliegenden Nerven die Compensation plötzlich aufgehoben; das in
diesem Augenblicke stromlos gewordene Endstück des primären Nerven
fungirt jetzt lediglich als eine Nebenschliessung für den Strom des secun-
dären Nerven, und letzterer muss durch die plötzliche Nebenschliessung
seines eigenen Stromes schwach erregt werden. Kehrt aber gar der
Strom des erregten Nerven seine Richtung um, so wirkt derselbe nach
erfolgter Umkehr auf den secundären Nerven als ein schwacher ab-
steigender Strom, der sich zu dem plötzliche Nebenschliessung finden-
den eigenen Strom dieses Nerven addirt" (Hering).
Wird dann, um die Erregbarkeit möglichst zu steigern, dem
peripheren Ende des primären und zugleich dem centralen des dicht
anliegenden secundären Nerven durch einen Scheerenschnitt ein neuer
gemeinsamer Querschnitt gegeben und dann das centrale Ende des
primären Nerven schwach tetanisirt, so sah Hering stets auch eine
schwache tetanische Unruhe des secundären Präparates
eintreten, wobei Stromschleifen oder unipolare Wirkungen schon da-
durch gänzlich ausgeschlossen waren, dass die schwachen Reizströme
nur wirkten, wenn die Elektroden in der Nähe des Querschnittes lagen
und jede secundäre Wirkung ausblieb, wenn dieselben an eine dem
secundären Präparate nähere Stelle des primären Nerven gelegt wurden.
Da auch elektrotonische Wirkungen in Folge des grossen Abstandes
zwischen dem Reizorte und der Anlagerungsstelle des secundären
Nerven ausgeschlossen sind, so ist es schon hierdurch als festgestellt
anzusehen, dass wahre secundäre Wirkungen von Nerv zu Nerv mög-
lich sind. Dies Hess erwarten, dass der Erfolg noch sicherer und
überzeugender ausfallen würde, wenn man sich, statt zwei Nerven
mühsam aneinander zu fügen, eines Präparates bediente, in welchem
die beiden Nervenfaserbündel, das als primäres und das als secundäres
dienende, von Natur in einer Scheide beisammen liegen.
Hering legte daher bei einem Kaltfrosch den Schenkelnerven
über dem Knie frei, unterband seine beiden Aeste gemeinschaftlich,
durchschnitt sie unterhalb des Fadens, präparirte den Nerven bis in
die Nähe seiner Oberschenkeläste frei, durchschnitt hierauf den Plexus
ischiadicus und reizte, als alle Muskeln wieder ganz ruhig waren, das
Knieende des Nerven mit schwachen Strömen. Sofort geriethen
die Muskeln, deren Nerven noch mit dem Plexus in Ver-
bindung standen, in kräftigen secundären Tetanus. Der
Versuch misslingt nie, sofern das Präparat so erregbar ist, dass schon
die Durchschneidung des Plexus ischiadicus ausser der Zuckung eine
schwache und schnell vorübergehende Muskelunruhe am Schenkel zur
Folge hat, und wenn der Querschnitt frisch angelegt wurde. Der
sichere Beweis, dass es sich auch hier nicht um Stromschleifen, Elek-
trotonus oder unipolare Wirkungen gehandelt hat, liegt wieder vor
670
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Allem in dem Umstände, dass der Erfolg regelmässig ausblieb, sobald
die Elektroden nur wenig vom Querschnitt abgerückt und somit dem
Muskel genähert wurden. Im Uebrigen hat Hering an drei Präpa-
raten, und zwar in zwei Fällen zwei-, bezw. dreimal nacheinander beim
Zerquetschen des primären Nerven eine schwache partielle Zuckung
eines Oberschenkelmuskels eintreten sehen. Es kann dies, wie
der ausnahmslose Misserfolg bei andersartigen Reizen, kaum über-
raschen, wenn man die schon erwähnten Schwierigkeiten berücksichtigt,
durch nicht elektrische Reizung eine kräftige negative Schwankung
des Nervenstromes herbeizuführen. Bei Anwendung des mechanischen
Tetanomotors erhielt neuerdings v. Uexküll mehrfach positive Resul-
tate (29) und lieferte ausserdem noch dadurch einen Beweis für die
Richtigkeit der Hering'schen Auffassung, dass das ganze Phänomen
auch bei elektrischer Reizung ausbleibt, resp. verlischt, wenn Längs-
und Querschnitt des Plexus durch Eintauchen in physiologische Koch-
salzlösung in leitende Verbindung gebracht werden, bevor oder wäh-
rend der Actionsstrom auftritt.
III. Die galyaiiischen Erscheinungen im Elektrotoniis.
Es wurde schon früher erwähnt, dass unter dem Einfluss eines
Kettenstromes, welcher mit gleichbleibender Dichte irgend einen Theil
eines markhaltigen Nerven dauernd durchfliesst, polare Erregbarkeits-
änderungen hervortreten, welche nicht, wie beim Muskel, im Wesent-
lichen auf die Berührungspunkte der Elektroden bezw. die unmittel-
bar sichtbaren Ein- und Austrittsstellen des Stromes beschränkt bleiben,
sondern darüber hinaus
nicht nur die intrapolare
Strecke ergreifen, sondern
sich auch extrapolar mehr
oder weniger weit aus-
breiten. Dem entsprechen
nun, wie Du Bois-Rey-
mond schon 1843 fand,
auch Veränderungen
im galvanischenVer-
h alten, welche, wie jene,
als eine Theilerscheinung
des Elektrotonus zu be-
zeichnen sind und gewisser-
maassen nur zwei verschie-
dene Seiten eines und desselben Vorganges darstellen. Sei n n^ (Fig.
203) ein Nerv, Ä und K zwei Elektroden, durch welche ein Kettenstrom
in der Richtung von A nach K geleitet wird ; Ä ist also die Anode, K die
Kathode des zur Erzeugung des Elektrotonus angewendeten Stromes.
Sobald dieser geschlossen wird, werden alle Stellen des Nerven
zur Seite der Kathode (vonÄ'bise) negativer, alle Stellen
zur Seite der Anode (von A bis e) positiver, als sie vor-
her waren. Der Grad dieser Veränderungen ist aber nicht an allen
Stellen gleich, sondern dicht an den Elektroden am grössten und
nimmt mit der Entfernung von denselben ab. Stellen wir von A nach
e hin den Grad des positiven Zuwachses durch Linien dar, deren Höhe
K
^1
riA ^(t
i\ yi
/i
A '•'/ yi
Fig. 203.
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
671
6->
den Zuwachs ausdrückt, und verbinden die Kuppen dieser Linien, so
erhalten wir eine Curve, deren Gestalt uns ein anschauliches Bild von
der an jeder Stelle auftretenden Veränderung der Spannung gewährt.
In gleicher Weise stellen wir die Veränderungen an der Kathodenseite
dar, nur ziehen wir, um gleich anzudeuten, dass hier die Spannungen
negativ werden, die betreffenden Ordinaten nach abwärts vom Nerven
als Abscissenaxe. Die beiden Curvenstücke lehren uns nur das Ver-
halten der extrapolaren Nervenstrecken. In der That wissen wir nicht,
wie sich der Nerv in der intrapolaren Strecke verhält, weil es aus
äusseren technischen Gründen unmöglich ist, diese Strecke zu unter-
suchen. Wir können nur vermuthen, dass die Spannungsänderungen
sich dort ähnlich gestalten, wie es durch die verbindende, durch (i)
gehende Linie versinnlicht wird. Es muss ausdrücklich bemerkt
werden , dass durch diese Curven keineswegs die wirkliche relative
Grösse der Spannvmgen an den einzelnen Punkten der extrapolaren
Nervenstrecke ausgedrückt werden soll, sondern dass dieselben nur
ganz im Allgemeinen die Thatsache der allgemeinen Abnahme von
den Polen aus versinnlichen.
Da der zu unter- a rr
suchende Nerv in der
Regel von zwei Quer-
schnitten begrenzt und
daher von vornherein
elektromotorisch wirk-
sam ist, so muss es
bei entsprechender Ab-
leitung nothwendig zu
einer Interferenz zwi-
schen dem Demarcationsstrom und dem natürlich stets im Sinne des
polarisirenden gerichteten elektrotonischen Zuwachsstromes kommen,
wodurch an dem einen Ende des Nerven eine negative, an dem andern
eine positive Schwankung des Längs - Querschnittsstromes bedingt
wird , die so lange dauert als der polarisirende Kettenstrom ge-
schlossen bleibt (Fig. 204). Verschiebt man den ableitenden Bogen
vom Querschnittsende nach der Mitte hin, so erhält man, wie leicht
ersichtlich, beiderseits von der durchflossenen Strecke stets Ab-
lenkungen am Galvanometer im Sinne des polarisirenden Stromes.
Dies wird natürlich auch dann der Fall sein, wenn der beiderseits
durchschnittene Nerv in unwirksamer Anordnung aufliegt, d. h. mit
zum Aequator symmetrischen Punkten die Bussolelektroden berührt
und seitlich davon durchströmt wird. Man kann daher den Thatbestand
auch in folgender Weise ausdrücken:
Wird durch einen Theil eines markhaltigen Nerven
ein constanter elektrischer Strom geleitet, so wird der
ganze Nerv unter Beibehaltung seiner ursprünglichen
elektromotorischen Wirksamkeit auf allen Punkten im
Sinne des polarisirenden Stromes elektromotorisch
wirksam, indem jeder beliebige Punkt des Nerven sich
gegen jeden in der Richtung des Stromes vor ihm ge-
legenen Punkt negativ verhält.
Die Grösse der elektrotonischen Ablenkungen nimmt, wie aus der
Vertheilung der Spannungen ohne Weiteres ersichtlich ist, mit der
Entfernung der abgeleiteten Strecke von den Polen stetig ab, was
Fig. 204.
ß72 J^iß elektromotorischen Wirkungen der Nen-en.
besonders in der Nähe dieser letzteren sehr auffallend hervortritt; sie
ist ferner abhängig von der Stärke des polarisir enden
Stromes, wobei es bemerkenswerth ist, dass mit der Steigerung der
Intensität die elektrotonischen Wirkungen fortdauernd zunehmen, ohne
dass schliesslich eine Grenze erreicht wird. Versuche von Du Bois-
Reymond (29), deren Ziel die Bestimmung des eventuellen Maximal-
werthes des Elektrotonus war, hatten nicht den gewünschten Erfolg,
zeigten aber, dass die elektromotorische Kraft des Zuwachsstromes auf
Seite der Anode und Kathode (Anoden- und Kathodenstrom Grün-
hagen's) diejenige des gewöhnlichen Längs-Querschnittsstromes um
mehr als das 22 fache übertreflFen kann, ohne noch die Grenze erreicht
zu haben. In der Einheit des Daniell' sehen Elementes ausgedrückt,
betrug die elektromotorische Kraft des Anodenstromes 0,5 Dan. , die
des Kathodenstromes 0,05 Dan,
Der eben bemerkte Unterschied der Kraft des an- und katelektro-
tonischen Zuwachsstromes, der sich auch bezüglich der Intensität in
gleichem Sinne äussert, tritt in jedem Falle deutlich hervor und be-
dingt es, dass bei graphischer Darstellung die Spannungscurve auf Seite
der Kathode kürzer ausfällt und die entsprechenden Ordinaten niedriger
sind, als auf Seite der Anode (Fig. 203). Das Maximum des
An elektrotonus übertrifft unter allen Umständen jenes
des K a t e 1 e k t r 0 1 o n u s.
Ein weiteres Moment, welches für die Grösse des Elektrotonus
in Beträcht kommt, ist die Länge der vom p olarisi r enden
Strom durchflossenen Nerven strecke. Rückt man einfach
die Elektroden der Kette zur Verlängerung der erregten Nervenstrecke
allmählich auseinander, so findet man Abnahme der Zuwachsströme
mit der Verlängerung der vom Strom durchflossenen Strecke; diese
Abnahme ist aber, wie leicht ersichtlich, lediglich durch die Schwächung
des polarisirenden Stromes verursacht, welche man durch die Ver-
grösserung des so grosse Widerstände bietenden Leiters herbeiführt.
Sorgt man , wie dies zuerst Du Bois-Reymond gethan hat, durch
Einschaltung eines grossen Widerstandes (Alkoholrohr) in den polari-
sirenden Kreis oder durch Unterbindung der intrapolaren Strecke mit
einem feuchten Faden dafür, dass die Intensität des polarisirenden
Stromes sich nicht ändert, so sieht man die Grösse des elektro-
tonischen Zuwachses mit der Verlängerung der durch-
flossenen wirksamen Strecke wachsen, beziehungsweise
mit deren Verkürzung abnehmen. Einen grossen Einfluss übt
ferner auf die Stärke der elektrotonischen Wirkungen auch die
Richtung des polarisirenden Stromes zur Längsaxe des
Nerven aus, und zwar zeigt sich, dass der Zuwachs wie auch die
Erregung am grössten ist, wenn der polarisirende Strom den Nerven
der Länge nach durchfliesst, dagegen gleich Null bei reiner Quer-
durchströmung.
Für die theoretische Erklärung und Deutung der elektrotonischen
Wirkungen ist vor Allem die Abhängigkeit derselben von der Be-
schaffenheit und dem jeweiligen Zustande des Nerven von der grössten
Bedeutung. Die Vermuthung, dass sie durch ein Hereinbrechen ge-
wöhnlicher Stromschleifen in den Galvanometerkreis bedingt werden,
die ja auf den ersten Blick nach dem ganzen Verhalten nicht unbe-
gründet erscheinen könnte, wird sofort durch den Umstand widerlegt,
dass Durchschneidung oder Quetschung des Nerven zwischen polari-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 673
sirter und abgeleiteter Strecke jede Spur von Wirkung aufhebt. Es
ist dadurch erwiesen , dass die Ausbreitung des Elektrotonus ähnlich
wie die der Erregung an die unversehrte Continuität des markhaltigen
Nerven gebunden ist. Aber nicht nur eine vollstäudige Unterbrechung
des Leitungsvermögens, sondern auch jede irgend erhebliche Vermin-
derung desselben, sowie überhauj3t der Leistungsfähigkeit des Nerven
beeinflusst in mehr oder weniger hohem Grade die Stärke des Elektro-
tonus. An gänzlich abgestorbenen oder sonstwie in ihren physika-
lischen und chemischen Eigenschaften eingreifender veränderten Nerven
lässt sich kein Elektrotonus, nachweisen oder es treten höchstens
Spuren der gesetzmässigen Wirkungen hervor. Die ganze Er-
scheinung ist somit zweifellos an bestimmte, nur im
lebenden, unversehrten, markhaltigen Nerv vorhan-
dene Struktureigenthümlichkeiten geknüpft. Von ganz
besonderer Wichtigkeit ist hier vor Allem auch die später noch näher
zu berücksichtigende Thatsache, dass unter sonst gleichen Umständen
elektrotonische Zuwachsströme in dem bisherigen Sinne weder an
marklosen Nerven noch an Muskeln und andern feuchten Leitern
(feuchten Fäden) beobachtet werden, so dass unter den erforder-
lichen Struktureigenthümlichkeiten das Vorhanden-
sein der Markscheide in erster Linie zu stehen scheint.
Die Erfahrung, dass glatte Durchschneidung des Nerven zwischen
polarisirter und abgeleiteter Strecke auch dann die Entwicklung des
Elektrotonus hemmt, wenn die Schnittflächen möglichst sorgsam wieder
aneinander gelegt werden, legt
zunächst die Frage nahe, ob
sich die zu Grunde liegenden
Veränderungen, ähnlich wie die ^
Erregung im Nerven, mit einer
messbaren Geschwindigkeit fort- '^"
pflanzen. Nachdem bereits
Du Bois-Reymond gezeigt hatte, dass der Elektrotonus zu seiner
Entwicklung so gut wie keine Zeit beansprucht, indem er anscheinend
sofort bei Schliessung des polarisirenden Stromes in voller Stärke vor-
handen und selbst bei den flüchtigsten Inductionsstr-men nachweisbar
ist, hat zuerst Helmholtz mit Hülfe des physiologischen Rheoskopes
dieselbe Thatsache zu erweisen versucht (30).
Bei der bekannten grossen Empfindlichkeit des letzteren für selbst
sehr viel schwächere Ströme, als sie hier in Betracht kommen, ist es
leicht verständlich, dass die elektrotonischen Zuwachsströme bei Weitem
ausreichen, um den Nerven eines stromprüfenden Froschschenkels zu
erregen, wenn sie demselben in passender Weise zugeleitet werden.
Gelingt es doch sogar, wie schon Du Bois-Reymond gezeigt hat,
durch den elektrotonischen Zuwachsstrom eines Nerven einen zweiten
anliegenden Nerven in secundären Elektrotonus zu versetzen. Legt
man an das eine Ende {B) (Fig. 205) emes bei (A) polarisirten, mark-
haltigen Nerven einen zweiten (CD) mit einem Theil seiner Länge an,
so geräth auch dieser in den elektrotonischen Zustand ; das Ende (D)
befindet sich jedoch in der entgegengesetzten Phase wie (B), indem
der Zuwachsstrom in (B) das eine Nebenschliessung bildende Ende
(C) des anliegenden Nerven in umgekehrter Richtung durchfliesst.
Befindet sich nun dieser noch im Zusammenhang mit Muskeln, so
wird sowohl bei Schliessung des polarisirenden Stromes, wie günstigen
674 I^ie elektromotorischen Wirkungen der Ner^'en.
Falles bei der Oeffnung eine „secundäre" Zuckung erfolgen, die mit
der wahren, durch den Actionsstrom des Nerven bedingten und zuerst
von Hering nachgewiesenen secundären Zuckung von Nerv zu Nerv
nicht verwechselt werden darf. Eine besonders interessante Form
dieser auf dem Elektrotonus beruhenden secundären Zuckung ist die
sogenannte „paradoxe Zuckung" Du Bois-Reymond's.
Offenbar würden die Bedingungen für die Auslösung der in Rede
stehenden secundären Zuckung durch den elektrotonischen Zuwachs-
strom besonders günstige sein, wenn die Fasern der beiden Nerven,
soweit sie aneinander liegen, so zu sagen ineinander gesteckt, d. h.
zu einem einzigen Stamme verschmolzen wären. Dies ist aber beim
Ischiadicus des Frosches der Fall, wenn man die beiden Aeste berück-
sichtigt, in die er sich am Knie spaltet. (Peronaeus und Tibialis,
Fig. 206.) Reizt man den einen oder andern auf nicht elektrischem
Wege, so gerathen immer bloss die von dem betreffenden Aste in-
nervirten Muskeln und niemals auch die dem andern zugehörigen in
Erregung. Wird aber z. B. der Tibialis in nicht zu grosser Ent-
fernung von der Gabelungsstelle von einem elektrischen
Strome durchflössen, so zuckt bei der Oeffnung und
Schliessung nicht bloss der Muskel A, sondei-n auch der
vom Peronaeus versorgte B, weil der primär elektro-
tonische Nerv den andern mit ihm weiterhin zu einem
gemeinsamen Stamme vereinigten Nerven in secundären
Elektrotonus versetzt. Da auch die kürzesten Strom-
stösse oder Inductionsströme elektrotonisirend wirken,
so ist klar, dass man bei tetanisirender Reizung des pri-
mären Nerven leicht auch secundären Tetanus wird er-
zielen können. Stets nehmen, wie mit Rücksicht auf das
rasche Wachsen der Spannungen in der Nähe der polari-
sirten Strecke leicht ersichtlich ist, die Reizwirkungen
Fig. 206. sowohl des primären wie secundären Elektrotonus mit
der Annäherung der polarisirten an die abgeleitete
Strecke rasch zu, wodurch, wie oben schon erwähnt wurde, ein Mittel
gegeben erscheint, die wahre secundäre Erregung von Nerv zu Nerv
von der paradoxen Zuckung zu unterscheiden (Hering 11).
Helmhol tz benützte nun diese letztere in folgender M^eise, um
die zeitlichen Verhältnisse der Etablirung der galvanischen Ver-
änderungen im Elektrotonus zu ermitteln. An den N. ischiadicus,
welcher noch mit dem Gastrocnemius in Zusammenhang stand, wurde
ein zweiter freipräpanrter Nerv derart angelegt, dass die dem zeich-
nenden Muskel nähere Hälfte seines Nerven in Bei'ührung mit der
entsprechenden Hälfte des andern gebracht wurde (Fig. 207). Elektro-
tonische Reizung entsprechender Stellen am centralen Ende beider
Nerven lieferte nacheinander zwei Zuckungen, von denen die eine durch
directe Reizung des Muskelnerven, die andere durch secundären Elektro-
tonus bewirkt war. Es zeigte sich, dass die secundäre Zuckung
vom Nerven aus nicht merklich später eintritt als die
primäre, woraus Helmhol tz den Schluss zieht, „dass der elek-
trotonische Zustand nicht merklich später eintritt als
der ihn erregende elektrotonische Strom" und somit nicht,
wie die Erregung, eine messbare Zeit [braucht, um sich über den
Nerven extrapolar auszubreiten. Schon Du Bois-Reymond hat
jedoch darauf aufmerksam gemacht (6, p. 258), dass aus dem Helm-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 675
holtz'schen Versuche streng genommen nur gefolgert werden könne,
dass sich die dem Elektrotonus zu Grunde liegenden Veränderungen
und der Erregungsvorgang mit derselben Geschwindigkeit im
Nerven fortpflanzen. Dies ergiebt sich unmittelbar aus der folgenden
Erwägung von Hermann (19, p. 162). „Ist die Zeit zwischen Rei-
zung und Zuckung des Muskels (M) (Fig. 207) die gleiche, mag bei
a oder b gereizt werden, so beweist dies, dass der Elektrotonus,
um im Nerven 1 von a bis c sich auszubreiten, so viel Zeit braucht
wie die Erregung, um im Nerv 2 von b bis c' zu gelangen.
Aber wenn der Elektrotonus in c stark genug ist, um den zweiten
Nerven zu erregen, so wird er in c' gewiss mindestens ebenso stark
direct erregen, wenn er durch Reizung bei b im Nerven 2 direct er-
zeugt wird ; mit andern Worten : bei der angewandten Reizstärke wird
der Nerv 2, sobald der Strom bei b applicirt ist, bis c' direct erregt,
und der Versuch beweist also nur, dass der Elektrotonus sich in beiden
Nerven mit gleicher Geschwindigkeit ausbreitet; über die Grösse dieser
Geschwindigkeit giebt er jedoch keinen Aufschluss."
Fig. 207. Fig. 208.
Eine Reihe anderer Versuche bezieht sich auf die zeitliche
Entwicklung der elektrotoni sehen Erregbarkeitsver-
änderungen, welche ja, wie schon Pflüg er gezeigt hat, zu den
galvanischen Erscheinungen in nächster Beziehung stehen und so zu
sagen nur ein anderes Symptom oder eine andere Seite desselben zu
Grunde liegenden Vorganges im Nerv darstellen. Man wird daher
berechtigter Weise aus den Verhältnissen der zeitlichen Entwicklung
der einen Veränderung auf die der anderen schliessen dürfen.
Pf lüg er (31) hat übrigens, wenigstens für den Anelektrotonus, direct
durch den Versuch erwiesen, dass die Erregbarkeitsveränderung völlig
gleichzeitig mit der galvanischen Veränderung eintritt.
Wird (Fig. 208) das centrale Ende des Nerven eines gewöhnlichen
Nerv-Muskel-Präparates dauernd von einem starken aufsteigenden Strom
{ab} durchflössen, so geräth natürlich die myopolare Strecke des Nerven
in den Zustand des Anelektrotonus; durch ein zweites, innerhalb der-
selben angelegtes Elektrodenpaar (c d) kann der betreffende Zuwachs-
strom dem Nerv (B) eines andern Präparates zugeleitet werden, so
dass derselbe in demselben Abstand vom Muskel, aber in entgegen-
gesetzter Richtung, d. h. bei der gegensätzlichen Lage beider Prä-
parate, wieder aufsteigend durchströmt wird. Sobald nun unter der
Voraussetzung einer mit einer gewissen Geschwindigkeit von der
polarisirten Strecke {a b) aus erfolgenden Fortpflanzung der elektro-
tonischen Veränderung der primäre Nerv (c d) elektromotorisch zu
wirken beginnt, wird sich im gleichen Augenblick ein Zweigstrom
durch (e f) ergiessen und diesen Nerven secundär erregen. Aus dem
Umstände nun, dass in diesem Falle immer nur der Muskel {B) und
niemals der des primären Präparates (Ä) zuckt, schliesst Pflüger,
(376 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
dass zu der Zeit, wo der elektrotonisclie Zuwachsstrom durch die
Strecke (c d) des ersten Nerv-Muskel-Präparates fliesst und den zweiten
Muskel zu secundärer (paradoxer) Zuckung anregt, auch schon die
Erregbarkeit in (c d) so weit herabgesetzt ist, dass derselbe Zuwachs-
strom, der den zweiten Muskel erregt, den ersten ganz ruhig lässt,
d. h. mit andern Worten: die Erregbarkei ts verän derung ist
gleichzeitig mit der entsprechenden galvanischen Ver-
änderung vorhanden.
Spätere Versuche, welche von verschiedenen Autoren in der Ab-
sicht angestellt worden sind, die eigentliche, uns hier beschäftigende
Grundfrage zu entscheiden, wie sich nämlich die absolute Zeit der
Entwicklung der elektrotonischen Veränderungen des Nerven nach
Schliessung des polarisirenden Stromes verhält, haben bisher nicht zu
übereinstimmenden Resultaten geführt. Nach Wundt (33), welcher
eine umfassende und ausserordentlich verwickelte Untersuchung über
den zeitlichen Verlauf der elektrotonischen Erregbarkeitsveränderungen
am Nerv-Muskel-Präparat des Frosches anstellte, sind dieselben
nicht gleichzeitig mit der Schliessung des polarisiren-
den Stromes an allen Stellen des Nerven entwickelt,
sondern breiten sich von den Polen aus mit einer ver-
h alt niss massig sehr geringen, jedenfalls immer leicht
messbarenGeschwindigkeitvon
Querschnitt zu Querschnitt
ganz nach Analogie des Er-
regungsvorganges wellen fö rm ig
aus. In diesem Sinne spricht Wundt
■^^ 'i-^) ', ~::.|.— ^=» von einer „a n o d i s c h e n H e mm u n g s -
welle", d. h. einer durch verminderte
Anspruchsfähigkeit charakterisirten Zu-
standsänderung der Nervensubstanz,
welche sich von der Anode her mit einer je nach der Stärke
des polarisirenden Stromes zwischen 80 und 1700 mm p. See. wech-
selnden Geschwindigkeit fortpflanzt und einer k a t h o d i s c h e n Er-
regungswelle (d.h. katelektrotonischen Erregbarkeitssteigerung),
deren Fortpflanzungsgeschwindigkeit, wie es scheint, jener der wirk-
samen Erregung selbst entspricht. Hinsichtlich der angewandten
Methode sei nur erwähnt, dass es sich im Wesentlichen darum handelte,
zu verschiedenen Zeiten nach Schliessung eines aufsteigenden oder ab-
steigenden, polarisirenden Kettenstromes verschiedene Stellen der myo-
polaren Nervenstrecke durch einzelne Inductionsschläge zu reizen und
die ausgelösten Zuckungen graphisch zu verzeichnen ; die dabei hervor-
tretenden Unterschiede in Bezug auf den zeitlichen Verlauf, die Grösse
(Höhe) und Dauer der Zuckungen vor und nach Schliessung des
polarisirenden Stromes gestatten dann eventuell Schlussfolgerungen
bezüglich des zur gegebenen Zeit an der betreffenden Nervenstelle
herrschenden Erregbarkeitszustandes. Die Beobachtungen von Wundt,
auf deren weitere Einzelheiten hier nicht näher eingegangen werden
kann, haben, wie es scheint, in der Folge nur wenig Beachtung ge-
funden, sie beflnden sich zudem in directem Widerspruch mit dem oben
erwähnten Pflüger'schen Versuch, sowie mit gewissen Versuchsresultaten
von Grünhagen (34), denen zufolge der Beginn der elektro-
tonischen Erregbarkeitsveränderungen an jeder Stelle
des Nerven mit dem Momente der Schliessung des polari-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 677
sirenden Stromes zeitlich zusammenfällt. Wird (Fig. 209)
in den Kreis der den polarisirenden Strom liefernden Kette (K) zugleich
auch ein Rheochord (r r^) und die primäre Spirale eines Inductions-
apparates aufgenommen, so kann man dem Nerven eines Nerv-Muskel-
Präparates leicht einen Zweig des primären Stromes in aufsteigender
Richtung zuleiten (cd), der an sich nicht ausreicht zu wirksamer Er-
regung des Muskels, wohl aber zur Entwicklung einer nachweisbaren
anelektro tonischen Erregbarkeitsherabsetzung innerhalb der myopolaren
Nervenstrecke. Es zeigte sich nun, dass bei emplindlichen Präparaten
die Höhe der durch den aufsteigenden Schliessungsinductionsschlag bei
(a b) ausgelösten Zuckung regelmässig niedriger ausfiel, wenn die
Strecke (c d) gleichzeitig durch einen Zweig des primären Stromes
polarisirt wurde. Gegen den daraus von Grünhagen abgeleiteten
Schluss, dass die anelektrotonische Erregbarkeitsherabsetzung in (a h)
schon zur Zeit der Schliessungsinduction vorhanden, also thatsächlich
gleichzeitig mit dem polarisirenden Strom entsteht, hat jedoch Tschir-
jew (35) den Einwand erhoben, dass bei vereinigter Wirkung beider
Ströme der inducirte Reizstrom nothwendig schwächer ausfallen muss,
als in dem andern Falle, weil jetzt ein Theil des ihn inducirenden
Stromes mittels des Rheochords in den Nerven abgeleitet wird. Dieser
Einwand ist aber, wie He rm an n (35) späte i-^bemerkte, in Anbetracht
der Widerstands Verhältnisse thatsächlich ohne Belang, da es für den
Strom in der primären Spirale mit ihrem geringen Widerstand (von
1 — 2 Siemens'schen Einheiten) kaum etwas ausmachen kann, „ob noch
ein Nebenzweig, der den Nerven mit seinen 40000 — 70000 Ein-
heiten enthält, geschlossen oder geöffnet wird", was übrigens auch
thatsächlich durch Versuche von Baranowsky und Garre nach-
gewiesen worden ist (35, p. 449).
Tschirjew gelangte bei seinen Versuchen über die Fortpflan-
zungsgeschwindigkeit der galvanischen sowohl wie der Erregbarkeits-
veränderungen im Elektrotonus markhaltiger Nerven zu fundamental
verschiedenen Ergebnissen wie seine Vorgänger, die wenig später
durch eine noch zu erwähnende Untersuchung von Bernstein im
Wesentlichen bestätigt wurden.
Hiernach würden sich die elektrotonischen Ver-
änderungen im Nerven mit einer Geschwindigkeit fort-
pflanzen, welche der Fortpflanzungsgeschwindigkeit
der Erregung sehr nahe kommt, aber doch im Allge-
meinen kleiner ist, als diese letztere.
Um die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der anelektrotonischen Er-
regbarkeitsabnahme im Nerven zu finden , bediente sich T s c h i r j e w
einer im Princip analogen Methode wie vordem Wundt. „Für eine be-
stimmte Stelle des Nerven eines Froschgastrocnemius-Präparates wurde
die minimale Reizstärke aufgesucht, welche Zuckung auslöste. Dann
wurde in der dem centralen Ende näher liegenden Partie des Nerven
in einem bestimmten Abstand \^on der geprüften Stelle ein starker
aufsteigender Strom geschlossen. Die Schliessung dieses Stromes gab
natürlich in diesem Falle keine Zuckung. Eine gewisse, sehr kurze
Zeit nachher wurde die Erregbarkeit des Nerven an der früheren
Stelle wieder geprüft. Erzeugte die früher gefundene minimale Reiz-
stärke noch merkliche Zuckung, so wurde der Moment dieser Reizung
in der Zeit von dem Momente der Schliessung des polarisirenden
Stromes entfernt vmd der Versuch wiederholt. Damit wurde so lange
g78 Di^ elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
fortgefahren, bis die minimale Reizung ohne Erfolg blieb," „Der dann
sich ergebende Zeitunterschied zwischen den beiden Momenten musste
die Zeit geben, welche für die Fortpflanzung der Erregbarkeitsabnahme
von der intrapolaren Strecke bis zur gereizten Stelle nöthig war. War
dieser Abstand bekannt, so konnte daraus die gesuchte Fortpflanzungs-
geschwindigkeit bestimmt werden."
Um den Eintritt der galvanischen Veränderungen des Elektro-
tonus an einer ausserhalb der polarisirten Nervenstrecke gelegenen
Stelle des Nerven festzustellen, wurde zunächst von zwei symmetrisch
zum elektromotorischen Aequator gelegenen Punkten dauernd abge-
leitet und etwa vorhandene SpannungsdifFerenzen compensirt. Dieser
Kreis, in welchem eine empfindliche Bussole eingeschaltet war, konnte
nun vermittels eines Federmyographions zu verschiedenen Zeiten nach
ganz kurz dauernder Schliessung eines Kettenstromes, der eine in be-
stimmter Entfernung von der abgeleiteten befindliche Nervenstrecke auf-
oder absteigend durchfliesst, geöfinet werden, wobei das Zeitintervall
zwischen dem Moment der Schliessung des polarisirenden Stromes im
Nerven und dem Momente der Oeffiiung des Bussolkreises beliebig
variirt werden konnte. Es ist klar, dass durch Bestimmung der Zeit,
welche zwischen diesem letzteren Momente und dem Momente der
Schliessung des polarisirenden Stromes verfliessen musste, damit die
erste Spur der elektrotonischen Stromschwankung an der Bussole
sichtbar wurde, auch zugleich die Zeit bestimmt ist, welche dieselbe
in jedem beobachteten Falle für ihre Fortpflanzung von der polarisirten
bis zur abgeleiteten Nervenstrecke braucht.
Beide Versuchsreihen von T s c h i r j e w erfuhren in der Folge
eine sehr eingehende und scharfe Kritik von Seiten Hermann 's
(36), welcher vor Allem in Bezug auf die galvanischen Messungen
Tschirjew's nachdrücklich hervorhebt, dass, wie noch zu zeigen
sein wird, der Elektrotonus an einer bestimmten Nerven -
stelle nicht gleich im erstenMomenteseiner Entstehung
die volle Intensität hat, sondernall mählich anwächst,
„Wenn aber der Elektrotonus in der ersten Zeit nach seinem Ent-
stehen nur um ein Viertel seines Betrages schwächer ist als später,
so sind, wie Hermann zeigt, die Resultate Tschirj ew ' s mit einem
momentanen Entstehen ebenso gut vereinbar." Dasselbe gilt natür-
lich auch von den Versuchen, bei welchen die Zeit bestimmt werden
sollte, Avelche nach Schliessung des polarisirenden .Stromes vergehen
muss, um an einer entfernten Nervenstelle einen Anelektrotonus hervor-
zurufen, der hinreichend stark ist, um hier die durch einen Prtifungs-
reiz ausgelöste Zuckung zu unterdrücken. „Diese Zeit ist durchaus
nicht nothwendig identisch mit derjenigen, welche vergehen muss, da-
mit der Anelektrotonus an jener Nervenstelle überhaupt beginne,"
sondern höchst wahrscheinlich kleiner. Dazu kommt noch, dass, wie
ebenfalls Hermann hervorhebt, die elektrotonischen Veränderungen
ganz abweichend von der Erregung, mit zunehmender Entfernung von
der polarisirten Nervenstrecke sehr rasch an Intensität abnehmen und
schliesslich unmerklich werden. Es Avird daher, Avenn der Elektrotonus
unmittelbar bei der Schliessung des polarisirenden Stromes noch nicht
voll entwickelt ist, „die Strecke, in welcher er in diesem ersten Augen-
blicke nachweisbar ist, noch kleiner sein müssen, als die Strecke der.
definitiven Nachweisbarkeit,"
Die elektromotorisclieii Wirkungen der Nerven.
679
Später hat Tschirjew dieselben Versuche mit gleichem Erfolge
auch unter Anwendung des für rasche Stromschwankungen besonders
empfindlichen Capillar-Elektrometers und des Bernstein 'sehen Rheotoms
wiederholt, für welche natürlich dieselben Einwände gelten. Erinnert
man sich der Theorie dieses letzteren, ingeniösen Instrumentes, so ist
ohne Weiteres ersichtlich, dass es mit Hülfe desselben in einer sehr
bequemen Weise gelingt, einen polarisirenden Strom in einem be-
stimmten Zeitmomente dem Nerven zuzuführen und ihn kurz darauf
zu unterbrechen, zugleich aber in verschiedenen Zeitmomenten nach
jener Schliessung die elektrotonischen Ströme einer davon entfernten
Nervenstrecke abzuleiten. Die von Bernstein selbst bei seiner
schon kurz erwähnten Untersuchung benützte Versuchsanordnung wird
durch das beistehende Schema versinnlicht (Fig. 210). Man sieht, dass
während der Rotation des Rheotoms der polarisirende Strom periodisch
Fig. 210.
geschlossen jwird, sobald die Spitzen in die Quecksilbergefässe {qq)
tauchen, der Bussolkreis dagegen, so oft die Spitze Q;^) in {q^) taucht.
Die Schliessungszeit des polarisirenden Stromes schwankte zwischen
^/8o und V200 See, die Dauer des abgeleiteten Stromes, dessen Schliessung
durch Veränderung der Schieberstellung am Rheotom in jedem be-
liebigen Zeitmoment zwischen der Schliessung und Oeffnung beziehungs-
weise nach Oeffnung des polarisirenden Stromes erfolgen konnte, betrug
meist jedesmal Viooo See. Wie man leicht sieht, lassen sich unter
diesen Umständen die elektrotonischen Zuwachsströme überhaupt nicht
rein beobachten, sei es nun, dass die Bussolelektroden den Nerven in
stromloser Anordnung berühren, oder von Längsschnitt und Quer-
schnitt ableiten ; stets interferiren dieselben entweder mit dem phasischen
Actionsstrom oder mit der negativen Schwankung. Die Abnahme des
Nervenstromes, welche man im letzteren Falle auch ohne Rheotom bei
tetanisirender Reizung mit absteigenden Strömen beobachtet, muss
sich bei hinreichender Nähe der abgeleiteten und der Reizstrecke
• stets aus der negativen Schwankung und dem katelektro tonischen
Zuwachsstrom zusammensetzen. Die Anwendung des Rheotoms ge-
stattet nun aber diesen Gesammteffekt so zu sagen in seine einzelnen
680
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Componenten zu zerlegen und das zeitliche Verhältniss zwischen dem
Eintreffen der Erregungswelle (Reizwelle) und des elektrotonischen
Stromes bei jeder Einzelreizung festzustellen. Würde der letztere
bereits im Augenblicke der Schliessung des polarisirenden Stromes
in seiner vollen Höhe vorhanden sein, so müsste offenbar von diesem
Momente ab die Ablenkung am Galvanometer beginnen und in dem
Maasse stetig wachsen, als der Schieber des Rheotoms vom Nullpunkt
(d. h. der Stellung, bei welcher die Oeffnung des Bussolkreises gleich-
zeitig mit der Schliessung des Kettenstromes erfolgt) aus bis zu der-
jenigen Stellung vorgeschoben wird, wo die Schliessung des polarisirenden
Stromes mit der des Nervenkreises zusammenfällt. Dies war aber bei
Bernstein's Versuchen niemals der Fall; vielmehr zeigte sich stets^
dass nach Schluss des polarisirenden Stromes eine gewisse, gut mess-
bare Zeit vergeht, ehe überhaupt Ausschläge am Galvanometer erfolgen.
Bedeutet SO (Fig. 211) die Abscisse der Zeit, S den Moment der
Schliessung, 0 den der
Oeffnung des Ketten-
stromes, Sy die Höhe
des „ruhenden Nerven-
stromes", so lässt sich der
ganze Vorgang der jeden
Einzelreiz begleiten-
den katelektrotonischen
Veränderung der abge-
leiteten Nervenstrecke
durch die Curven ng s
lit e darstellen. Man
sieht offenbar als gal-
vanischen Ausdruck der
sonst die Schliessungs-
zuckung bedingenden
Erregung zunächst eine
rasch verlaufende nega-
tive Schwankung ein-
treten, welche im ge-
gebenen Falle den Ner-
venstrom vorübergehend umkehrt (absolut negativ ist). Merklich
später bei h beginnt erst die durch den langsam ansteigenden katelek-
trotonischen Strom bedingte neuerliche negative Schwankung, Avelche
den Moment der Oeffnung des polarisirenden Stromes etwas überdauert,
um dann rasch abzufallen. Häufig fällt übrigens das Ende der katho-
dischen Schliessungswelle, wie Bernstein die durch die
Schliessungserregung bedingte anfängliche negative Schwankung be-
zeichnet, in den Anfang der katelektrotonischen Schwankung hinein,
so dass es von diesem nicht zu trennen ist.
Auch aus diesen Versuchen, ebenso wie aus den früher er-
wähnten von Tschirjew, scheint sich daher zu ergeben, dass das
Entstehen des katelektrotonischen Stromes an der ab-
geleiteten Stelle zeitlich nicht mit dem Moment der
Schliessung des polarisirenden Stromes zusammenfällt,
und dass die zu Grunde liegen deVeränderung des Nerven
sich lang sam er ausbreitet als die Erregungs welle, welche
ihm gleichsam vorauseilt. Diese Sonderung beider Curvengipfel
"H.
'^y
r
\
/'^^--
K'^
S
0
j
er
Fig. 211.
Die elektromotorischen Wirkuugen der Nerven. 681
tritt allerdings nur dann deutlich hervor, wenn die abgeleitete Nerven-
strecke sich in genügender Entfernung von der polarisirten befindet,
da voraussichtlich beide Processe an der Kathode selbst gleichzeitig,
d. h. im Augenblick der Schliessung, beginnen und sich nach
Bernstein's Auffassung erst bei weiterer Fortpflanzung von einander
sondern. In Folge dessen lässt sich auch der absolute Werth der
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der katelektrotonischen Veränderung
aus solchen Versuchen kaum mit Genauigkeit feststellen, doch schätzt
sie Bernstein im Mittel auf etwa 9 — 10 m pro Secunde. Im
Wesentlichen gleichartig gestaltet sich bei demselben Versuchsverfahren
die Entwicklung und Ausbreitung des galvanischen Anelektrotonus,
wenn die durch das Rheotom vermittelte Reizung mit Rücksicht auf
das abgeleitete Quersehnittsende des Nerven durch aufsteigende Ströme
bewirkt wird. Stets zeigte sich auch hier (selbst bei starken Strömen)
eine allerdings viel kleinere negative Initialschwankung (Reizwelle),
als bei absteigender Reizung, welcher die mit der Zeit immer mehr
zunehmende, positive, anelektrotonische Ablenkung sich anschliesst
(Fig. 211, ng'at'e). Es handelt sich also auch hier wieder um die
Fortpflanzung einer gewissen Veränderung des Nerven, deren
absolute Geschwindigkeit sich am besten bei stromloser Ableitung
von zwei Längsschnittspunkten bestimmen lässt, da in diesem Falle
die negative Schwankung sich kaum störend einmischt. Nach Bern-
stein beträgt dieselbe 6 — 13 m p. See. Für beide Phasen des
galvanischen Elektrotonus würde es sich hiernach also
um Veränderungen handeln, welche sich im Nerv von
Querschnitt zu Querschnitt mit einer Geschwindigkeit
fortpflanzen, welche unter allen Umständen erheblich
hin ter j ener d es Erregungs Vorganges zurückbleibt. Es
ist ohne Weiteres klar, dass dieser Umstand für die theoretische Auf-
fassung und Deutung der elektrotonischen Veränderungen von der
grössten Wichtigkeit ist.
Bei allen diesen Versuchen wurde jedoch, wie es scheint, der
zeitliche Verlauf der an- oder katelektrotonischen Ver-
änderung an einem und demselben Punkte des Nerven
bei einmaliger Schliessung nicht genügend berücksichtigt.
Schon aus älteren Versuchen von Du Bois-Reymond und P f 1 ü g e r
geht hervor, dass bei dauernder Schliessung des polarisirenden Stromes
sowohl der Zustand herabgesetzter Erregbarkeit, wie auch die ent-
sprechenden galvanischen Veränderungen im Anelektrotonus an
jeder Stelle des Nerven nur ganz allmählich ihr Maximum erreichen,
um dann langsam wieder abzunehmen. Pflüger (32 p. 319 f.) sah
oft bei schneller Reizung nach erfolgter Schliessungszuckung noch
keine Spur einer veränderten Erregbarkeit, die erst nach 30 See. oder
1 Min sehr stark herabgesetzt war. „Wie aber der Anelektrotonus
an einer Stelle anschwillt, sein Maximum erreicht, so nimmt er nachher
auch wieder ab und zieht sich ebbend nach der intrapolaren Strecke
zurück, wenn man fortwährend geschlossen lässt." „Die Dauer der
Flutzeit wird kleiner, wenn derselbe Strom öfter geschlossen wird oder
wenn er bereits anfänglich stärker wai', so dass auch der Anelektrotonus
bei sehr starken Strömen urplötzlich hereinzubrechen scheint." Nach
Du Bois-Reymond (30 p. 446 und 6 p. 255) lässt sich dieses
Verhalten in Bezug auf die, wie es scheint, ganz correspondirenden
galvanischen Wirkungen des Anelektrotonus durch eine Curve von
Biedermann, Elektrophysiologie. 44
Die elektromotorischen Wirkungen der Xei-ven.
der Form % a^ üo, (Fig. 212) darstellen; S ist der Moment der
Schliessung, /^ der Moment der ersten Bussolablesung, Ganz wesent-
lich unterscheidet sich davon der zeitliche Verlauf der katelektro-
tonischen Veränderungen während der Dauer des Stromschlusses.
Ausnahmslos erreicht der Katelektrotonus an einer bestimmten Nerven-
stelle seinen grössten Werth, der übrigens immer hinter jenem des
Anelektrotonus unter sonst gleichen Verhältnissen zurücksteht, viel
früher als dieser, und scheint wenigstens hinsichtlich der galvanischen
Veränderungen vom ersten Beginn der Beobachtung continuirlich ab-
zusinken (Curve Ti(^Ti]^h2). Bezüglich der Erregbarkeit konnte Pflü-
ger (1. c. p. 349) unmittelbar nach Schliessung des polarisirenden
Stromes eine kurzdauernde Zunahme feststellen. Es ist klar und wurde
oben schon hervorgehoben, dass das verhältnissmässig langsame An-
wachsen der elektrotonischen Veränderungen an einer bestimmten
Nervenstelle, sowie die rasche Intensitätsabnahme in irgend grösserer
Entfernung von der polarisirten Strecke, allen auf die Bestimmung
der Fortpflanzungsgeschwindigkeit gerichteten Versuchen von vorne-
herein grosse Schwierigkeiten bereitet; und speciell die galvano-
metrischen Zeitmessungen schei-
tern, wie schon Hermann her-
vorhebt (35 p. 453), auf diesem
Gebiete an der Unkenntniss des
zeitlichen Verlaufes des Elektro-
tonus in seinen allerersten Stadien.
Es können daher auch die oben
erwähnten Versuche von Bern-
stein nicht wohl als eine end-
gültige Entscheidung der schwe-
benden Frage betreffs der Fort-
pflanzung des elektrotonischen
Zustandes angesehen werden, umsomehr als ihnen Versuche gegenüber-
stehen, deren Beweiskraft bisher nicht widerlegt worden ist. Valerius
von Baranowsky und Carl G a r r e haben unter der Leitung H e r -
m an n's Versuche über die Ausbreitungsgeschwindigkeit der anelektro-
tonischen Erregbarkeitsveränderung theils nach dem schon früher be-
sprochenen Grünhagen'schen Princip, theils nach einer von Hermann
angegebenen Methode aufgestellt. Dem centralen Ende eines mit dem
Muskel in Verbindung stehenden Nerven wird ein starker aufsteigender
Strom zugeleitet, während (mittels einer Helmholtz'schen Wippe)
absolut gleichzeitig ein anderer schwächerer Kettenstrom ebenfalls in
aufsteigender Richtung als Prüfungsreiz geschlossen werden kann; hat
man sich dann überzeugt, dass der polarisirende Strom für sich nur
Oeffnungs- und keine Schliessungszuckung giebt, während der schwächere
Reizstrom bei der Schliessung sicher erregend wirkt, und vergleicht
man die Grösse dieser Schliessungszuckung ohne und mit gleichzeitiger
Schliessung des polarisirenden Stromes, so zeigte sich, dass letzteren-
falls selbst bei grossen Abständen beider Nervenstrecken der Prüfungs-
reiz unwirksam bleibt oder doch eine schwächere Schliessungszuckung
auslöst als vorher. Mit Berücksichtigung des Umstandes, dass bei
diesen Versuchen das Intervall zwischen der Schliessung beider Ströme
etwas kleiner als 0,0001 See. war, ergab sich für die Ausbreitungs-
geschwindigkeit des Anelektrotonus ein Werth, der bei dem Abstand
beider Nervenstrecken von 16,5 mm jedenfalls grösser ist als 10,000X 16,5,
Fig. 212.
Die elektromotorischeu Wirkungen der NeiTen. 683
d. h. grösser als 165 m. Bei weiteren Versuchen, welche mittels des
Hermann 'sehen Fallrheotoms nach dem von Tschirjew benützten
Princip angestellt wurden, zeigte sich mit vollster Bestimmtheit, dass
die anelektro tonische Erregbarkeitsherabsetzung an
einer 10 mm entfernten Nervenstrecke bereits im Mo-
mente der Schliessung des polarisir enden Stromes vor-
handen ist; man darf annehmen, dass dasselbe auch hinsichtlich
der katelektrotonischen Steigerung der Erregbarkeit, sowie für den
galvanischen Ausdruck des Elektrotonus gelten wird. Diesen Ver-
suchen zu Folge würde es sich hier also nicht um Veränderungen
handeln, welche sich wie die Erregung von Querschnitt zu Querschnitt
wellenartig fortpflanzen, sondern um solche, die an allen Stellen gleich-
zeitig, d. h. im Moment der Schliessung des polarisirenden Stromes, be-
ginnen. Zur Zeit ist dieser diametrale Gegensatz der Anschauungen
nicht ausgeglichen , doch wird man zugeben müssen , dass die zuletzt
erwähnten Versuche Hermann 's und seiner Schüler keinen be-
gründeten Einwand zulassen, während die Resultate der Bernstein'schen
Rheotomversuche aus schon bemerkten Gründen nicht ganz eindeutig
sein dürften.
Für die Erkenntniss der wahren Natur und des eigentlichen
Wesens der elektrotonischen Veränderungen markhaltiger Nerven sind
eine Reihe Thatsachen von grosser Bedeutung geworden, welche einer-
seits an gewissen unbelebten (todten) Leitern von besonderer Be-
schaffenheit, andererseits aber an marklosen Nerven beobachtet
worden sind. In letzterer Beziehung wurde schon oben darauf hin-
gewiesen, dass das Hervortreten des wirklich typischen, extrapolaren
Elektrotonus an gewisse Struktureigenthümlichkeiten der markhaltigen
Nervenfasern , insbesondere an das Vorhandensein und die Integrität
der Markscheide geknüpft sei. Es bleibt nun übrig, noch näher auf
die hierher gehörigen Thatsachen einzugehen. Unter den wenigen, hier
zur Verfügung stehenden Versuchsobjekten empliehlt sich neben dem
zuerst von Kühne benützten N. olfactorius des Hechtes und den leider
zu emprindlichen Scheerennerven des Krebses (Hummers) ganz besonders
die bei grossen Exemplaren unserer Ano donta-Arten sehr langen,
unverzweigten, marklosen Nervenstränge, welche zwischen den beiden
vorderen und dem hinteren Ganglion ausgespannt sind und sich vor Allem
durch eine grosse Widerstandsfähigkeit auszeichnen (B i e d e r m a n n).
In Betreff der elektromotorischen Eigenschaften dieser dünnen Nerven-
fäden, die zusammengenommen noch bei Weitem nicht die Dicke eines
Froschischiadicus erreichen, wurde schon früher bemerkt, dass ähn-
lich wie beim Hechtolfactorius der Demarcationsstrom ungewöhnlich
stark erscheint. Leitet man diesen letzteren mittels unpolarisirbarer
Elektroden zu einer empfindlichen Bussole und führt am andern
Ende des horizontal ausgespannten Nervenpaares einen Ketten ström
zu (1 — 2 Dan.), so beobachtet man, wie früher bereits beschrieben
wurde, nach Compensation des Demarcationsstromes bei jeder Schliessung
des Reizkreises eine mehr oder minder beträchtliche Ablenkung des
Magneten im Sinne einer Abnahme (negativen Schwankung) des Nerven-
stromes, deren Grösse sehr wesentlich mit von der Richtung des
polarisirenden Stromes abhängt. Sie ist ausnahmslos stärker, wenn der
letztere nach dem abgeleiteten Ende hinfliesst (3). Im Folgenden soll
diese Richtung als absteigende, die entgegengesetzte als aufsteigende
bezeichnet werden. Der Umstand, dass die Ablenkung in beiden
44*
684 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Fällen gleichsinnig, aber von verschiedener Grösse ist, sowie die Un-
abhängigkeit dieser Wirkungen von dem Abstand der abgeleiteten und
der polarisirten Nervenstrecke lassen keinen Zweifel daran aufkommen^
dass man es hier nicht oder doch nicht allein mit elektrotonischen
Erscheinungen, sondern mit einer Folgewirkung der Erregung des
Nerven durch den Strom zu thun hat. Der zeitliche Verlauf der
negativen Schwankung gestaltet sich bei absteigender und aufsteigender
Richtung des Reizstromes wesentlich verschieden. Ersterenfalls klingt
dieselbe während der Schliessungsdauer nur langsam ab , andernfalls
viel rascher. Befindet sich die polarisirte Nervenstrecke in möglichst
grosser Entfernung von der abgeleiteten, so bildet die negative
Schliessungsschwankung in der Regel den einzigen Reizerfolg bei
beiden Stromesrichtungen ; ist dagegen die Zwischensti-ecke nicht zu gross,
so schliesst sich der negativen Anfangsschwankung bei aufsteigender
Stromesrichtung regelmässig eine positive an, deren Entwicklung
und weiterer Verlauf wesentlich von dem Verhältniss ihrer Grösse zu
der der vorausgehenden negativen Schwankung abhängt; je grösser diese
ist, desto später tritt jene nach der Schliessung ein und desto lang-
samer wächst sie während der Schliessungsdauer an. Oft kann man
eine zunehmende Beschleunigung der Ablenkung, ein förmliches An-
schwellen der positiven Wirkung bis zu ihrem grössten Werthe wahr-
nehmen, worauf der Magnet in seiner neuen Gleichgewichtslage ver-
harrt, so lange der Strom geschlossen bleibt. Das Maximum der
positiven Schwankung liegt stets bei einer höheren Stromesintensität
als das der negativen Anfangswirkung. Für die Auffassung der
letzteren als einer Folgewirkung der Schliessungserregung ist es sehr
bezeichnend, dass dieselbe um so schwächer wird, je mehr die Intensität
des Reizstromes wächst und schliesslich gänzlich ausbleibt (entsprechend
der dritten Stufe des Zuckungsgesetzes). Die Schliessung bleibt dann
entweder ohne erkennbare Wirkung, wenn der Abstand der Reiz-
strecke vom abgeleiteten Nervenende zu gross ist, um eine wirkliche
positive Schwankung hervortreten zu lassen, oder es erfolgt anderenfalls
eben nur diese letztere, wobei die negative Anfangswirkung oft noch
durch ein deutliches Zögern vor Beginn der positiven Ablenkung
angedeutet sein kann. In sehr charakteristischer Weise tritt die
Verschiedenheit der Wirkung des aufsteigend und absteigend ge-
richteten Stromes auch bei der Oeffnung hervor. Nur selten kommt
es bei absteigender Oeffnung zu einer deutlichen Verstärkung der
während der Dauer bestehenden negativen Ablenkung (in Folge der
von der Anode ausgehenden Oeffnungserregung) , meist fehlt jede
deutliche Wirkung oder es tritt nur ein leises Zögern im Rückgang
des Magneten ein. Viel häufiger und regelmässiger kommt die
negative „Oeff"nungsschwankung" bei aufsteigender Stromesrichtung zur
Beobachtung.
Vergleicht man die eben mitgetheilten Thatsachen mit den oben
erwähnten Resultaten der von Bernstein am markhaltigen Frosch-
nerven mittels des Rheotoms angestellten Versuche, so lässt sich eine
gewisse Analogie kaum verkennen.
Sieht man zunächst ab von den auf „Elektrotonus" zu beziehenden
Erscheinungen, so zeigt sich in beiden Fällen eine stärkere negative
Ablenkung unmittelbar nach Schliessung des absteigend gerichteten
polarisirenden Reizstromes, die ihrem ganzen Verhalten nach unzweifel-
haft als galvanischer Ausdruck der Schliessungserregung anzusehen
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 685
ist. Dass es sich beim FroschpVäparat um eine rasch verlaufende
Schwankung, beim marklosen Muschelnerven um eine dauernde Ab-
lenkung handelt, kann nicht Wunder nehmen, wenn man sich der
schon früher hervorgehobenen Thatsache erinnert, dass auch indirecte
Erregung des Krebsmuskels durch den Kettenstrom in der Regel in
der Form des Schliessungstetanus auftritt. Schliessung eines nicht
allzu starken aufsteigenden Stromes bewirkt ferner in beiden Fällen
eine schwächere, ebenfalls negative Schwankung, die wie die erstere
auf die Schliessungserregung zu beziehen ist und nur bei starkem
Strom (der dritten Stufe des Zuckungsgesetzes entspreciiend) ausbleibt.
In einem gewissen nicht allzu grossen Abstände von der polari-
sirten Strecke sieht man in diesem Falle beim Muschelnerven im
unmittelbaren Anschluss an die negative Anfangswirkung eine während
der Schliessungsdauer langsam anschwellende positive Ablenkung sich
entwickeln, ganz wie dies nach Bernstein unter gleichen Umständen
auch für den Froschnerven gilt. Die mitgetheilte graphische Darstellung
dieses Verhaltens (Fig. 211) kann geradezu mit geringen Modificationen
auch als Ausdruck der Folgewirkungen aufsteigender Durchströmung des
Muschelnerven angesehen werden, wenn die Ableitung von Querschnitt
und Längsschnitt erfolgt und der polarisirende Strom in nicht zu
grosser Entfernung davon fliesst. In Folge des zeitlichen Unter-
schiedes im Ablauf der Erregungserscheinungen lassen sich jedoch im
einen Falle Erscheinungen, zu deren Analyse andernfalls die Anwendung
der Repetitionsmethode erforderlich ist, während einer einmaligen
Schliessung des polarisirenden Stromes in ihrem ganzen Verlaufe so
zu sagen unmittelbar erkennen. Es scheint hiernach, dass auch beim
marklosen Nerv von der Anode eines polarisirenden Stromes aus
eine mit der Entwicklung positiver Spannung verknüpfte Veränderung
sich mit abnehmender Intensität extrapolar über eine gewisse Strecke
verbreitet, deren Ausdehnung mit der Stärke des polarisirenden Stromes
zunimmt. Man wird kaum Anstand nehmen, diese zunächst nur
galvanisch nachgewiesene Veränderung dem „Anelektrotonus" mark-
haltiger Nerven gleichzustellen , wenn man die Uebereinstimniung be-
rücksichtigt, welche hinsichtlich aller wesentlichen Punkte in beiden
Fällen besteht. Um so bemerkenswerther ist daher die Thatsache,
dass eine dem (galvanischen) Katelektrotonus mark-
haltiger Nerven vergleichbare Veränderung bei dem
marklosen Muse hei nerven nicht nachweisbar ist. Dies
ergiebt sich am Klarsten aus Versuchen, wobei die ßussolelektroden
in stromloser Anordnung im Verlaufe des Nerven liegen. Bei ab-
steigender Richtung eines polarisirenden Stromes bleibt dann in der
Regel jegliche Wirkung aus; der Magnet bleibt bei und während der
Schliessung des Reizkreises vollkommen ruhig, und dies ist selbst
dann der Fall, wenn die Entfernung der Bussolstrecke
von der Reiz strecke nur wenige Millimeter beträgt. Dies
beweist zugleich, dass von einer Ausbreitung des ])olarisirenden
Stromes über die unmittelbar durchflossene Strecke hinaus durch
Bildung von Stromschleifen ' irgend welcher Art bei dem in Rede
stehenden Präparat von vorneherein nicht die Rede sein kann. Von
•diesem Gesichtspunkt aus sind nun die unter gleichen Umständen zu
beobachtenden Folgeerscheinungen bei und während der Schliessung
eines aufsteigend gerichteten Stromes nur um so mehr geeignet, die
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Rückt man die Bussolelektroden
536 I^i^ elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
bei unverändertem gegenseitigen Abstand der Anode des polarisirenden
Stromes immer näher, so beobachtet man stets zunehmende Ab-
lenkungen im Sinne eines rasch wachsenden Anelektrotonus, der noch
in verhältnissmässig beträchtlicher Entfernung von der Anode sehr
bedeutende Werthe erreichen kann.
Die Stärke der in Rede stehenden positiven Wirkungen des auf-
steigenden Stromes hängt nicht allein von der Intensität desselben,
sondern sehr wesentlich auch von dem Erregbarkeitszustande des be-
nützten Präparates ab. Immer sind die betreffenden Erscheinungen
um so deutlicher und stärker, je lebensfrischer der Nerv ist.
Bei einer gegebenen Lage der Bussolelektroden lässt sich durch
Verstärkung des aufsteigenden Stromes die Grösse der positiven Ab-
lenkungen nur innerhalb verhältnissmässig enger Grenzen verändern,
und besteht auch nicht annähernd eine Proportionalität
zwischen beiden. Ich fand die Wirkungen in der Regel schon bei
Anwendung des vollen Stromes von zwei Daniell' sehen Elementen
nahezu maximal und erreichte nur eine unwesentliche Zunahme der
Ablenkung durch weitere Steigerung der Stromstärke. Dies gilt eben-
sowohl für die in der Nähe der Reizstrecke zu beobachtenden starken
Wirkungen, wie auch für die schwächereu und schwächsten in grösserer
Entfernung. Weil die Entwicklung der den gleich gerichteten Zuwachs-
strömen unterhalb des aufsteigenden Reizstromes zu Grunde liegenden
Veränderungen des Nerven eine unverhältnissmässig längere Zeit für
sich in Anspruch nehmen, als die Entstehung und Fortpflanzung der
Erregung, so erscheint auch die Schliessungsdauer des Kettenstromes
für die betreffenden positiven Wirkungen von wesentlicher Bedeutung.
Immer sieht man entweder unmittelbar nach Schliessung des auf-
steigenden Stromes oder nach Ablauf der negativen Schwankung das
Scalenbild den Nullpunkt in positiver Richtung überschreiten und
Anfangs langsam, dann rascher dem Grenzwerth der Ablenkung zu-
streben, den es in der Regel erst nach einer Schliessungsdauer von
5 — 6 Secunden erreicht. Je mehr man sich mit den Bussolelektroden
der Reizstrecke nähert, je grösser demnach die positiven W^irkungen
werden, desto deutlicher tritt auch dieses allmähliche Anschwellen des
dem Reizstrom gleich gerichteten Zuwachsstromes hervor, dessen Stärke
während der ferneren Schliessungsdauer nahezu constant bleibt. Ist
die Schwankung, wie in der Regel bei Ableitung vom Querschnitts-
ende des Nerven, eine doppelsinnige, erst negative, dann positive, so
überwiegt bei beträchtlicher Länge der Zwischenstrecke und An-
wendung eines mittelstarken aufsteigenden Stromes fast immer die
erstere, und es bedarf dann bei dem langsamen Abklingen derselben
einer M^esentlich längeren Schliessungszeit, um die allmählich hervor-
tretende schwache positive Wirkung überhaupt zu erkennen, als im
Verlaufe des Nerven bei geringerem Abstand der Bussol- und Reiz-
strecke, wo die positive Wirkung die negative an Grösse in der Regel
weit übertrifft, beziehungsweise allein hervortritt. Um daher mit
grösserer Sicherheit festzustellen, bis zu welcher Entfernung von der
Anode sich die Wirkung derselben erstreckt, erscheint es zweckmässig,
die störenden negativen Ablenkungen gänzlich auszuschliessen, indem
man entweder von vorneherein sehr starke Ströme benützt oder den
obersten Theil der Reizstrecke abtödtet und so die von der Kathode
ausgehende Schliessungserregung unmöglich macht. In jedem solchen
Falle beobachtet man dann sowohl bei Querschnittsableitung wie auch
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 687
im ganzen Verlauf des Nerven immer nur einsinnig- positive Ab-
lenkungen, oder es fehlt bei Ueberschreitung der Grenze, bis zu
welcher sieh die von der Anode ausgehende Veränderung erstreckt,
überhaupt jede merkliche Wirkung auf das Galvanometer bei Schliessung
und während der Dauer eines aufsteigenden Stromes. Die rasche
Zunahme der Wirkungen bei Annäherung der Bussolelektroden an
die Reizstrecke lässt sich so mit besonderer Deutlichkeit nach-
weisen.
Was nun die Deutung dieser elektromotorischen Wirkungen
unterhalb der Anode des aufsteigenden Stromes betrifft, so kann, da
eine irgendwie vermittelte Ausbreitung des polarisirenden Stromes zur
Seite der Kathode nicht nachweisbar ist, eine solche füglich wohl auch
auf Seite der Anode nicht angenommen werden, und müssen dann
die unter dem Einfluss des Stromes sich entwickelnden
Spannung sdi ff er enzen im Verlaufe des Nerven durch
eine physiologische Zustand sän derung desselben be-
dingt sein, welche sich unabhängig von einer etwaigen
Ausbreitung des Stromes selbst, von der Anode aus
fortpflanzt. Dies muss mit einem sehr starken Decrement erfolgen,
denn nur unter dieser Voraussetzung ist es erklärlich, dass in grösserer
Entfernung von der Anode unter Umständen nur Spuren positiver
Wirkungen hervortreten, während im Verlaufe unter sonst gleichen
Versuchsbedingungen sehr starke Ablenkungen beobachtet werden.
Aber nicht nur in dieser Beziehnung unterscheidet sich die positive,
von der Anode ausgehende Veränderung des Nerven von der an der
Kathode ausgelösten Erregung, welche sich mit nur geringem Decre-
ment und wahrscheinlich auch viel grösserer Geschwindigkeit fort-
pflanzt, sondern auch dadurch, dass jene während der Schliessungs-
dauer des Stromes in fast unverminderter Stärke bestehen bleibt
oder sogar noch zunimmt und erst bei der Oeffnung des Reizkreises
rasch schwindet.
Aehnlich wie Anodonta -Nerven scheinen sich nach neueren
Untersuchungen von v. U e x k ü 1 1 auch jene von Cephalopoden
(Eledone moschata) zu verhalten, wenigstens insofern , als auch
bei ihnen ein irgend erheblicher (physikalischer) Elektrotonus nicht
nachweisbar ist (37).
Es ist mir in der Folge gelungen, auch an mark halt igen
Froschnerven unter gewissen Bedingungen Erscheinungen zu be-
obachten, welche den eben geschilderten an marklosen Nerven voll-
kommen analog sind (38). Es betrifft dies insbesondere die elektro-
motorischen Veränderungen der ersteren unter dem Einfluss des
Constanten Stromes in möglichster Entfernung von der Reizstrecke
und bei Anwendung der schwächsten Ströme. Für gewöhnlich be-
obachtet man unter diesen Umständen bei einmaliger Schliessung eines
auf- oder absteigenden Stromes und Ableitung vom Querschnittsende
höchstens spurweise Wirkungen im Sinne einer negativen Schwankung
des Demarcationsstromes. Handelt es sich aber im gegebenen Falle
um ein Präparat von einem Kaltfrosch, dessen Nerven erfahrungs-
gemäss oft schon bei Reizung mit den schwächsten Strömen tetanisch
reagiren, legt man die Bussolelektroden bei geringem gegenseitigen
Abstände an das eine, die Reizelektroden, möglichst davon entfernt,
an das andere Ende des Nerven und bedient man sich eines recht
schwachen absteigenden Kettenstromes zur Reizung, so sind damit die
688 Die el^ktromotoi-ischen Wirkuugen der Nei-veu.
Bedingungen für das Auftreten elektrotonischer Wirkungen im ge-
wöhnlichen Sinne die ungünstigsten, und eine unter solchen Umständen
beobachtete negative Schwankung des Nervenstromes wird mit Wahr-
scheinlichkeit auf die von der Kathode aus fortgeleitete Dauererregung
bezogen werden dürfen. Es kommen aber noch einige andere Um-
stände hinzu, die für die Beurtheilung von grosser Bedeutung sind.
Zunächst zeigt sich die Grösse der anfänglichen Ablenkung sowohl
von der Stärke des Reizstromes wie auch innerhalb gewisser Grenzen
von der Länge der Zwischenstrecke unabhängig. Das Maximum der
Wirkung tritt in der Regel schon bei sehr schwachen Strömen hervor,
und es ist dann durchaus gleichgiltig, ob man einen geringen Bruch-
theil des Stromes von einem einzigen Elemente oder den vollen Strom
mehrerer Elemente zur Reizung verwendet, ja es wird letzterenfalls
die Wirkung oft geringer als bei schwächeren Strömen. Ebensowenig
lässt sich bei gleich bleibender Stromesintensität durch Annäherung der
Reizelektroden an die Bussolstrecke eine verstärkte Wirkung erzielen,
wenn man hierbei eine bestimmte Grenze nicht überschreitet. Wird
dagegen die Zwischenstrecke durch allmähliches Abrücken der Bussol-
elektroden vom Querschnittsende des Nerven bei unveränderter Lage
des Reizelektroden verkürzt, so beobachtet man Anfangs regelmässig
eine Abnahme der negativen Schhessungsschwankung bei ab-
steigender Stromesrichtung, die unter Umständen bis zum völligen
Verschwinden derselben gehen kann. (Vergl. die folgende Tabelle I.)
Nähert man jedoch die Bussolelektroden der Kathode über ein
gewisses Maass, so treten neuerdings gleichsinnige (negative) Ab-
lenkungen hervor, welche sich sowohl hinsichtlich ihres Verhaltens
während der Schliessungsdauer, als auch in ihrer Stärke ganz wesent-
lich von den ersterwähnten unterscheiden und in jeder Beziehung die-
jenigen Eigenschaften erkennen lassen , welche allgemein als Kenn-
zeichen der elektrotonischen Zuwachsströme gelten. So in erster Linie
die Abhängigkeit von der Stärke des Reizstromes und die ausser-
ordentlich rasche Zunahme der Wirkungen bei weiterer Annäherung
an die Reizstrecke. Während der Schliessungsdauer des Reizkreises
bleiben die betreffenden Ablenkungen entweder constant, oder es erfolgt
eine geringe, aber nie bis zum Verschwinden der Wirkung gehende
Verminderung derselben.
Als Beispiel für das eben geschilderte Verhalten möge die neben-
stehende Versuchsreihe dienen. Es wurden dabei beide N. ischiadici
eines sehr empfindlichen Kaltfrosches {R. esculenta) gleichzeitig am
centralen Ende gereizt. Mit NS ist die Grösse der durch den Demar-
cationsstrom bewirkten Ablenkung, mit RW der eingeschaltete
Rheochordwiderstand, mit ZS die Länge der Zwischenstrecke und
mit SFi die Stromesrichtung bezeichnet. Das Zeichen > bedeutet
die während der Schliessungsdauer eintretende Abnahme der Ab-
lenkung.
Viel stärkere negative Ablenkungen sowohl bei absteigender wie
bei aufsteigender Schliessung habe ich unter sonst gleichen Umständen
in mehreren Fällen an Nerven von Kaltfröschen beobachtet, welche
vor der Untersuchung 12 bis 24 Stunden nebst den zugehörigen ent-
häuteten Unterschenkeln bei Zimmertemperatur in 0,6^ u Kochsalz-
lösung aufbewahrt worden waren.
Die durch Verdunstung allmählich zunehmende Concentration der
Salzlösung scheint hier die von vorneherein vorhandene Neiffuns: der
Die elektromotorischen Wirkungen der Nervi
I.
689
1 Daniell
ZS
SS
Grösse der Ablenkung
Bemerkungen
NS
Schliessung
Oeffliung
130 sc
SW =10 cm
40 mm
— 9> — 2
- 1+ 6
+2
-3
Der Nerv wurde zu-
nächst mit Quer- und
Längsschnitt auf die
Bussolelektroden ge-
-6> -2
+4
legt.
55
30
+10 > +4
2
Die Grösse der Bus-
sol- und Reizstrecke
betrug je 10 mm.
— 1
+3
Die ZS wird allmäh-
20
22
+16
-3
lich durch Annäherung
der beiden Bussolelek-
troden an die Reiz-
20
"
19
0
+25
+2
-4
strecke verkürzt.
35
11
-17
+40
+3
—7
100
40
-6
+ 3
+2
—2
Nerven zu tetanischer Erregung bei Reizung mit dem Kettenstrom
noch wesentlich zu steigern, wie sich aus der Beobachtung der an-
hängenden Muskehl unmittelbar ergiebt, indem dieselben sowohl bei
Schliessung des absteigenden, wie auch bei Schliessung des auf-
steigenden Stromes in mächtigen, lang anhaltenden Tetanus geriethen.
Dem entsprechend sind auch die Wirkungen am Gralvanometer unter
denselben Verhältnissen wie früher sehr viel stärker, und negative
Ablenkungen von 15 bis 20 sc bei absteigender, von 4 bis 7 sc bei
aufsteigender Schliessung sind dann nicht selten zu beobachten, wenn
vom (unteren) Querschnittsende eines solchen Nervenpaares abgeleitet
wird. Die Abnahme der betreffenden Wirkungen bei Verkürzung der
Zwischenstrecke durch Abrücken der Bussolelektroden vom Querschnitt
ist dann nur um so auffallender.
Wenn, wie die eben erwähnten Thatsachen beweisen, Ablenkungen,
welche hinsichtlich ihrer Richtung den katelektrotouischen entsprechen,
in grösserer Entfernung von der Kathode nur in dem Falle merklich
werden, wenn zwischen den beiden Ableitungsstellen von vorneherein
eine Spannungsdifferenz besteht, so durfte man bei unversehrten, strom-
losen Froschnerven in möglichster Entfernung von der Reizstrecke ein
Verhalten der an- und katelektrotouischen Wirkungen erwarten, welches
den elektrotonischen Erscheinungen innerhalb der ganzen extrapolaren
Strecke des marklosen Muskelnerven im Wesentlichen entspricht und
vor Allem durch das Fehlen zweifelloser katelektrotonischer Wirkungen
charakterisirt erscheint.
ßQQ Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Präparirt man den Nervus ischiadicus eines Kaltfrosches in Zu-
sammenhang mit dem zugehörigen Unterschenkel und leitet bei
gleicher Lage der Reizelektroden wie früher (am centralen Ende)
zunächst von zwei dem Muskel möglichst nahe gelegenen Stellen des
Nerven ab, so bleibt, wenn keine erhebliche SpannungsdifFerenz be-
steht, die Schliessung eines absteigend gerichteten Stromes selbst
dann ohne merklichen Erfolg, wenn dessen Intensität sehr beträcht-
lich ist. Dies ist auch dann noch der Fall, wenn die Zwischenstrecke
durch Hinaufrücken der Bussolelektroden bis in die Nähe der Ab-
zweigung der für die Oberschenkelmuskeln bestimmten Nervenäste
verkürzt wird.
Dabei ist allerdings immer vorausgesetzt, dass irgend erhebliche
SpannungsdifFerenzen innerhalb der unverzweigten Nervenstrecke
nicht vorhanden sind. Sinkt der Abstand der Bussol- und Reizstrecke
unter ein gewisses Maass herab, so treten natürlich hier, wie immer
an markhaltigen Nerven, katelektrotonische Wirkungen hervor, die
bei Verkürzung der Zwischenstrecke rasch an Grösse zunehmen und
ausserdem wesentlich von der Stromstärke abhängen. Auf das Ver-
halten der anelektrotonischen Erscheinungen an unversehrten Nerven
komme ich unten noch zurück und will hier nur erwähnen, dass die-
selben stets schon in grösster Entfernung von der (aufsteigend durch-
strömten) Reizstrecke nachweisbar sind und bei Verkürzung der
Zwischenstrecke stetig wachsen.
Als Beispiele mögen nebenstehende zwei Versuchsreihen II und III
dienen, die sich auf höchst erregbare Präparate von B. esculenta be-
ziehen. Die Bezeichnungen sind dieselben wie in der früheren Tabelle.
Berücksichtigt man vorerst nur die elektromotorischen Verände-
rungen zur Seite der Kathode, so scheint es demnach, dass die extra-
polare Nervenstrecke bei genügender Länge in zwei Abschnitte zerfällt,
innerhalb deren die bei und während der Schliessungsdauer eines Ketten-
stromes zu beobachtenden elektromotorischen Wirkungen ungeachtet
ihrer Gleichsinnigkeit doch wesentlich verschiedenen Ursachen ihre
Entstehung verdanken.
In grösster Entfernung von dem wirksamen Pole treten deutlich
ausgeprägte Wirkungen im Sinne des Katelektrotonus nur bei vor-
handenem Ruhestrom, und zwar besonders an Nerven hervor, welche
zu tetanischer Erregung neigen. Entsprechend der Abnahme der
Spannungsdifferenz bei Abrücken der Bussolelektroden vom Querschnitt
nehmen auch diese Wirkungen ungeachtet der Verkürzung der Zwischen-
strecke ab, während in der Nähe der Reizstrecke unter allen Umständen
und ganz unabhängig von dem Erregbarkeitszuslande
des Präparates oder einem etwa vorhandenen Ruhestrom
viel stärkere, aber gleichsinnige elektromotorische Veränderungen unter
dem Einflüsse des Stromes hervortreten, Avelche bei weiterer Verkür-
zung der Zwischenstrecke rasch wachsen. Die weitgehende Unab-
hängigkeit jener erstgenannten schwächeren Wirkungen von der Stärke
des Stromes (sie nehmen unter Umständen sogar an Grösse ab, wenn
die Stromesintensität Avächst), sowie von der Länge der Zwischen strecke
lässt es kaum zweifelhaft erscheinen, dass es sich hier nicht um ge-
wöhnlichen Elektrotonus , sondern um Folgewirkungen der Erregung
handelt.
Das Verhalten des marklosen Muschelnerven, bei
dem wirklicher Katelektrotonus vollständig zu fehlen
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
691
II.
Rana esculenta (Kaltfrosch). Nerv mit anhängendem Schenkel.
Grösse der Ablenkung
NS
Stromstärke
ZS
SE
Bemerkiuagen
Schliessung
Oefihung
0
1 Dan.
28 mm
0
+ 6>2
0
-2
Es wurde zunächst
möglichst nahe der
Eintrittsstelle des Ner-
ven in den Muskel ab-
»
2 Dan.
28
0
+ 4>2
0
0
—1
0
geleitet.
Die Grösse der Bus-
sol- und Reizstrecke
beträgt je 10 mm.
Die ZS wird durch An-
3 Dan.
2b
■
+ 3>0
Spur—
0
0
näherung der beiden
Bussolelektroden an
die Reizstrecke ver-
kürzt. Bei jeder ab-
"
1 Dan.
19
+ 12>8
-3
steigenden Schliessung
heftiger Tetanus des
Schenkels.
"
2 Dan.
19
t
— 1
+12
0
-2
"
2 Dan.
15
- 2
+21
0
—2
III.
R. temporar ia (Kaltfrosch). Ischiadicus mit anhängendem
Schenkel.
NS
Stromstärke
ZS
SJi
Grösse der Ablenkung
Bemerkungen
Schliessung
Oeiifnung
0
4 sc
0
10 sc
2 Dan.
32
25
17
11
I
0
+ 6>2
- 1
+11>3
2
+20>8
-13
+34
0
-1
0
-1
0
-2
0
-4
Versuchsanordnung
wie im vorigen Ver-
suche.
g92 I^iß elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
scheint, würde daher unter gleichen Verhältnissen nur
dem von der Reizstrecke möglichst entfernten Ab-
schnitt markhaltiger Nerven zu vergleichen sein.
Untersucht man die elektromotorischen Veränderungen mark-
haltiger Nerven unterhalb eines aufsteigend gerichteten Stromes, so
ergeben sich im Vergleich zu den entsprechenden Wirkungen auf
Seite der Kathode, abgesehen von der entgegengesetzten Richtung der
Ablenkungen am Galvanometer, in mehrfacher Hmsicht wesentliche
Unterschiede.
Leitet man vom peripheren, mit künstlichem Querschnitt ver-
sehenen Ende eines empfindlichen Kaltnerven ab (man nimmt zweck-
mässig beide zusammengelegten Ischiadici) und setzt das centrale
Schnittende der Wirkung eines schwachen, aufsteigenden Stromes aus
(l Dan., RW = 10 — 20 cm), so sieht man ausnahmslos bei Schliessung
des Reizkreises eine positive Schwankung des (compensirten) Ruhe-
stromes erfolgen (vergl. Tabelle I); sie betrugen bei meinen Ver-
suchen durchschnittlich 5—15 Scalentheile und übertrafen in der
Mehrzahl der Fälle die unter gleichen Umständen zu erzielenden
Wirkungen des absteigenden Stromes. Sie sind, was besonders her-
vorgehoben werden muss, durchaus unabhängig von dem Vorhanden-
sein oder Fehlen eines Demarcationsstromes und treten daher in fast
gleicher Stärke auch an gänzlich unversehrten, stromlosen Nerven
hervor (Tabelle II und III). Als Unterschied ist nur das Hinzutreten
eines meist nur wenig ausgeprägten negativen Vorschlages im ersteren
Falle zu erwähnen, der oft nur durch ein etwas verzögertes Eintreten
der positiven Ablenkung angedeutet ist. Nur in seltenen Fällen
(wenn der aufsteigende Strom einen starken Schliessungstetanus be-
wirkt) entspricht dem negativen Vorschlag eine Ablenkung von mehr
als 1 — 2 Scalentheilen. Die positive Wirkung erreicht rasch ihren
grössten Werth, u m d a n n s o f o r t wie d er abzunehmen (bisweilen
bis auf Null).
Bei Oeffnung des Reizkreises erfolgt in der Regel eine in ihrer
Grösse wesentlich von der Dauer der vorhergehenden Durchströmung
abhängige negative Ablenkung, die langsam abklingt.
Nähert man die Bussolelektroden bei unverändertem gegenseitigen
Abstand der Reizstrecke und verkürzt auf diese Weise die Zwischen-
strecke, so nehmen unabhängig von einer etwa vorhandenen Spannungs-
differenz die durch Schliessung des aufsteigenden Stromes zu erzielenden
positiven Ablenkungen stetig sehr rasch an Grösse zu und übertreffen
die bei gleicher Lage der ableitenden Elektroden durch Schliessung
des absteigenden Stromes bewirkte negative Schwankung bald um ein
Vielfaches.
Der bei Querschnittsableitung meist vorhandene oder doch an-
gedeutete negative Vorschlag fehlt fast immer im Verlaufe des Nerven,
so dass hier nur einsinnig positive Ablenkungen erfolgen, deren Grösse
während der Schliessungsdauer um so weniger abnimmt, je geringer
der Abstand zwischen Bussol- und Reizstrecke ist. In der Nähe der
Anode beobachtet man sogar in der Regel ein Anwachsen derselben,
während der Strom geschlossen bleibt. Meist erfolgt nach der Oeffnung
des Reizkreises auch im Verlaufe des Nerven ein gegensinniger negativer
Ausschlag von mehr oder minder beträchtlicher Grösse. Dies muss
wenigstens als Regel gelten in der Nähe der Reizstrecke. In grösserer
Entfernung von derselben scheint dagegen das Auftreten oder Fehlen
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 693
einer negativen OefFnungswirkung in ähnlicher Weise wie die negative
Schliessimgswirkung zur Seite der Kathode wesentlich von dem Vor-
handensein einer Spannlingsdifferenz zwischen den beiden Ableitungs-
punkten mitbedingt zu sein. Die mitgetheilten Versuchstabellen
enthalten die Belege für Alles, was soeben bezüglich der galvanischen
Veränderungen der extrapolaren Nervenstrecke zur Seite der Anode
bemerkt wurde.
Was nun die Deutung der betreffenden Thatsachen betrifft, so
dürfte dieselbe, soweit es sich um die negativen Wirkungen unmittel-
bar bei der Schliessung und nach Oeffnung des aufsteigenden Stromes
handelt, kaum zweifelhaft sein. Die Uebereinstimmung mit den ent-
sprechenden Erscheinungen am marklosen Muschelnerven ist hier eine
so auffallende, dass die gleiche Auffassung derselben als Folgen der
Schliessungs- , beziehungsweise Oeflfnimgserregung unmittelbar nahe-
gelegt wird. Das häufige Fehlen des negativen Vorschlages bei auf-
steigender Reizung des markhaltigen Nerven und die geringe Grösse
desselben im Falle seines Vorhandenseins kann nicht überraschen,
wenn man berücksichtigt, dass die betreffende Wirkung einerseits ab-
hängt von einem bestimmten, nicht immer in gleichem Grade vor-
handenen Erregbarkeitszustand des Kaltnerven , und dass anderseits
ein kräftig entwickelter Schliessungstetanus bei aufsteigender Stromes-
richtung unter den gegebenen Versuchsbedingungen überhaupt zu den
Ausnahmen gehört; dazu kommt noch, dass die nachfolgende, viel
stärkere positive Wirkung der Entwicklung der gegensinnigen Anfangs-
wirkung alsbald ein Ziel setzt. Es ist daher auch selbstverständlich,
dass die letztere bei dem Abrücken der Bussolelektroden von dem
Querschnittsende des Nerven, wobei die wesentlichen Bedingungen
ihres Hervortretens immer ungünstiger werden, sehr bald verschwindet
oder nur angedeutet erscheint. Ich brauche endlich kaum noch
hervorzuheben, dass man in jedem Falle durch Anwendung starker
aufsteigender Kettenströme den negativen Vorschlag ebenso Avie die
Fortpflanzung der Schliessungserregung zu verhindern vermag und
dass derselbe auch bei stromloser Ableitung im Verlaufe unversehrter
Nerven, sowie unter allen Umständen an Präparaten von Warm-
fröschen fehlt.
Wie schon erwähnt wurde, hat bereits Engelmann gezeigt, dass
der Demarcationsstrom des markhaltigen Froschnerven bei Oeffnung
eines Kettenstromes eine deutliche negative Schwankung erfährt, wenn
die Reizung unter Bedingungen erfolgt, bei welchen eine tetanische
Oeffnungserregung zu erwarten steht.
Als solche sind einerseits hinreichende Stärke und Schliessungs-
dauer des aufsteigenden Reizstromes, dann aber vor Allem die mehr-
fach erwähnte Disposition des Nerven zu dauernder Erregung zu
bezeichnen.
Unter günstigen Umständen steht die negative Oeffnungswirkung
bei Ableitung vom Querschnittsende des Nerven der negativen
Schliessungswirkung bei absteigender Reizung an Grösse nicht nach.
Hinsichtlich der Natur der positiven, anelektrotonischen Schliessungs-
wirkungen lässt sich auf Grund der mitgetheilten Versuchsergebnisse
ein sicherer Schluss nicht ableiten, denn dieselben zeigen längs der
ganzen extrapolaren anodischen Nervenstrecke im Wesentlichen ein
gleichartiges Verhalten, wie an dem marklosen Muschelnerven, wenn
man es nicht etwa als einen Unterschied gelten lassen will, dass sie
594 I^iß elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
sich im ersteren Falle stets noch bei schwächeren Strömen und in vnel
grösserer Entfernung von der durchflossenen Nervenstrecke nachweisen
lassen als hier. Da nun, wie gezeigt wurde, die anelektrotonischen
Veränderungen des marklosen Nerven kaum anders als durch eine
von der Anode aus fortgepflanzte physiologische Zustands-
änderung desselben erklärt werden können, so wird es allerdings in
hohem Grade wahrscheinlich gemacht, dass ein derartiger Vorgang
auch bei Durchströmung markhaltiger Nerven zur Seite der Anode
Platz greift", andererseits aber legt im letzteren Falle das Vorkommen
eines mit den zweifellos durch Leitung fortgepflanzten Veränderungen
gleichsinnigen, extrapolaren Katelektrotonus die Vermuthung nahe, dass
auch der galvanische Anelektrotonus markhaltiger Nerven so zu sagen
aus zwei Componenten resultirt, einer, wie beim marklosen Nerven,
von der Anode aus fortgeleiteten physiologischen ZuStands-
änderung und einer nur dem markhaltigen Nerv eigenthümlichen, dem
eigentlichen Katelektrotonus desselben entsprechenden galvanischen
Veränderung, deren rein physikalische Entstehung noch zu er-
örtern bleibt. Man würde dann voraussetzen dürfen, dass in grösster
Entfernung von der Reizstrecke die Wirkungen des „physiolo-
gischen Anelektrotonus" rein hervortreten, während sich in
der Nähe der Anode andere, durch eine eigenthümliche Ausbreitung
des polarisirenden Stromes bewirkte, allerdings gleichsinnige, örtliche
Veränderungen des Nerven hinzugesellen. Für ein derartiges Ver-
halten scheint übrigens auch schon der Umstand zu sprechen, dass die
anelektrotonischen Wirkungen den katelektrotonischen, wie schon er-
wähnt, immer sehr bedeutend an Stärke und Ausbreitung überlegen
sind; eine Thatsache, welche sich mit Rücksicht auf die bei marklosen
Nerven obwaltenden Verhältnisse leicht erklären würde. Immerhin
scheint es erwünscht, noch weitere Anhaltspunkte und womöglich
Beweise für eine derartige Unterscheidung eines physikalischen
und physiologischen Elektro tonus zu gewinnen. Eine Aus-
sicht hierzu schien sich durch Versuche an mit Aether oder Chloro-
form narkotisirten markhaltigen Nerven zu ergeben, bei welchen
alle durch Leitung fortgepflanzten Veränderungen
sicher ausgeschlossen erscheinen.
Bei derartigen Versuchen, bezüglich deren Methodik auf meine oben
citirte Abhandlung (38) verwiesen werden darf, stellte sich nun heraus,
dass schon kurze Zeit nach Beginn der A e t h e r w i r k u n g
(etwa nach 5 — 10 Min.) alle sonst in grösser er Entfernung
von der durchflossenen Strecke zu beobachtenden elek-
tromotorischen Veränderungen des Nerven wegfallen.
Dies gilt sowohl hinsichtlich der oben erwähnten negativen Schwankung
bei Schliessung eines absteigend gerichteten Kettenstromes, wie auch
bezüglich der positiven Wirkungen bei aufsteigender Reizung. Zur
selben Zeit bleibt auch die gewöhnliche negative Schwankung bei
tetanisirender Reizung der Nerven aus, was beweist, dass das Leitungs-
vermögen wirklich aufgehoben ist (zugleich ein weiterer Einwand gegen
die früher besprochene Auffassung der negativen Schwankung von
Boruttau). Da gleichzeitig die physikalische und chemische Be-
schafi'enheit des Nerven durch die Aetherbehandlung nicht wesentlich
alterirt sein kann, wofür einerseits das vollkommene Gleichbleiben der
Spannungsdifi'erenz zwischen Quer- und Längsschnitt, andererseits aber
auch die Möglichkeit rascher Wiederherstellung aller normalen Lebens-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nei'ven. (395
eigen Schäften des Nerven nach Aufhören der Narkose spricht, so wird
schon hierdurch die erwähnte Doppelnatur des Elektrotonus wahr-
scheinlich gemacht; denn es erscheint derselbe dann nicht
allein abhängig von dem Erhaltensein der normalen
Struktur Verhältnisse des Nerven, sondern auch wesent-
lich von dessen Leitungsvermögen.
Es lässt sich nun aber ausserdem stets zeigen, dass zu einer Zeit,
wo während der Aethernarkose keine Spur elektrotonischer Wirkungen
in grösserer Entfernung von der Reizstrecke nachgewiesen werden
kann, in der Nähe derselben starke und gesetzmässige Elektrotonus-
ströme vorhanden sind, deren Verhalten bei länger fortgesetztem
Aetherisiren von grossem Interesse ist.
Bekanntlich lässt sich unter normalen Verhältnissen ausnahmslos
eine sehr beträchtliche Verschiedenheit in der Stärke der zur Seite
der Anode und Kathode hervortretenden elektromotorischen Wirkungen
nachweisen, was insbesondere bei Anwendung schwacher und mittel-
starker Kettenströme überaus deutlich ist. Daher kommt es, dass in
einiger Entfernung von der Reizstrecke Ablenkungen im Sinne des
Katelektrotonus oft gänzlich fehlen oder nur spurweise auftreten,
während nach Wendung des Stromes unter sonst ganz gleichen Ver-
hältnissen Anelektrotonus in sehr beträchtlicher Stärke vorhanden sein
kann. Aber auch in der Nähe der Reizstrecke ist der Grössenunter-
schied der kat- und anelektrotonischen Ablenkungen immer sehr be-
deutend und beträgt oft mehr als das Doppelte.
Dies ändert sich nun aber vollkommen unter dem Einfluss der
fortschreitenden Aetherwirkung und zwar derart, dass die anelek-
trotonischen Ablenkungen bei stets gleicher Reizung
rasch an Grösse abnehmen, während die Wirkungen des
Katelektrotonus zunächst ganz unverändert bleiben
oder sogar an Stärke etwas zunehmen. Es tritt dann in
der Folge immer ein Zeitpunkt ein, wo die kat- und
anelektrotonischen Ablenkungen sowohl hinsichtlich
ihrer Grösse wie auch bezüglich ihres zeitlichen Ver-
laufes vollkommen gleich sind und, wie schon hier be-
merkt sei, es dann auch bei jeder beliebigen Stromes-
intensität bleiben. Dabei ist hervorzuheben, dass die Zunahme
der Ablenkungen bei wachsender Stromstärke in späteren Stadien der
Aethernarkose nahezu proportional erfolgt. Setzt man die Narkose
genügend lange fort, so werden schliesslich, wie es ja von vorneherein
erwartet werden musste, auch die katelektrotonischen Wirkungen be-
einflusst, allein die mit der Zeit zunehmende Verminderung der be-
treffenden Ablenkungen hält dann durchaus gleichen Schritt mit der
gleichzeitigen Abnahme des Anelektrotonus.
Unterbricht man die Aetherwirkung erst zu einer Zeit, wo bereits
jeder merkliche elektrotonische Reizerfolg verschwunden ist, so tritt
niemals eine Wiederherstellung der normalen Lebenseigenschaften des
Nerven ein; derselbe ist dann, Avie sich sowohl durch die physio-
logische, wie auch durch die anatomische Untersuchung herausstellt,
als abgestorben zu betrachten, indem die Markscheide der einzelnen
Fasern jene bekannten Zerklüftungen zeigt, welche für todte Nerven
so charakteristisch sind. Wird dagegen das Präparat schon früher,
unmittelbar nach erreichter Gleichheit der gegensinnigen, elektro-
tonischen Ablenkungen, der Einwirkung des Aethers entzogen und in
696
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
eine geräumige, feuchte Kammer gebracht, so tritt alsbald Erholung
ein, die sich zunächst durch ein rasches Zunehmen der Grösse
der anelektrotonischen Ablenkungen bei völligem
Gleichbleiben der Wirkungen des Katelektrotonus
äussert. Unter günstigen Umständen erfolgt an lebenskräftigen
Präparaten nach vorsichtig durchgeführter Narkose eine vollständige
Wiederherstellung der normalen Eigenschaften, insbesondere auch des
Leitungsvermögens des Nerven ; in anderen Fällen bleibt dagegen eine
merkliche Schädigung zurück, die z. B, an Präparaten von Kaltfröschen
sich dadurch äussert, dass die oben erwähnte negative Schwankung
des Nervenstromes als galvanischer Ausdruck der Schliessungs- oder
Oeffnungsdauererregung nach Beendigung der Narkose sehr oft nicht
wieder hervortritt, so dass sich der Nerv dann ganz ebenso wie ein von
einem Warmfrosch stammendes Präparat verhält. Auch lässt sich nicht
selten eine deutliche und bleibende Verminderung der negativen Schwan-
kung bei tetanisirender Reizung mit Inductionsströmen nachweisen.
Als Belege für die vorstehend mitgetheilten Thatsachen mögen
die in beistehender Tabelle enthaltenen Zahlenangaben dienen, welche
sich auf Ablenkungen beziehen, die unter gleichen Verhältnissen, wie
bei den früher mitgetheilten Versuchsreihen beobachtet wurden. NS
bedeutet die Stärke des Nervenstromes, E die Zahl der (Daniel l'schen)
Elemente, ZS die Grösse der Zwischenstrecke, SR die Stromesrichtung.
IfS
E
ZS
SE
Ablenkung
Bemerkungen.
Schlies-
Oeff-
sung.
niing.
0
1
10 mm
—25
+3
ei
o
a,
E
»
2
3
»
+46
-48
+73
-60
—5
+2
—6
+2
Vor Beginn der Narcose ; die Grösse
der Bussol-, Beiz- und Zwischen-
strecke betrug je 10 mm. Die
' Bussolelektroden lagen in der Con-
tinuität des Nerven, die Eeizelek-
troden am centralen Ende.
ei
n
jj
+96
—7
a
n
1
»
-30
+30
0
0
11
:
2
3
»
-53
+54
-66
+68
0
0
0
0
\ nach 12 Minuten dauernder Aether-
einwirkung.
ä3
"
1
;j
-24
+24
0
0
^
'^
"
2
3
))
—40
+41
-60
0
0
0
nach weiteren 10 Minuten.
n
!J
+60
0
Die elektromotorischen Wiriiungen der Nerven.
697
iVÄ
ZÄ
SR
Ablenkung
Bemerkungen.
E
Schlies-
Oeff-
sung.
nung.
0
10 mm
—24
+37
0
0
( 10 Minuten nach Aufhören der
/ Aetherwirkung.
»
"
-24
+42
0
2
> nach weiteren 10 Minuten.
1
ei
12 sc
1
9 mm
-75
+ 120
+4
-9
\ 9I1 55' unmittelbar nach Beginn
) der Aethereinwirkung. Grösse der
Bussol-, Reiz- und Zwischenstrecke
je 9 mm. Lage der Elektroden wie
im vorigen Versuch.
Vi
u
o
S
c3
n
"
-80
+78
-73
+73
0
-5
0
-5
llOh
1 10h 5'
o3
1
"
-60
+60
0
-3
jlOh 12'
ES
10
»
ji
-45
+46
0
0
jlOh 17'
1
>
6
»
-30
+30
-17
+ 17
0
0
0
0
\ 10h 25'
j 10h 33'
a
s
5
»
-10
+10
0
0
} 10h 40'
«
2
"
—20
+20
0
0
l 10h 41'
))
3
"
-30
+30
0
0
1 10h 42'
Wenn durch die mitgetheilten Thatsachen die Existenz physio-
logischer, d. h. durch Leitung von den Polen aus fortgepflanzter Zu-
standsänderungen, welche dem Elektrotonus durchaus gleichen, als
sicher erwiesen angesehen werden kann, so scheint hierdurch zugleich
eine befriedigende Erklärung der bisher unvermittelten Versuchsergeb-
nisse von Bernstein, sowie von Hermann und seinen Schülern
angebahnt zu sein.
Es wurde schon oben darauf hingewiesen , dass , soweit es sich
um den Anelektrotonus handelt, die galvanometrischen Befunde am
marklosen Nerv in jeder Beziehung mit den Resultaten der Rheotom-
Biedermaun, Elektrophysiologie. 45
()98 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
versuche Bernstein's an marklialtigen Froschnerven übereinstimmen,
was nach den vorstehenden Auseinandersetzungen leicht erklärlich
wird, wenn man annimmt, dass bei dem gewählten Abstand zwischen
Bussol- und Reizstrecke sich nur die galvanischen Wirkungen der
Erregung und des fortgeleiteten, physiologischen Elektrotonus geltend
machen konnten, während es sich bei den Versuchen von Grün-
h a g e n und Hermann wohl im Wesentlichen um die Folgewirkungen
des physikalischen Anelektrotonus handelt, dessen zeitliche Ent-
wicklung an verschiedenen Nervenstellen durchaus anderen Gesetzen
folgt. Möglicherweise ünden auch die Angaben von Wundt in der
hier vertretenen Auffassung eine Erklärung. Unter allen Umständen
bedarf es aber noch weiterer Untersuchung, ehe hierüber ein ent-
scheidendes Urtheil möglich wird. Vor Allem erscheint es fraglich,
ob auch in dem bei marklosen Nerven anscheinend ganz fehlenden
Katelektrotonus markhaltiger Fasern eine „physiologische Componente"
steckt, was nach Bernstein's Versuchen allerdings der Fall zu sein
scheint.
4
1
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IHI
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.i_ -l.
.. Iä
Fig. 213.
Es bleibt jetzt noch übrig, weitere Aufklärungen über die Natur
des „physikalischen Elektrotonus" zu geben, wie er uns
beim markhaltigen Nerv im Zustande der Aethernarkose rein ent-
gegentritt. Vom Standpunkte seiner Molekulartheorie aus hat Du
Bois-Reymond es seinerzeit versucht, die Gesammtheit der galva-
nischen Erscheinungen des Elektrotonus aus einer richtenden Ein-
wirkung des polarisirenden Stromes auf die elektromotorischen Molekeln
des Nerven zu erklären, die sich nicht nur auf die unmittelbar durch-
flossene Strecke beschränkt, sondern mehr oder weniger weit darüber
hinausgreift. Denkt man sich den Nerven aus lauter peripolaren,
aus je zwei dipolaren Hälften bestehenden Molekeln zusammen-
gesetzt (Fig. 213), so erzeugt der erregende (polarisirende) Strom, der
eine Strecke des Nerven durchsetzt, im ganzen Nerv den ihm gleich
gerichteten Zuwachsstrom, indem er die elektrisch ungleichartigen
Theilchen nach dem Bilde der Volta'schen Säule ordnet, so dass die
positiven Zonen nach der Seite hin gerichtet werden, nach welcher
jener Strom im Nerven fliesst, die negativen dagegen nach der Seite,
von welcher der Strom kommt, wie in der Grotthuss'schen Theorie
der Elektrolyse. Du Bois-Reymond nimmt dann weiter an, dass
jene säulenartige Anordnung im Sinne des Stromes sich nicht nur
auf die intrapolare Strecke beschränkt, sondern sich in allerdings ab-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. (599
nehmendem Maasse auf die extrapolaren Strecken fortsetzt, wodurch
eben die elektrotonischen Zuwachsströme erklärt werden. Da diese
Deutung mit der Annahme der Präexistenz elektromotorischer Kräfte
im Nerv steht und fällt, welche zur Zeit wohl als widerlegt ange-
sehen werden kann, so soll hier nicht näher darauf eingegangen und
gleich derjenigen Versuche gedacht werden, durchweiche Matte ucci
schon im Jahre 1863 eine wirklich physikalische Erklärung des gal-
vanischen Elektrotonus anbahnte (39). Er fand an übersponuenen
Metalldrähten (Platin), deren Bewickelung mit einer leitenden Flüssig-
keit getränkt war, gesetzmässige Spannungsdifferenzen, wenn eine
beliebige Strecke des Drahtes von einem constanten Strom durch-
flössen wurde. An jeder Stelle der extrapolaren Strecken zeigte sich
zwischen je zwei zum Galvanometer abgeleiteten Punkten ein dem
primären (polarisirenden) gleich gerichteter Strom von um so geringerer
Stärke, je weiter die geprüfte Stelle von der polarisirten Strecke ent-
fernt war.
Später hat insbesondere Hermann (39) dasselbe Phänomen in
eingehendster Weise untersucht und zugleich eine vollständige theoretische
Erklärung gegeben, indem er zeigte, dass es sich dabei nicht, wie
-^
Fig. 214.
Matte ucci ursprünglich meinte, um die Folge einer durch Diffusion
vermittelten Ausbreitung der an den Elektroden abgeschiedenen Elektro-
lyte, sondern um einen besonderen Fall von Polarisation („secundäre
Polarisation") handelt. Wird der feuchten Hülle eines Drahtes
(Fig. 214) an zwei Punkten ein Strom zugeleitet, so hängt es,
wie Hermann zeigt, ganz wesentlich von der Polarisirbarkeit bezw.
Unpolarisirbarkeit der Combination ab, wie weit sich der Strom im
Mantel des metallischen Kernes ausbreitet. Schon Matteucci giebt
an, dass ein amalgamirter Zinkdraht, dessen Hülle mit Zinkvitriollösung
befeuchtet ist, keinerlei extrapolai*e Spannungsdiflferenzen erkennen
lässt, und Hermann fand diese Angabe durchaus bestätigt. In der
That ist leicht einzusehen, dass unter diesen Umständen der Strom
im Wesentlichen nur an den Elektrodenstellen selbst und deren aller-
nächster Umgebung in den metallischen Kern ein- bezw. aus demselben
austreten wird, da ja die betreffenden Stromfäden in Folge der
wachsenden Widerstände mit zunehmender Länge rasch an Intensität
abnehmen. Findet jedoch beim Uebergang der Stromfäden aus der
Flüssigkeit ins Metall eine Polarisation statt, und tritt in Folge dessen
ein so beträchtlicher Uebergangswiderstand auf, dass die durch die ver-
schiedene Länge der Stromfäden bedingten Widerstände dagegen nicht
wesentlich in Betracht kommen, so steht natürlich einer weiten Ausbrei-
tung derselben in der feuchten Hülle längs des Kernes nichts im Wege
(L, Hermann). Wie das beistehende Schema ohne Weiteres erkennen
lässt, muss in jedem extrapolar, beliebig angelegten, ableitenden Bogen ein
45*
700
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Zweigstrom in der Richtung des polarisirenden fliessen (Fig. 214),
Sehr anschaulich ist auch die folgende, zu dem gleichen Resultat
führende Betrachtungsweise Hermann 's (39. V. p. 270). „In Fig. 215
mögen die Linien Äh und Cg die Wege bezeichnen, welche ohne
Polarisation der Strom bei der Dünne der feuchten Umhüllung
und dem guten Leitungsvermögen des metallischen Kernes fast
ausschliesslich nehmen Avürde, um sich von den Elektrodenpunkten
Ä und C zum Kern zu begeben. Findet nun eine Polarisation bei h
und g statt, so wird das Metall (es sei Platin in verdünnter Schwefel-
säure) bei h sich mit Wasserstoff, bei g mit Sauerstoff beladen. Nun
verhält sich die mit Wasserstoff beladene Platinstelle h sofort elektro-
motorisch gegen die unbeladenen Nachbarstellen h^ Äj, und es entstehen
in der feuchten Umhüllung dadurch Ströme von der Richtung, die in
der Figur angegeben ist. Diese Ströme scheiden bei h^ h^ Wasser-
stoff, bei h Sauerstoff ab, aber zu wenig, um den dort vorhandenen
und durch den Strom stets neu entstehenden Wasserstoff vollständig
/TQ-
^^^
Fig. 215.
Fig. 216.
ZU neutralisiren. Die beladenen Stellen h^ wirken nun ebenso gegen
ihre unbeladene Nachbarschaft /«g elektromotorisch, es entstehen die
Ströme h^ Äg, die wieder Ag ''^^^ Wasserstoff beladen und so fort. Die
ganze Umgebung von A ist aber, sobald ein stationärer Zustand ein-
getreten ist, in mit der Entfernung abnehmendem Grade mit Wasser-
stoff, ebenso die Umgebung von C mit Sauerstoff beladen. Die durch
diese Ladungen entstehenden und sie erhaltenden Ströme werden nun
in einem angelegten leitenden Bogen in der gezeichneten Weise zur
Anschauung kommen." (Hermann.)
Um diese für die Theorie des Elektrotonus wichtigen Erschei-
nungen noch genauer untersuchen zu können, bediente sich Hermann
in der Folge eines Modells, in welchem die feuchte Umhüllung durch
freie Flüssigkeit (gesättigte Zinksulfatlösung) ersetzt war. Dieselbe
befand sich in einem mit seitlichen Ansätzen versehenen Glasrohr
(Fig. 216), durch welches ein Platindraht durchgezogen war. Als
zu- resp. ableitende Elektroden dienten amalgamirte Zinkdrähte. Ab-
gesehen von den schon erwähnten Thatsachen hat sich bei diesen
Versuchen noch ergeben, dass jede Unterbrechung des Drahtes (Kern-
Die elektromotorischen Wirkungen der Ners'en. 701
leiters) oder des Flüssigkeitsmantels zwischen der polarisirten und
abgeleiteten Strecke das Zustandekommen der extrapolaren Ströme
verhindert, welche im Uebrigen stets dem polarisirenden Strome pro-
portional sind. Mit den elektrotonischen Zuwachsströmen markhaltiger
Nerven stimmen sie auch insofern überein, als bei gegebenem Abstände
beider Strecken ihre Stärke mit der Länge der durchflossenen Strecke
(bei gleich bleibender Intensität des polarisirenden Stromes) zunimmt.
Die Ströme sind ferner im Augenblick der Schliessung voi'handen,
und falls die gewählte Combination (wie z. B Platin in Zinksulfat
oder Schwefelsäure) beiderseits polarisirbar ist, auf der Anoden- und
Kathodenseite gleich stark; dagegen fehlen die extrapolaren Ströme
auf der Kathodenseite gänzlich oder sind doch nur in nächster Nähe
des betreffenden Poles merklich, wenn es sich um eine nur einseitig
(an der Anode) polarisirbare Combination handelt, wie etwa Zinkdraht
in Schwefelsäure oder Kochsalzlösung, Kupferdraht in Schwefelsäure
oder Zinksulfat. Wie beim Nerv, fehlen endlich die extrapolaren
Zuwachsströme auch an dem Kernleitermodell bei querer Zuleitung.
Im Jahre 1883 machte Hermann an einem zwei Meter langen
Kernleitermodell (Platin in Zinksulfat) bei Zuleitung kurzer, frequenter
Kettenströme von gleich bleibender Richtung mittels des Bernstein'schen
Rheotoms die interessante Beobachtung, dass bei grossem Abstand
zwischen durchflossener und abgeleiteter Strecke die elektrotonischen
Ströme unter Umständen erst beginnen, oder wenigstens ihr Maximum
erreichen, nachdem der polarisirende Strom bereits wieder geöffnet
ist, woraus naturgeraäss auf einen wellenförmigen Ablauf der
betreffenden galvanischen Vorgänge zu schliessen sein würde. Bei
geringerem Abstand der „Reiz-" und Bussolstrecke fällt das Maximum
der gleichsinnigen elektromotorischen Wirksamkeit noch in das Ende
der Schlusszeit des polarisirenden Stromes. Auch Hessen sich zwischen
den beiden ableitenden Elektroden, ähnlich den phasischen Actions-
strömen, zwei aufeinander folgende, entgegengesetzte und ungleich grosse
Stromphasen erkennen, von denen die erste stärkere dem polarisirenden
Strom gleich, die zweite dagegen entgegengesetzt gerichtet ist. Es
Hess sich zeigen, dass diese letztere nicht wie dort davon herrührt,
dass der wellenförmig mit einer Geschwindigkeit von 20 — 65 Meter
in der Secunde vorrückende Process, welcher an der ersten ableitenden
Elektrode angelangt, die erste Phase macht, an der zweiten anlangend
und gleichzeitig an der ersten erloschen oder stark vermindert, eine
entgegengesetzte Phase hervorbringt, sondern durch den Gegenstrom
bedingt ist, welcher nach Oeffnung des polarisirenden Stromes in
der intrapolaren Strecke des Kernleiters entsteht. „Die zweite Phase
ist kurz ausgedrückt nichts Anderes, als der vergleichsweise be-
harrende Zustand, in welchen der Kernleiter durch die Polarisation
in Folge der rasch wiederholten Momentanschliessungen des polari-
sirenden Stromes geräth. Die erste Phase aber ist die auf diesen Zu-
stand sich superponirende , wellenförmig ablaufende Wirkung jeder
einzelnen Momentanschliessung. Letztere tritt völlig rein auf, wenn
die beiden entgegengesetzten Polarisationen des Kerndrahtes sich
nicht abgleichen können oder wenn überhaupt nur eine Polarisation
vorhanden ist, also wenn ein Bipolarstrom nicht zu Stande kommen
kann." (Hermann.)
Wenn Hermann die immerhin möglichen Beziehungen dieser
bemerkenswerthen , leider theoretisch noch nicht hinlänglich aufge-
702 I^i^ elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
klärten Erscheinungen zur Fortpflanzung der Erregung im Nerven
nur sehr vorsichtig betont und die Möglichkeit nicht verkennt, dass
es sich vielleicht nur um scheinbare Analogien handelt, stellte sich
neuerdings Boruttau (20) auch hier wieder auf den extremsten
physikalischen Standpunkt. Er findet, dass auch bei Zuleitung der
Wechselströme eines Schlittenapparates zu einem aus Platin- oder
Palladiumdraht in 0,6 ^lo Kochsalzlösung bestehenden Kernleiter mittels
des Rheotoms galvanische Wellenerscheinungen hervortreten, welche
auf der sehr raschen (über 100 Meter pro Secunde) Fortpflanzung einer
negativen Phase auf weite Entfernungen hin beruhen und den pha-
sischen Actionsströmen durchaus (unter Anderem auch hinsichtlich des
Einflusses der Temperatur auf die Fortpflanzungsgeschwindigkeit)
entsprechen und hält, wie erwähnt, auch die negative Schwankung für
nichts weiter als wellenförmig ablaufenden Katelektrotonus. Bei Be-
nutzung sehr langer, aus mehreren Glasröhren zusammengesetzter Kern-
leitermodelle, wobei der Abstand zwischen durchströmter und abge-
leiteter Strecke auf vier Meter gesteigert werden konnte , konnte
Boruttau immer noch die wellenförmige Fortpflanzung der Nega-
tivität, und zwar nur dieses ganz deutlich beobachten. Bei An-
wendung eines Kettenstromes entstand nur im Momente der Schliessung
auf Seite der Kathode und bei Oeffnung nur auf der Anodenseite ein
.,wenn auch geringfügiger, kurz dauernder Ausschlag im Sinne einer
Negativität der proximalen Elektrode". „Bedeutend ansehnlicher zeigte
sich ein solcher momentaner, negativer Ausschlag, als einzelne In-
ductionsschläge mittels Schlüssels durch die „Reizstrecke" ge-
führt wurden : Ganz unabhängig von ihrer Richtung ent-
sprach jedem ein kurzer negativer Ausschlag." Wurden Wechsel-
ströme benützt, so zeigte sich eine Negativität der proximalen Elektrode,
die so lange dauerte wie jene „Tetanisation". „Auch die Analyse durch
das Differentialrheotom führte zu dem Ergebniss, dass auf solche
Entfernungen hin nur noch eine Negativitätswelle (d. h. der Katelektro-
tonus) sich fortpflanzt", wobei es für das Ergebniss gleichgültig ist,
ob der „Reizstrecke" vermittels des Rheotoms kurze frequente Ketten-
ströme oder Inductionsschläge zugeleitet werden: „in beiden Fällen
zeigt sich die in zwei Phasen über die abgeleitete Strecke hinlaufende
Negativitätswelle, durch welche die proximale Elektrode gegen die
distale erst negativ, dann positiv ist."
Ungeachtet der zahlreichen und in der That sehr auffallenden
Analogien zwischen den eben geschilderten Erscheinungen am Kern-
leitermodell und den galvanischen W^irkungen elektrisch durchströmter
markhaltiger Nerven, wird man zunächst wohl gegen die völlige
Gleichstellung der als Begleiterscheinung der Erregung auftretenden
Negativität und jener katelektrotonischen Wellen protestiren müssen.
Die meiner Ansicht nach zwingenden Gründe, welche dagegen sprechen,
sind erstlich einmal in dem Auftreten ganz analoger galvanischer
Erscheinungen bei elektrischer Erregung der verschiedensten irritablen
Gebilde gegeben, deren Bau in keiner Weise berechtigt, sie als Kern-
leiter in dem Sinne wie markhaltige Nerven aufzufassen; unvereinbar
scheint mir ferner auch die Thatsache zu sein, dass mit Aether
narkotisirte markhaltige Nerven, bei welchen die physikalische „feste
Polarisation" nach wie vor eintritt, keine Spur fortgeleiteter
Wirkungen zeigen, und endlich vor Allem der Umstand , dass die
galvanischen Err egungs erscheinungen in gleicher Weise an allen
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 703
überhaupt geeigneten Objecten auch bei nicht elektrischer
Reizung hervortreten. Boruttau nimmt nun freilich keinen An-
stand, auch hier wieder Eigenschaften der Kernleiter zur Erklärung
heranzuziehen. Er glaubt ein Analogen der mechanischen Reizung
der Nerven und ihrer galvanischen Erfolge in dem plötzlichen Durch-
brechen des innerhalb der feuchten Umhüllung befindlichen, vorher
an einer bestimmten Stelle angefeilten Kernleiterdrahtes erblicken zu
dürfen, indem er jedesmal „mit grösster Präcision eine relativ gross-
artige momentane Strom- resp. Ladungserscheinung" an einer ent-
fernten abgeleiteten Strecke beobachtete, „welcher sofort die Rückkehr
zum vorhergehenden Ruhezustande folgte." Ohne nun an dem That-
sächlichen der Beobachtung zweifeln zu wollen, dürfte doch wohl
kaum Jemand, der auf dem Standpunkte steht, nur lebende thierische
oder pflanzliche Zellen für reizbar zu halten, den aus dem angeführten
Versuch gezogenen Schlussfolgerungen beizupflichten geneigt sein.
Wie so oft, zeigt sich gerade in diesem Falle, wie verhängnissvoll es
werden kann, Beobachtungen an einem bestimmten Objecto zu ver-
allgemeinern und ohne Rücksicht auf die Verschiedenheiten der Structur
Lebenserscheinungen von einseitig physikalischen Gesichts-
punkten aus zu beurtheilen.
Ohne leugnen zu wollen, dass weitere Forschungen auf diesem
Gebiete vielleicht gewisse weitere Analogien zwischen der Leitung
der Erregung einerseits und der des wellenförmig fortschreitenden
Elektrotonus an Kernleitern andererseits zu Tage fördern werden,
dürfte es doch gerathen sein, vorläufig im Auge zu behalten, dass
Erregung und Erregungsleitung an Objecten und unter Umständen
beobachtet werden, wo die physikalischen Voraussetzungen Boruttau's
schlechterdings nicht gegeben sind.
Aber auch für die „feste Polarisation", d. h. die elektrotonischen
D a u e r s t r ö m e in grösserer Nähe der durchflossenen Strecke eines
markhaltigen Nerven, erscheint es zum mindesten noch fraglich, ob sie,
wiewohl zum Theil sicher nur physikalisch bedingt, lediglich nach
dem Hermann' sehen Erklärungsprincip zu deuten sind , zumal das-
jenige Structurverhältniss der markhaltigen Fasern, das hier wohl vor
Allem (und vielleicht sogar allein) in Betracht kommt, nämlich die Um-
hüllung des Axencylinders mit der Markscheide, auf den ersten Blick,
wie man meinen sollte, wenige Eigenschaften zeigt, die bei dem ur-
sprünglichen Kernleiterraodell aus Metall und Flüssigkeit als wesent-
lich zu betrachten sind. Hier handelt es sich zunächst um den enormen
Unterschied des Leitungsvermögens zwischen der feuchten Hülle und
dem metallischen Kern. Eine auch nur annähernd so grosse Ver-
schiedenheit des Leitungsvermögens zwischen Axencylinder und Mark-
scheide ist natürlich von vorneherein ausgeschlossen, ja es fragt sich,
ob überhaupt ein merklicher Unterschied besteht. Eine zweite Frage ist
ferner die, ob an der Grenzfläche der beiden genannten Elementar-
bestandtheile markhaltiger Nervenfasern eine Polarisation überhaupt
vorhanden ist und wenn ja, ob eine solche Polarisation an der Grenze
zweier Elektrolyten hinsichtlich des Einflusses auf die Stromausbrei-
tung so behandelt werden kann, wie die an der Grenzfläche zwischen
Metall und Flüssigkeit.
Hinsichtlich des ersten Punktes hat Hermann schon vor längerer
Zeit den experimentellen Nachweis geliefert, dass der schon früher
erwähnte sehr beträchtliche Unterschied des Längs- und Querwider-
704 I^ie elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Standes des Nerven im Wesentlichen auf eine dem Strom entgegen-
wirkende elektromotorische Kraft zu beziehen ist, welche von Polari-
sation herrührt, die bei Querdurchströmung hauptsächlich an der
Grenze zwischen Neurilemm (Schwann' scher Scheide) und Markscheide
stattzufinden scheint, sodass man nach Hermann als Kernsubstanz nicht
sowohl den Axencylinder, sondern den „ganzen protoplasmatischen
Röhreninhalt", als Hülle nicht die Markscheide, sondern „das Neuri-
lemm und das interstitielle Bindegewebe" anzusehen hätte.
Her m a n n brachte parallel neben einander gelagerte Froschnerven
zwischen zwei quadratische Glasplatten und bestimmte den Widerstand
nach der Wh eats tone ' sehen Methode, wenn der Strom das eine Mal
in der Längsrichtung der Fasern und dann quer durchgeleitet wurde.
„Der Querwiderstand ergab sich fünfmal so gross als der Längswider-
stand; ersterer ist etwa 12^/2 Millionen, letzterer nur 2V'2 Millionen
mal so gross wie der des Quecksilbers."
Hält man hiernach das Vorhandensein einer Grenzpolarisation
nach Analogie der Kernleiter am markhaltigen Nerven für sicher be-
wiesen, so würde es sich weiter noch darum handeln, ob die Stärke
einer solchen Polarisation an der Grenze zweier Elektrolyten ausreicht,
um die beobachtete Stromausbreitung am Nerven zu erklären. Vom
rein theoretischen Standpunkte lässt sich nun freilich gegen eine solche
Annahme kein begründeter Einwand erheben. Mit Rücksicht auf die
Stärke der elektrotonischen Wirkungen sieht man sich aber allerdings
gezwungen, den Nerven mit Hermann (40) eine „beispiellos be-
deutende" Grenzpolarisationskraft zuzuerkennen, da voraussichtlich
„die im Vergleich zu den Metall-Flüssigkeits-Combinationen sehr
schwachen Polarisationen an der Grenze gewöhnlicher Flüssigkeiten
nur zu einer sehr schwachen Ausbreitung durch Uebergangs widerstand
führen können, die den Fehlerquellen gegenüber unnachweisbar wird".
Nichtsdestoweniger giebt es aber erfahrungsgemäss doch Combi-
natiouen von feuchten Leitern, welche ganz ausserordentlich starke
Wirkungen im Sinne eines streng gesetzmässigen Elektrotonus erkennen
lassen, deren Entstehung aber wohl weniger auf eine Grenzpolarisation
im Sinne Her m a n n's , als vielmehr auf eine eigenartige Stromschleifen-
bildung im Sinne einer von Grünhagen (41) und Hering (24)
vertretenen Theorie zurückzuführen sein dürfte. Seit lange bedient
sich Hering zur Demonstration des „physikalischen Elektrotonus",
eines ausserordentlich einfachen Modells, welches alle Erscheinungen
in schönster Weise darbietet, nämlich der langen und internodienfreien
Halme des Pfeifengrases, welche zuvor mit Wasser getränkt und
unmittelbar vor dem Versuch mit einer concentrirten Kochsalzlösung
gefüllt werden. Ein nicht minder bequem zu handhabendes Versuchs-
object habe ich selbst in den Fühlern und Beinen des Krebses ge-
funden, welche in Alkohol aufbewahrt und vor dem Versuch einfach
mit 0,6 ^/ü Kochsalzlösung durchtränkt werden.
Die Aehnlichkeit der elektrotonischen Erscheinungen in diesem Falle
mit denen, welche man unter gleichen Umständen an ätherisirten Nerven
beobachtet, springt sofort in die Augen und erstreckt sich ebensowohl
auf die Gleichheit der an- und katelektrotonischen Ablenkungen, wie
auch auf die mehr oder Aveniger angenäherte Proportionalität, welche
bei einer gegebenen Lage der stromzuführenden und der Bussolelek-
troden zwischen der Grösse der betreffenden Wirkungen und der Stärke
des polarisirenden Stromes besteht (38). Als ein wesentliches und
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
705
charakteristisches Merkmal „elektrotonischer" Ströme gegenüber ge-
wöhnlichen Stromschleifen muss der Umstand gelten, dass die Richtung
des extrapolar abgeleiteten Stromes von der Lage des ableitenden
Bogens abhängt. Dies geht unmittelbar aus der Betrachtung der bei-
stehenden schematischen Figur (Fig. 217) hervor, welche erkennen
lässt, dass die von entgegengesetzten Seiten des Leiters abgeleiteten
extrapolaren Stromzweige auch nothwendig entgegengesetzte Richtung
haben müssen. Dagegen ist dies weder bei dem Nerven noch auch
bei einem der vorhin erwähnten Modelle der Fall. Wie immer auch
die Bussolelektroden hier angelegt werden mögen , stets ist der
W
Fig. 217. Schema der Stromschleifenbilduug in einem gewöhnlichen partiell
durchströmten Leiter.
i^''
Fig. 218. Schema der Stromausbreitung in einem „Kernleiter". (Nach Grünhagen.)
abgeleitete Strom dempolarii
richtet. Eine wesentliche Bedingung ist nur die, aass
in der Axe eines feuchten Leiters ein Kern steckt,
welcher besseres Leitungsvermögen als die Hülle be-
sitzt. Dabei ist gleichgültig, ob es sich, wie bei dem Kernleiter-
modell Matteucci's, um ein Metall, oder wie, bei den Versuchen
von Hering, dem sich ein ganz analoger von Grünhagen (42),
sowie neuerdings gewisse von Boruttau benutzte Combinationen
anschliessen, um einen flüssigen Leiter als besser leitenden Kern
handelt. Nach Grünhagen würde man sich vorzustellen haben,
dass in jeder derartigen Leitercombination im Sinne des beistehenden
Schemas (Fig. 218) „die in der Hülle verlaufenden Stromzweige nur
eine einzige Richtung nach dem besser leitenden Kern einschlagen,
die rückläufigen Stromarme dagegen sämmtlich von der besser leitenden
706 I^iß elektromotorischen Wirkungen der Nei^v'en.
Axe eingeschlossen werden". „In Folge dieser Absorption aller rück-
läufigen Partialströme durch den Kernleiter ist dann aber auch die
Hülle frei von ihnen, und wo man immer die ableitenden Fusspunkte
eines Galvanometerkreises derselben anlegen mag, ob seitlich neben
oder gegenüber den stromzuführenden Elektroden, überall werden nur
Partialströme von einsinniger Richtung, derjenigen entsprechend ab-
geleitet werden, welche den vorhin erwähnten divergirenden Strom-
fäden eigen ist." (Grünhagen.) Lässt man diese Anschauung
gelten, so würde dem Axencylinder ein wesentlich besseres Leitungs-
vermögen zuzuerkennen sein, als der Markscheide, was übriges auch
vom histo-chemischen Standpunkte aus nicht gerade unwahrscheinlich
ist. Das vollständige Fehlen eines gut ausgesprochenen physika-
lischen Elektrotonus bei marklosen Nerven und Muskeln würde
daher nach dieser Theoi'ie im Wesentlichen auf den Mangel schlechter
leitender Hüllen der einzelnen Elemente zu beziehen sein, wobei noch
besonders betont werden muss, dass, wie ich mich erst neuerdings
wieder überzeugt habe, elektrotonische Erscheinungen auch in solchen
Fällen vermisst werden, wo, wie bei vielen Crustaceennerven, die
einzelnen Axencylinder von mächtig entwickelten, geschichteten Binde-
gewebshüllen umschlossen sind. Es scheint also speciell die physika-
lisch-chemische Natur der Markscheide für das Zustandekommen der
Ausbreitungserscheinungen des Stromes wesentlich zu sein. Mit Rück-
sicht hierauf Avären Versuche an den Nerven von Palaemon von
Interesse, welche nach Retzius markhaltige Fasern führen und
sich dadurch ganz wesentlich von denen der meisten übrigen Crusta-
ceen unterscheiden.
Als gesichertes Resultat aller im Vorhergehenden mitgetheilten
Thatsachen und Erörterungen ergiebt sich für den markhaltigen Nerven
das Vorhandensein einer irgendwie, sei es nun durch „secundäre
Polarisation" oder durch directe Stromschleifen, vermittelten Ausbreitung
eines zugeleiteten Stromes über die unmittelbar durchflossene Strecke
hinaus, d. h. eines physikalisch verursachten Elektrotonus, der
jedoch, wie gezeigt wurde, seinerseits in der Regel durch gleichsinnige
physiologische Zustandsänderungen des Nerven complicirt er-
scheint. Vom physiologischen Standpunkte aus liegt das Hauptinteresse
desselben auf Seite der durch die Ausbreitung des Reizstromes be-
dingten Veränderungen des Nerven, insbesondere seiner Erregbarkeit.
Beim Muskel, wo der Aus- und Eintritt des Stromes im Wesentlichen
auf die Elektroden selbst und deren nächste Umgebung beschränkt
bleibt, äussern sich natürlich auch die polaren Wirkungen des Stromes
einerseits als Erregung, andererseits als Hemmung nur local an der
Stelle ihrer Entstehung. Besitzt aber, wie beim markhaltigen Nerven,
die physiologische Anode beziehungsweise Kathode, d, h. das Gebiet,
innerhalb dessen überhaupt Stromfäden in die erregbare Substanz des
Axencylinders ein- beziehungsweise aus derselben austreten, eine er-
hebliche Ausdehnung, so wird natürlich das Gleiche auch hinsichtlich
aller Folgewirkungen der Erregung und Hemmung gelten müssen. Die
räumliche Ausdehnung des physikalischen Elektrotonus als der Ge-
sammtheit aller durch den elektrischen Strom direct bewirkten Ver-
änderungen deckt sich mit andern Worten mit der räumlichen Ver-
breitung der anodischen und kathodischen Stellen an dem durch-
strömten Gebilde. Wenn daher für Muskeln sowohl wie für Nerven
ganz allgemein der Satz gilt, dass innerhalb gewisser Grenzen der
Die elektromotorischen Wirkungen der Nei-ven. 707
Stromstärke und Stromesdauer an der physiologischen Kathode, d. h.
an jedem Punkte, wo der Strom aus der erregbaren Substanz austritt,
während der Schliessungszeit ein Zustand erhöhter Anspruchsfähigkeit
besteht, während das Umgekehrte an der physiologischen Anode der
Fall ist, so ergiebt sich unmittelbar auch ein Verständniss für die
Thatsache der intra- und extrapolar sich ausbreitenden polar-antago-
nistischen Erregbarkeitsänderungen eines polarisirten markhaltigen
Nerven. Es erklärt sich ferner leicht die auf den ersten Blick so
auffallende Erregbarkeitssteigerung in der Nähe jedes
künstlichen Querschnittes. Denn gerade wie ein künstlich
zugeführter Strom wird auch der Demarcationsstrom jeder markhaltigen
Nervenfaser nicht nur in nächster Nähe der Demarcationsfläche sich
innerlich abgleichen, sondern aus gleichen
Gründen wie dort werden sich, wie im bei-
stehenden Schema angedeutet ist (Fig.
219), Stromfäden weithin vom Quer-
schnitt erstrecken , welche , allerorts
aus dem Axencylinder austretend, den-
selben in den Zustand des Katelektro-
tonus mit alle,, seinen Folgen versetzen, S;n,?,f de.Sl^'^t™ J^
dessen Intensität natürlich mit der Ent- längs des Nerven (schwache Längs-
fernung vom Querschnitt rasch abnimmt. schnittsströme).
Auch die sogenannten schwachen Längs- (Nach Hermann.)
schnittströme können, wie Hermann
zuerst hervorgehoben hat und Fig. 219 ohne Weiteres erkennen lässt,
einfach als elektrotonische Ausbreitung des Demarcationsstromes be-
trachtet werden.
Endlich sei hier auch noch auf die schon früher besprochene
Thatsache hingewiesen, dass bei elektrischer Reizung eines local ab-
getödteten, markhaltigen Nerven sich nur dann die physiologische
Wirkung des einen Poles wie beim Muskel ausschalten lässt, wenn
ein mehr oder weniger grosser Theil der intrapolaren Strecke mit
möglichster Erhaltung der histologischen Structur ab-
getödtet wird. Auch dies erklärt sich nun leicht und unmittelbar
durch die räumliche Vertheilung der Aus- und Eintrittsstellen des
Stromes, ebenso wie die auch schon früher hervorgehobene Ver-
schiedenheit abterminaler und atterminaler Inductionsströme, welche
auf das Querschnittsende eines markhaltigen Nerven einwirken. Da
die elektromotorische Kraft des Gegensatzes zwischen „alterirter" und
nicht alterirter Nervensubstanz voraussichtlich sehr gross ist, indem schon
die Wirkungen von Seite der nach aussen abgeleiteten Zweigströme
sehr beträchtlich sind, so muss die Intensität der Strömchen, welche
sich in der Nähe eines künstlichen Querschnittes markhaltiger Nerven
durch die Hüllensubstanzen abgleichen, zweifellos schon wegen des
geringen Widerstandes bei mikroskopischer Längendimension ausser-
ordentlich gross sein. (Hermann.)
Secundär-elektromotorische Erscheinungen an Nerren.
Wie beim Muskel, so hatte Du Bois-Reymond auch bei mark-
haltigen Nerven gezeigt, dass jede von einem hinreichend starken
Kettenstrom durchflossene Strecke nach Oeffnung des Kreises in einem
708 Die elektromotorischen Wirkungen der Xei-ven.
bestimmten Simie gesetzmässig elektromotorisch wirkt, und die Er-
scheinungen in beiden Fällen auf „innere Polarisation" bezogen , da
sich ergab, dass ein entgegengesetzter (eventuell gleich gerichteter)
Nachstrom auch dann beobachtet wird, wenn sich beide ableitende
Bussolelektroden zwischen den Reizelektroden innerhalb der intra-
polaren Strecke befanden. Dass diese Annahme sich in der Folge,
wenigstens in Bezug auf den Muskel, als iin-ig erwies, wurde schon
früher (p. 378) gezeigt. Für den Nerven gestaltet sich die Unter-
suchung einerseits wegen der geringeren Stärke der Wirkungen, beson-
ders aber wegen der elektrotonischen Ausbreitung des (polarisirenden)
Reizstromes sehr viel schwieriger. Nichtsdestoweniger lässt sich aber
auf Grund der bis jetzt vorliegenden Beobachtungen sagen, dass ein
wesentlicher Unterschied in Bezug auf die secundär-elektromotorischen
Erscheinungen an Muskeln und Nerven nicht besteht. So fand schon
Du Bois-Reymond die stärksten negativen Wirkungen nach längerem
Hindurchleiten verhältnissmässig schwacher Ströme, während die stärkste
„positive Polarisation" nach ganz kurzer Schliessung einer starken Kette
(25 — -J^O Grrove !) hervortritt (43). Hermann, welcher Anfangs bei Durch-
strömung einer 40 mm langen Nervenstrecke (zwei mit den entgegen-
gesetzten Enden zusammengelegte Ischiadici vom Frosch) keinen durch-
greifenden Unterschied in den Ablenkungen fand, wenn sich die ab-
geleitete Strecke einmal in möglichster Nähe der Anode und dann der
Kathode befand, stellte in der Folge fest, dass „auch am Nerven wie
am Muskel die gleichsinnige Nachstromphase regelmässig ausbleibt,
wenn die physiologische Anode am künstlichen Querschnitt liegt und
von diesem auch abgeleitet wird", so dass darüber kein Zweifel be-
stehen kann, dass auch hier der gleichsinnige Nachstrom (die „positive
Polarisation") lediglich als der galvanische Ausdruck der Oeffnungs-
erregung aufzufassen ist.
Die weithin sich erstreckende extrapolare Ausbreitung des polari-
sirenden Stromes bei raarkhaltigen Nerven macht es erforderlich, auch
das Verhalten der extrapolaren Nachströme nach Oeffnung des
Kreises zu prüfen. Die erste Untersuchung rührt von Fick (44) her,
welcher fand, dass zu beiden Seiten des polarisirenden Stromes ein
demselben entgegengesetzter Nachstrom hervortritt, welcher sehr bald
schwindet. Wenig später constatirte dagegen L. Hermann (45),
dem sich dann auch Fick anschloss, dass dies nur auf Seite der
Anode der Fall ist, während ausserhalb der Kathode ein dem polari-
sirenden gleichsinniger Strom erscheint, dessen Stärke immer hinter
der des anodischen Nachstromes zurückbleibt. Bezüglich des letzteren
stellte Hermann später auch noch fest (46), dass demselben ein
kurzer, mit dem polarisirenden Strom gleichsinniger Vorschlag
vorausgeht.
Zur Erklärung aller dieser Erscheinungen macht Hermann
einerseits die von ihm näher untersuchten („polarisatorischen") Nach-
ströme an „Kernleitern" geltend, mit denen sich andererseits die
„irritativen", auf die polaren Erregungserscheinungen und speciell die
OefFnungserregung zu beziehenden Nachströme combiniren sollen. Da,
wie früher gezeigt wurde, die letzteren allein zur Erklärung aller
secundär-elektromotorischen Wirkungen am Muskel vollkommen aus-
reichend scheinen, so darf dies wohl auch für den Nerven als das
von vornherein Wahrscheinlichste gelten. Doch werden weitere Unter-
suchungen erforderlich sein, ehe sich hierüber ein endgültiges Urtheil
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 709
fällen lässt. Jedenfalls aber beruht der dem polarisirenden entgegen-
gesetzte , extrapolare , anodisehe Nachstrom auf der vom Pole nach
aussen allmählich abnehmenden Negativität, welche als galvanische
Folge der Oeffnungserregung entsteht, und ebenso würde auch der
gleichsinnige extrapolare, kathodische Nachstrora als „irritativer" ge-
deutet werden können, wenn man analog wie beim Muskel die
wiederum nach aussen vom Pole abnehmende Negativität als Nach-
wirkung der vorausgehenden Erregung auffasst, die sich natürlich beim
markhaltigen Nerven so weit erstrecken muss, als Austrittsstellen von
Stromfäden vorhanden sind.
Es bleiben jetzt nur noch die Gründe zu erörtern, welche insbe-
sondere G r ü t z n e r und Tiger stedt (48) für die von ihnen vertretene
Annahme geltend machten, dass gewisse Formen, ja vielleicht alle
Oeffnungszuckungen durch den negativen Polarisationsstrom verursachte
Schliessungszuckungen sind. Mit Rücksicht auf das früher Gesagte
ist leicht ersichtlich, wie dieser Strom bei genügender Stärke in der
That dieselbe Rolle in der Continuität des Nerven spielen könnte,
wie der Demarcationsstrom am Querschnittsende, d. h. eventuell zur
Entstehung scheinbarer Oeffnungszuckungen führen wird.
In der That versuchte denn auch schon Peltier, welcher im
Jahre 1836 die negative Polarisation durchströmter Froschgliedmaassen
zuerst beobachtete, und dessen Untersuchungen den Ausgangspunkt
der diesbezüglichen Arbeiten von Du Bois-Reymond bildeten, die
OefFnungszuckung durch den Polarisationsstrom zu erklären. Indess
machte bereits Du Bois-Reymond gegen diese Auffassung den
Umstand geltend, dass doch „diese Ladungen, um einen Strom durch
den Nerven hervorzubringen, allem Anschein nach eine geschlossene
Kette brauchen dürften, diese Bedingung aber eben durch das Oeffnen
verloren geht". (23, I, p. 381.) Auch Matteucci schloss sich der
Meinung Peltier's an, dass durch die (negative) Polarisirbarkeit des
Nerven die Erscheinung der Oeffnungszuckung erklärt werden könne,
ohne jedoch beweisende Thatsachen beizubringen (47).
Was den eben berührten Einwand Du Bois-Reymond 's be-
trifft, so hat derselbe seither an Bedeutung verloren, indem erfahrungs-
gemäss feststeht, dass die im Muskel und ebenso im Nerven statt-
findende innere Abgleichung eines Demarcationsstromes zur Auslösung
scheinbarer Oeffnungszuckungen durchaus hinreicht. Unter der Vor-
aussetzung genügender Intensität wird man daher ein Gleiches auch
hinsichtlich des durch den Reizstrom erzeugten negativen Polarisations-
stromes erwarten dürfen, und es kam nur darauf an, auf experimen-
tellem Wege zu beweisen, dass gewisse Oeffnungszuckungen wirklich
in der angedeuteten Weise zu Stande kommen.
Grützner (1. c.) stellte Versuche an mit Rücksicht darauf, ob
es nicht etwa gelingen würde, Unterschiede hinsichtlich des Auftretens
der Oeffnungszuckung bei indirecter Muskelreizung zu constatiren, je
nachdem dem polarisatorischen Gegenstrom Gelegenheit geboten wird,
sich im Momente der Oeflfnung des Reizstromes durch eine äussere
gut leitende Nebenschliessung abzugleichen, oder wenn eine solche fehlt
und nur die innere Abgleichung im Nerven selbst möglich ist. In der
That zeigte sich nun , dass sich , insbesondere bei Anwendung me-
tallischer Elektroden, immer ein Unterschied im Sinne der theoretischen
Voraussetzung bemerkbar machte, indem die OefFnungszuckung viel
früher (d. h. bei schwächerem Reizstrom) auftrat oder stärker war,
710 Die elektroinotorisclieu Wirkungen der Nerven.
wenn eine äussere Nebenschliessung für den Polarisationsstrom vor-
handen war, als im andern Falle. Auch Hermann theilt analoge
Versuche mit, welche er bereits 1875/76 mit gleichem Erfolge ange-
stellt hatte, deren Ergebnisse jedoch damals nicht veröffentlicht wurden.
Es geht aus diesen Thatsachen hervor, dass der polarisato-
rische Gegen ström unter den gegebenen Bedingungen
bei der Auslösung der Oeffnungszuckung mitbetheiligt
ist, wenn sich auch keineswegs daraus schliessen lässt,
dass er dieselbe unter allen Umständen allein bedingt.
Dieser Schluss scheint jedoch Grützner und Tigerstedt haupt-
sächlich durch den Umstand gerechtfertigt, dass alle jene Momente,
welche das Entstehen, beziehungsweise die Zunahme eines negativen
Polarisationsstromes begünstigen, auch das Auftreten der Oeffnungs-
zuckung befördern.
Der normale, lebensfrische und unversehrte Nerv zeichnet sich,
wie früher bereits bemerkt wurde, durch eine gewisse Resistenz gegen-
über der Erregung durch Oeffnung eines elektrischen Stromes aus,
so dass es meist ziemlich starker Kettenströme bedarf, um nach kurzer
Schliessungsdauer Oeffnungszuckungen auszulösen. Wenn jedoch durch
einen hierzu genügend starken Strom einmal eine Oeffnungszuckung
ausgelöst wurde, wirkt, wie oben gezeigt wurde (p. 594), unmittelbar
nachher auch das Verschwinden vorher nur bei Schliessung wirksamer,
schwacher Ströme erregend, vorausgesetzt, dass in beiden Fällen die-
selbe Nervenstrecke vom Strome durchflössen wird. Nach kurzer
Zeit der Ruhe verschwindet dieser Reizerfolg wieder vollständig.
Nach Grützner und Tigerstedt würde nun dieses Verhalten so
zu deuten sein, dass der durch den stärkeren Strom in der durch-
flossenen Strecke erzeugte, nach Oeffnung des Reizstromes allmählich
abklingende, negative Polarisationsstrom dieselbe während seines Be-
stehens für Auslösung „scheinbarer" Oeffnungszuckungen disponirt,
wobei natürlich die Abgleichung des Polarisationsstromes bei der ge-
wöhnlichen Art und Weise, den Reizstrom zu öffnen, lediglich eine
innere, im Nerven selbst stattfindende sein kann.
Tigerstedt gelangte bei seinen Untersuchungen über den zeit-
lichen Verlauf der negativen Polarisation von Froschnerven, sowie
über deren Abhängigkeit von Intensität und Schliessungsdauer des
Reizstromes zu folgenden Resultaten:
1. Innerhalb gewisser Grenzen der Stromstärke ist die (negative)
Polarisation des Nerven der Stärke des Reizstromes direct
proportional.
2. Wenn der polarisirende Strom während ungleich langer Zeit
auf den Nerven einwirkt, so nimmt die Polarisation zu ; dieselbe
steigt im Beginn schneller und später immer langsamer, schliess-
lich äusserst langsam ihrem Maximum sich nähernd.
3. Wenn der polarisirende Strom geöffnet wird, erreicht die Po-
larisation augenblicklich ihren höchsten Werth und sinkt dar-
nach unaufhörlich herab; dieses Herabsinken geschieht im
Beginn sehr schnell, später aber immer langsamer, so dass die
Polarisation noch lange Zeit nach dem Oeffnen des polarisiren-
den Stromes anhält und nur assymptotisch dem Nullpunkte sich
nähert.
In allen di-ei Punkten zeigt aber auch die Oeffnungszuckung Ueber-
einstimmuns" mit dem negativen Polarisationsstrom. Oben wurde die
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 711
Thatsache besprochen, dass durch Einwirkung verdünnter Lösungen von
Kalisalzen oder alkoholischer Kochsalzlösung motorische Froschnerven
derart verändert werden, dass in einem gewissen Stadium selbst sehr
schwache Kettenströme nach ganz kurzer Schliessungszeit Oeffnungs-
zuckungen vom Charakter der Querschnittsöffnungszuckungen auslösen,
und dass diese Veränderung durch Auslaugen der betreffenden Sub-
stanzen wieder vollständig beseitigt werden kann.
Tiger stedt fand nun, dass auch „die (negative) Polarisirbarkeit
des Nerven bei Behandlung mit alkoholischer Kochsalzlösung steigt bis
zu 1,5 mal ihrer ursprünglichen Stärke", und erblickt in diesem Um-
stände eine weitere Stütze für die Auffassung der betreffenden Oeff-
nungszuckungen als durch den negativen Polarisationsstrom bedingter
Schliessungszuckungen. Endlich wäre nach Tigerstedt auch das
frühere Auftreten der Oeffnungszuckung bei Reizung des durchschnit-
tenen Plexus ischiadicus gegenüber der Reizung peripherer Nerven-
stellen, welches ich und Grützner beobachteten, auf eine leichtere
Polarisirbarkeit des betreffenden Nervenabschnittes zurückzuführen.
Indess dürfte doch wohl der Demareationsstrom die Hauptrolle spielen.
Wenn man die Gesammtheit der angeführten Thatsachen überblickt,
so kann es kaum zweifelhaft sein, dass in der That gewisse Formen
von Oeffnungszuckungen als durch den negativen Polarisationsstrom be-
dingte Schliessungszuckungen zu deuten sind. Für eine so weitgehende
Verallgemeinerung jedoch, wie sie von Tigerstedt und ganz neuer-
dings von Hoorweg (49) statuirt wurde, wonach „die Ursache der
Oeffnungserregung und aller beim Oeffnen eines polarisirenden Stromes
stattfindenden Erscheinungen der (negative) Polarisationsstrom und in
gewissen Ausnahmen der Nerven- (Muskel-) Strom ist", liegt keinerlei
Berechtigung vor. Es spricht dagegen vor Allem auch der Umstand,
dass, wie besonders Hermann hervorgehoben hat, Oeffnungs-
zuckungen auch bei blosser Verminderung des Stromes (bei negativen
Intensitätssch wankungen) auftreten, in welchem Falle ein Polarisations-
strom überhaupt nicht zu Stande kommt, indem die Anode nie zur
Kathode werden kann, wenn die Verminderung weniger als die Hälfte
beträgt.
Noch von einem anderen Gesichtspunkte aus, als dem, der im
Vorhergehenden geltend gemacht wurde, schien es möglich, der Frage
näher zu treten, ob die elektrotonischen Zuwachsströme lediglich auf
physikalischer Stromschleifenbildung beruhen oder durch physiologische
Zustandsänderungen der Nervensubstanz bedingt sind. Einen Finger-
zeig für die Beurtheilung schien die Untersuchung der Frage liefern
zu können, wie sich die Elektrotonusströme bei der Erregung des
Nerven , resp. wie sich die Actionsströme im elektrotonisirten Nerven
verhalten. Die ersten diesbezüglichen Angaben verdanken wir Bern-
stein (50).
Derselbe begann mit der Untersuchung der Veränderungen, welche
die negative Schwankung des Demarcationsstromes erleidet, wenn
gleichzeitig eine Strecke des Nerven ober- oder unterhalb der Reiz-
strecke von einem Kettenstrom durchflössen wird. Ist dieser zunächst
sehr schwach, und liegen die polarisirenden Elektroden so entfernt von
dem abgeleiteten Querschnittsende, dass eine merkliche Einmischung
elektrotonischer Ströme zunächst ausgeschlossen erscheint, so beobachtet
man, wenn sich die mit der secundären Spirale eines Inductions-
apparates verbundenen Reizelektroden zwischen der polarisirten und
712 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
der abgeleiteten Nervenstrecke befinden („infrapolar" liegen), regel-
mässig eine Verstärkung der negativen Schwankung bei absteigender,
eine Schwächung bei aufsteigender Richtung. Umgekehrt verhält
sich der Erfolg bei Reizung oberhalb des polarisirten Nerven-
abschnittes.
Wie man sieht, stimmen diese Ergebnisse im Wesentlichen mit
den durch Pflüger bekannt gewordenen elektrotonischen Erregbar-
keitsänderungen überein , indem ja in der That nur an Stelle des
normalen Index der Erregung des Muskels das Galvanometer getreten
ist. Rückt man aber dann die polarisirenden Elektroden dem abge-
leiteten Querschnittsende näher, so dass die elektrotonischen Spannungs-
difFerenzen erst nur schwach, dann immer stärker merklich werden
und daher je nach der Richtung des polarisirenden Stromes den
Demarcationsstrom entweder schwächen (in der negativen Phase) oder
verstärken (positive Phase), so zeigt sich bei infrapolarer tetanisirender
Reizung eine deutliche Abnahme der negativen Schwankung in der
negativen, durch den absteigenden Strom erzeugten, ein Anwachsen
dagegen in der positiven Phase des Elektrotonus bei aufsteigender
Stromesrichtung. Ersterenfalls kann die negative Schwankung, wenn
die Stärke des polarisirenden Stromes eine gewisse Grenze über-
schreitet, gleich Null werden, ja sogar ihr Zeichen ändern. Das erstere
ist immer dann der Fall, wenn in der negativen Phase der Demarca-
tionsstrom ganz verschwindet. Tritt dagegen an seine Stelle ein ver-
kehrter Strom, so nimmt die Spannungsdifferenz während der Reizung
im gleichen Sinne zu. Es ergiebt sich daher „eine sehr deutliche
Abhängigkeit der negativen Schwankung von der Stärke und Richtung
der eintretenden elektrotonischen Phase. Verstärkt dieselbe den
Nervenstrom, so wächst auch die negative Schwankung; schwächt sie
ihn, so nimmt diese ab, und die negative Schwankung wird Null,
sobald in der negativen Phase der abgeleitete Strom ganz verschwindet.
Die bei der Reizung eintretende Schwankung ist also stets negativ
gegen das Vorzeichen des abgeleiteten Nervenstromes." Man sieht
leicht, dass sich, wie Bernstein bemerkt, diese Resultate einfach
aus der Annahme erklären Hessen, „dass der im elektrotonischen Zu-
stande vom Nerven abgeleitete Strom sich verhalte wie ein gewöhn-
licher Nerven-(Demarcations-)Strom. Je schwächer er wird, desto
schwächer seine negative Schwankung und umgekehrt. Gleichzeitig
verschwindet sie mit ihm ebenso, Avie die negative Schwankung ver-
schwindet, wenn man von zwei symmetrischen Punkten eines nicht
polarisirten Nerven ableitet, und sie nimmt mit der Umkehr des
Stromes auch das umgekehrte Vorzeichen an" (1. c. p. 622).
In der That hat Bernstein durch weitere Versuche, bei welchen
die Reizung suprapolar, sowie andere, wo in der Continuität des
Nerven, von zwei Längsschnittpunkten abgeleitet wurde, über jeden
Zweifel festgestellt, dass die elektrotonischen Zuwachsströme
sich bei der Erregung mark haltiger Nerven ganz ebenso
verhalten, wie der gewöhnliche Demarcationsstrom. Am
klarsten ergiebt sich dies bei einer Vei'suchsordnung, wo die polari-
sirenden und die Reizelektroden an je einem Ende eines möglichst
langen Nerven angebracht sind , während von zwei Punkten der
Zwischenstrecke abgeleitet wird. Da in diesem Falle weder die
elektrotonischen Veränderungen die Reizstelle, noch auch die Erregung
die polarisirte Strecke zu passiren braucht, um den ableitenden Bogen
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 713
ZU erreichen, so lässt sich der Einfluss der Reizung auf die Elektro-
tonusströme ganz rein untersuchen. Während Bernstein die be-
obachteten Erscheinungen aus einer durch die Erregung bedingten
Abnahme der Kraft oder Wirksamkeit der angenommenen elektromo-
torischen Molekeln erklären will, sieht sich Hermann durch die von
ihm vertretene Auffassung der galvanischen Erscheinungen im Elektro-
tonus veranlasst, die beschriebenen Thatsachen dahin zu deuten , dass
die negative Erregungswelle während ihres Ablaufes durch den Nerven
in ihrer Intensität verändert wird, wenn derselbe polarisirt ist; „und
zwar langt sie an einer Nervenstelle um so stärker an , je stärker
positiv und je schwächer negativ die letztere polarisirt ist, d. h. sie
wächst , wenn sie nach in algebraischem Sinne positiveren , und sie
nimmt ab, wenn sie nach negativeren Stellen vorschreitet." (Her-
mann's Satz vom „polarisatorischen Incremen t" der
Erregung.)
Theoretisches.
Obgleich es zur Zeit noch kaum möglich ist, eine alle Erscheinungen
umfassende Theorie der elektrischen Erregung aufzustellen, erscheint
es doch zweckmässig, auf Grund der vorliegenden Erfahrungen, die
sich auf eine grosse Summe von Einzelbeobachtungen stützen, den
Versuch zu wagen, einige allgemeine Gesichtspunkte aufzustellen, von
denen aus ein gewisser Ueberblick des ganzen grossen Gebietes
ermöglicht wird. Dass es sich zur Zeit dabei nur um eine ganz all-
gemeine Orientirung handeln kann, erscheint bei dem gegenwärtigen
Stande unseres Wissens fast selbstverständlich, und man kann viel-
leicht berechtigter Weise sagen, dass hier wie auf anderen Gebieten
der Physiologie die endgültige Erklärung der Thatsachen in weitere
Ferne gerückt ist, als es noch vor nicht zu langer Zeit den Anschein
hatte. Hatten doch die glänzenden Leistungen DuBois-Reymond's
seiner Zeit die Hoffnung erweckt und bei Vielen vielleicht sogar die
Ueberzeugung befestigt, dass durch die mit so grossem Scharfsinn
ersonnene und mit so bewundernswerther Consequenz durchgeführte
Molekulartheorie ein wirkliches physikalisches Verständniss aller
Erscheinungen der Nerven- und Muskelthätigkeit angebahnt sei, obwohl
es ja von vornherein klar war, dass chemische Vorgänge dabei
eine nicht minder bedeutsame Rolle spielen. Allein so sehr hatte
unter dem überwältigenden Eindruck der durch rein physikalische
Methoden errungenen Erfolge der Experimentalphysiologie die erstere
Anschauung das Ueberge wicht erhalten, dass man keinen Anstand
nahm, Muskeln und Nerven mit todten, anorganischen Körpern in eine
Parallele zu stellen. Dem gegenüber muss es als ein Avesentlicher
Fortschritt bezeichnet werden, wenn in neuerer Zeit die Mehrzahl der
Forscher die chemische Seite der Lebensvorgänge in den Vorder-
grund stellt oder doch wenigstens als den physikalischen Processen
gleichberechtigt anerkennt. Zwar hat schon Du Bois-Reymond
später die elektromotorischen Molekeln, aus welchen sich seiner Ansicht
zu Folge Nerven und Muskeln aufbauen sollten, als in bestimmter Weise
orientirte Herde einer lebhaften chemischen Thätigkeit bezeichnet
und Bernstein, auf dessen diesbezügliche Anschauungen wir noch
Biedermann, Elektrophysiologie. 46
714 Die elektromotoi'isclien Wirkungen der Nerven.
zurückkommen, folgte ihm hierin; dem ungeachtet aber wurde bei
Beurtheilung der Bedeutung dieser hypothetischen Molekularstructur
für die Lebensvorgänge und speciell die elektromotorischen Verände-
rungen bei der Thätigkeit der Nerven und Muskeln das Schwergewicht
nicht in die damit verknüpften Aenderungen der chemischen Con-
stitution, sondern in physikalisch verursachte Lageänderungen jener
Molekel verlegt. Du Bois-Reymond selbst hat es übrigens
niemals versucht, seine Theorie auch zur Erklärung der Erregung
selbst und der Fortleitung vom Orte der directen Reizung zu benutzen ;
er liess es sich vielmehr genügen, die begleitenden galvanischen Er-
scheinungen daraus herzuleiten, und warnte ausdrücklich davor, die
„säulenartige Polarisation" des Nerven, in welcher er das Wesen des
Elektrotonus erblickte, „für einerlei halten zu wollen mit dem Bewegung
und Empfindung vermittelnden Vorgang" (23 p. 385). Dem un-
geachtet hat es nicht an Versuchen gefehlt, in dieser Beziehung über
den Begründer der Molekulartheorie weit hinauszugehen, und es ist
von grossem Interesse und sehr bezeichnend für die vor noch nicht
allzulanger Zeit in der Physiologie vorherrschende, physikalische Be-
trachtungsweise, die Anschauungen kennen zu lernen, welche in der
Folge unter Zugrundelegung der Molekularhypothese über das Wesen
insbesondere der elektrischen Erregung geäussert wurden. In
Funke's trefflichem Lehrbuch (IL Auflage vom Jahre 1863) linden
sich Band I p. 859 folgende sehr charakteristische Ausführungen:
„Der erregende elektrische Strom ordnet die Nervenmolekeln zwischen
den Elektroden nach dem Schema der Säule dipolar; die an den
Grenzen dieser primär vom elektrischen Strome dipolar geordneten
Schicht liegenden Molekeln drehen diejenigen zunächst ausserhalb der
Elektroden liegenden Molekeln, welche im Sinne des erregenden
Stromes verkehrt gerichtet sind; diese wirken ebenso wieder auf die
folgenden verkehrten und so fort, bis sämmtliche Molekeln bis zum
Nervenende im Sinne der Säule geordnet sind. Es geht also hieraus
hervor, dass im Moment der Erregung des Elektrotonus in der Nerven-
röhre ein analoger Fortpflanzungsvorgang statthat, wie beim Ablauf
einer Welle längs eines mit Wasser gefüllten Grabens. In letzterem
zeigt uns die Physik eine successiv von der Erregungsstelle der Welle
nach dem Ende des Grabens zu mit gewisser Geschwindigkeit fort-
schreitende Verrückung der einzelnen Flüssigkeitstheilchen, im Nerven
finden wir eine von der erregten Stelle successiv nach beiden Enden
fortschreitende Lageveränderung der Molekeln, in Folge der elektrischen
Fernwirkung jeder Molekel auf ihre Nachbarn. Die Fortpflanzung
dieser Molekularbewegung geschieht wie bei der Wasserwelle mit ver-
hältnissmässig geringer, genau gemessener Geschwindigkeit. Ein
gewissermaassen der negativen Welle entsprechender mechanischer
Fortpflanzungsvorgang findet in der Nervenröhre im Moment der Be-
endigung des Elektrotonus statt. Sowie der erregende Strom geöffnet
wird, kehren zunächst die zwischen den Elektroden befindlichen Mo-
lekel vermöge einer unbekannten richtenden Kraft in die peripolare
Anordnung zurück; damit verschwindet der richtende Einfluss dieser
auf die ausserhalb gelegenen Nachbarn, es kehren auch diese in die
peripolare Anordnung zurück , eben dadurch auch die folgenden und
so fort bis zum Nervenende. Die Drehung der Molekel beim Schluss
des Elektrotonus (Oefi^nung des Stromes) ist die entgegengesetzte, wie
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 715
die im Beginn stattfindende, die Richtung der Fortpflanzung ist
dieselbe, analog den Verhältnissen der positiven und negativen
Wasserwelle. Nun haben wir oben gesehen, dass der Beginn
und das Ende des Elektrotonus , die Schliessung und Oeftnung
des erregenden Stromes, von einer Zuckung des mit dem Nerven
verbundenen Muskels begleitet sind, dass also die Muskelzuckung,
welche der in den Muskelenden des Nerven ankommende Erregungs-
zustand verursacht, in den beiden Momenten stattfindet, in welchen
die successiv fortschreitende Lagenveränderung der Nervenmole-
keln die Molekeln jener Muskelenden erreicht. Ferner ist oben er-
wiesen, dass eine Muskelzuckung jede plötzliche Dichtigkeitsver-
änderung des erregenden Stromes begleitet; auch hier fällt, wie sich
leicht zeigen lässt, die Zuckung, welche den Erregungszustand be-
kundet, mit einer successiv im Nerven von Molekel zu Molekel bis
zum Muskel fortgepflanzten Bewegung derselben zusammen. Es ist
nämlich die säulenartige Anordnung im Elektrotonus keine ganz voll-
ständige, d. h, also, die im Sinne der Säule verkehrt gerichteten
Molekeln werden nicht ganz um 180°, sondern nur um verschieden
grosse Bruchtheile des Halbkreises gedreht. Die Grösse dieser
Drehung hängt, ausser von anderen Umständen, hauptsächlich von der
Dichtigkeit des erregenden Stromes ab. Vermehren wir also diese
Dichtigkeit plötzlich um eine gewisse Grösse, so wird ebenso plötzlich
der Reihe nach jede Molekel, jede von der Nachbarin gerichtet, um
ein Stück weiter gedreht; umgekehrt dreht sich jede Molekel ein Stück
zurück bei momentaner Verminderung der Stromdichte. Diese successiv
fortschreitende partielle Drehung der bereits aus der peripolaren An-
ordnung abgelenkten Molekeln ist ebenso wie die ursprüngliche
Drehung im Beginn des Elektrotonus von Muskelzuckung begleitet,
während keine Muskelzuckung stattfindet, solange die Molekeln ruhen,
gleichviel, ob in peripolarer oder mehr oder weniger dipolarer Anordnung,
oder sobald die Drehung der einzelnen Molekeln allmählich in grösseren
Zeiträumen erfolgt, wie dies bei allmählicher Vermehrung oder Ver-
minderung der Stromdichte der Fall ist. Je beträchtlicher die von
Nachbarin zu Nachbarin mitgetheilte momentane Drehung, desto
beträchtlicher die durch den Grad der Muskelzuckung ausgedrückte
Grösse des Erregungszustandes."
„Ein anhaltender, scheinbar stetiger Erregungszustand des Nerven
wird durch einen in kurzen Zwischenräumen unterbrochenen Strom (ent-
weder durch gleichgerichtete oder abwechselnde entgegengesetzt-gerich-
tete Schläge) erzeugt; hierbei müssen wir uns vorstellen, dass jedes
dieser kurzen Strömchen bei seinem Anfange und Ende von Bewegungen
der Nervenmolekeln begleitet ist, dass demnach während des elektrischen
Tetanisirens die Nervenmolekeln in schneller Aufeinanderfolge Drehungen
in verschiedenem Sinne erleiden. Unter allen diesen Umständen also
fallen in dem auf elektrischem Wege gereizten Nerven fortgepflanzte Be-
wegungen der elektromotoi'ischen Molekeln und Erregungszustand genau
zusammen; keines zeigt sich ohne das andere, keines überdauert das
andere. Es müssen daher beide im innigsten Zusammenhange stehen,
oder beide sind identisch, d. h. der fortgepflanzte Erregungs-
zustand besteht in der fortgepflanzten Bewegung der
elektromotorischen Molekeln."
Die Schwierigkeiten, welche einer derartigen schematisclien
46*
716 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
und einseitigen Anschauungsweise selbst in dem günstigsten Falle
der Erregung durch den elektrischen Strom entgegenstehen —
es sei nur an die Thatsache der raschen Intensitätsabnahme der
elektrotonischen Wirkungen mit der Entfernung von der Reiz-
stelle erinnert — , haben gleichwohl nicht abgeschreckt von dem
Versuch, auch die Wirkungsweise anderer Reize nach dem gleichen
Princip zu deuten. So meinte Eckhardt den Erfolg der chemischen
Reizung des Nerven auf eine fortgepflanzte Stellungsänderung der ange-
nommenen Molekeln beziehen zu dürfen, indem er von der übrigens
irrigen Ansicht ausging, dass die noth wendige Bedingung jeder nicht
elektrischen Reizung die momentane Tödtung der gereizten Nerven-
strecke sei. Die Zerstörung der elektromotorischen Molekeln in der
abgetödteten Strecke und somit der Wegfall ihres richtenden Ein-
flusses auf die unversehrt gebliebenen Nachbarn sollte nun diese
veranlassen, neue Stellungen einzunehmen und so Ursache einer sich
fortpflanzenden Lageänderung aller folgenden Molekeln werden.
Aber auch die vorhin entwickelte einfache Molekulartheorie der
elektrischen Erregung erwies sich sofort gänzlich unhaltbar, als
der Satz von der ausschliesslich polaren Erregung irritabler Substanzen
als ein allgemein gültiges Gesetz anerkannt werden musste. Der
insbesondere von Pflüger gelieferte Nachweis, dass im Bereich der
beiden Pole eines dem Nerven zugeführten Kettenstromes antagonistische
Zustandsänderungen Platz greifen, die sich durch eine im entgegengesetzten
Sinne veränderte Erregbarkeit kundgeben, sowie der fernere Nachweis,
dass die Erregung bei der Schliessung nur von der einen Elektrode
(der Kathode) , bei der Oeffnung dagegen nur von der andern (der
Anode) ausgeht, lassen sich, wie man leicht sieht, selbst vom Stand-
punkte der Molekulartheorie aus nicht ohne Weiteres mit der Vor-
stellung einer völligen Identität der fortschreitenden „säulenartigen"
Polarisation und der Erregung vereinen. Denn es ist durchaus nicht
einzusehen, weshalb eine Lageveränderung der Molekel bei der
Schliessung nur an der Kathode, bei der Oeffnung dagegen nur an
der Anode erfolgen sollte; vielmehr würde jeder Punkt der ganzen
durchflossenen Strecke in gleicher Weise an der Auslösung des Er-
regungsvorganges theilnehmen, da doch die nach der Du Bois'schen
Elektrotonus-Theorie vorausgesetzten primären Lageänderungen der
Molekeln gleichmässig zwischen beiden Polen in der ganzen intra-
polaren Strecke stattfinden.
Ohne directe Anlehnung an die Du Bois-Reymond'sche Mole-
kulartheorie hat daher Pflüg er (32) mit grossem Scharfsinn eine
Anschauung entwickelt und zu begründen versucht, welche zwar eben-
falls an die Vorstellung eines molekularen Aufbaues der Nervensub-
stanz anknüpft und die Erscheinungen im Wesentlichen unter dem
Bilde physikalischer Aenderiingen innerhalb des Systemes erläutert,
aber sich andererseits mit allen bis dahin bekannten Erfahrungsthat-
sachen in Uebereinstimmung befindet. Ich werde mich im Folgenden
hauptsächlich an die klare und übersichtliche Darstellung halten,
welche Funke (Physiol., 4. Aufl., I p. 865 ff".) von der Pflüger'schen
Theorie gegeben hat. Pflüger geht von der Vorstellung aus, dass
es sich beim Nerven — und man müsste dies wohl auf alle irritablen
Substanzen verallgemeinern — um Molekelcombinationen handelt,
„welche fortwährend bestrebt sind, in Bewegung zu gerathen, dies
Die elektromotorischen Wirkuntren der Nerven.
717
aber nicht können, weil ein Hinderniss, eine M o 1 e k u 1 a r h e m m u n g ,
vorhanden ist. Da die Molekelcorabinationen des Systems ein fort-
währendes Bewegungsstreben haben, muss fortwährend eine Kraft
vorhanden sein, welche sie antreibt. Da die Molekeln aber in Ruhe
bleiben, so muss die Kraft, welche von der Hemmung herrührt, jener
gleich und entgegengesetzt sein." (Pflüg er, 1. c. p. 478.) Im
ruhenden Zustand des Nerven halten sich beide, die Molekular-
sjaannung und die Molekularhemmung, das Gleichgewicht,
wobei die letztere durch bestimmte Kräfte in einer gegebenen Lage
erhalten und in dieselbe augenblicklich zurückgeführt werden muss,
wenn andere auf sie wirkende Kräfte sie daraus entfernt haben; es
muss ferner eine Verschiebung dieser elastischen Molekularhemmung
in doppelter entgegengesetzter Richtung möglich sein, und durch die
Verschiebung in einer dieser Richtungen müssen die Bedingungen
zur Entladung von Spannkräften herbeigeführt werden, und zwar so,
dass um so mehr Spannkräfte in lebendige Kraft umgesetzt werden,
je weiter die Hemmung in jener einen Richtung verschoben wird,
während die Verschiebung in der entgegengesetzten Richtung umgekehrt
eine Anhäufung von Spannkräften bedingt.
Durch ein ausserordentlich anschauliches Bild versinnlicht
Pflüg er den Auslösungsmechanismus in einem beliebigen Nervenquer-
schnitt. Ein rechtwinklig gebogener
Cylinder ABC (Fig. 220) trägt in
seinem horizontalen Schenkel A B
einen wasserdichten, in der Richtung
der Pfeile a h und c d verschiebbaren
Kolben D. Auf der einen Seite drückt
gegen diesen Kolben eine gespannte
Stahlfeder, welche am Kolben befestigt
ist, und sucht ihn mit einer gewissen
Kraft in der Richtung a h zu ver-
schieben. Auf der anderen Seite drückt
gegen den Kolben die in den senk-
rechten Arm des Cylinders eingegossene
Flüssigkeit mit demjenigen hydrostati-
schen Druck, welcher der Höhe der
Flüssigkeitssäule im senkrechten Schen-
kel B C entspricht, und sucht den Kol-
ben in der Richtung c d zu verschieben.
Der Kolben kommt offenbar in der
Stellung zur Ruhe, bei welcher sich die Spannung der Feder und
der Druck der Flüssigkeitssäule das Gleichgewicht halten. Hinter
dem Kolben befindet sich im waagrechten Schenkel des Cylinders
eine Oeflfnung, g, welche aber nach Pflüger als Schlitz in Form
einer Spirale, deren höchster Punkt dem Kolben zunächst liegt, zu
denken ist. Vermehren wir nun die Elasticität der Feder, so drückt
sie stärker auf den Kolben, schiebt ihn weiter von der Oeffnung g
weg und schiebt dadurch mittelbar die Flüssigkeit vor sich her, so
dass sie im verticalen Schenkel höher steigt, und der hydrostatische
Druck wächst. Vermindert sich dagegen die Elasticität der Feder,
so verschiebt die Flüssigkeit den Kolben in der entgegengesetzten
Richtung c d, schiebt ihn mehr oder weniger weit über die Oeffnung g
Fig. 220.
718 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
hinweg, so dass die Flüssigkeit diese erreicht und beim Ausströmen
eine von der Fallhöhe abhängige lebendige Kraft gewinnt. Mit dem
Ausströmen mindert sich der hydrostatische Druck so, dass die Kraft
der Feder allmählich den Kolben wieder über die Oeffnung verschiebt
und das Ausströmen beendigt.
Sehen wir nun, wie dieser schematisirte Mechanismus das Ver-
halten des lebendigen Nervenquerschnitts in Bezug auf Reizung,
Leitung und Erregbarkeit erklärt, und zwar zunächst die Erscheinungen
und Gesetze des Elektrotonus. Diese Erklärung ergiebt sich als einfache
Consequenz der folgenden, von Pflüg er aufgestellten hypothetischen
Prämisse. Der elektrische Strom, während er eine Strecke des Nerven
durchfliesst, verändert direct die Kräfte der Molekularhemmung und
nur diese, während er die Spannkräfte unmittelbar ungeändert lässt.
Die vom Strom bewirkte Veränderung der Hemmungs-
kräfte besteht darin, dass er sie im Bereich des An elektrotonus
vermehrt, im Bereich des Katelektrotonus herabsetzt, also
die elastische Kraft der Kolbenfeder in allen Cylindei'schleussen, welche
die anelektrotonisirten Nervenquerschnitte repräsentiren, vermehrt, in
allen katelektrotonisirten schwächt. Daraus folgt weiter, dass im Be-
reich des Anelektrotonus die Hemmungen, d. h. die Kolben D, sich
in der Richtung des Pfeiles a h verschieben, wodurch indirect auch die
Spannkraft, d. h. die Höhe der Flüssigkeitssäule in B C, Avächst,
Avährend im Bereich des Katelektrotonus umgekehrt die Kolben sich
in der Richtung c d verschieben, so dass die Spannkraft indirect ab-
nimmt. Ein positiver Zuwachs der Hemmungskraft inducirt also
indirect auch einen positiven Zuwachs der Spannkraft und ebenso
umgekehrt ein negativer der einen Kraft einen negativen der anderen.
Bei dieser Annahme ist die Herabsetzung der Erregbarkeit
auf den anelektrotonisirten Strecken und ihre Erhöhung auf
den katelektrotonisirten leicht begreiflich ; die grössere elastische
Kraft der Hemmungsfedern im Gebiet des Anelektrotonus macht eine
grössere Kraft zur Zurückdrängung des Kolbens bis zur Oeffnung
der Cylinderschleusse nothwendig, als im Normalzustand, die ver-
ringerten Hemmungskräfte im Bereich des Katelektrotonus eine
geringere. Schwieriger ist es zu erklären, erstens, wie es kommt,
dass bei geringer Stärke des polarisirenden Stromes eine von
einem beliebigen Querschnitt aus erzeugte Erregung sich durch kat-
elektrotonisirte sowohl als anelektrotonisirte Strecken in derselben
Weise fortpflanzt, wie durch den Nerven im natürlichen Zustand
(was freilich thatsächlich im strengen Sinne wohl nicht der Fall ist),
so dass also die stärkere Erregung, welche oberhalb eines aufsteigenden
Stromes ausgelöst wird, eine stärkere Zuckung als im natürlichen Zu-
stand bedingt, obwohl sie sich durch die anelektrotonisirten Strecken,
welche bei directer Reizung einen geringeren Effect geben, fortpflanzen
muss. Zweitens gilt es, zu erklären, wie es kommt, dass bei beträcht-
lichen Stärken des polarisirenden Stromes die anelektrotoni-
sirten Strecken auch die Leitungsfähigkeit verlieren.
Auch diese Schwierigkeit überwindet Pflüg er. Die Leitung einer
von einem beliebigen Querschnitt ausgelösten Erregung kommt dadurch
zu Stande, dass die am Ort der Reizung ausgelösten lebendigen Kräfte
zur Verschiebung der Molekularhemmung im folgenden Querschnitt,
die auf diese Weise im zweiten Querschnitt freigewordenen lebendigen
Die elektromotorischen Wirkungen der Nei-ven. 719
Kräfte zur Verschiebung der Molekularhemmung im nächstfolgenden
Querschnitt u. s. f. verwendet werden. Nun sind die Molekular-
hemmungen in den anelektrotonisirten Strecken in Folge der ver-
mehrten elastischen Kräfte der Federn schwerer, in den katelektrotoni-
sirten Strecken leichter als im natürlichen Zustand verschiebbar; die
Thatsache der unveränderten Leitungsfähigkeit im schwachen
Elektrotonus bedeutet demnach, dass in allen leitenden Querschnitten
des Nerven die Grösse der Verschiebung der Molekularhemmungen
lediglich von der Grösse der am direct gereizten Querschnitt frei
werdenden lebendigen Kraft abhängt, dieser an allen Querschnitten
proportional ist, gleichviel, ob die Verschiebung der Hemmungen er-
schwert oder erleichtert ist. Das ist nur möglich, wenn bei der
Uebertragung der Erregung von Querschnitt zu Querschnitt nicht
jedesmal die ganze Summe der freigewordenen lebendigen Kräfte auf-
gezehi't, sondern nur ein so grosser aliquoter Theil derselben auf die
Verschiebung der Molekularhemmung verwendet wird , als zur Er-
reichung der durch die Reizgrösse gebotenen Verschiebungsgrösse
nothwendig ist, ein gi'össerer Theil also im Gebiet des Anelektrotonus,
wo die Verschiebung erschwert ist, ein geringerer im Gebiete des
Katelektrotonus, wo die Verschiebung erleichtert ist. Pflüger er-
läutert diese Hypothese durch das Bild eines um eine horizontale Achse
drehbaren Rades, dessen Drehung durch den stärkeren oder geringeren
Druck einer schleifenden Feder erschwert oder erleichtert werden
kann; dieses Rad trägt am peripherischen Ende einer horizontal
liegenden Speiche eine seitlich hervorragende horizontale Schaufel, auf
welche von oben ein dünner Wasserstrahl herabfällt, und dadurch das
Rad nach abwärts dreht, bis die Schaufel aus dem Bereich des Wasser-
strahles gedreht ist. Zu dieser gleichbleibenden Grösse der Rad-
drehung wird ein um so grösserer Theil des herabfallenden Wasser-
strahles, also der zu Gebote stehenden lebendigen Kraft, verbraucht
werden, je stärker die Feder auf das Rad drückt, je schwerer dasselbe
beweglich ist. Die Ursache, dass bei starkem Elektrotonus die an-
elektrotonisirten Strecken ihr Leitungsvermögen verlieren, erklärt sich
bei dieser Annahme so, dass in Folge der übermässigen Steigerung
der Hemmungskräfte die ganze Summe der durch den Reiz ausgelösten
lebendigen Kräfte nicht mehr ausreicht, die der Reizgrösse entsprechende
Grösse der Verschiebung der Molekularhemmungen zu Stande zu
bringen, ebenso wie bei übermässigem Druck der Feder gegen das
Rad der ganze zu Gebote stehende Wassercylinder nicht mehr aus-
reicht, die Schaufel mit dem Rade aus seinem Bereiche wegzudrehen.
Das von Pflüg er erwiesene Grundgesetz der polaren elektrischen
Reizung , wonach das Entstehen des Katelektrotonus die
Schliessungszuckung, das Verschwinden des Anelektro-
tonus die Oeffnungszuckung erzeugt, erklärt P f 1 ü g e r folgender-
maassen aus seiner Theorie. Der entstehende Anelektrotonus verstärkt
die Hemmungskräfte, verschiebt daher den Kolben D unseres Schemas
in der Richtung des Pfeiles a h, entfernt ihn von der Schleussenöff-
nung ; selbstverständlich kann dann keine Flüssigkeit aus " der Oeff-
nung g ausströmen, im Gegentheil, das Ausströmen, d. h. die Um-
setzung von Spannkräften in lebendige Kraft, ist jetzt noch weniger
möglich, als bei der vorhergehenden Ruhelage der Hemmung, es kann
also unmöglich Reizung durch den Eintritt des Anelektrotonus bedingt
720 I)'*5 elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
sein. Umgekehrt verhält es sich im Bereich der Kathode. Der ein-
tretende Katelektrotonus vermindert die Hemmungskräfte, schwächt
die elastische Kraft der Kolbenfedern, der Kolben wird durch den
das Uebergewicht gewinnenden hydrostatischen Druck in der Richtung
des Pfeiles c d verschoben, die OefFnung wird zum Ausströmen von
Flüssigkeit freigegeben, mit anderen Worten : es entladen sich Spann-
kräfte. Werden die mit der Entladung verloren gehenden Spannkräfte
nicht ersetzt, so kann die Entladung nur eine momentane sein; denn
mit dem Ausströmen von Flüssigkeit wird der hydrostatische Druck
\n B C geringer, die Feder kann also den Kolben B wieder über die
OefFnung schieben, daher nur momentane Schliessungszuckung.
Werden aber die verloren gehenden Spannkräfte immer wieder ersetzt,
so wird die Entladung derselben unterhalten, ebenso wie das Aus-
strömen von Flüssigkeit unterhalten wird, wenn in den verticalen
Schenkel des Cylinders immer soviel Flüssigkeit nachgegossen wird,
als eben abfliesst, d. h. es entsteht Schliessungstetanus. Entgegen-
gesetzt gestalten sich die Verhältnisse bei der Oeffnung des Stromes.
Im Moment der OefFnung kehren die vorher gesteigerten Hemmungs-
kräfte im Gebiete des Anelektrotonus auf ihr normales Maass zurück ;
nothAvendiger Weise erhalten daher die Spannkräfte das Uebergewicht
und verschieben in ihrem Sinne, d. h. in der Richtung des Pfeiles c d,
die Hemmungen. Die zurückweichenden Hemmungen werden aber,
ebenso wenig wie ein Pendel, zur Ruhe kommen, sobald sie die Gleich-
gewichtslage, aus welcher der Anelektrotonus sie verdrängt hatte,
wieder erreicht haben, sondern werden ein Stückchen über diese Lage
hinausgehen, so dass für einen Moment die OefFnung g dem Aus-
strömen von Flüssigkeit geöfFnet wird ; so entsteht die Oeffnungszuckung.
Dass im Gebiete des Katelektrotonus, wo im Momente der (JefFnung
des Stromes die wieder gestärkten Kräfte der Feder die Hem-
mungen in der Richtung des Pfeiles a b verschieben, keine Spann-
kräfte frei werden, also auch keine Reizung entstehen kann, versteht
sich von selbst. Auch die aus den Erscheinungen des Zuckungsgesetzes
gefolgerte Annahme, dass die Schliessung eines gegebenen Stromes
stärker als die OefFnung reizt, ergiebt sich als natürliche Folge der
Pflüger ' sehen Au-slösungshypothese; denn wenn bei der Schliessung
des Stromes die Hemmungen an der Anode um ebensoviel in der
Richtung a b als an der Kathode in der Richtung c d verschoben
werden, so können bei der OefFnung die Hemmungen im Bereich des
Anelektrotonus nicht um ebensoviel über die Normallage hinaus in
der Richtung c d verschoben werden, als die Hemmungen im Bereich
des Katelektrotonus bei der Schliessung, können also nicht ebensoviel
Spannkräfte entladen werden. Lassen wir eine Reihe kurz dauernder,
schnell sich folgender elektrischer Ströme den Nerven treffen, so ent-
steht die scheinbar continuirliche, tetanische Erregung durch die
fortwährend alternirende Entladung von Spannkräften an der Anode
und Kathode und wird so lange unterhalten, als der Stoffwechsel im
Stande ist, die bei jedem Schlag verloren gehende Spannkraft in der
Pause bis zum folgenden Schlag wieder zu ersetzen. So gestaltet sich
also die Mechanik des Zuckungsgesetzes ganz einfach nach Pf lüger's
Hypothese.
Untersuchen wir ferner noch, wie sich die oben beschriebenen
Nachwirkungen des constanten Stromes, die sogenannten Modifi-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 721
cationen des Nerven, aus Pflüger' s Auslosungsliypothese erklären
lassen. Wir haben gesehen, dass in der vorher anelektrotonischen
Nervenstrecke nach der Oeffnung des Stromes ein Zustand erhöhter
Erregbarkeit (positive Moditication) eintritt und langsam abklingt.
Nach Pflüger erklärt sich dieselbe durch die naheliegende Annahme,
dass der constante Strom durch seine Einwirkung die Kräfte der
Molekül arhemmung schwächt, was darum sehr wahrscheinlich
ist, weil nach Pflüger 's Hypothese der Strom während seines Be-
stehens überhaupt nur auf die Hemmungskräfte, aber gar nicht direct
auf die Spannkräfte einwirkt. Die nach der Oeffnung geschwächt
zurückbleibenden Hemmungskräfte werden offenbar der Umsetzung
von Spannkräften in lebendige Kraft weniger Widerstand entgegen-
setzen, als wenn sie ihre normale Stärke, welche ihnen vor der Schlies-
sung des Stromes eigen war, wieder annähmen, und so erklärt es sich,
dass der durch den Strom geschwächte Nerv sich erregbarer, also
anscheinend gestärkt zeigt. Die durch den Stoffwechsel allmählich
herbeigeführte Restitution der normalen Heramungskraft erklärt das
Abklingen der positiven Modification. Die im Gebiete des Katelek-
trotonus nach der Oeffnung hervortretende, kurz dauernde negative
Modification erklärt sich nach Pflüg er aus einem momentanen Mangel
an Spannkraft und dieser aus dem Umstand, dass der Katelektrotonus,
wie wir oben sahen, fortwährend die Schleusse offen hält, also eine
fortwährende Verausgabung von Spannkraft bedingt.
Was schliesslich diejenigen Nachwirkungen des polarisirenden
Stromes betrifft, welche sich durch mehr oder weniger anhaltende Ent-
ladung von Spannkräften kundgeben, so hat Pflüger gezeigt, dass
der Oeffnungstetanus im Gebiete des Anelektrotonus entsteht ; es zeigt
uns derselbe also an, dass nach der (Jeffnung des länger dauernden
Stromes innerhalb der vorher anelektrotonisirten Strecken eine anhal-
tende Entladung von Spannkräften eintritt. Denkt man sich, dass
durch die verstärkte Feder der Kolben vorgeschoben wurde und dass
durch den Zufluss von Wasser in A die Säule so hoch gestiegen sei,
dass der Kolben wieder bis zum Schlitz zurückgeschoben ist, so wird
sich eine bedeutende Wassermasse in Ä angesammelt haben. Nimmt
nun plötzlich die Elasticität der Feder wieder ab, so drängt die
Wassersäule den Kolben weit zurück , und es wird längere Zeit eine
grössere Wassermenge abfliessen, bis das Gleichgewicht wieder her-
gestellt ist. Dieser Vorgang entspricht dem Oeffnungstetanus.
Man sieht, dass die Pflüg er 'sehe Theorie in der That durchaus
geeignet ist, die wesentlichsten Erscheinungen der elektrischen Nerven-
erregung unter dem Bilde eines complicirten mechanischen Schemas
zu versinnlichen ; eine wirkliche Erklärung ist damit freilich nicht
gewonnen. Ich hielt dem ungeachtet eine ausführlichere Darlegung
für erforderlich, da diese Theorie in der Folgezeit einen grossen und
tiefgehenden Einfluss übte. Während, wie schon erwähnt. Pflüg er
selbst seine Anschauungen durchaus unabhängig von der Du Bois-
Reym ond 'sehen Molekulartheorie entwickelte, suchte später Bern-
stein eine directe Beziehung zwischen beiden zu vermitteln (28 p. 52).
Die „Molekularspannung", d. h. die jedem Molekül innewohnende
Spannkraft, die „durch den Process der Ernährung fortdauernd an-
gehäuft wird", identificirt Bernstein mit der elektrischen Spannung
der Du Bois-Reymond'schen peripolaren Molekeln, die sich bei der
722 ^iö elektromotorischen Wirkungen der Nerven,
Erregung abgleicht, womit eine Bewegung der Molekeln verknüpft ist.
„Dem Bestreben dieser letzteren, ihre elektrische Spannkraft abzu-
gleichen, wirkt nun eine ihrer Natur nach unbekannte hemmende
Kraft entgegen, welche es verhindert, dass im ruhenden Zustande eine
Bewegung der Molekeln eintritt'' („Molekularhemmung" Pflüger's).
Ob es sich dabei um Reibung, elastische Kraft oder Beides handelt,
bleibt dahingestellt; jedenfalls aber sind Kräfte im kSpiele, „welciie die
Bestandtheile der Molekeln (d. h. der peripolaren, aus zwei dipolaren
zusammengesetzten Molekeln) immer in der natürlichen Lage zu er-
halten streben und sie auch nach jeder Aenderung wieder in dieselbe
zurückführen". Jeder wie immer geartete Reiz „erschüttert die natür-
liche Lage der Molekeln", wobei die Molekularhemmung durchbrochen
wird und ein Ausgleich elektrischer Spannkraft eintritt. Was speciell
die elektrische Erregung betrifft, so glaubte Bernstein die Ver-
stärkung der Molekularhemmung am positiven Pol und die dadurch
bedingte geringere Beweglichkeit der Molekeln (verminderte Erreg-
barkeit) daselbst, sowie umgekehrt die geringere Hemmung und leichtere
Beweglichkeit (gesteigerte Erregbarkeit) am negativen Pol auf die
Anziehung beziehungsweise Abstossung beziehen zu dürfen , welche
von Seite der polarisirenden Elektroden auf die ihnen zunächst-
liegenden peripolaren Molekeln ausgeübt wird. Die positive Elek-
trode soll dieselben so zu sagen in ihrer Lage fixiren, da die
negativen Zonen dem Pole zugewendet sind, während die Kathode
sie durch Abstossung der gleichnamigen Zonen beweglicher macht.
So würde sich erklären, weshalb bei der Schliessung des Stromes die
Erregung nur von der Kathode ausgeht; denn am positiven Pol werden
die Molekeln in ihrer natürlichen Lage festgehalten; „am negativen
Pol dagegen wird ihre Hemmung geschwächt, die vorhandene
Spannung erhält das Uebergewicht und verursacht eine Erregung."
Beim Oeffnen der Kette sinkt dagegen am positiven Pol plötzlich die
von ihm bewirkte Hemmung, und die verstärkte Spannkraft der
Molekeln führt nun hier zu einer Entladung derselben, die sich als
Erregung geltend macht. In ähnlicher Weise lassen sich hiernach
auch die elektrotonischen Erregbarkeitsänderungen und andere Er-
scheinungen deuten.
Der vor vielen Jahren von Du Bois-Reymond ausgesprochene
Satz (Untersuchungen IL, 1 p. 387), dass galvanische Reizung
nichts weiter ist, als die erste Stufe der Elektrolyse des
reizbaren Gebildes, darf vielleicht, wiewohl in einem etwas ver-
schiedenen Sinne, auch gegenwärtig noch als die zutreffendste theore-
tische Definition der physiologischen Wirkungsweise des Stromes gelten.
Es ist bemerkenswerth , dass der erwähnte Ausspruch aus einer Zeit
stammt, wo das polare Erregungsgesetz noch unbekannt war, durch
dessen Nachweis der Blick fast nnwillkürlich Avieder in dieselbe
Richtung gelenkt werden musste. Ganz direct äussert sich von Bezold
in diesem Sinne am Schlüsse seiner ausgedehnten Untersuchungen
über die elektrische Erregung der Nerven und Muskeln. Er er-
blickt in dem Umstände, „dass der Molekularvorgang der Erregung in
so regelmässiger Weise sowohl bei der Schliessung als während des
Geschlossenseins und bei der Oeffnung an einem ganz bestimmten
Pole unmittelbar entsteht und nicht in der ganzen Ausdehnung der
unmittelbar durchflossenen Strecke", einen Hinweis darauf, „die
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 723
erregend e Wi rkung des galvanischen Stromes in den
chemischen Einwirkungen zu suchen, welche der Strom
in dem von ihm durch flossenen feuchten Leiter hervor-
ruft" (1. c. p. 327). Er erinnert an den Antagonismus der polaren
Veränderungen, an die Beobachtung Kühne 's, dass eine vom Strom
durchflossene Muskelstrecke in der Gegend der Anode eine Gerinnung
zeigt, an der Kathode dagegen eine Anätzung erfährt, sowie an die
Versuche Jürgensen's über die kathaphorischen Wirkungen des
Stromes, und sieht sich auf Grund aller Erwägungen zu dem Schlüsse
gedrängt, in dem Erregungsvorgang nichts weiter zu erblicken, als
eine Wirkung der durch den Strom erzeugten Elektro-
lyse. „Die elektrische Erregung wäre hiernach nichts
Anderes, als eine bestimmte Form der chemischen
Reizung, welcher Vorgang ebenso wie der Vorgang der Wasserstoff-
entwicklung während der Stromschliessung am negativen Pol allein
unmittelbar auftritt" (1. c. p. 328). Der insbesondere von Bezold ge-
lieferte Nachweis, dass der Vorgang der Erregung an der Kathode während
der ganzen Schliessungsdauer des Stromes ausgelöst wird , steht , wie
man leicht sieht, mit dieser Auffessung in voller Uebereinstimmung.
Der grösste Fortschritt in der angedeuteten Richtung wurde
aber in der Folge durch die Arbeiten L. Hermann 's auf elektro-
physiologischem Gebiete angebahnt, welche vor Allem dazu bei-
trugen, dass der chemischen Seite des Geschehens bei allen hier
in Betracht kommenden Lebenserscheinungen mehr Aufmerksamkeit
zugewendet wurde, als bisher, und durch die Entschiedenheit, mit
welcher darin die Du Bois-Reymond'sche Molekulartheorie bekämpft
wird , eines der wesentlichsten Hindernisse beseitigen halfen , welches
einer Avirklich fruchtbaren Weiterentwicklung der allgemeinen Nerven-
und Muskelphysik entgegenstand. Mit dem Gesetz von den aus-
schliesslich polaren Wirkungen des elektrotonischen Stromes in irritablen
Substanzen bildet das von Hermann aufgestellte „Gesetz des
Actionsstromes", demzufolge jeder erregte Theil sich negativ
gegen einen weniger oder nicht erregten verhält, in der That die
Grundlage aller unserer derzeitigen Anschauungen und liefert den
Schlüssel zum Verständniss einer ausserordentlich grossen Zahl von
Thatsachen. Wie von Hermann, wurde auch von Hering stets betont,
dass alle Vorgänge in den erregbaren lebendigen Substanzen in erster
Linie als chemische aufzufassen sind, „und das man nicht über den
physikalischen Symptomen der Lebensprocesse das eigentlich chemische
Wesen derselben vergessen dürfe" (24, p. 59). Von sehr allgemeinen
Gesichtspunkten aus und so zu sagen als letzte Consequenz seiner
sinnesphysiologischen Anschauungen hat Hering die Grundzüge einer
Theorie der Vorgänge in den lebendigen Sub,stanzen und speciell auch
der elektrischen Erregung entwickelt, welche, obschon sie bisher
kaum Beachtung fand, zur Zeit wohl als der umfassendste Ausdruck
aller auf diesem Gebiete bekannten Thatsachen gelten darf, die sie in
einfacher und befriedigender Weise unter Zugrundelegung nur weniger
fundamentaler Sätze des Stoffwechsels abzuleiten und zu erklären ge-
stattet. Hering geht von der Voraussetzung aus , dass die einen
Muskel oder Nerven in der Längsrichtung durchsetzende elektrische
Strömung die erregbare Substanz an der physiologischen Anode und
Kathode in entgegengesetztem Sinne chemisch verändert oder, wie
724 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
man es wohl richtiger ausdrücken würde, an beiden Stellen ant-
agonistische Veränderungen des Chemismus der betreffenden Substanz
herbeiführt, indem an allen Punkten, wo der Strom in die unversehrte
lebende Substanz eintritt, die assimilatorischen Processe ins
Uebergewicht kommen und im Sinne der von Hering gewählten
Ausdrucksweise (vergl. p. 71 f.) eine „allonome aufsteigende"
Aenderung bewirken, während an der Gesammtheit der Austrittsstellen
die D i s s i m i 1 a t i 0 n (der Zerfall) vorherrscht und zu einer „allonomen
absteigenden" Aenderung führt. Nun ist unstreitig jede Erregung im
gewöhnlichen M^ortsinne charakterisirt durch das Vorherrschen der
dissimilatorischen Processe, wobei es zunächst ganz gleichgültig ist,
ob dieselbe auf den Ort ihrer Entstehung beschränkt bleibt oder sich
von da aus durch Leitung weiter fortpflanzt. Unter allen Um-
ständen wird daher die physiologische Kathode der Sitz einer während
der Schliessungsdauer des Stromes anhaltenden Erregung, der
Schliessungserregung, sein müssen. Minder geläufig sind die
Anschauungen, Avelche Hering in Anlehnung an gewisse Folgerungen
seiner Theorie des Lichtsinnes bezüglich der Vorgänge an der Anode
entwickelt. „Wie man sich äussere Reize denken kann, welche die
lebende Substanz zu stärkerer Dissimilirung (D) nöthigen, so kann
man sich auch solche denken, welche sie zu stärkerer Assimilirung (Ä)
veranlassen. Die stärkere, nicht mehr lediglich „autonome" Assimilirung,
welcher jetzt keine gleich starke Dissimilirung das Gleichgewicht hält,
bewirkt eine Beschaffenheit der Substanz, welche das Gegentheil der
durch die D bewirkten „unterwerthigen" ist und daher von Hering
als „ über wer thig" bezeichnet wird." „Nach Schluss des (assimila-
torisch wirkenden) Reizes befindet sich die Substanz gleichsam in
einem übernährten Zustande; ihre Disposition zur J. ist jetzt geringer
als vorher, und zwar um so mehr, je grösser die Stärke und Dauer
des Reizes und dem entsprechend das Ueberwiegen der allonomen
A über die autonome D war. Entsprechend grösser ist jetzt
ihre Disposition zur D. So entsteht nach Schluss der Reizung
ein Ueberwiegen der autonomen D über die autonome A (d. h. eine
Erregung im gewöhnlichen Wortsinn), durch welche unter allmählicher
Abnahme der Ueberwerthigkeit die Substanz wieder in den mittel-
werthigen Zustand zurück gelangt" (1. c. p. 39). Den Einfluss der
Anode auf Muskel und Nerv hätten wir nun nach Hering als einen
solchen assimilatorisch wirkenden Reiz aufzufassen. „War die lebende
Substanz zuvor z. B. im Zustande der Mittelwerthigkeit und also
zugleich im autonomen Gleichgewichte zwischen D und A, so wird
sie unter der Einwirkung des Stromes an der Eintrittsstelle über-
werthig. Nach Schluss der Durchströmung tritt demzufolge an der
Eintrittsstelle eine autonome absteigende Aenderung ein, welche um
so rascher ist, je überwerthiger die Substanz durch die vorausgegangene
aufsteigende Aenderung geworden war; so kann die Eintrittsstelle
zum Ausgangspunkt einer abermaligen, sich über die Faser fort-
pflanzenden Erregung (Oeffnungserregung) werden." „An der Kathode
dagegen tritt nach der Oeffnung eine autonome aufsteigende Aenderung
ein, wenn die Austrittsstelle nicht etwa durch die vorausgegangene
Wirkung des Stromes wesentlich geschädigt wurde oder überhaupt
ihre Assimilirungsbedingungen gestört sind.
Da während der Durchströmung an der Austrittsstelle eine rasche
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 725
allonome absteigende Aenderimg stattündet, so verhält sich dieselbe
negativ zur übrigen Faser, insoweit sich dieselbe nicht in fortgepflanzter
„Erregung" befindet , während die Eintrittsstelle in Folge der hier
stattündenden allonomen aufsteigenden Aenderung sich entgegengesetzt
verhält. Dies würde also an sich einen dem durchgeleiteten Strom
entgegengesetzten Eigenstrom der Faser im Kreise bedingen. Dieser
Eigenstrom schAvächt den zugeleiteten Strom. Man hat ihn als einen
Poiarisationsstrom bezeichnet. Er ist jedoch als ein vitaler Gegen-
strom und als eine eigentliche Lebenserscheinung streng zu unter-
scheiden von jenen Polarisationsströmen, welche nicht eigentlich vitale
sind, weil sie nicht durch die an den Ein- und Austrittsstellen statt-
findende, auf- oder absteigende Aenderung der lebendigen Substanz
bedingt werden; denn auch im todten Gewebe, beziehungweise an den
nicht eigentlich erregbaren Theilen der noch lebenden Organe können
bei künstlicher Durchströmung Gegenströme entstehen.
Nach der Oeffnung des zugeleiteten fremden Stromes kann, wie
wir sahen, unter Voraussetzung normaler Beschaffenheit der lebendigen
Substanz an der Eintrittsstelle eine autonome absteigende Aenderung
eintreten, daher sich diese Stelle jetzt negativ zur übrigen Faser
verhält, insoweit dieselbe nicht auch in fortgeleiteter absteigender
Aenderung begriffen ist, während die Austrittsstelle sich in Folge ihrer
autonomen aufsteigenden Aenderung positiv zur übrigen Faser ver-
halten kann. So entsteht ein vitaler Eigenstrom der Faser von der-
selben Richtung wie der geöffnete fremde Strom. Diesen Eigenstrom
könnte man im Gegensatz zu dem soeben besprochenen vitalen Gegen-
strom als vitalen Gleichstrom bezeichnen. Er tritt um so sicherer
auf, je lebensfähiger die Substanz und je weniger sie durch den
fremden Strom in ihren Lebenseigenschaften geschädigt ist, je rascher
die durch den Strom gesetzten allonomen Aenderungen nach Oeffnung
des Stromes (Nachdauer der Erregung) verschwinden und die entgegen-
gesetzt gerichteten autonomen Aenderungen sich entwickeln. Durch
Complication mit etwaigen nicht vitalen, stets dem fremden Strom
entgegengesetzt gerichteten Polarisationsströmen kann er mehr oder
weniger gestört werden.
In einem markhaltigen Nerven, durch dessen mittleren Theil ein
fremder Strom geleitet wird, breiten sich die Eintrittsstellen des Stromes
in die erregbare Substanz ebenso wie seine Austrittsstellen weit über
die Berührungsstellen der beiden physikalischen Elektroden aus. Soweit
diese Eintritts- und Austrittsstellen sich erstrecken, besteht zunächst
ein auf Ausbreitung der Stromfäden beruhender, rein physikalischer
„An- und Katelektr otonus", wie er sich auch z. B. an einem
dürren hohlen Grashalm ohne Indernodien oder an einem Bündel
solcher Halme demonstriren lässt, die längere Zeit in destillirtem
Wasser oder schwacher Alkohollösung gelegen haben und dann mit
einer Salzlösung äusserlich benetzt und innerlich gefüllt worden sind.
An dieser weit ausgebreiteten Gesammtheit der Ein- und Austritts-
stellen des fremden Stromes in die erregbare Substanz (Axencylinder)
des Nerven, d. h. an der eigentlichen physiologischen Anode und
Kathode, entwickelt sich nun im Nerven einerseits die aufsteigende,
andererseits die absteigende Aenderung, welche das bedingen, was
den vitalen Elektr otonus ausmacht. Sowohl die abstei-
gende als die aufsteigende Aenderung kann sich nach Schluss des
"726 I-*^6 elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
fremden Stromes über die durch directe Wirkung dieses Stromes
kathodisch (negativ) oder anodisch (positiv) alterirten Strecken hinaus
im Nerven fortpflanzen und selbst in sehr entfernten Theilen des
Nerven vorübergehende Aenderungen herbeiführen^ welche sich auch
im elektromotorischen Verhalten der Faser äussern. Nach Wieder-
öffnung des fremden Stromes tritt ebensowohl an den Eintritts- wie an
den Austrittsstellen eine der vorhergegangenen entgegengesetzte
Aenderung mit ihren Folgeerscheinungen in der lebendigen Substanz
ein, dort eine autonome absteigende, hier eine autonome aufsteigende
Aenderung; beide Stellen haben so zu sagen ihre Rolle vertauscht, und
die für den vitalen Anelektrotonus charakteristische aufsteigende
Aenderung entwickelt sich jetzt an den gewesenen Austrittsstellen, die
für den vitalen Katelektrotonus charakteristische absteigende Aenderung
an den gewesenen Eintrittsstellen.
„Im marklosen Nerven, wie z. B. im N. olfactorius, und im Muskel,
deren reizbare Substanz keine schlechtleitende Hülle hat, wie der
mark haltige Nerv, fehlt die für letzteren charakteristische Ausbi'eitung
der Ein- und Austrittsstellen des fremden Stromes. Es fehlen also
jene elektrischen Erscheinungen, welche auf diese, zunächst nur durch
die Leitungsverhältnisse bedingte Ausbreitung zurückzuführen sind,
sowie auch die vitalen 1 o c a 1 e n Folgen dieser Ausbreitung. Jene
Erscheinungen aber, welche durch Fortpflanzung der an den Ein-
und Austrittsstellen des fremden Stromes bedingten auf- oder absteigen-
den Aenderungen entstehen, zeigen sich mehr oder minder deutlich
auch an der marklosen Nervenfaser und an der Muskelfaser."
„Ist eine Nervenstrecke einige Zeit von einem fremden Strome
längs durchflössen worden, und wendet man jetzt den letzteren, so
findet er die erregbare Substanz an seiner Austrittsstelle, weil dieselbe
zuvor Eintrittsstelle war, absolut oder relativ überwerthig und daher
in erhöhter Disposition zur absteigenden Aenderung; dem entsprechend
bewirkt der Strom eine raschere absteigende Aenderung, als dies sonst
der Fall gewesen sein würde (Volta's Alternative)."
„Die Muskelfaser bietet uns gegenüber der Nervenfaser den grossen
Vortheil, dass sich an ihr die durch absteigende Aenderung bedingte
Erregung durch eine Gestaltveränderung der bezüglichen Stelle ver-
rathen kann, und dass wir einen fremden Strom durch die natürlichen
Enden der Faser aus- und eintreten lassen können. Thun wir letz-
teres , so sehen wir die bei der Schliessung an der Austrittsstelle er-
folgende allonome Aenderung sich zunächst über die Länge der Faser
fortpflanzen, nach Ablauf dieser Schli essuugszuckung aber nur
in der Nähe der Austrittsstelle während der Schliessungsdauer in stetig-
abnehmender Weise fortbestehen (kathodische Dauercontraction).
Unterdess besteht an der Eintrittsstelle die autonome aufsteigende Aen-
derung, welche hier zu merklicher Ueberwerthigkeit der lebendigen
Substanz führen kann, wenn der Strom hinreichende Stärke und
Dauer hat. Nach der Oeffnung tritt deshalb hier eine autonome ab-
steigende Aenderung ein, welche bei hinreichender Geschwindigkeit
zur Oeffnungszuckung bez w. Oeffnungsdauercontraction
in der Nähe der Eintrittsstelle führt. Aber auch wenn diese autonome
absteigende Aenderung so schwach ist, dass sie sich nicht durch sicht-
bare (3^estaltveränderung des Muskels verräth, kann sie sich doch noch
durch den oben erwähnten vitalen Gleichstrom äussern, welcher nach
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 727
der Oeffnung nachweisbar ist, sofern Avir das anodische Muskelende
z. B. mit der Muskehnitte leitend verbinden."
„An der Austrittsstelle lässt sich nach Oeffnung- des fremden Stromes
die autonome aufsteigende Aenderung nicht immer nachweisen, weil
die autonome Assimilirung der lebendigen Substanz im ausgeschnittenen
Muskel eine zu langsam verlaufende und ungenügende ist, wie schon
oben betont wurde. Doch verräth sich in günstigen Fällen die auto-
nome aufsteigende Aenderung durch einen nach der Oeffnung auf-
tretenden vitalen Gleichstrom, wenn wir das kathodisch gewesene
Muskelende z. B. mit der Muskelmitte leitend verbinden."
„Dass die Muskelfaser, wie auch die Nervenfaser, auf quer hin-
durchgehende Ströme nicht reagirt, hängt offenbar damit zusammen,
dass die lebendige Substanz in querer Richtung kein lebendiges Con-
tinuum von derselben Art darstellt, wie in der Längsrichtung, was
auch in den optischen Polarisationserscheinungen und den Elasticitäts-
verhältnissen Ausdruck findet. Das Ausbleiben der Reaction Hesse
sich vielleicht auch schon daraus erklären, dass die antagonistisch
wirkenden Ein- und Austrittsstellen des Stromes in dem querdurch-
flossenen Structurelemente einander allzu nahe liegen."
„Hat ein stärkerer fremder Strom einen unversehrten Muskel
so lange in der Längsrichtung durchflössen, dass die kathodische
Dauercontraction bereits wieder verschwunden ist, so tritt nach der
Oeffnung die schon erwähnte anodische Dauercontraction ein , welche
sich über einen grossen Theil des Muskels erstrecken und lange an-
dauern kann. Schliesst man jetzt den Strom abermals, so wirkt er
als ein H e m m u n g s r e i z auif den contrahirten Muskel , und der
letztere erschlafft sofort vollständig. Der sonst an der Eintrittsstelle
nach der Oeffnung stattfindenden raschen autonomen absteigenden
Aenderung wirkt jetzt der anodische Reiz des fremden Stromes,
welcher die Substanz aufsteigend zu ändern strebt, entgegen und leitet
an ihrer Statt wieder aufsteigende Aenderung ein. An der Austritts-
stelle tritt dabei wegen vorausgegangener erschöpfender allonomer
absteigender Aenderung nicht nothwendig eine neue Schliessungs-
contraction ein."
„Ebenso wie sich die Oeffnungsdauercontraction eines Muskels
durch abermalige Schliessung des Stromes sofort hemmen lässt, kann
man auch eine andere, auf autonomer absteigender Aenderung be-
ruhende Contraction eines Muskels durch anodische Stromeswirkung
hemmen. Lässt man durch eine Pinselelektrode, welche mit ihrer
Spitze das freigelegte und noch vom Blute durchströmte Herz des
Frosches berührt, einen stärkeren Strom in dem Augenblicke eintreten,
wo eben eine Systole begonnen hat, während die andere Elektrode
z. B. die Kehlhaut berührt, so zeigt sich sofort eine von der Eintritts-
stelle ausgehende und sich mehr oder weniger ausbreitende locale
Diastole der Herzwand. Die eben begonnene autonome absteigende
Aenderung wird hier durch die anodische Wirkung des Stromes sofort in
eine allonome aufsteigende verwandelt, und der erschlaffte Theil der Herz-
wand wölbt sich unter dem Drucke des Blutes hoch empor. Die entgegen-
gesetzte Erscheinung beobachten wir, wenn der Strom durch die Pinsel-
spitze aus dem Herzen austritt. Schliessen wir den Strom mit Beginn
der allgemeinen Diastole, so entwickelt sich an der Austrittsstelle sofort
eine neue Systole (kathodische Schliessungsc on traction),"
728 I^'ß elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
„Lassen wir den Strom in der zuletzt angewandten Richtung einige
Zeit bestehen und öffnen ihn während einer allgemeinen Diastole, so
nimmt in Folge der starken autonomen aufsteigenden Aenderung die
Herzwand in der Gegend der Pinselspitze an der folgenden Systole
nicht Theil, sondern bleibt diastolisch erschlafft, und der Druck des
systolisch gepressten Blutes wölbt die erschlaffte Stelle stark hervor.
Dies ist die kathodische Oeffn ungshemmung, welche sich
also in ganz derselben Weise äussert, wie die vorhin besprochene
anodische Schliessungshemmung, und hiernach nicht als
blosse Ermüdungserscheinung aufzufassen wäre. Lassen wir dagegen
den Strom längere Zeit durch die Pinselspitze in die Herzwand e i n -
treten, so zeigt sich nach Oeffnung des Stromes in der Gegend der
Austrittsstelle sofort eine Contraction, welche sogar stärker sein kann,
als die natürliche systolische Contraction, was sich äusserlich durch
weisslichere Färbung der Herzwand verräth. Dies ist die auf autonomer
absteigender Aenderung beruhende anodische Oeffnungscon-
traction, das Analogon der oben erwähnten kathodischen
Schliessungscontraction, welche letztere auf allonomer ab-
steigender Aenderung beruht" (vergl. oben p. 220 f.).
„Die anodische Oeffnungscontraction und die kathodische Oeff-
nungserschlaffung sind durchaus analog den successiven Contrast-
erscheinungen , welche wir an anderen lebendigen Substanzen be-
obachten, und ebenso wie diese keineswegs auf blosse Ermüdung
zurückzuführen. "
Diesen einfachen und klaren Ausführungen gegenüber erscheint
ungeachtet ihrer sehr detaillirten Ausarbeitung eine neuerdings (1888)
von Bernstein (52) aufgestellte „modilicirte" Molekulartheorie wenig-
befriedigend, zumal sie von gewissen Annahmen ausgeht, deren Zu-
lässigkeit zum mindesten bezweifelt werden kann. Dies gilt schon
von der behaupteten Notliwendigkeit, den lebenden Faserinhalt (bei
Muskeln und Nerven) sich als aus Längsreihen von Molekülen zu-
sammengesetzt zu denken, welche, am natürlichen Querschnitt des
Muskels (Sehnenende) schlingenartig mit einander verbunden, „in der
Flüssigkeit, in der sie sich befinden, polarisirbar seien," wobei jedoch
wegen des nahen Zusammenhanges in der Längsrichtung die Polari-
sation immer nur „an der freien Oberfläche" einer solchen Molekülreihe
stattfinden kann. Nur unter dieser Voraussetzung, für w^elche er eine
wesentliche Stütze auch in der bekannten Unerregbarkeit des künstlichen
Muskel-Querschnittes gegenüber dem elektrischen Strome erblickt, glaubt
Bernstein die Unerregbarkeit der betreffenden Gebilde bei ihrer
Querdurchströmung erklären zu können, da nicht einzusehen wäre,
wie es zu einer gegenseitigen Annullirung der anodischen und katho-
dischen Polarisation kommen sollte, wenn nicht die betreffenden
Jonen so zu sagen unmittelbar neben einander liegen; es fragt sich aber
immerhin, ob es wirklich so unvorstellbar ist, dass beide Polarisationen
sich in ihrer Wirkung auf die lebende Substanz schon dann neutra-
lisiren, wenn sie nur an den beiden Grenzflächen einer sichtbaren
Fibrille entstehen. Bernstein nimmt weiter an, dass seine Molekül-
reihen in Bezug auf die räumliche Vertheilung der Polarisation sich
ganz ebenso verhalten, wie Hermann ' s Kernleitermodell beziehungs-
weise die diesem gleichgestellte, markhaltige Nervenfaser, und bezieht die
Erregung beim Schliessen und Oeffnen des Stromes lediglich auf das
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 729
Entstehen der negativen und Verschwinden der positiven Jonen an
sämmtlichen, im Bereich der Elektrode liegenden Molekülen der lebenden
Substanz, eine Auffassung, die an die elektrolytische Theorie
V. Bezold's erinnert, welche die elektrische Erregung durch eine
chemische Reizung von Seiten der abgeschiedenen Jonen zu erklären
bestrebt ist oder doch die M()glichkeit einer solchen Erklärung betont.
Einer derartigen rein chemischen Theorie der elektrischen Reizung
bereitet jedoch die Erklärung der Oeffnungserregung, sowie der
während der Stromesdauer vorliandenen Erregbarkeitsänderungen unter
allen Umständen grosse Schwierigkeiten, und Bernstein sieht sich
daher zu weiteren Annahmen hinsichtlich der Natur und des Ver-
haltens der abgeschiedenen Jonen veranlasst, indem er folgende vier
Sätze aufstellt:
1. Das negative Jon an der Kathode (Sauerstoff oder eine sauer-
stoffreiche Substanz) ist die Ursache der Schliessungserregung.
2. Dasselbe wird durch einen chemischen Process daselbst be-
ständig verzehrt, entsprechend der Menge, in welcher es sich
entwickelt.
3. Das positive Jon an der Anode ruft keine Erregung hervor;
es wird daselbst nicht verzehrt, sondern angesammelt.
4. Durch die innere Polarisation, insbesondere an der Anode, wird
der Strom in dem erregbaren, polarisirbaren Leiter bis auf
einen entsprechenden Rest aufgehoben , solange das Polarisa-
tionsmaximum nicht erreicht ist.
Der im Bereich der Kathode an den erregbaren Molekülen sich
ablagernde aktive Sauerstoff soll nun hier durch seine oxydirende
Wirkung eine Spaltung der sehr labilen Moleküle einleiten, bei welcher
auch der intramolekulare Sauerstoff in Action tritt und Erregung
herbeiführt. Die Veränderungen der Erregbarkeit während der Pola-
risation führt Bernstein darauf zurück, „dass das mit negativen
Jonen (Sauerstoff) beladene Molekül leichter, das mit positiven Jonen
beladene dagegen schwerer spaltbar ist als das unveränderte". Speciell
findet in der kathodischen Strecke während der ganzen Stromes-
dauer eine zwar langsame, aber beständige Sauerstoffentwicklung statt
und ebenso eine beständige Verzehrung desselben durch die oxydablen
Atomgruppen der erregbaren Moleküle. „Bei schwächeren Strömungen
ist dieser Vorgang nicht intensiv genug, um auch den intramolekularen
Sauerstoff in erheblicher Menge freizumachen und sich als Erregung
weithin fortzupflanzen. Aber er ist im Prineip gleichbedeutend mit
Erregung, da beständig vorhandene Spannkräfte ausgelöst werden.
Das Molekül wird aber hierdurch in einen Zustand labileren Gleich-
gewichtes versetzt, da der sich abscheidende Sauerstoff dessen Bestand
in hohem Grade lockert, d. h. die Erregbarkeit desselben steigt; der
intramolekulare Sauerstoff kann in diesem Zustande durch jeden Reiz
leichter freigemacht werden." Sieht man ab von den ganz speciellen
Vorstellungen über die Natur der chemischen Processe an der Kathode
und ihre Localisirung an bestimmt geordneten, präformirten „Mole-
külen", so stimmt, wie man sieht, die Hering'sche Theorie insofern mit
der von Bernstein überein, als sie ebenfalls eine dauernde Auslösung
von Spannkräften oder, mit anderen Worten und ganz allgemein ausge-
drückt, ein Ueberwiegen derDissimilationsprocesse über die gleichzeitigen
Assimilationsvorgänge im ganzen Bereich der Kathode annimmt und
damit über den Kreis der vorliegenden Erfahrungen nicht hinausgeht.
Biedermaun, Elektrophysiologie. 47
730 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Auch hinsichtlich der Vorgänge an der Anode entwickelt Bernstein
sehr detaillirte Anschauungen. „Das positive Jon, welches sich daselbst
an den Molekülreihen ablagert, hat naturgemäss entgegengesetzte che-
mische Eigenschaften , als der an der Kathode auftretende aktive
Sauerstoff." Dass demnach beim Schliessen des Stromes daselbst eine
Erregung nicht eintritt, erscheint nach Bernstein sehr plausibel.
Mit Rücksicbt auf die gleichzeitige Herabsetzung der Erregbarkeit
nimmt Bernstein an, „dass das positive Jon in eine molekulare
Beziehung zu dem erregbaren Moleklü der Faser tritt und dass durch
seinen Einfluss der Bestand des Moleküls ein festerer wird". Man
könnte sich etwa denken, „dass das positive Jon sich als oxydabler
Bestandtheil an die Atomgruppen des erregbaren Moleküls derart an-
lagert, dass der intramolekulare Sauerstoff als elektronegativer Bestand-
theil darin fester gebunden wird". Von grossem Interesse ist auch
hier wieder die Aehnlichkeit der Auffassung Bernstein's und
H e r i n g ' s hinsichtlich der Ursache der Auslösung der Oeffnungs-
erregung. Nach der oben erwähnten Pflüger'schen Theorie ist der
Anelektrotonus ein Zustand, in welchem entsprechend der verstärkten
Molekularhemmung eine Ansammlung von Spannkraft stattfindet. Dies
würde nun nach Bernstein dahin zu deuten sein, „dass nicht nur
eine festere Bindung des intramolekularen Sauerstoffs eintritt, sondern
dass auch eine grössere Menge desselben von dem Molekül assimi-
1 i r t werden kann . Der Anelektrotonus ist somit mit einem
V 0 r g a n g e beständiger A s s i m i 1 i r u n g verbunden, wäh-
rend im Katelektrotonus der entgegengesetzte Process
Platz greift." Bei der Oeffnung findet nun plötzlich eine „De-
polarisation statt, bei welcher das positive Jon an der Anode ver-
schwindet. Die festere Bindung des intramolekularen Sauerstoffs hört
plötzlich daselbst auf, und da das Molekül während der Stromesdauer
einen Ueberschuss desselben angesammelt hatte, den es nun nicht zu
binden vermag, so wird dieser Antheil frei und verursacht eine Spal-
tung des Moleküls, welche gleichbedeutend mit Erregung ist." Ohne
auf die weiteren Details bezüglich der Erklärung des Oeffnungstetanus
sowie der Modificationen der Erregbarkeit nach der Oeffnung näher
einzugehen, sei nur noch erwähnt, dass die Unwirksamkeit der Quer-
durchströmung sich nach dieser Theorie dadurch erklärt, „dass das
positive Jon jedes erregbare Molekül in demselben Maasse festigt,
als das negative Jon es zu lockern strebt; das abgeschiedene negative
Jon wird daher auch die oxydablen Atomgruppen des Moleküls
nicht angreifen können, und dasselbe bleibt im Ruhezustand bestehen."
Es dürfte, wie ich glaube, kaum am Platze sein, an dieser Stelle noch
näher auf die von Bernstein angestellten, sehr weitgehenden Be-
trachtungen über die mögliche Constitution der von ihm postulirten
Moleküle einzugehen, und sei nur erwähnt, dass er sich dieselben als
aus stickstoffhaltigen Kernen bestehend denkt, welche der Länge nach
durch Sauerstoffatome verkettet sind, während ihre freie Oberfläche
mit kohlenstoffreichen (stickstofffreien) oxydablen Atomgruppen besetzt
ist. Diese letzteren sollen sich dem Kern gegenüber selbst wieder wie
elektropositive Ladungen verhalten, während der „assimilirte" ver-
bindende Sauerstoff am künstlichen Querschnitt als elektronegative
Ladung des Kerns auftritt (vergl. Fig. 111). Die Molekülreihen sind
daher nicht nur in dem früher besprochenen Sinne polarisirbar, „son-
dern sie sind in ihrem normalen Bestände bereits mit ge-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 731
wissen Jonen belade n, gleichsam als ob sie durch einen von
aussen zugeführten Strom polarisirt worden wären". Es wurde schon
an anderer Stelle bemerkt, dass Bernstein auf Grund dieser „elek-
trochemischen Molekulartheorie" alle galvanischen Erschei-
nungen an Muskeln und Nerven zu erklären bestrebt ist. Es darf aber
füglich bezweifelt werden, ob derartige weitgehende und detaillirte
Speculationen über Molekularstructur und den Aufbau der lebenden
Substanzen besser geeignet sind, einer alle Erscheinungen des vor-
liegenden Gebietes umfassenden Theorie zur Grundlage zu dienen, als
jene einfachen, sich lediglich auf Erfahrungsthatsachen und fundamen-
tale Gesetze des Stoffwechsels stützenden Aufstellungen von Hering,
und Mancher wird vielleiclit geneigt sein, die Bemerkung, welche
Bernstein hinsichtlich der Du Bois-Keymond'schen Molekulartheorie
macht, dass dieselbe einen weiteren Ausbau in mechanischer und
elektrischer Beziehung nicht gestatte, ohne zu sehr einseitigen An-
schauungen über die Constitution der lebenden Materie zu gelangen,
schon jetzt auch auf die „elektrochemische Molekulartheorie" zu be-
ziehen.
Ein Wort sei schliesslich noch bemei'kt bezüglich der theoretischen
Anschauungen, welche bisher über das eigentliche Wesen der Er-
regungs 1 e i t u n g geäussert worden sind,
bei deren Vermittelung, wie zuerst Her-
mann bemerkte, die elektromotorischen
Wirkungen der reizleitenden Gebilde
vielleicht in erster Linie betheiligt sind.
Erinnert man sich der Thatsache, dass
sowohl Muskeln wie Nerven durch den
eigenen Demarcationsstrom, sowie durch Yig. 221. Schema der Ströme in
die Actionsströme eines zweiten Präparats der Umgebung' einer erregten und
erregt werden können, wenn anders nur einer absterbenden Faserstelle,
die Abgleichungsbedingungen günstig sind, (^^^'^ " ermann.)
so erscheint es von vornherein nicht aus-
geschlossen, dass auch bei der Fortleitung der negativen Reiz- (be-
ziehungsweise Contractions-)Welle die innere Abgleichung des Actions-
stromes ganz wesentlich mit betheiligt ist. Betrachten wir mit Her-
mann (Handb. d. Physiol. I. 1. p. 256 und H. 1. p. 194) die galva-
nische Wirkung einer erregten Stelle in Bezug auf ihre Nachbarschaft,
so besteht dieselbe, wie das beistehende Schema (Fig. 221 E) unmittelbar
erkennen lässt, in der „Entstehung von Strömchen in ihrer nächsten Um-
gebung", welche sich innerhalb der indifferenten Umhüllung der elektro-
motorisch wirksamen Theile abgleichen. Wie in nächster Nähe eines
künstlichen Querschnitt, werden auch beiderseits von dem erregten
Segment zahlreiche Stromfäden an der nicht erregten Oberfläche aus-
treten und daher eventuell hier Erregung bewirken können, während
an der erregten Stelle selbst durch die daselbst eintretenden
Stromfäden eine Tendenz zu einer Veränderung im entgegengesetzten
Sinne erzeugt wird. Hermann macht noch ausserdem ausdrücklich
auf die voraussichtlich grosse Intensität dieser Strömchen aufmerksam,
deren Abgleichungslinien ja von mikroskopischer Kleinheit sind, so
dass die Widerstände kaum in Betracht kommen. Man sieht, dass
auf diese Weise ganz wohl eine fortschreitende Erregungswelle zu
Stande kommen könnte.
47*
732 I^iß elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Eine leider noch ganz ungelöste Frage, welche an dieser Stelle
wohl am besten erörtert wird, bezieht sich auf
Die Einwirkung des Nerven auf den Muskel.
Obschon dem Muskel selbständige Irritabilität ganz ebenso wie
dem Nerven und überhaupt dem lebenden Plasma zukommt, so sehen
wir doch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Erregung
quergestreifter und glatter Muskeln indirect vom Nerven aus erfolgen,
und es erhebt sich daher naturgemäss die Frage, wie die Uebertragung
eigentlich stattfindet, zumal ja der Muskel nicht so ohne Weiteres als
mit contractiler Substanz umlagerte Fortsetzung des Nerven angesehen
werden kann, obschon von mancher Seite ähnliche Anschauungen in
der That geäussert worden sind. Wenn irgendwo, so zeigt sich hier,
wie sehr unter Umständen die physiologische Auffassung eines Pro-
cesses von der jeweiligen Kenntniss der Morphologie des Substrates
bedingt und beeinflusst wird. Nicht immer ist in der Physiologie
das Bewusstsein von dem innigen Zusammhang zwischen Bau und
Function der Theile so lebendig gewesen, wie man es wünschen
müsste, und wie es eine wirklich fruchtbringende Weiterentwicklung
unserer Kenntnisse durchaus erfordert ; vielfach hat man, einer allzu
streng physikalischen Richtung huldigend, erst spät die Erfahrung
machen müssen, wie wenig förderlich es erscheint, die sicheren That-
sachen histologischer Forschung durch allgemein - theoretische Er-
wägungen zu ersetzen oder gänzlich zu ignoriren. Zur Zeit hat sich
die Ansicht wohl allgemein Bahn gebrochen, dass Histologie und Phy-
siologie nicht als zwei von einander unabhängige Wissensgebiete zu
behandeln sind, sondern vielmehr in innigster Wechselbeziehung stehen,
sich gegenseitig fördernd und belebend. Ebenso sehr wie mit den
Lehren der Physik und Chemie hat die Physiologie daher auch mit
den Thatsachen der Histologie zu rechnen. Zum Beweis des Gesagten
braucht bloss an die Errungenschaften der neueren Zellenlehre erinnert
zu werden, sowie an die Bedeutung, welche in der allgemeinen Muskel-
und Nerven-Physiologie und der Secretionslehre die mikroskopischen
Untersuchungsmethoden gewonnen haben. Um ein Gebiet nun, auf
welchem die grundlegende Bedeutung der anatomischen Erforschung
des Baues für die richtige Erkenntniss der Function überhaupt nie-
mals verkannt wurde, handelt es sich bei den motorischen Nerven-
endigungen, sowie bei den später zu behandelnden elektrischen Organen.
Bekanntlich hat zuerst Doyere 1840 an einem mikroskopisch
kleinen Arthropoden, dem viel besprochenen Bärenthierchen (Milnesium
tardigradum) beobachtet, dass die zarten Nervenfädchen an die Muskel-
fasern herantreten und in einer konischen Anschwellung zu endigen
scheinen. In der Folge hat sich die Aufmerksamkeit hauptsächlich
den motorischen Nervenendigungen in den quergestreiften Skelett-
muskelfasern der W^irbelthiere zugewendet, einerseits aus rein techni-
schen Gründen , weil es leichter schien , die derberen markhaltigen
Fasern bis ans äusserste Ende zu verfolgen, anderseits aber wohl auch
in Hinblick auf die Möglichkeit, der Frage hier auch eher vom phy-
siologischen Standpunkte aus näher treten zu können. Waren doch
seit jeher die Froschmuskeln mit ihren Nerven das bevorzugteste, ja
man darf sagen das einzige Object, aus dessen Studium alle Erfah-
rungen der Nerven- und Muskel-Physiologie abgeleitet wurden. Ohne
Die elektromotorischen Wirkiingeii der Nerven.
733
auf die historische Entwicklung der Frage näher einzugehen, sei hier
nur bemerkt, dass es Dank der Untersuchungen zahlreicher Forscher,
und vor Allem Kühne 's (53), zur Zeit als feststehend betrachtet
werden darf, dass jede quergestreifte Muskelfaser eines Wirbelthieres
eine oder mehrere distincte Nervenendigungen besitzt, deren Bau
in den wesentlichsten Zügen überall derselbe ist. Ist die markhaltige
Faser, nachdem sie sich vorher in der Regel mehrfach getheilt hat,
schliesslich an eine Muskelfaser herangetreten, so verschmilzt ihre
Schwann'sche Scheide mit dem Sarkolemm, während der Axencylinder
allein hindurchtritt, um mit der contractilen Substanz in Beziehung zu
treten ; die Markscheide hört in der Regel schon eine Strecke vor der
definitiven Endigung auf. Es ist besonderer Nachdruck auf die früher
vielfach bestrittene Thatsache des Durchtritts des Axencylinders zu
legen, da unter gewissen Voraussetzungen über die Art der Reizüber-
tragung das Sarkolemm durchaus kein absolutes Hinderniss darbieten
würde. Kaum jemals bleibt nun der Axencylinder ungetheilt, sondern
Fig. 222. Stangengeweih aus dem M. gastrocnemius des Frosches. (Nach Kühne.)
stets erfolgt eine mehr oder weniger reichliche geweihartige Verzwei-
gung (Kühne's „Endgeweih"), welche „hypolemmal" gelegen nach
zwei verschiedenen Typen erfolgt, deren einen die Amphibien (Fig. 222),
den andern die Reptilien, Vögel und Säugethiere darbieten. Ersterenfalls
handelt es sich um ziemlich gerade, parallel der Muskelfaseraxe ver-
laufende, rundliche oder platte Endzweige, welche sich dicht unter dem
Sarkolemm eine Strecke weit verbreiten und stets ganz distinct mit
einer stumpfen Spitze endigen ; im Verlaufe erkennt man hier und da
länglich-ovale Kerne, welche von Kühne seiner Zeit als „Endknospen"
bezeichnet wurden. Im Gegensatze zu diesen „Stangengeweihen"
zeigen die Aeste der „Plattengeweihe" der übrigen Wirbelthiere
einen gekrümmten und vielfach geschlängelten Verlauf oder bilden
plattenartig gelappte Ausbreitungen innerhalb eines beschränkten, rund-
lichen oder ovalen „Innervationsfeldes", das nur in seltenen Fällen
die Muskelfaser ganz umgreift (Fig. 223 — 225). Charakteristisch für
diese „Endplatten" ist der Umstand, dass sich an ihrer Stelle fast
immer eine mehr oder weniger mächtige Anhäufung einer feinkörnigen,
von Kernen durchsetzten Substanz ( Sarkoplasma) berindet, innerhalb
deren die Verzweigungen des Axencylinders eingebettet liegen („Plat-
tensohle" Kühne's) (Fig. 224). Bei den „Stangengeweihen" ist diese
734
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
„Granulosa" in der Regel kaum merklich, während sie bei den ., Plat-
tengeweihen" oft mächtig entwickelt erscheint und im Proftlbild als
eine hügelige Hervorwölbung, entsprechend dem Doy er 'sehen Nerven-
hügel der Insectenmuskeln, kenntlich wird (Fig. 225).
Ein in mehrfacher Beziehung abweichendes Verhalten bieten die
motorischen Nervenendiffuns'en beiden Fischen dar. Neben solchen,
Fig. 223. Plattengeweihe aus Muskelfasern des Kaninchens (a), des Meei-schwein-
chens (c) und der Ratte (b) [Goldpräparate]. (Nach Kühne.)
■^iim^^c^y:
Fig. 224.
Fig. 225.
Fig. 224. Plattengeweih, frisch in 0,6 %
Kochsalzlösung, von Lacerta agilis;
Plattensohle mit Kernen. (Nach K ü h n e.)
Fig. 225. Plattengeweih aus einer Muskel-
faser der Maus. Nervenhügel im Profil.
(Nach Kühne.)
welche durchaus den „Endplatten" höherer Wirbelthiere entsprechen
(Myxine, Raja vergl. Retzius (53), finden sich zum Theil bei denselben
kSpecies auch viel einfachere Formen , indem der Axencylinder nach
Verlust der Markscheide sich kaum oder nur wenig verzweigt, und
der Muskelfaser einfach der Länge nach anliegt, wobei sich im Verlauf
stets mehr oder weniger grosse knotige Varikositäten („Endscheiben"
Retzius) bemerkbar machen. Auch bei gewissen Amphibien und den
höheren Wirbel thieren finden sich alle Uebergänge zwischen den
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 735
einfachsten Formen der Endigung bis zu den compHcirtesten „ Stangen "-
und „Plattenge weihen". Es ist dabei bemerkenswerth, dass unter
Umständen ein gewisser Typus der Nervenendigung bei einem und
demselben Thier auf ganz bestimmte Muskeln oder Muskelgruppen
beschränkt erscheint. So finden sich in den Augenmuskeln des Frosches
in tiberwiegender Menge Nervenendigungen, welche vielmehr an die
einfacheren Typen bei niederen Amphibien (Proteus) und Fischen
erinnern (Retzius 1. c). Noch viel auffallender erscheint in dieser
Beziehung der Gegensatz zwischen Augen und Stammesmuskeln
bei Säugethieren (vergl. Retzius 1. c. p. 48). Während sich
bei jenen stets charakteristische „Endplatten" finden , zeigen diese
Nervenendverzweigungen, die von dem gewöhnlichen Typus jener sehr
abweichen und wieder sehr an die bei niederen Thieren vorkommenden
Formen erinnern. Die in der Längsrichtung der Muskelfasern lang-
gestreckten Endäste sind nur wenig verzweigt und mit einer wechselnden
Zahl von „Endscheiben" versehen. Von grossem Interesse sind auch
die von Retzius (1. c. p. 48) an demselben Object beobachteten „ein-
fachsten Formen der Endverzweigungen", deren Vorkommen ich
durchaus bestätigen kann, und welche aus einem unverästelten mark-
losen Seitenzweig einer markhaltigen Nervenfaser bestehen, „an dem
nur eine einzige End Scheibe vorhanden ist" . In andern Fällen
läuft der Zweig ohne Verästelung weiter und trägt zwei, drei oder
mehr Endscheiben, welche unter Umständen eine beträchtliche Grösse
erreichen. Alle möglichen Uebergänge führen von diesen einfachsten
Formen zu sehr complicirten Verzweigungen des Axencylinders. Wie
immer sich aber auch im Einzelnen das Verhalten der motorischen
Nervenendigungen gestalten möge, niemals lässt sich weder mit Hülfe
der Goldmethode noch der Methylenblaufärbung ein „intravaginales
Nervennetz" im Sinne Gerlach's (53) nachweisen; stets ist die Be-
rührung zwischen Nerv- und Muskelsubstanz eine vollkommen distincte,
auf die nächste Umgebung der Eintrittsstelle beschränkte. Wie man
leicht sieht, ist gerade dieser Punkt für jede physiologische Theorie
von ausschlaggebender Bedeutung, denn offenbar würden unsere An-
schauungen über die Beziehungen zwischen Nerv und Muskel sich
ganz wesentlich verschieden gestalten, wenn es als bewiesen gelten
dürfte, dass im Sinne Gerlach's „überall da, wo contractile Substanz
sich findet, auch die Gegenwart nervöser Elementartheile vorausgesetzt
und überhaupt das Ziehen einer scharfen Grenze zwischen Nerv- und
Muskelgewebe als nicht zulässig betrachtet wird". Viel eher als die
Befunde bei Wirbelthiermuskeln , wo die Gerlach'sche Auffassung
zweifellos durch eine irrthümliche Deutung gewisser Goldbilder ver-
anlasst war, liessen sich in demselben Sinne Bilder verwerthen, welche
mittels der Methylenblaufärbung an gewissen Arthropodenmuskeln
hervortreten. Beim Krebs gelingt es ausserordentlich leicht, die Nerven
der Rumpf- und Schwanzmuskeln in einer Vollständigkeit und Schärfe
zu färben, dass man wohl mit Bestimmtheit annehmen darf, in ge-
lungenen Fällen die Verzweigungen der Axencylinder bis in ihre
feinsten Enden zur Darstellung gebracht zu haben. Unter diesen
Umständen bieten nun insbesondere die breiten, bandförmigen Muskeln,
welche an der ventralen Fläche des Thorax verlaufen, sowie die ober-
flächlichen Schichten der Schwanzmuskeln einen geradezu erstaunlichen
Reichthum an Nerven dar. Jedes kleinste Stückchen von der Ober-
fläche eines solchen gutgefärbten Muskels erscheint unter dem Mikroskop
736 Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
wie übersponnen und durchsetzt von einem mehr oder weniger dichten
Geflecht feinster, blauer, durch reichliche variköse Anschwellungen
ausgezeichneter Axencylinder, die, hervorgegangen aus der Verzweigung
grösserer, meist mehrere, durch verschiedene Dicke und Farben-
intensität ausgezeichnete Axencylinder enthaltender Stämmchen, das
betrefFende Muskelbündel seiner ganzen Dicke nach durchziehen.
Ehrlich, welcher diese Verhältnisse zuerst beobachtete, ist daher
der Meinung, dass es sich hier in der That um „intramusculäre
Plexus" (dem „intravaginalen Nervennetz" Gerlach's entsprechend)
handelt, und dass ein principieller Unterschied besteht
zwischen der Endigungsw eise der Nerven in den eben
erwähntenMuskelnund andererseitsinjenen derExtre-
mi täten, wo seinen Angaben zu Folge „die Nerven isolirt verlaufen
und Ob er flächen Verzweigungen bilden, welche durch Methylenblau
nur ganz ausnahmsweise gefärbt werden". In der That lässt sich
nicht leugnen, dass beträchtliche Verschiedenheiten bestehen. Will man
nicht annehmen, dass die Methylenblaufärbung der Nerven in den
Scheerenmuskeln des Krebses in allen Fällen nur eine höchst unvoll-
ständige bleibt — und es liegt nach meinen Erfahrungen durchaus
kein Grund zu einer derartigen Annahme vor — , so lässt jede auch
nur flüchtige Vergleichung von zwei demselben Thiere entnommenen
und in ganz gleicher Weise behandelten Präparaten der Rumpf- und
Scheerenmuskeln den auffallenden Unterschied des Reichthums an
Nervenendverzweigungen hervortreten, der sich einerseits dadurch
äussert, dass die terminalen Zweige auch das ganze Innere eines aus
zahlreichen grösseren und kleineren, durch Sarkoglia getrennten
Gruppen von quergestreiften Fibrillen bestehenden Muskelbündels
durchsetzen, andererseits aber auch durch eine ganz unverhältnissmässig
reichere Verzweigung jedes einzelnen Axencylinders. Dem gegenüber
gleichen die motorischen Endigungen in den Scheerenmuskeln (sowie
überhaupt den Extremitätenmuskeln) vielmehr jenen, welche bei den
niedersten Wirbelthieren vielfach vorgefunden werden. In mehrfacher
Beziehung erscheint insbesondere der Modus der Verzweigung und
Endigung der Nerven in dem Oeffuungsmuskel der Krebsscheere von
Interesse. Es wurde schon früher erwähnt, dass die Axencylinder,
deren stets zwei verschieden dicke in einer gemeinsamen Bindegewebs-
scheide verlaufen, sich wiederholt dichotomisch auf das Reichste
verzweigen, und zwar so, dass bis zu den letzten Endigungen bei jeder
neuen Gabelung des Nervenstämmchens immer beide Axencylinder
an einer und derselben Stelle sich theilen (vergl. Fig. 150). Innerhalb
der gröberen Verästelungen erscheint die schmale Faser gewöhnlich
zugleich auch dunkler blau gefärbt, während in den feinsten Endästchen
ein derartiger Unterschied nicht mehr merklich ist. Dieselben enthalten
innerhalb einer sehr dünnen Scheide zwei gleich dicke, zarte und meist
stark variköse Fasern , welche die Verlaufsrichtung der Muskelfasern
kreuzen und von Stelle zu Stelle die eigentlich terminalen Zweige ab-
geben; auch diese sind stets paarig und enden, wie es scheint, frei
innerhalb des Sarkoplasmamantels der betreffenden Muskelfaser. Nur
selten zeigen diese letzten Endästchen noch eine spärliche Verzweigung.
Niemals aber kommt es weder hier noch an den Extremitätenmuskeln
überhaupt zur Entwicklung eines so reichen Nervengeäders , wie bei
den Rumpfmuskeln. Einem ganz ähnlichen Verhalten der Muskel-
nervenendigungen begegnet man auch bei Insecten, und liefern insbe-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
737
sondere die Thoraxmuskeln grösserer Heuschreckenarten bei An-
wendung derselben Methode überaus schöne und klare Bilder, welche
indessen durch den Reichthum der Nervenverzweigungen oft an die
Rumpfmuskeln der Crustaceen erinnern. Wo sich jedoch gut ent-
wickelte Doyer'sche Hügel finden, da bleibt auch "regelmässig die
Verzweigung des eintretenden Axencylinders ähnlich wie bei den End-
platten der Wirbel thiere eine local sehr beschränkte. So sah ich bei
Hydrophilus den Axencylinder in der Substanz des Hügels sich
meist in zwei nach entgegengesetzten Richtungen ausstrahlende knotige
Endzweige theilen, welche eine kurze Strecke weit parallel der Längsaxe
der Muskelfaser verlaufen, um dann
scheinbar frei zu enden. In andern
Fällen senden dieselben noch einige
kurze Seitenzweige aus, deren Vor-
handensein bisweilen nur durch ganz
isolirte dunkelblaue Tröpfchen ange-
deutet scheint. Sehr oft erscheint
endlich (wohl in Folge der grossen
Zersetzlichkeit der an sich äusserst
zarten, nackten Axencylinder) die
Nervenendigung überhaupt nur als
eine im Hügel befindliche Anhäufung
grösserer und kleinerer, nicht mehr
zusammenhängender blauer Tröpf-
chen, deren eigentliche Bedeutung
sich nur durch Vergleichung mit
andern Stellen desselben Präparates
ergiebt. Aehnliche Befunde theilte
neuerdings noch Rina Monti (53)
von verschiedenen Insecten mit.
Sehr abweichende Anschauungen
über das Verhalten der motorischen
Nervenendigungen bei Insecten sind
von Foettinger (53) geäussert
worden , denen zu Folge ein princi-
pieller Unterschied zwischen Wirbel-
thieren und Insecten bestehen würde.
Bei den von ihm untersuchten Käfern
(Chrysomela coerulea, Lina tremula,
Hydrophilus piceus, Passalus glaberri-
mus) fanden sich in der Regel mehrere
und oft zahlreiche Nervenendigungen
an einer und derselben Primitivfaser,
welche, wie sich auch an gehärteten Präparaten constatiren lässt, häufig
(immer?) den Ausgangspunkt von Contractionswellen bilden. Nach Be-
handlung mit Osmiumsäure und Alkohol lassen sich in der Profilansicht
eines Doyer'schen Hügels bisweilen zarte Fibrillen oder Fädchen erkennen,
welche von der Ansatzstelle der zutretenden Nervenfaser ausgehen
und nach den Zwischenscheiben hinziehen (Fig. 226). Handelt es sich
hier wirklich um eine Ausstrahlung des Axencylinders, so würde damit
eine directeContinuität zwischen bestimmten Schichten
der quergestreiften Muskelfaser und dem Nerven und damit
eine Vermuthung bewiesen sein, welche Engelmann (54) schon vor
Fig. 226. Nervenendigung
in einer Muskelfaser von
Hydrophilus piceus.
(Nach A. Foettinger.)
738 l^iß elektromotorischen Wirkungen der Nen-eu.
längerer Zeit äusserte, indem er die isotrope Grundsubstanz des Muskels
als eine „wenn auch etwas modificirte Fortsetzung des Axencylinders
der motorischen Nervenfaser'' betrachtet und als „nervöse" von der
„contractilen" unterscheidet. Meine eigenen, mit Hilfe der Methylen-
blaufärbung gewonnenen Erfahrungen sprechen freilich sehr Avenig zu
Gunsten einer derartigen nahen Beziehung zwischen den letzten Enden
des eintretenden Axencylinders und den Zwischenscheiben, obschon
ich auch neuerdings wieder meine Aufmerksamkeit gerade speciell auf
diesen Punkt gerichtet habe. Bei Crustaceen (Krebs) und mehreren
Heuschreckenarten (Locusta und Acridium) konnte ich mich selbst an
den, wie ich meine, gelungensten Präparaten niemals von einem
derartigen Verhalten überzeugen. Immerhin bleiben ausgedehntere
Untersuchungen dringend erforderlich.
Es liegt natürlich nahe, die auffallende Verschiedenheit der Muskel-
nervenendigungen bei verschiedenen Thieren, sowie bei verschiedenen
Muskeln einer und derselben Species mit functionellen Unterschieden
der betreffenden Muskeln in Beziehung zu setzen und beispielsweise
beim Krebs die Trägheit der Scheeren, sowie die Flinkheit der Schwanz-
muskeln zu betonen. Indessen reicht die Zahl der bisher vorliegenden
Erfahrungen bei Weitem nicht aus, um weitergehende Folgerungen in
dieser Richtung zu gestatten. Ebensowenig darf es als bewiesen
gelten, dass die besonders beim Oeffnungsmuskel der Krebsscheere so
sehr charakteristische, morphologische Verschiedenheit der beiden bis
zum Ende zusammen verlaufenden Axencylinder wirklich der hier
nachgewiesenen doppelten Innervation von Seite eines motorischen und
eines Hemmungsnerven entspricht, obschon eine solche Vermuthung
gewiss nicht unbegründet erscheint.
Bezüglich der motorischen Nervenendigungen an einkernigen
quergestreiften und glatten Muskelzellen der Wirbellosen und Wirbel-
thiere sind unsere derzeitigen Kenntnisse noch sehr unvollkommen.
Als sicherstehend darf vor Allem das Fehlen charakteristischer
Endplatten am Herzmuskel auch der höheren Wirbelthiere be-
trachtet werden, und scheint der Verlauf und die Endigung der feinsten
marklosen Nervenzweige hier allgemein in der Weise zu erfolgen, dass
dieselben, sich vielfach dichotomisch theilend, die Muskelbündel um-
spinnen, schliesslich zwischen dieselben eindringen und mit feinsten
varikösen Endästchen an den einzelnen Zellen endigen (Retzius).
Aehnlich scheint es sich auch hinsichtlich der Endigungsweise der
Nerven in glattmuskeligen Theilen zu verhalten, wobei vielfach die
Aehnlichkeit mit gewissen sehr einfachen Formen der Nervenendi-
gungen in quergestreiften Muskeln niederer Wirbelthiere und Wirbel-
loser auffällt.
Wenn wirklich, was schon D u B ois-Rey mond seiner Zeit aus-
sprach, in der Lehre von der Muskel-Innervation die Hauptaufgabe
der Histologie zufällt, so erscheint es durchaus geboten, die Gesammt-
heit aller bisherigen Erfahrungen über die Morphologie der motorischen
Nervenendigungen bei Wirbelthieren und Wirbellosen zu berücksichtigen,
um zu einer richtigen Würdigung der bisher geäusserten theoretischen
Anschauungen zu gelangen. Ich habe es daher auch versucht, im
Vorhergehenden eine möglichst gedrängte Uebersicht der einschlägigen
Forschungsresultate zu geben. Ausgehend von der in mancher Be-
ziehung in der That auffallenden, entwicklungsgeschichtlich übrigens
durchaus beoreiflichen , anatomischen Aehnlichkeit der motorischen
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 739
„Endplatten" an den quergestreiften Stammesrauskeln der höheren
ÄVirbelthiere mit der Nervenendigung in den später zu beschreibenden
„elektrischen Platten" des elektrischen Organs von Torpedo, hat
zuerst W. Krause (55) und wenig später Kühne (56) die Ansicht
ausgesprochen, es möchte die Wirkung des Nerven auf den Muskel
darauf beruhen, dass der letztere von jenem unter Vermittlung der
Endplatte einen elektrischen Schlag erhält und dadurch zur Con-
traction veranlasst wird. Man hätte sich demgemäss vorzustellen,
dass durch die vom Nerven aus zugeleitete Erregung in den Endplatten
ein kurzdauernder elektrischer Spannungsunterschied, wie in den
elektrischen Platten, erzeugt wird. „Die eine Fläche der Nervenend-
platte , gleichgiltig zunächst welche, würde zeitweise positiv, die andere
negativ. Der dadurch bewirkte elektrische Schlag erregte die von
ihm in hinlänglicher Dichte betroffene contractile Substanz", woran
sich unmittelbar die Zuckung schliesst. „Tetanus entstände durch
eine mehr oder minder dicht gedrängte Reihe solcher Schläge." Diese
Anschauung (die sogen. Ent ladungshypo thes e nach Du Bois-
Reymond) hat sich auch in der Folgezeit erhalten und unter Anderem
zu der Vermuthung geführt, dass auch die von Matte ucci entdeckte
secundäre Zuckung von Muskel zu Nerv nicht sowohl von einer
Elektricitätsentwicklung von Seite des ersteren, sondern von Ent-
ladungen an den intramusculären Nerven, bezw. den Endplatten
herrühre. Hatte doch schon Beq ue rel, freilich ohne Kenntniss jener
histologischen Verhältnisse, die secundäre Zuckung Matteucci's mit
der physiologischen Wirkung des Schlages der Zitterlische in eine
directe Parallele gestellt und demgemäss auf eine elektrische Entladung
in dem Muskel bezogen (vergl. Du B o i s - R e y m o n d 23 p. 15). Durch
Kühne ist jedoch neuerdings der Annahme, dass es sich dabei um
Entladungen von Seite der Endplatten handelt, jeglicher Boden
entzogen worden. Denn weder zeichnet sich die Gegend der Nerven-
eintrittsstelle, deren Umgebung besonders reich an Endorganen
ist, durch eine grössere secundäre Wirksamkeit aus, als andere
nervenarme oder davon gänzlich freie Muskelstrecken, noch auch ist
es Kühne in Weiterverfolgung eines von Du Bois-Reymond
herrührenden Versuchsplanes gelungen, von Muskeln, deren Erreg-
barkeit durch verschiedene Mittel mit möglichster Schonung der
intramusculären Nerven vernichtet wurde, secundäre Zuckung zu
erhalten (Kühne 2 p. 42). Damit ist allerdings noch keineswegs
auch die oben erwähnte „Entladungshypothese" widerlegt, die sich ja
zunächst nur auf das Verhältniss zwischen motorischer Endplatte und
der zugehörigen Muskelfaser bezieht, und es erscheint daher eine ein-
gehendere Erörterung derselben durchaus geboten. D u B o i s - R e y m o n d
hat eine solche in seiner bekannten Abhandlung ,,Experimentalkritik
der Entladungshypothese" (57) mit aller wünschenswerthen Genauig-
keit gegeben. Stellt man sich vor, dass jede Endplatte nach Art der
elektrischen Platte bei der Erregung an ihrer Rücken- und Sohlen-
fläche entgegengesetzte Spannungen entwickelt, so lassen sich unter
der Voraussetzung, dass die beiden Flächen der Platte isoelektrische
Flächen sind , die daraus resultirenden Stromcurven nach Du Bois-
Reymond in der Weise des beistehenden Schemas (Fig. 227 a, h) dar-
stellen. Man sieht sofort, dass nicht nur die der Platte entsprechende,
sondern eventuell auch umliegende Muskelfasern in gleicher Weise ge-
reizt werden müssten , was aber nachweislich unter normalen Verhält-
740
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
nissen nicht der Fall ist. Uebrigens durchsetzen die Stromfäden ge-
rade die nächstbetheiligten Fasern senkrecht zu deren Längsaxe, also
in unwirksamer Richtung. Es lassen sich gewisse künstliche und da-
her von vornherein unwahrscheinliche Voraussetzungen machen, unter
welchen an der Platte eine derartige Vertheilung der Spannungen zu
Stande kommt, „dass die dadurch gesetzte Strömung in der zuge-
hörigen Faser merklich dichter ist, als in den Nachbarfasern", indessen
Fig. 227.
wird man um so weniger geneigt sein, dieselben anzunehmen, als damit
gerade die Analogie mit der elektrischen Platte wegfällt. So könnte
man sich u. A. denken , dass bei der Erregung SpannungsdifFerenzen
nur an der Sohlenfläche der Endplatte entstehen (Fig. 228), die dann
„im Augenblick der Entladung eine Mosaik positiver und negativer
Punkte" bilden würde, „zwischen denen gleichsam nur Molekular-
strörachen kreisten, die schon in einer Entfernung gleich der geringsten
Dicke der Platte von unmerklicher Dichte wären". Nimmt man
hinzu, dass die Thatsachen der vergleichenden Histologie der moto-
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
741
rischen Nerven-Endigungen in directestem Widerspruch mit der Ent-
ladungshypothese stehen , da das Vorkommen wirklich typischer
Endplatten auf die Muskeln der höheren Wirbelthiere, einiger Fische
und Insecten beschränkt zu sein scheint, so wird man kaum ge-
neigt sein, dieselbe in ihrer ursprünglichen Form aufrecht erhalten
zu wollen. Du Bois-Reymond hat daher eine „modificirte
Entladungshypothese" aufgestellt , die freilich ebensowenig annehmbar
erscheint, wie jene erste, da die Voraussetzungen, auf denen sie beruht,
zur Zeit ebenfalls als nicht zutreffend gelten müssen. „Gefordert wird
dabei ein bestimmtes anatomisches Verhalten, das zugleich die Unwirk-
samkeit des Vorganges für benachbarte Muskelfasern erklären würde
und in einer leichten , hakenförmigen Umbiegung des äussersten Endes
Fig. 228.
Fig. 229.
jeder hypolemmalen Nervenfaser zur Mantelfläche des contractilen
Cylinders mit der Richtung nach dessen Axe hin bestehen sollte."
(Du Bois-Reymond 1. c. p. 555.) Der Endfläche jedes hypolemmalen
Nervenhakens legt nun Du Bois-Reymond die Eigenschaften
eines künstlichen Querschnittes und daher vor Allem negative
Spannung im Vergleich zum „natürlichen Längsschnitt" der Endfaser
bei (Fig. 229). Die negative Schwankung dieses präexistirenden Stro-
mes sollte nun den Reiz für die direct berührte Muskel-Substanz bilden,
wobei noch ausserdem vorausgesetzt werden muss , dass dieselbe, was
nach allen vorliegenden Erfahrungen an sich im höchsten Grade un-
wahrscheinlich ist, für einen so schwachen Reiz wie die negative
Schwankung des Nervenstromes hinreichende Empfindlichkeit besitzt.
Kühne (11 p. 90 fi".) hat zahlreiche und auf das Mannigfaltigste
variirte Versuche angestellt, um womöglich experimentelle Anhalts-
punkte für die modificirte Entladungshypothese oder eine ihr ähnliche
zu gewinnen, doch blieben dieselben ohne Erfolg. Das, was Du
Bois-Reymond von einer einzigen Primitivfaser verlangt, lässt sich
742 I^i^ elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
nicht einmal ei'zielen, wenn ein starker, viele 100 Fasern enthaltender
Froschnerv einem Muskel in günstigster Anordnung angelegt und dann
erregt wird, und ebensowenig gelingt die gewünschte künstliche Ueber-
tragung der Erregung von Nerv auf Muskel, wenn man sich nach
Kühne' s Vorgang des elektromotorisch noch viel kräftiger wirken-
den marklosen Hechtolfactorius bedient.
Gestützt auf ausserordenthch umfassende und eingehende Unter-
suchungen über die Morphologie der motorischen Nerven-Endigung
bei Wirbel thieren , hat Kühne selbst später den Versuch gemacht,
die Muskel-Innervation auf elektrische Vorgänge im erregten Nerven
zurückzuführen, der jedoch den erweiterten Kenntnissen namentlich
betreffs der Endigungsweise motorischer Nerven bei wirbellosen
Thieren ebenso wenig Stand halten dürfte, wie alle früheren, dasselbe
Ziel verfolgenden Versuche. K ü h n e hat sich bemüht, die zwei Haupt-
typen der hypolemmalen Endigungen bei Wirbelthieren als Platten
(bei Reptilien, Vögeln, Säugethieren und Fischen) und Terminalfasern
(Stangengeweihe bei Amphibien) durch Vergleichung möglichst vieler
Einzelfälle gewissermaassen auf ihr einfachstes Schema zurückzuführen,
um womöglich „zur Erkenntniss des Allen Gemeinsamen oder zu der
äussersten den Charakter der Endigung bewahrenden Reduction zu
gelangen."
Bei Salamandra, wo die motorische Nervenendigung bloss „aus
markfreien und kernlosen, direct und ohne jedes Zwischenglied zwischen
Sarkolemm und contractiles Gewebe gebetteten Endfasern bestehen",
bot sich als einfachste Form die nebenstehende dar '~f~' , worin der
stärkere Balken den letzten epilemmalen, markführenden Nerven, die
vier winklig abgehenden die intramusculären, der Muskelfaserung meist
annähernd parallelen Endfasern darstellen. Häufig kommen auch as-
symmetrische Geweihe der beistehenden Form vor |-^ — , f^, da-
gegen niemals die einfache V~ Form. Dem gegenüber zeichnen sich
die „Plattengeweihe" der höheren Wirbel thiere hauptsächlich durch
die buchtigen, mit kurzen Läppchen oder Buckeln besetzten Ränder
der Aeste aus. Bei genauerem Zusehen lässt sich jedoch auch hier
wieder jene für die Stangengeweihe charakteristische, unsymmetrische
Abzweigung der Endästchen „mit Knicken, nach Art des Bajonetts"
(„niemals in Gestalt der Stimmgabel" ), constatiren , wobei „noch eine
andere auf dieselbe Bedeutung zurückzufidirende Einrichtung hinzu-
kommt, bestehend in bogenförmig gegen einander und in sich zurück-
rankender Krümmung der Aeste, deren seitliche oder endständige
Prominenzen so nahe zusammenrücken, dass sie nur sehr schmale
Muskelbrücken zwischen sich fassen". „Alle Uebergänge dieser Fase-
rung von der einfachsten, welche in einer einzigen um die Fläche ge-
bogenen, mit Buckeln versehenen Schleife zu bestehen scheint, bis
zur mehr circumscripten und labyrinthischen Platte in Hügeln von
kreisförmiger, elliptischer und oblonger Basis, kommen vor. Das ein-
fachste Schema würde also hier mit ^f , das entwickeltere mit dieser
Figur ^r zu bezeichnen sein". Aus dem geschilderten Verhalten
des Endfasern leitet nun Kühne eine Eigenthümlichkeit im Ablauf
der in sie trelangenden Reizwellen her, ., welche von Bedeutung für
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 743
die Muskelerregung sein wird", indem „in den nirgends fehlenden
gleichgerichteten Parallelfasern keine Wellen ohne Phasendifferenz
neben einander fortschreiten". „In Erwägung des von Bernstein
gefundenen ausserordentlichen steilen, fast senkrechten Abfalles der
elektrischen Schwankungswelle im Nerven müssen die Entfernungs-
differenzen der durch parallelen Verlauf zusammengehörigen End-
fasern von der nächsten Wurzel auch gross genug erscheinen, um
beträchtliche Spannungsdifferenzen zwischen je zwei durch Senkrechte
zu verbindenden Punkten zu ermöglichen." „Zwischen diesen Punkten,
denen vollends entgegengesetzte Vorzeiclien zuzuschreiben sind, wenn
die Schwankungswelle im Sinne Bern stein ' s den Nervenstrom um-
kehrt, liegt aber Muskelsubstanz, durch welche der Ausgleich der
Spannungen geschehen muss." Kühne stellt sich also vor, dass
zwischen gegenüberliegenden Punkten der Endverzvveigungen des
eintretenden Nerven in Folge der Phasendifferenz der Reizwelle ein
Strom sich abgleiciit, durch welchen die zwischenliegende Muskel-
substanz gereizt wird. Auch gegen diese Hypothese lassen sich nicht
nur von rein theoretischen Gesichtspunkten aus begründete Einwände
erheben (Du Bois-Reymond 58 und Bernstein 59), sondern es
sprechen gegen dieselbe, wie schon erwähnt, vor Allem die anatomi-
schen Thatsachen, insbesondere das Verhalten der motorischen Nerven-
endigungen bei wirbellosen Thieren.
Fasst man Alles im Vorstehenden über die verschiedenen „Ent-
ladungshypothesen" Mitgetheilte zusammen, so erscheint deren Berech-
tigung überhaupt in hohem Grade fraglich, und man wird Bernstein
zustimmen müssen, wenn er (1. c. p. 337) jede Vorstellung, wonach
der Muskel durch einen von den Nervenenden nach aussen sich
ergiessenden elektrischen Schlag gereizt wird, für ausserordentlich
unwahrscheinlich hält. Ganz abgesehen von den schon geltend
gemachten Gründen sprechen gegen jede derartige Annahme auch
sehr entschieden die zeitlichen Verhältnisse der Muskel-Erregung.
Es handelt sich dabei um die Frage, ob es einer messbaren Zeit
bedarf, um den Erregungsvorgang vom Nervenende auf den Muskel
zu übertragen. Schon Yeo und Cash hatten bemerkt, dass das
Stadium der Latenz bei indirecter Reizung des M. gastrocnemius in
nächster Nähe der Nerven-Eintrittsstelle erheblich grösser ist, als bei
directer Reizung des Muskels, und Bernstein (59) hat dieselbe
Erscheinung später zum Gegenstand einer genaueren Untersuchung-
gemacht.
„Die beträchtliche Grösse des gefundenen Zeitunterschiedes (im
Mittel 0,0032 bis 0,0049 Secunde) lässt darauf schliessen, dass derselbe
nicht etwa nur auf die Fortpflanzung der Erregung im Nerven bis
zum Eintritt in die Muskelfasern zu beziehen ist, sondern, dass der
Erregungsprocess sich in dem Endorgan der Nervenfaser längere Zeit
aufhält, als in einer gleichen Strecke derselben." Durch Subtraction
der Leitungszeit im Nerven von dem gefundenen Zeitintervall beider
Zuckungscurven erhält man die muthmaassliche „ E r r e g u n g s z e i t der
Nervenend Organe". Nimmt man mit Rücksicht auf den Bau des
M. gastrocnemius den Mittelpunkt der ganzen Muskellänge als mittlere
Eintrittsstelle der Nerven an, und rechnet man die Geschwindigkeit der
Nervenleitung zu 27 M. p. See, so berechnet sich aus Bernstein 's
Versuchen die Erregungszeit der motorischen Endorgane im Mittel zu
0,0032 = ^/3i2 See. Auch aus dem Latenzstadium der negativen
744 Diö elektromotorischen Wirkungen der Nerven.
Schwankung bei indirecter Muskelreizung lässt sich, wie Bernstein
gezeigt hat, derselbe Zeitwerth berechnen. Man darf annehmen, dass
bei der natürlichen Erregung vom Nervenende aus ebenso wie bei
dem künstlich elektrisch gereizten Muskel an der Reizstelle selbst
die negative Schwankung im Momente der Reizung, also ohne merkliche
Latenz beginnt. Zieht man daher die Zeit der Nervenleitung von
dem bei indirecter Muskelreizung beobachteten Latenzstadium der
negativen Schwankung ab, so muss sich wieder die Erregungszeit der
Nervenendorgane ergeben. In gleichem Sinne würden auch gewisse Be-
obachtungen von Tigerstedt zu deuten sein, denen zu Folge bei
directer Reizung nicht curarisirter Muskeln bisweilen schon bei nicht
maximaler Reizstärke maximale Zuckungen mit auffallend längerem
Latenzstadium auftreten, als sonst bei maximaler Reizung. Ebenso
zeichnen sich auch Zuckungen mittlerer und minimaler Höhe bei
nicht curarisirten Muskeln durch eine längere Latenzdauer aus, als
wie gleich grosse Zuckungen curarisirter Muskeln.
Die Berechtigung der Folgerungen Bernstein's wurde später
von H 0 i s h 0 1 1 (60) auf Grund von Versuchen bestritten, welche unter
Kühne 's Leitung angestellt worden waren; derselbe beobachtete zwar
ebenfalls (am Sartorius und Gracilis) ein viel kürzeres Latenzstadium
bei Reizung der nervenreichen Muskelsubstanz in der Nähe des Hilus
als bei Erregung des daselbst eintretenden Nervenstammes, fand aber
andererseits bei directer Reizung der nervenfreien Endabschnitte
der genannten Muskeln nicht allein eine gleichlange, sondern vielfach
sogar eine längere Latenzdauer als bei indirecter Reizung vom Nerven
aus. Hoisholt glaubt diese Thatsache durch eine Summation von
Reizen auf den Muskel und die intramusculären Nerven erklären zu
können, gegen welche Annahme sich in der Folge Boruttau (60)
wendete, der auf Grund seiner Untersuchungen wieder zu der
ursprünglichen Auffassung gelangte , indem er bei Anwendung supra-
maximaler Reize die Bernstein'sche Zeitdifferenz auch am parallel-
faserigen Muskel bestätigt fand, wenn einmal indirect und dann vom
nervenfreien Ende aus gereizt wurde. Stets war das Latenzstadium
letzterenfalls kleiner. Doch machte L. As her (60) hiergegen den
Einwand geltend, dass sich der supramaximale Reiz kaum in genügender
Weise auf das nervenfreie Ende des Muskels beschränken lässt. Auf
Veranlassung K ü h n e ' s benutzte A s h e r eine neue Versuchsanordnung,
wobei ein nervenfrei es und ein nervenhaltiges Muskelstückchen des
Sartorius für sich getrennt zucken und unter absolut gleichen
Bedingungen je eine Curve schreiben sollten. Bei gelungenen Ver-
suchen, deren Zahl bei der Kürze der verwendeten, parallel neben
einander aufgehängten Muskelstückchen und der dadurch bedingten
Schwierigkeit der Untersuchung nicht allzu gross war, deckten sich
beide Curven im Anfangspunkte völlig, besassen daher dieselbe
Latenzzeit. Dem ungeachtet bleibt die grössere Latenz bei Reizung vom
Nervenstamm aus als noch zu erklärende Thatsache bestehen. Sollte
sich bei weiteren Untersuchungen doch noch die Auffassung Bern-
stein's als richtig herausstellen, so würde eine „Entladungshypothese"
überhaupt nur unter der Voraussetzung möglich sein, „dass, nachdem
die Reizwelle das Endorgan erreicht hat, in diesem der elektrische
Schlag sich Anfangs langsam entwickele und erst nach etwa ^300"
diejenige Steigerung erfährt, durch welche die Muskelreizung bewirkt
wird".
Die elektromotorischen Wirkungen der Nerven. 745
Seitdem es durch Kühne als zweifellos sichergestellt betrachtet
werden darf, dass die letzte Ausbreitung des Axencylinders an quer-
gestreiften, mit Sarkolemm umhüllten Muskelfasern hypolemmal
gelegen ist, erscheint übrigens eine Entladungshypothese in dem
ursprünglichen Sinne keineswegs mehr als eine nothwendige Voraus-
setzung zur Erklärung der Innervation, vielmehr ist die Möglichkeit
nicht von der Hand zu weisen, dass es sich dabei um eine directe
Uebertragung der molekularen, dem Erregungsvorgang zu Grunde
liegenden Processe von Nerv auf Muskel handelt, in ähnlicher Weise,
wie sich ja auch in beiden Gewebselementen die Fortpflanzung der
Erregung von Querschnitt zu Querschnitt vollzieht, Dass dabei im
Sinne der früher besprochenen Anschauungen Hermann's galvanische
Vorgänge wesentlich mit betheiligt sein können, ist natürlich keines-
wegs ausgeschlossen , sondern sogar sehr wahrscheinlich. Einen
Einwand hiergegen wird man schwerlich in dem Umstände erblicken
können, dass eine wirkliche Continuität der Substanz von Nerv und
Muskel bisher nicht nachgewiesen ist, so dass eine Leitung der
Erregung „per contiguitatem" angenommen werden müsste. Indessen
haben sich gerade in letzter Zeit die Angaben sehr gemehrt, wonach
auch centrale Nerven-Endigungen die Uebertragung der Erregung
lediglich durch Berührung vermitteln würden.
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48^
K. Die elektrischen Fisclie.
I. Bau und Structur der elektrischen Organe.
Seit den ältesten Zeiten sind die wunderbaren physiologischen
Wirkungen gewisser Fische, insbesondere der im Mittelmeer häutigen
Torpedineen und des den Nil und andere afrikanische Flüsse be-
völkernden elektrischen Welses (Malopterürus electricus) be-
kannt und zum Theil gefürchtet. Und in der That musste eine
selbst nur flüchtige und oberflächliche Bekanntschaft mit irgend einem
Repräsentanten dieser kleinen und so eigenthümlich specialisirten
Gruppe von Fischen alsbald ihre Fähigkeit verrathen, bei der Be-
rührung Wirkungen zu entfalten, deren Aehnlichkeit mit den Erfolgen
elektrischer Entladungen zuerst Adanson (1751) hervorhob, nach-
dem bereits viel früher Francesco Redi (1666) in einer meister-
haften anatomischen Untersuchung des Zitterrochen (Torpedo) wahr-
scheinlich gemacht hatte, dass die räthselhafte Kraft der elektrischen
Fische an besondere Organe geknüpft ist, welche er hier symmetrisch
zu beiden Seiten des Kopfes gelegen fand und ihrer Gestalt wegen
als „sichelförmige Körper oder — was sie vielleicht sein mögen —
Muskeln" beschrieb. Mir schien es damals, sagt Redi bei Erzählung
seiner Versuche, „als ob die schmerzerregende Wirkung des Zitter-
rochen mehr als in irgend einem anderen Theile in diesen beiden
sichelförmigen Körpern oder Muskeln ihren Sitz habe". Erst von
dieser Zeit an datirt eine wirklich wissenschaftliche Behandlung der
hier vorliegenden Probleme. Bis dahin hatte man sich Jahrhunderte
lang begnügt, die so auffallenden und unangenehmen Emptindungen
zu erörtern, welche mit dem unvorsichtigen Berühren elektrischer
Fische verknüpft sind und auch in der Benennung derselben ihren
Ausdruck finden. Sowohl die lateinische Bezeichnung „Torpedo"
wie die französische „Torpille", die italienische „Tremola", die
altgriechische „Narke" für die Zitterrochen, die arabische „Raäd"
oder „Raäsch" für den Zitterwels und die spanische „Templador"
für den südamerikanischen Zitteraal weisen auf die betäubende und er-
schütternde Wirkung des Schlages elektrischer Fische hin, ohne dass da-
mit über die eigentliche Ursache derselben irgend etwas ausgesagt wurde.
Die vorahnende Bezeichnung der elektrischen Organe von
Torpedo als „Muskeln" von Seite Redi 's führte zunächst zur
Die elektrischen Fische. 749
Aufstellung einer rein mechanischen Theorie ihrer Wirkungen, welche
sich am klarsten beiBorelli (1685) ausgesprochen findet. Er nahm
an, jene Organe zögen sich mehrere Male schnell hinter einander zu-
sammen und gäben so dem berührenden Gliede eine Reihe von heftigen
Stössen, die einen Krampf zur Folge hätten, gleich dem, der von
einem Stoss an dem Ellenbogen herrührte. Diese Theorie fand all-
gemeinen Beifall, die hervorragendsten Naturforscher, Reaumur,
Linne und Hall er schlössen sich ihr an und man kann sagen, dass
sie um das Jahr 1750 zur alleinigen Herrschaft gelangt war und als
die einzig mögliche und auch vollständig ausreichende Erklärung all-
gemein angesehen wurde. Bald nach der Entdeckung der Leydener
Flasche (1745) lernte, wie schon erwähnt, Michel Adanson (1751),
ein am Senegal reisender französischer Botaniker, hier die viel kräf-
tigeren Wirkungen des Zitterwelses kennen, dessen Schläge ihm, wie
vorher schon Gravesande (Du Bois-Reymond 4, e p. 127),
sofort durch ihre Aehnlichkeit mit Flaschenentladungen auffielen, mit
denen sie auch insoferne übereinstimmten, als es möglich war, dieselben
durch lange Drähte zu übertragen. Aehnliches berichteten holländische
Naturforscher aus Surinam von Gymnotus, über welchen die ersten
Nachrichten im Jahre 1672 nach Europa gelangten. Es wurde fest-
gestellt, dass der Schlag durch eine Kette von mehreren Personen
hindurchging und wie der elektrische Strom nur durch Leiter, nicht
aber durch Isolatoren übertragen werden kann. (WiUiamson 1773.)
Dasselbe hatte Walsh schon ein Jahr zuvor zu La Rochelle an
Torpedo festgestellt und damit die elektrische Natur des Zitter-
fischschlages zum ersten Male sicher bewiesen (Du Bois-Reymond
4, e p. 418). Er zeigte gleichzeitig, dass im Momente des Schlages
Rücken und Bauch des Fisches sich elekti'isch different verhalten und
betrachtet demgemäss die „sichelförmigen Muskeln" Redi's als
elektrische Vorrichtungen, die nach dem Willen des Thieres in Thätig-
keit gesetzt werden können. An einem 1775 aus Guayana nach
London gelangten Zitteraal (Gymnotus) sah Walsh in einem
Stanniolspalt, der sich im Kreise der Entladung befand, auch Funken
überspringen, und konnte diesen Versuch Mitgliedern der Royal
Society 10 — 12 mal nacheinander zeigen (3 p. 158). Seit dieser Zeit
war die Aufmerksamkeit der Forscher auf diesem Gebiete hauptsäch-
lich darauf gerichtet, die vollkommene Identität des Fischschlages
mit dem elektrischen Strome über jeden Zweifel sicherzustellen.
Cavendish (1776), dessen Untersuchungen über Torpedo einen
so wesentlichen Fortschritt bedeuten, dass, wie Du Bois-Reymond
bemerkt, erst Faraday wieder denselben Standpunkt einnahm, ver-
suchte die Wirkungen des Schlages durch gewöhnliche Elektricität
nachzuahmen, indem er an einem ledernen, mit Seewasser getränkten
Modell des Fisches die den Polflächen der Organe entsprechenden
Stellen mit Zinnfolie überzog und durch isolirte Drähte mit einer
Leydener Batterie verband. Er gelangte dabei zuerst zu im Wesent-
lichen richtigen Anschauungen über die Vertheilung der Spannungen
(Stromcurven) ausserhalb des Fisches im umgebenden Wasser und
wies nach, wie die in das Wasser getauchte Hand, auch ohne den
Fisch zu berühren, von dem elektrischen Schlage getrofi'en werden
musste, und zwar um so fühlbarer, je näher dem Fisch. Hierher ge-
hört auch die Angabe van der Lotts (4, e p. 128) (1762), dass man
einen Schlag durch die Luftblasen erhalten kann, welche der Zitter-
750 Die elektrischen Fische.
aal beim Luftholen autVirft, sowie die später von C. Sachs zufällig
erneuerte Beobachtung, dass der Wasserstrahl aus dem Spundloch eines
Zitteraale enthaltenden Fasses den Schlag zuleitet.
Es ist selbstverständlich, dass die Entdeckung der galvanischen
Elektricität und der daran sich knüpfende, folgenschwere Streit
zwischen Galvani und Volta für die Auffassung der Wirkungen
der elektrischen Fische, als der grossartigsten Manifestation thierischer
Elektricität, nicht ohne Folgen bleiben konnte, und, wie so häufig in
der Physiologie, sieht man auch hier die theoretischen Anschauungen
über den Mechanismus der elektrischen Organe sich aufs Engste den
herrschenden physikalischen Theorien anschliessen, Volta selbst ver-
fehlte denn auch nicht, auf Analogien zwischen der von ihm ent-
deckten Säule und dem in der That auch aus prismatischen Säulchen
aufgebauten Organen von Torpedo hinzuweisen (Collezione dell' Opere
ec. Firenze 1816, t. II p. II p. 99), indem er sogar für die Säule den
Namen eines künstlichen elektrischen Organes vorschlug. Der Durch-
führung einer solchen Theorie, der zu Folge die Elektricität sich durch
Berührung dreier ungleichartiger Stoffe entwickeln sollte, stellten sich
freilich damals grosse Schwierigkeiten entgegen, vor Allem die be-
ständige Wirksamkeit der Säule, während die Thätigkeit der
elektrischen Organe sichtlich der Willkür des Thieres unterworfen
ist Man suchte dieselbe theils dadurch zu umgehen, dass man (wie
Volta selbst) den Fisch beim Schlage gewisse Bewegungen ausführen
Hess, durch welche die angenommenen, elektromotorischen Bestand-
theile seiner Batterien, deren Natur übrigens gänzlich im Dunkeln
blieb, erst gehörig in Berührung gebracht würden oder vermuthete
(wie A. V. Humboldt) das vom Willen des Thieres abhängige Zu-
fliessen eines sonst fehlenden Bestandtheiles. Eine besondere und
grosse Schwierigkeit schien sich auch Anfangs durch den Mangel einer
Isolirung der Organe zu ergeben, die selbst noch Valentin (30) zu
Anfang der vierziger Jahre veranlasste, den die Säulen (Prismen) des
Organes begrenzenden sehnigen Scheidewänden die Bedeutung von
Isolatoren zuzuschreiben, während gleichzeitig Schön bein glaubte,
dass der Zitteraal sich willkürlich von dem umgebenden Wasser
isoliren könne (!).
Für wie unsicher trotz aller scheinbar zwingenden Beweise der
elektrischen Natur des Schlages der Boden galt, auf dem man sich
bei diesen mehr oder weniger kühnen Speculationen bewegte, zeigt
am deutlichsten der Umstand, dass noch 1829 Humphry Davy,
auf dessen Veranlassung sein Bruder John Davy in Malta an Zitter-
rochen ausgedehnte Untersuchungen anstellte, seinen Zweifeln Aus-
druck gab, ob die Elektricität der Zittertische mit der gewöhnlichen
wirklich identisch sei, und auch Faraday, dem es beschieden war,
als Einer der Ersten den mächtigsten aller elektrischen Fische, den
südamerikanischen Zitteraal, in Europa mit allen Hülfsmitteln physi-
kalischer Forschung zu untersuchen, konnte nur wenige Jahre später
die von ihm zum Beweis der Einerleiheit aller Elektricitäten geforderten
acht Wirkungen (Funkenbildung, thermische Wirkung, Anziehung und
Abstossung, Ablenkung der Magnetnadel, Magnetisirung eines Stahl-
stabes, Wasserzersetzung, Leitung durch heisse Luft, physiologische
Wirkung) Anfangs nicht sämmtlich durch den Schlag des Zitteraals
erhalten, obschon schliesslich nur eine einzige Lücke übrig blieb : der
Mangel der Leitung durch heisse Luft.
Die elektrischen Fische.
751
so erscheint es erforderlich,
Erst Du Bois-Reymoncl verdanken Avir die Schaffung einer
ebensowohl durch theoretische Betrachtungen wie durch eingehende
experimentelle Untersuchungen gesicherten Grundlage der Physiologie
der Zitterfische, auf welcher alle späteren Forscher weiter bauten, so
dass zur Zeit wenigstens die wesentlichsten Punkte als sichergestellt
betrachtet werden können.
Da alle neueren hierher gehörigen Arbeiten nur verständlich sind,
wenn der Bau und die feineren Structurverhältnisse der Organe als
bekannt vorausgesetzt werden können,
zunächst diese eingehender zu erörtern,
und es soll hierbei an die Torpe-
d i n e e n als die am genauesten bekann-
ten Repräsentanten der Gruppe ange-
knüpft werden, bei welchen sich die
Verhältnisse ausserdem am einfachsten
und übersichtlichsten gestalten.
Wie Fig. 256 a erkennen lässt, welche
die Hälfte der Rückenansicht von Tor-
pedo m arm 0 rata nach Entfernung
der Haut darstellt, liegt jederseits vom
Kopfe und dem Kiemengerüst je eines
der etwa nierenförmigen Organe, welche
den stark abgeflachten breiten Körper
von der Rücken- zur Bauchfläche völlig
durchsetzen und , von der Fläche ge-
sehen, einer Honigwabe gleichen, indem
sie wie diese aus lauter unregelmässig
fünf- bis sechsseitigen, prismatischen
Säulchen zusammengesetzt erscheinen.
Wie ein senkrecht auf die Ebene der
Körperscheibe geführter Querschnitt er-
kennen lässt, nimmt die Höhe der
neben einander liegenden Säulchen von
innen nach aussen ab. Sie sind von
einander durch bindegewebige Scheide-
wände getrennt und haben , frisch prä-
parirt, das Aussehen und die Consistenz
einer grau-röthlichen , halbdurchschei-
nenden Gallerte.
Um über den feineren Bau derselben genaueren Aufschluss zu
gewinnen, kann man theils Längsschnitte parallel der Säulenachse,
theils Flächenansichten verwenden. Die letzteren gewinnt man nach
einem zuerst von Sa vi geübten Verfahren sehr einfach, indem man
die kuppenförmig sich vorwölbende Querschnittsfläche einer Säule
mit der Scheere abkappt und nun die einzelnen dünnen Plättchen,
aus welchen sie aufgebaut ist, in einer indifferenten Flüssigkeit von
einander abblättert. Diese zarten Scheibchen, welche wie die Münzen
einer Geldrolle oder wie die Platten einer Volta'schen Säule über
einander geschichtet liegen (Fig. 230), sind es, die, wie zuerst DuBois-
Reymond aussprach, unter dem Einflüsse des Nervensystems elektro-
motorisch wirksam werden. „Die elektromotorischen Bestandtheile,
aus denen die Elementarketten der Fischsäulen beatehen, sind nicht
in optisch unterscheidbaren Gebilden, in einander berührenden, un-
Fig. 230. Schematische Darstel-
lung eines einzelnen Säulchens vop
Torpedo mit den zutretenden
Nerven (Wagner'sche Büschel).
(Nach G. Fritsch.)
752
Die elektrischen Fische.
gleichartigen Geweben oder thierischen Flüssigkeiten zu suchen.
Vielmehr ist der Sitz der elektromotorischen Kraft
auch hier in das Innere eines morphologisch einheit-
lichen Gebildes zu verlegen, der jetzt sogenannten
elektrischen Platte" (Du Bois-Reymond 4, d. II),
Bei normaler Lagerung in situ liegen die Platten annähernd
horizontal und nur in der Mitte etwas gegen den Rücken des Thieres
aufgebogen. Nach Behandlung mit Reagenzien können aber an Längs-
schnitten mannigfache Verlagerungen stattlinden. Jede Platte erscheint
am Rande, wo sie sich an die bindegewebigen Scheidewände ansetzt,
nach abwärts umgekrämpt, wobei vorzugsweise die ventrale Hälfte be-
theiligt ist. (Fig. 231.) Innerhalb der grösseren Säulen liegen die
einzelnen Platten etwas weiter von ein-
ander entfernt, als in den kürzeren. Von
der ventralen Fläche aus gesehen, zeigt
jede reichlich verzweigte Nervenfasern
und spärliche Capillaren , eingebettet in
eiu gallertiges, von Sternzellen durchsetztes
Gewebe, welches die Zwischenräume der
Platten erfüllt und der Substanz der Säulen
im frischen Zustande das Aussehen einer
zitternden Gallerte giebt. Berücksichtigt
man die grosse Zahl der Nervenfasern in
jeder einzelnen Platte, so muss der Nerven-
reichthum des ganzen Organes füglich in
Erstaunen setzen und beweist an sich die
innigen Beziehungen derselben zum Cen-
tralnervensystem. Nicht minder scharf
prägt sich dies auch in den Ursprungsver-
hältnissen der „elektrischen Nerven" aus,
die aus zwei besonderen Lappen des Ge-
hirns entspringen, welche anderen Fischen
durchaus fehlen. Nachdem, wie Boll
(5 , d) gezeigt hat , schon L o r e n z i n i
(1677) diese Gebilde als hinteres Tuberkel-
paar erwähnt hatte, ohne ihre Bedeutung
zu ahnen, bezeichnete sie zuerst A. v.
Humboldt genauer als Ursprungscentren
der elektrischen Nerven von Torpedo. Nach Freilegung des Central-
organes erkennt man sie leicht als zwei längliche, dicht an einander
gedrängte Körper von gelblichgrauer Farbe, von denen links und
rechts je vier Nervenstämme ausgehen, welche die Organe versorgen.
Nach F ritsch, dem sich Schenk auf Grund entwicklungsgeschicht-
liclier Studien anschloss , entstehen die dorsalwärts vorragenden elek-
trischen Lappen aus wuchernden, motorischen Vaguskernen der Me-
duUa oblongata, welche in Folge der ausserordentlichen Vermehrung
der einer speciellen Function angepassten Ganglienzellen aus ihrer
ursprünglichen Lage am Boden des vierten Ventrikels nach oben ver-
drängt erscheinen. Wie Querschnitte lehren, handelt es sich um
mächtige Lager grosser Ganglienzellen , deren Axencylinderfortsätze
direct in die Fasern der elektrischen Nerven übergehen.
Sehr eigenartig gestaltet sich das Verhalten und die Vertheilung
der in das Organ eingetretenen Nerven innerhalb der einzelnen
Fig. 231. Der Eandtheil von
drei elektrischen Platten im
Längsschnitt der Säule. (Nach
Kanvier.)
Die elektrischen Fische.
753
Säulchen oder Prismen; Wie zuerst Rud olf Wagner (35)
zerfallen alle Fasern vor ihrem Eintritt in die Platten durch
und zahlreiche Theilungen in eigenthümliche Büschel (Wag m
zeigte,
rasche
sehe
Büschel) (Fig. 230 und 232), deren räumliche Vertheilung und Be-
> o
;l2
«'S
1^
H-3
Ziehung zu den einzelnen Platten später von August Ewald und
G. Fritsch noch genauer festgestellt wurde (9).
Es ergab sich, dass die Theilfasern eines Büschels, deren Zahl
durchschnittlich 18 beträgt, in einer überaus zierlichen und regel-
mässigen Weise über einander angeordnet sind und von den Ecken
754
Die elektrischen Fische.
der gewöhnlich sechsseitigen PLatten her in dieselben eindringen, so
dass jede Platte von sechs Theilfasern versorgt wird, die sich in ihr
unter reichlicher dichotomischer Theilung verzweigen (Fig. 230).
Sobald ein markhaltiger Endzweig eines Wagner'schen Büschels
die zugehörige Platte erreicht hat, von der er einen Theil zu
innerviren bestimmt ist, entsendet er beiderseits unter ziemlich rechtem
Winkel abgehende, ebenfalls noch markhaltige Aeste, welche sich nun
ihrerseits wiederholt dichotomisch theilen oder seitliche Zweige abgeben
und schliesslich nach Verlust der Markscheide geweihförmige Büschel
markloser, blasser Fa-
sern bilden, deren
eigentliche Endigung
in der Substanz der
Platte schwierig zu er-
forschen ist (Fig. 233).
Nicht nur die dicho-
tomischen Theilungen
der markhaltigen, son-
dern auch zum Theil
noch die der mark-
losen Endästchen sind
von einer besonders an
den ersteren sehr ent-
wickelten, bindegewe-
bigen Scheide mit ein-
gelagerten Kernen um-
hüllt. Nach Ran vi er
endet dieselbe ganz
scharf an bestimmten
Stellen der marklosen
Endausbreitung.
Remak (1856)
(27) bemerkte zuerst,
dass sich die feinsten
marklosen Endzweige
noch viel weiter ver-
folgen lassen, als es R.
Wagner beschrieb. An günstigen Präparaten fand er den ganzen an-
scheinend freien Raum zwischen denselben von blassen scheinbar anasto-
mosirenden Nervenverästelungen angefüllt. Kölliker (1857) (16, b)
und später Max Schnitze beschrieben ein wirkliches Nervennetz,
welches der Letztere als feinstes Gitterwerk mit fast quadratischen
Maschen abbildet (31 b). Die überwiegende Mehrzahl der späteren Unter-
sucher constatirte mit Hülfe der neueren Methoden , insbesondere der
Metallimprägnation (Gold, Silber), sowie auch an ganz frischen elek-
trischen Platten von Torpedo, einen in allen wesentlichen Punkten
gleichartigen Modus der Nervenendigung, wie er in den motorischen
Endplatten der quergestreiften Muskeln höherer Wirbelthiere bekannt
ist. Betrachtet man die Darstellung, welche Ran vi er (26) von
einem kleinen Stück einer durch Silberbehandlung entwickelten End-
verzweigung der Plattennerven giebt (Fig. 234) oder Bilder, wie sie schon
vorher von Ciaccio (6), Boll (5), Krause (17), und ganz neuer-
dings wieder von Ballowitz (2) und N. Iwanzoff (15) nach Be-
Vig. 233. Nervenverzweigung an der
einer elektrischen Platte von Torpedo.
ventralen Fläche
(Nach Ran vi er.)
Die elektrischen Fische.
755
Handlung mit Osmiumsäure, Goldchlorid, Hämatoxylin und Golgi's
Methode etc. gegeben wurden, so springt das Zutreffende des Vergleiches
sofort ins Auge und es ist schwer verständlich, wie G. Fr it seh (12)
die Existenz einer derartigen, terminalen Nervenverästelung gänzlich
läugnen konnte, die, wie ich mich selbst überzeugt habe, immer schon
im frischen Zustande erkennbar ist und wie eine riesige Endplatte
die ganze ventrale Fläche jeder Platte stetig überzieht. In der That
kann mit Rücksicht auf die Entwicklung der elektrischen Platten aus
metamorphosirten, quergestreiften Muskelfasern an der Homologie der
Nervenendvei'ästelungen an der ventralen Fläche mit den motorischen
Endplatten kaum noch gezweifelt werden. Schoenlein neigt, wie
er mir mittheilt, neuerdings sogar der Ansicht zu, dass die ganze voll-
entwickelte Platte nur der motorischen Nervenendplatte entspricht.
Schon Rem ak (1. c.) hat die Aufmerksamkeit auf eine eigenthümliche.
Fig. 234. Ein kleiner Theil der End-
verästelung der Nerven in der elektrischen
Platte von Torpedo (Silberpräparat).
(Nach Ran vi er.)
Fig. 235. Theil der Nervenverästelung
in einer Torpedoplatte mit BoU'scher
Punktirung. (Nach Ciaccio.)
auch von allen späteren Beobachtern gesehene, regelmässig angeordnete
Punktirung der ventralen Fläche jeder elektrischen Platte gelenkt,
welche viele Jahre später von Boll (5) als ein neues Structurver-
hältniss beschrieben wurde. Dasselbe besteht in einer ausserordentlich
feinen, vollkommen regelmässigen und gleichartigen Punktirung,
welche unmittelbar unter dem Terminalnetze (von unten her gesehen)
liegt (Fig. 235 ). Die Anordnung der Punkte entspricht vollkommen genau
der Conliguration des Terminalnetzes, sodass die Pünktchen den Balken
des Netzes folgen und den Verlauf derselben gewissermaassen markiren.
Meist entsprechen den einzelnen Netzbalken mehrere (zwei bis drei)
unregelmässig gestellte Reihen von Punkten, deren Zahl auf einen
Quadratmillimeter Krause und Iwanzoff auf etwa eine Million
berechnen.
Im optischen Querschnitt der Platte (an Biegungsstellen) entspricht
der Punktirung eine äussert zarte und regelmässige, senkrecht zur
Fläche gerichtete Streifung (vergl. Fig. 231 ce), welche sich von der
756
Die elektrischen Fische.
ventralen Seite her bis zu der Grenze des ersten Sechstels der Platten-
dicke erstreckt (Palissadensaum, cilselectriques Ranvier's)
und auch bereits vonRemak erkannt wurde, welcher die Punkte der
Plattenaufsicht als die Umbiegungsstellen palissadenartig angeordneter
Cylinderchen in die Fläche auffasste. Zu derselben Deutung gelangte
im Wesentlichen auch Krause, dem zu Folge die Punkte „der optische
Ausdruck von oben gesehener, solider, cylindrischer Stäbchen sind,
welche dem Neurilemm angehören und eine Art von „Nägeln"
darstellen, mit denen die abgeplatteten Terminalfasern angeheftet sind".
Boll, Ran vier, Ciaccio und Trinchese hielten sie für die
eigentlichen letzten Nervenendigungen. Nach Iwanzoff hätte man
in den Palissaden lediglich Fortsätze der die untere Fläche der
elektrischen Platten bekleidenden structurlosen Membran zu erblicken,
welche dem Sarkolemma der Muskelfaser entspricht.
Fritsch dagegen glaubt sich überzeugt zu haben, dass diese
Punktirung, welche mit Osmiumbehandlung und bei der Anwendung
der stärksten Trocken- oder schwächerer Immersionssysteme schwarz
erscheint, „der optische Ausdruck von lauter das Licht stark brechen-
Fig. 236. Torpedo ocellata. Querschnitt einer elektrischen Platte mit anhängen-
dem Nerv, l = dorsale bindegewebige Grenzschicht; m = Stratum moleculare; p =
Palissadensaum mit Nervenendigungen; gl = Stratum granulosum; n = Nerv. (Nach
G. Fritsch.)
den , dicht neben einander gelagerten , kleinen Körnchen ist, die in
einer das Licht schwächer brechenden , halbflüssigen Substanz liegen,
welche die untere Fläche der Platte überzieht". Fritsch schlägt
daher vor, diese Schicht, welche mit der eigentlichen Nervenendigung
nichts zu thun habe, als Stratum granulosum zu bezeichnen.
Ihre Beziehung zu den anderen Schichten der elektrischen Platte
ergiebt sich am deutlichsten aus der Untersuchung von Querschnitten
(Fig. 236).
Nach den neuerdings auch wieder von Iwanzoff bestrittenen
Untersuchungen dieses Forschers „gelingt es, an besonders günstigen
Stellen der Platten-Querschnitte feinste Nervenfädchen senkrecht
zur Plattenrichtung an die Körnchenschicht herantreten und zwischen
den Körnchen verschwinden zu sehen". Jenseits im Palissaden-
saum treten dieselben wieder deutlich hervor und bilden selbst
unmittelbar die Grenzlinien der Palissaden (Fig. 236). Ihre eigent-
liche Endigung scheint an der dorsalen Grenze dieser Schichte
„in weichen protoplasmatischen Körpern zu erfolgen, die im Prä-
parat zu kugelförmigen (beerenähnlichen) Bildungen zusammenge-
Die elektrischen Fische.
757
flössen angetroffen werden". Jenseits des Palissadensaumes folgt das
dorsale („muskuläre" Fritsch, „metasarkoblas tische"
Babuchin) Glied der Platte (couche intermediaire Ran vi er 's).
Hervorgegangen aus der Umwandlung embryonaler Muskelsubstanz
lässt diese Schicht später nichts mehr von der charakteristischen
Structur quergestreifter Fasern erkennen. Krause beschrieb aller-
dings in derselben „quergestreifte Bogenfasern" als Reste von Muskel-
fibrillen, die aber von andern Beobachtern nicht gesehen wurden ; nach
Fritsch soll diese Schicht, ähnlich dem Stratum granulosum, „aus
kleinsten, reihenweise parallel der Säulenaxe angeordneten Theilchen
zusammengesetzt sein, deren Lichtbrechungsvermögen dasjenige der
Zwischensubstanz nur äusserst wenig übertrifft" (Fig. 23(3 m).
Fritsch ist geneigt, in diesem von ihm beobachteten regel-
mässigen Aufbau eine wesentliche Stütze der Molekulartheorie Du
Bois-Reymond's zu erblicken, wenngleich er nicht soweit geht,
zu behaupten, dass die reihenweise geordneten Körperchen thatsächlich
Fig. 237. Gymuotus electricu,«
„die gesuchten elektromotorischen Molekeln" sind. Nach Iwanzoff
handelt es sich dagegen lediglich um eine Art von Waben oder
Schaumstructur des Plasmas, aus welchem die „Zwischenschicht" besteht.
Fassen wir noch einmal in Kürze die wesentlichsten Punkte des
Baues und insbesondere der Innervation der Organe von Torpedo
zusammen, so ergiebt sich als sicher Folgendes: Von jeder der im
Lobus electricus des Gehirns liegenden Ganglienzellen entspringt je
ein Axencylinderfortsatz (analog dem Deiters'schen Fortsatz der
Rückenmarksganglienzellen), der weiterhin unverzweigt als Bestandtheil
der elektrischen Nerven bis zu einem der das Organ zusammensetzenden
Säulchen verläuft. Hier tritt ein plötzlicher Zerfall der markhaltigen
Faser in eine grössere Anzahl (12 bis 20) von kurzen Theilästen ein
( Wagner'sche Büschel), welche, sehr regelmässig über einander angeordnet,
je eine Platte theilweise versorgen. Eingetreten in das Schleimgewebe,
welches den Raum zwischen je zwei Platten ausfüllt, theilt sich jede
Endfaser wiederholt dichotomisch, um schliesslich nach Verlust der Mark-
scheide an der ventralen Fläche der Platte in einer Weise zu endigen, die
durchaus an die terminale Verästelung des Axencjlinders in den
758
Die elektrischen Fische.
motorischen Endplatten quergestreifter Muskelfasern erinnert. In
welcher Weise nun die eigentliche letzte Endigung erfolgt, ob frei
oder in der von Fritsch angenommenen Weise innerhalb der Palis-
sadenschichte, darf wohl als unentschieden gelten, und sind weitere
Untersuchungen erforderlich.
Für die Theorie des Schlages der elektrischen Fische ist die
Einheitlichkeit im Aufbau der Organe und in deren feinerer Structur
von grösstem Interesse. Wie beim Zitterrochen sind auch beim
Zitteraal (Gymnotus electricus) die Organe bilateral symmetrisch
angeordnet und so mächtig entwickelt, dass man in der That sagen
kann, der Fisch bestehe der Hauptsache nach aus elektrischen Organen.
Von der Gestalt des Fisches giebt die umstehende Fig. 237 eine gute
Vorstellung. Ungeachtet der aalartig
gestreckten Form nimmt die Leibes-
höhle doch nur einen sehr kleinen Theil
(mit dem Kopfe zusammen nicht ganz
^/s) der Körperlänge ein, während die
vier elektrischen Organe den, wie sich
C. Sachs ausdrückt, sonst der Bauch-
höhle zukommenden Kaum erfüllen. Von
oben gesehen, erscheint der Rumpf des
Fisches nach hinten messerartig zuge-
schärft. Im Vergleich mit den andern
Zitterfischen erreicht der Zitteraal eine
bedeutende Grösse (bis 155 cm nach
C. Sachs, ja 170 cm nach v. Hum-
boldt), während die verbreitetste Tor-
pedo -Art der europäischen Meere meist
nur 20 — 30 cm, ausnahmsweise 70 cm
misst, und nur der den ostamerikani-
schen Küsten eigene Zitterrochen (T.
occidentalis, Stör er) unter Um-
ständen die doppelte Grösse erreicht
und wohl als der umfangreichste und
schwerste, wenn auch nicht der längste
aller elektrischen Fische bezeichnet
werden kann (Fritsch).
Wie ein Querschnitt des Zitteraales
zeigt (Fig. 238), besteht der Körper
jenseits des Kopfes und der Leibeshöhle zum grössten Theil aus
einer gallertigen durchscheinenden Masse, welche jederseits eine
grössere und eine darunter gelegene viel kleinere Anhäufung bildet;
beide sind getrennt durch eine von Muskelfasern durchsetzte Schicht,
welche DuBois-Reymondals „Zwischenmuskelschichte" bezeichnet
und die nach den Untersuchungen von Fritsch als ein Rest der
Muskeln aufzufassen ist, aus deren Umbildung, wie Avir sehen werden,
die grossen Organe hervorgegangen sind (Fig. 238).
Bei genauerer Betrachtung sieht man die Substanz der Organe
von parallel über einander liegenden bindegewebigen Scheidewänden
durchzogen, welche am Querschnitt von einem mittleren, vertikalen
Septuni zum äusseren Umfang des Körpers verlaufen. Diese
„Längsscheidewände", welche sich, wie die Seitenansicht lehrt
(Fig. 239), fast durch die ganze Länge des betreffenden Organes,
Fig. 238. Querschnitt durch den
Rumpf von Gymnotus. gO =
grosses Organ ; kO =^ kleines Or-
gan ; Zm = Zwischenmuskelschicht.
Die elektrischen Fische.
759
einschliesslich der Zwischenmuskelschicht erstrecken, grenzen dem-
nach flache, horizontal über einander geschichtete Räume ab, deren jeder
mit seinem Inhalt je einem Säulchen des Tor pedo-Organes ent-
spricht. Durch zartere, der Ebene des Querschnittes parallele Septa
(„Quer Scheidewände"), durch welche, von der Seite gesehen, die
einzelnen Säulen (Prismen) fein quergestreift erscheinen, zerfallen
die letzteren in dichtgedrängte, sehr enge Fächer, in deren jedem
eine „elektrische Platte" senkrecht aufgehängt ist. Die Ge-
stalt jedes Faches und daher auch der darin befindlichen Platte kann
man im Allgemeinen als gestreckt rechteckig, medianwärts mehr oder
weniger sich verschmälernd bezeichnen.
Als Mittelwerth für die normale Fach weite des Zitteraal-
organes ergiebt sich etwa ^/lo mm, womit ältere Beobachtungen von
Hunt er stimmen, der ungefähr 240 Querscheidewände auf den
englischen Zoll zählte, was etwa 0,1058 mm Fachweite entspi-icht.
Beim Zitterrochen beträgt diese etwa Vso mm. Der Abstand von je
Fig. 239.
Fig. 240. a) Ein Stück aus
mehreren übereinanderliegen-
den Säulen von Gymnotus
(unten zwei weitfächerige).
(Nach Pacini.)
b) Längsschnitt durch weit-
und schmalfächerige Säulen
von Gymnotus. (Nach Du
Bois-Reymond.)
$?Pr7m
zwei Längsscheidewänden (Höhe der Fächer) ist natürlich viel grösser.
Es beträgt beim Gymnotus 0,64 mm (Hunter). Die Gesammtheit
der zwischen zwei Längsscheidewändon enthaltenen Fächer mit ihren
bandförmigen Platten wird auch hier als „Säule" bezeichnet und ist
analog den prismatischen, senkrecht auf die Körperoberfläche stehenden
Säulen des Zitterrochenorganes. Sämmtliche Säulen der grossen Organe
entspringen, wie die schematische Seitenansicht (Fig. 239) zeigt, hinten
und unten von der Zwischenmuskelschicht und steigen unter spitzem
Winkel nach vorn und oben. Nur die vordersten verlaufen der Axe
des Fisches annähernd parallel.
Schon makroskopisch zeigt ein gewisser Theil der beiden
grossen Organe eine besondere Beschaff'enheit: er ist dunkler, durch-
sichtiger und sieht statt milchglasartig, gelbgrauröthlich aus. Es be-
ruht dies darauf, dass, wie schon Pacini (25) zeigte (Fig. 240a, &), neben
den gewöhnlichen, schmalfächerigen Säulen auch solche vorkommen,
deren Fächer ausserordentlich Aveit sind, was später Sachs bestätigen
konnte. Dieses „ S a c h s 'sehe S ä u 1 e n b ü n d e 1" , welches er für ein
neues elektrisches Organ des Zitteraales zu halten geneigt war, liegt
im Allgemeinen über der hinteren Hälfte des grossen Organes. Es
760
Die elektrischen Fische.
beginnt vorne mit einer feinen Spitze (Fig. 239) und schwillt nach
hinten stetig an, so dass es bald die obere Hälfte des Gesammtdurch-
schnittes der Organe einnimmt und schliesslich hinten das grosse
Organ gänzlich verdrängt.
An einem parallel der
Längsachse des Fisches
-.=__=.»_,_.„-^ v__^_^ geführten Schnitt lassen
""S^^^v läf^ ^"r~'^BBfc-\ ^*->iä%^ sich allenthalben Ver-
V-*-*'^ 1 ^^""^ 1^ .^ . " I l^iä^lf Schmelzungen der Längs-
scheidewände der weit-
fächerigen Säulen erken-
nen, welche in diesem
Falle hinten und vorne
scharf keilförmig endigen
(Fig. 240 h)\ ihr Quer-
schnitt ist Spindel- oder
(cT^iSLf l|^^^ ^ "^^il> [ \^ 1 gestreckt rautenförmig.
C ^***«fc' ; ^^ J Untersucht man einen
Längsschnitt (parallel der
Axe des Organes und senk-
recht auf die Längsscheide-
wände geführt) durch das
elektrische Organ bei star-
ker Vergrösserung, so er-
kennt man sofort die Quer-
schnitte der bindegewebi-
gen, zwischen je zwei
Längsscheidewänden aus-
gespannten Quersepta und
die dadurch getiildeten
Fächer, in deren jedem
eine quer durchschnittene
elektrische Platte aufge-
hängt ist (Fig. 241). In Be-
zug auf Lage und Art der
Aufhängung der letzteren
bestand eine wesentliche
Differenz zwischen Pacini
und M a X S c h u 1 1 z e (31),
wie sich am besten aus
der Vergleichung der bei-
den Fig. 241 a, h ergiebt.
Während nach Pacini
die Platte frei in ihrem
Fache schw^ebt und nur an
den Längsscheidewänden
befestigt ist, lässt Schnitze
jede Querscheidewand (Q)
sich der hinteren Fläche der
zugehörigen Platte dicht anschmiegen, so dass nur vor, nicht aber
auch hinter derselben ein Spaltraum frei bleibt. Sowohl die vordere
wie die hintere Fläche der Platte ist mit Papillen („Zotten"
M, Schultze's) dicht besetzt, zwischen denen hinten dornähnliclie
Fig. 241. Zwei elektrische Platten von
Gymnotus am Längsschnitt des Organes
(wie Fig. 240) nach Pacini («) und M.
Schnitze {b).
Die elektrischen Fische.
761
Fortsätze (prolungaraenti spiniformi Pacini) stehen, welche bis zur
hinteren Querscheidewand reichen und sich dort anheften. M. S c h u 1 1 z e
konnte dieselben nicht nachweisen, während C. Sachs Pacini's
Angaben bestätigte. Dies gielt auch hinsichtlich der von dem Letzteren
behaupteten Spaltbarkeit der Platten in eine vordere und hintere
Hälfte. Er fasste die Papillen selbst mit ihren sogenannten „Kernen"
(die später als Sternzellen erkannt wurden) als „Zellen" auf, mit welchen
die vordere und hintere Fläche einer Grundmembran (parte
fondamentale) besetzt seien (Fig. 241 a). Nach Sachs lässt der Quer-
schnitt der elektrischen Platte von vorne nach hinten folgende Schichten
vordere
, völlig
Papillarschicht (Stratum papil-
structurlose Schicht , welche
erkennen (Fig. 242). Auf die
lare auterius) folgt eine helle
Sachs als Intermediär-
Schicht (Stratum interme-
dium) bezeichnet und die
wesentlich Pacini's „parte
fondamentale" entspricht.
Dann kommt eine, abgesehen
von den sie durchziehenden
Ausläufern der hinteren Stern-
zellen, homogen grau getonte
Schicht, die Nerven-
schicht (Stratum nerveum).
Von dieser gehen die hinteren
Papillen und die Dornpapillen
aus, deren Gesammtheit als
Stratum papilläre pos-
terius zu bezeichnen ist.
An der Nervenschicht endi-
gen die elektrischen Nerven
in noch zu erwähnender
Weise. Im frischen Zustande
glasartig homogen erscheinen
die Papillen schon in 1 — 2
Minuten nach der Entfernung
aus dem lebenden Thier körnig
getrübt , während innerhalb
der Intermediärschicht eine
scharfe Grenzlinie {PL) entsteht, durch welche jene in zwei etwa gleiche
Hälften getheilt sind. In dieser „Paci ni'schen Linie", welche an
Osmiumpräparaten als scharfer, dunkler Strich in einer breiten, hellen
Zone erscheint, spaltet sich gelegentlich die Platte. Zwischen den
vorderen Papillen fand Sachs „eine spinnengewebähnliche Substanz,
die aus zarten, maschenbildenden Fäden mit kleinen, kernartigen Ge-
bilden besteht". Während Pacini Nerven nur auf der Querscheide-
wand sah, wo sie auch Sachs zahlreich fand, treten die Endzweige
derselben nach dem Letzteren zwischen den Dornpapillen hervor und
durchsetzen den hinteren Spaltraum des Faches, um schliesslich nach
Verlust der Markscheide in der Platte selbst zu endigen.
Die Hinteriläche der letzteren zeigt im Querschnitt (an Osmium-
präparaten) endlich die zuerst von B o 1 1 (bei T o r p e d o) genauer
beschriebene Strich elung (resp. von der Fläche gesehene Punktirung).
Die Nervenendigung selbst bietet nach Sachs ein wechselndes Bild
Biedermann, Elektrophysiologie. 49
Fig. 242. Elektrische Platte von Gymnotus
im Querschnitt (Längsschnitt des Organes).
(Nach C. Sachs.)
762
Die elektrischen Fische.
„bald mehr an die Kühne' sehe Endplatte, bald wieder mehr an das
Schnitze 'sehe Netz erinnernd". Nach Fritsch würden als die eigent-
lichen Träger der Nervenendigungen an der Gymnotusplatte die Dorn-
papillen zu bezeichnen sein, „an welche relativ grobe Verlängerungen
der Axencylinder herantreten" , so dass jene als „dem Stiel
der Malopterurusplatte verwandte Bildungen" anzusehen wären. Mit
Rücksicht auf die zweifellose genetische Beziehung, welche sicher auch
hier zwischen elektrischen Organen und quergestreiften Muskeln
angenommen werden muss, darf man jedoch vielleicht die Vermuthung
aussprechen, dass die Endigungsweise der Nerven in der Substanz
der Platte sich wohl ähnlich wie bei Torpedo gestalten dürfte , ob-
schon die bisherigen Untersuchun-
gen hierfür keinerlei sicheren An-
haltspunkt geben.
Die Platten der weiten Fächer
des Sachs'schen Säulenbündels unter-
scheiden sich von den andern haupt-
sächlich nur durch die grössere
Länge der vorderen Papillen Fig.
243) , an denen Sachs ausserdem
im frischen Zustande in der Axe
oder am Rande mehrfach eine breite,
matte Querstreifung und Spuren
■ von Doppelbrechung beobachtete.
Wenn so das endliche Schick-
sal der Nerven im Erfolgsorgan
(den elektrischen Platten) noch viel-
fach als unklar bezeichnet werden
muss, so sind wir um so genauer
über den centralen Ursprung und
die gröbere, anatomische Anord-
nung der elektrischen Nerven unter-
richtet.
Noch Valentin glaubte, ge-
stützt auf eine, wie sich in der Folge
herausstellte, unzulässige Verglei-
chung des Gehirnes von Gymnotus
mit dem des Aales, einen be-
sonderen Abschnitt desselben nach
Analogie von Torpedo als Lobus electricus und Ursprungscentrum
der elektrischen Nerven annehmen zu dürfen. Spätere Unter-
suchungen lehrten jedoch den betreffenden Gehirn th eil als das ähn-
lich wie bei dem verwandten Wels (Silurus glanis) stark entwickelte
Kleinhirn kennen und erwiesen das Rückenmark als nächstes
Ursprungsgebiet der elektrischen Nerven. Max Schnitze war es,
der zuerst auf die besonders zahlreichen grossen Ganglienzellen im
Rückenmark von Gymnotus hinwies, die er etwa doppelt so zahl-
reich fand, als bei anderen Fischen und daher mit grosser Wahr-
scheinlichkeit als zu den hier austretenden elektrischen Nerven ge-
hörig ansprach. Du Bois-Reymond schloss hieraus ebenfalls,
„dass im Rückenmark des Zitteraales sich ein Bau finden werde,
ähnlich dem des Lobus electricus des Zitterrochen". Es war dies um
so mehr gerechtfertigt, als die elektrischen Organe des Gymnotus
Fig. 243. Ein weites und zwei enge
Fächer von Gymnotus im Querschnitt
gesehen (wie Fig. 241), stärker vergrössert,
mit den darin befindlichen Platten (p).
(Nach Du Bois-Keymond.)
Die elektrischen Fische. 763
von Intereostalnerven versorgt werden, deren grosse Zahl seit Hunt er
stets die Aufmerksamkeit erregt hatte. Durch eingehende Untersuchung
des von C. Sachs aus Calabozo mitgebrachten, conservirten Materials
konnte nun G. Fritsch in der That zeigen, dass in einem gewissen
Niveau des Rückenmarkes, dessen Lage beträchtlichen individuellen
Schwankungen unterworfen ist (zwischen 12. bis 23. Wirbel), grosse,
durch ihren ganzen Habitus wohl charakterisirte Ganglienzellen zuerst
nur vereinzelt, später aber als geschlossene Säule in Gestalt eines den
Centralcanal umgebenden, vorne offenen Cylinders auftreten, welche
unzweifelliaft als „elektrische Zellen" angesprochen werden müssen.
„Dieselben zeigen den gewöhnlichen, multipolaren Charakter mit dem
kräftigen, fein granulirten Protoplasma, in mehrere breit angesetzte
Fortsätze ausgezogen und bläschenförmigen Kern mit stark licht-
brechenden, deutlichen Kernkörperchen." Die Grösse des rundlichen
Zellkörpers, der sich stets zu einem sehr deutlichen Axencylinder-
fortsatz auszieht, beträgt im Mittel 0,051 mm. Gewöhnliche motorische
Zellen zeigen stets eine mehr
polygonale Form und viel -^^^^^^"^^S.
mehr entwickelte Protoplasma- ^ ' 7j ^-IrX
fortsätze, doch lässt sich eine
scharfe Grenze nicht ziehen,
da nach Fritsch in der Höhe
des 6. — 16. Halswirbels Ueber-
gangsformen vorzukommen
scheinen. Etwa vom 30. Wir-
bel an ist die Menge der elek-
trischen Zellen so angewach-
sen, „dass der ganze Raum
der Vorderhörner und die
centrale Masse der grauen
Substanz von ihnen erfüllt er-
scheint, und sie selbst eine r^. ^aa r. , •.. i , j t,- ,
TT- ,. 1 1 T>.. 1 1 tiff- ^^44. Querschnitt durch das Kuckenmark
Verdickung des Ruckenmarkes ^^n Gymnotus electricus. (Nach G.
in sagittaler Richtung veran- Fritsch.)
lassen. Nur vor dem Central-
canal nähern sich die Zellen beiderseits durchaus nicht, so dass die Figur
des Querschnittes der Zellengruppe einen breiten Halbmond darstellt"
(Fig. 244). „Hier, wo nun die Ursprungsstätten der elektrischen
Nerven in vollster Entwicklung erscheinen , bilden auch die von den
Zellen abgehenden Axencylinder auf jeden Querschnitt eine deutlich
markirte Fasergruppe von wesentlich querem Verlaufe. Dieselben
gleichen in ihrer Anordnung und der Art des Austretens sehr genau
den gewöhnlichen vorderen Wurzeln anderer Knochenfische. Es lassen
sich im Gymnotus-Rückenmark auch nicht besondere motorische
Wurzeln etwa neben den elektrischen nachweisen, sondern
es schli essen sich die Ursprungsfasern der Muskelnerven
den elektrischen unzweifelhaft an" (Fritsc h). Dem Umstand
entsprechend, dass die elektrischen Organe von Gymnotus sich
bis zur Schwanzspitze erstrecken, finden sich Ganglienzellen vom
Typus der elektrischen bis zum Rückenmarksende hin, doch nimmt
deren Zahl und Grösse hier allmählich ab, und auch ihre Form gleicht
wieder mehr den gewöhnlichen motorischen Vorderhornzellen.
Während wir es in den bisher erwähnten Fällen bei Torpedo
49*
764
Die elektrischen Fische.
und Gymnotus mit elektrischen Organen von so hoher DifFerenzirung
zu thun haben, dass dadurch von vorneherein auch die kräftigsten
Wirkungen verbürgt erscheinen, kommen bei den gemeinen Rochen
(Raja), sowie bei den Arten der Gattung Mormyrus am Schwänze
Organe vor,- welche sich durch Bau und Anordnung unverkennbar den
elektrischen anschliessen, deren Wirkungen aber so geringfügig sind,
dass es erst in neuerer Zeit gelungen ist, sie mit Sicherheit festzu-
stellen. Du Bois-Reymond hatte deshalb seiner Zeit vorgeschlagen,
sie als „ps endo elektrische" Organe zu bezeichnen. Zur Zeit
liegt hierfür kein Grund vor, da es als sichergestellt gelten darf, dass
sowohl Mormyrus, wie die Arten des Genus Raja zu den ächten
elektrischen Fischen zählen, so dass es, wie schon Babuchin
seiner Zeit behauptete, „keine pseudoelektrisehen Fische giebt, sondern
nur grosse und starke, sowie kleine und schwache elektrische
Fische".
Fig. 245. Raja clavata, Längsschnitt des elektrischen Scliwanzorganes. a) in
seinem vorderen, zwischen den Blättern des M. sacrolumbalis verborgenen Ende (3mal
vergr.); *) aus der Mitte des Organes; der vorderen Wand jedes Kästchens Megt die
elektrische Platte an. (Nach M. Schnitze.)
Wie James Stark zuerst entdeckte, liegen die elektrischen
Organe im Schwänze von Raja jederseits neben der Wirbelsäule als
zwei cylindrische, vorn und hinten zugespitzte Körper von grau durch-
scheinender Beschaffenheit. „Sie beginnen im Centrum des M. sacro-
lumbalis etwa an der Grenze vom ersten und zweiten Dritttheil des
Schwanzes, verdicken sich allmählich und liegen nach vollständiger
Verdrängung des Muskels dicht unter der Haut, die ganze Dicke des
ebenfalls cylindrischen Muskels fortsetzend, und reichen bis an die
äusserste Spitze des Schwanzes" (Fig. 245 a, h). Koch besser als am
Längsschnitt lässt sich ihre Lage am Querschnitt erkennen (Fig. 246),
wo zugleich die Zusammensetzung aus einzelnen, parallel der Axe des
Schwanzes verlaufenden, concentrisch angeordneten „Säulen" deutlich
hervortritt, die wie bei Torpedo oder Gymnotus durch binde-
gewebige Septa von einander gesondert werden („primäre Scheidewände"
M. Schnitze 's. 31a). Jede Säule zerfällt wieder durch zahlreiche,
senkrecht auf die Längsaxe gestellte („secundäre") Quer-Scheidewände
in einzelne hinter- einander liegende platte, vierseitige Kammern oder
Die elektrischen Fische.
765
Fächer, welche die eigentlichen elektromotorischen Elemente die
„Platten" (Kölliker's „Schwammkörper"), einschliessen. Selbst bei
nur oberflächlicher Betrachtung eines Längsschnittes muss es auffallen,
wie die einzelnen längsverlaufenden Säulen des elektrischen Organes
gewissermaassen an Stelle der in einander gesteckten, kegelförmigen
Muskelsegmente getreten sind, so dass ein Theil der primären Septa
lediglich eine Wiederholung der sehnigen Scheidewände des M. sacro-
lumbalis darstellt und wie diese nach vorne zugespitzte Kegel bilden,
welche alle unte rsich parallel in einander stecken (Fig. 245). Von der
Anordnung der einzelnen Fächer in den Säulen und der Lage ihrer
wesentlichen Inhaltsbestandtheile giebt Fig. 247 eine gute Vor-
stell uns;.
K
Fig. 246. Querschnitt von Raja batis.
0 = Querschnitt der Organe. (Nach B.
Sanderson und Gotch.)
Fig. 248. Eaja batis.
Theil eines Kästchens mit
der darin befindlichen Platte
imQuerschnitt(Längsschnitt
des Organes). n = Nerven-
schicht; m = Maeander-
schicht ; p = Papillarschicht
(Alveolarschicht). (Nach B.
Sanderson und Gotch.)
Fig. 247. Längsschnitt durch das elektrische
Organ von Raja batis. Z" = Kästchen;
P = elektrische Platte. (Nach B. Sander-
son und Gotch.)
Man sieht die nach hinten unregelmässig begrenzten, relativ sehr
dicken Platten der Vorderwand jedes Faches anliegen und etwa ein
Dritttheil des verfügbaren inneren Raumes ausfüllen. Bei stärkerer
Vergrösserung erkennt man (Fig. 248), dass die eigentliche Platte rings
von gallertigem Bindegewebe umgeben und fixirt im Räume des
Kästchens liegt. Die Nerven für die einzelnen Kästchen treten, wie
schon Kölliker (16) angiebt, von der vorderen Wand an die vordere
ebene oder becherförmig vertiefte Fläche der Platte heran und bilden
hier unter rasch wiederholter Theilung einen reich entwickelten Plexus
markloser Fasern. Die eigentliche Endigungsweise lässt sich natür-
lich nur an Flächenansichten der Platten, d. h. an geeigneten Quer-
schnitten der Säulen untersuchen, ist aber noch nicht hinlänglich
ygg Die elektrischen Fische.
sichergestellt. M. Schultze (1. c. p. 201) beschreibt ein der vorderen
Fläche jeder Platte fast unmittelbar anliegendes, engmaschiges Nerven-
netz, welches von zahlreichen Kernen durchsetzt wird und weiter
nach hinten in ein noch viel feineres Netzwerk übergeht, das im
Ganzen eine ähnliche Beschaffenheit zeigen würde, wie das von dem-
selben Forscher und K ö 1 1 i k e r in der Torpedoplatte angenommene Netz,
und unmittelbar mit der Substanz der Platte verschmilzt. Babuchin
konnte sich von der Existenz dieser Netze nicht überzeugen, und auch
Burdon- Sanderson und Gotch (13 c p. 142) äussern sich nicht
mit Bestimmtheit über die eigentliche Art der Endigung. Jenseits
der kernführenden Zone, in der sich die Nerven verbreiten, erkennt
man an Plattenquerschnitten eine ziemlich dicke Schicht von lamel-
löser Beschaffenheit (Maeander-Schicht), deren einzelne Lagen (Blätter)
bald parallel und horizontal übereinander liegen (R. batis), bald
vielfach gebogen und wellig gekrümmt verlaufen (R, circularis).
Daran grenzt unmittelbar eine oft in papillenförmige Fortsätze aus-
gezogene Schicht von ganz ähnlichem Charakter wie die die Vorder-
fläche der ganzen Platte bekleidende, kernführende Zone, welche die
hintere Begrenzung der Platte bildet und aus einer fein grau-
melirten, i-eichlich von Kernen durchsetzten Plasmamasse besteht.
Ueber den Bau und die Innervation der Mormyrus- Organe
haben neuere Untersuchungen von G. Fritsch (12 i) erwünschten
Aufschluss gebracht. Auch hier handelt es sich um bindegewebige,
mit Gallertgewebe erfüllte Fächer mit darin befindlichen Platten,
deren feinerer Bau sich aber in manchen Punkten abweichend zu ge-
stalten scheint. Der Zutritt der Nerven erfolgt unter Vermittlung
eigenthümlicher Verlängerungen der Platten von kolbenförmiger, am
Ende kegelförmig zugespitzter Gestalt („Zapfen"), welche Fritsch
der „Sohle" an den motorischen Endplatten von Muskeln ver-
gleicht.
Entsprechend der Lage der Organe am Schwänze entspringen
auch bei den Mormyriden wie beim Zitteraal die Fasern der
elektrischen Nerven „als breite, unverzweigte Axencylinderfortsätze
von mächtigen Ganglienzellen, welche in bestimmten Strecken die
graue Substanz des Rückenmarkes gänzlich erfüllen, und verlassen
das Centralorgan, als vordere Wurzeln austretend. Sehr beachtens-
werth ist die Angabe von Fritsch, dass die mächtigen Protoplasma-
fortsätze dieser Ursprungszellen vielfach breite, kurze Anastomosen
bilden, so dass die elektrischen Ganglienzellen, „ein enggeschlossenes
wahres Gerüst bildend, zu gemeinsamer Arbeit verbunden erscheinen".
Mit Recht betont, wie mir scheint, Fritsch diesen Befund, indem sich
hieraus einmal der unzweifelhaft nervöse Charakter der betreffenden
Fortsätze ergiebt, während andererseits die Möglichkeit, ja Wahr-
scheinlichkeit eines analogen Verhaltens der feinsten Auszweigungen
motorischer Rückenmarkszellen anderer Wirbelthiere nahe gerückt er-
scheint.
Ausgehend von einer selbst nur grob anatomischen Untersuchung
der zuletzt besprochenen „pseudoelektrischen" Organe kann es kaum
zweifelhaft erscheinen, dass dieselben quergestreiften Muskeln ho-
molog und aus solchen durch allmähliche Umbildung hervorgegangen
sind. Ein Blick auf den enthäuteten Schwanz von Mormyrus
cyprinoides möchte diese Vermuthung auch selbst einem anato-
misch nicht besonders geschulten Auge nahelegen. Die „zierlich
Die elektrischen Fische. 767
angeordneten, platten Sehnen der Öchwanzmuskeln verlieren, wie
Fritsch beschreibt, an einer gewissen Stelle, d. h, ungefähr dem
Ende der Afterflosse benachbart, plötzlich ihre solide Fleischunterlage
und spannen sich nun oberflächlich über eine durchscheinende, gallertige
Masse hinweg, deren Plattenstructur ihren Charakter als elektrisches
Organ sofort verräth (Fritsch).
Schwieriger und nur an der Hand der Entwicklungsgeschichte
und vergleichenden Anatomie zu führen ist der Beweis der muscu-
lären Abstammung der elektrischen Organe bei den T o r p e d i n e e n
und bei G y m n o t u s.
Zur Untersuchung der ontogenetischen Entwicklung erweist sich
Torpedo besonders geeignet, „da dieser lebendiggebärende Fisch
seine Jungen bis zu einem weit vorgeschrittenen Stadium des Wachs-
thums bei sich trägt, so dass die jungen Fischchen, eben geboren,
bereits 6 — 8 cm lang sind und schon deutliche elektrische Schläge
ertheilen können" (Fritsch.)
Die grössten Verdienste auf diesem auch für die Physiologie so
wichtigen Gebiete anatomischer Forschung hat sich vor Allem
Babuchin (1) und neuerdings G. Fritsch (12) erworben, nach-
dem bereits de Sanctis eine freilich vielfach irrthümliche Dar-
stellung der Entwicklungsgeschichte von Torpedo gegeben hatte.
Für die „pseudoelektrischen" Organe von Raja haben Ewart (10)
und vor Kurzem Th. W. Engelmann (8) weitere wichtige Auf-
schlüsse geliefert.
In Bezug auf die Entwicklung der äusseren Körperform von
Torpedo unterscheidet de Sanctis im Wesentlichen drei Haupt-
stadien: das Stadium squaliforme, rayiforme und Torpediniforme.
Schon am Ende des ersteren Stadiums lässt sich äusserlich die Anlage
der elektrischen Organe erkennen, indem an den Visceralbögen an der
Stelle, wo sie zur ventralen Seite umbiegen, auffällige Anschwellungen
auftreten, die sehr bald mit einander verschmelzen. Gleichzeitig ver-
breitert sich die Rumpfscheibe, der Embryo erhält die Gestalt eines
gemeinen Rochen (Stadium rayiforme) und durch immer weiteres
Wachsen der Scheibe nach vorne schliesslich die charakteristisch ab-
gerundete Form des elektrischen Rochen. An den elektrischen Organen
des dann schon weit entwickelten, aber immer noch ungeborenen Fisches
erkennt man in diesem Stadium schon bei Lupenvergrösserung eine
zierliche Punktirung: die Aufsichten der bereits voll angelegten
Säulchen (Fritsch.)
Auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe der obengenannten
Vorsprünge der Kiemenbogen erscheinen dieselben zusammengesetzt
aus Bündeln langgestreckter Zellen, welche von anderen rund-
lichen, jembryonalen Charakters, rings umhüllt sind und durchaus
embryonalen Muskelfasern gleichen. Schon in situ, noch besser
aber an isolirten Fasern lässt sich die zarte Querstreifung deutlich
erkennen (Fig. 249 a). Anfangs schmal und nur ein oder zwei
Kerne enthaltend, führen dieselben später zahlreiche Kerne und
schwellen an dem gegen die Bauchseite gerichteten Ende auf, indem
hier durch rasch wiederholte Theilungen zahlreiche Kerne entstehen,
die alle neben einander liegen bleiben , während zugleich das um-
gebende Plasma des Endstüclvcs an Masse zunimmt und eine Art von
Quellung erleidet (Fig. 249 b, c, d). Das Ganze erinnert dann „an einen
Quast, welcher an einer mit Knoten (Muskelkernen) versehenen Schnur
768
Die elektrischen Fische.
hängt" (Babuchin). Quergestreifte Fibrillen der Stammfaser er-
strecken sich auch in die blasige Anschwellung hinein, welche
Babuchin wegen ihrer Bedeutung als allererste Anlage einer elektri-
^
ab c
Fig. 249. Entwicklung der elektrischen Platten von
Torpedo aus embryonalen Muskelfasern. (Nach Ba-
buchin.)
^^H\
sehen Platte, als „Plattenbildner"
bezeichnet i G. Fritsch schlägt vor,
sie geradezu als „jugendliche
Platten" anzusprechen, da sie unter
fortgesetzter Verbreiterung direct in
die endgiltige Bildung übergehen, und
glaubt zugleich , die eigenthüraliche
Birnform derselben in Babuchin 's
Abbildungen auf die quellende Wir-
kung der angewendeten Macerations-
raittel beziehen zu sollen. Er selbst
findet sie wie Krause (17) mehr
kuchenförmig. In Folge der ungleichen
Länge der einzelnen, eine Säulen-
anlage zusammensetzenden Muskel-
fasern erscheinen die Plattenanlagen
am Längsschnitt in verschiedenen
Höhen (Fig 250).
„Der nicht angeschwollene Ab-
schnitt der Muskelfasern bleibt immer
auf derselben Stufe der embryonalen
EntAvicklung und bildet schliesslich einen langen und schmalen, immer
noch deutlich quergestreiften Stiel des inzwischen unter fortschreitender
Fig. 250. Längsschnitt durch eine
embryonale Säule von Torpedo (p =
Plattenbildner. (Nach Babuchin.)
Die elektrischen Fische. 769
Kernvermehrung sehr in die Breite gewachsenen Plattenbildners, dessen
ventrale Hälfte aus einem beinahe durchsichtigen, von Fäserchen (Muskel-
fibrillen?) durchzogenen Plasma besteht, während die sehr charakteristi-
schen, runden Kerne in einer fein granulirten dorsalen Schicht liegen
(Babuchin Fig. 249 e). Eine isolirte Säule aus diesem Stadium zeigt
sich dann aus nicht ganz regelmässigen, dicken, kuchenförmigen
Körpern zusammengesetzt, welche, von einander durch embryonale
Zellen getrennt, nicht die ganze Breite der Säule einnehmen und neben
und übereinander liegen." Die den Plattenbildnern nun oft seitlich
ansitzenden Stiele (Reste der früheren Muskelfasern) werden immer
dünner und verschwinden bald ganz, während jene selbst schliesslich
die Form sehr dünner Platten annehmen und den ganzen Querschnitt
der Säulchen ausfüllen. Eine Isolirung derselben ist um diese Zeit
sehr schwierig, da sich die äusseren Belegzellen allmählich zu einer
festen, bindegewebigen Hülle um die elektrischen Säulchen zusammen-
schliessen. So wenig daher die völlig ausgebildete Säule von Tor-
pedo in ihrem Bau irgend an quergestreifte Muskeln erinnert, so
kann doch auf Grund der eben geschilderten Thatsachen an der
genetischen Beziehung beider Gebilde nicht im Mindesten gezweifelt
werden, und es war eine der bedeutungsvollsten Entdeckungen nicht
nur auf dem Gebiete der Anatomie, sondern auch der Physiologie der
elektrischen Organe, als Babuchin diesen Zusammenhang klar stellte ;
denn „nirgends in der organischen Natur ist", wie Engel mann be-
merkt (8 p. 149), ein ähnlich grossartiger, jene fundamentalen Er-
scheinungen vitaler Erzeugung mechanischer und elektrischer Energie
betreifender Structur- und Functionswechsel in auch nur annähernd
so vollkommener Weise der Untersuchung zugänglich" wie hier.
Leider waren alle Bemühungen von C. S a c h s , an Ort und Stelle
etwas über die Embryonalentwicklung der Organe von Gymnotus
zu erfahren, erfolglos geblieben, so dass man nur mit Wahrscheinlich-
keit vermuthen darf, dass sie sich im Allgemeinen in ähnlicher Weise
vollziehen wird, wie bei Torpedo.
Um so genauer sind wir dagegen erfreulicher Weise über die
ausseiest interessante Entwicklung der an sich noch nicht so hoch
differenzirten pseudoelektrischen Organe der Rochen unterrichtet.
Hier sind es nicht mehr unentwickelte, embryonale,
sondern vollständig diff erenzirte, f unction sfähige,
quergestreifte Muskelfasern, aus denen selbst noch
„weit ins postembryonale Leben hinein" durch eigen-
thümliche Umwandlungen die Elemente der elektrischen
Organe entstehen.
Mit aller nur wünschenswerthen Sicherheit lässt sich zeigen, dass
die oben beschriebene maeandrische Schicht der Platte
direct aus der quergestreiften Substanz hervorgeht,
und speciell bei Raja r ad lata, wie Ewart zeigte, auch
im entwickeltenThier noch ganz wiegewöhnliche quer-
gestreifte Muskel Substanz aussieht. Von dieser phylo-
genetisch niedrigsten, zu den durch complicirten maeandrischen Verlauf
ausgezeichneten höheren Formen (R. c i r c u 1 a r i s , b a t i s) kommen
alle Uebergänge vor.
Wie schon erwähnt, besteht jede einzelne entwickelte Platte von
R aj a b a t i s, abgesehen von dem umgebenden Bindegewebe und den zu-
tretenden Nerven und Gefässeu, aus einer nach vorne gelegenen Schicht
770
Die elektrischen Fische.
von Plasma mit eingelagerten Kernen, welche höchst wahrscheinlich der
motorischen Endplatte quergestreifter Muskeln homolog ist und in der
die zahlreichen, sich zunächst dichotomisch verästelnde Nerven endigen.
Darauf folgt die im Querschnitt parallel gestreifte Lage von lamellösem
Bau, an die sich schliesslich die von Kernen wieder reichlich durch-
setzte „Alveolarschicht" schliesst, deren Bau Ewart (10) treffend der
buchtigen Innenwand der Froschlunge vergleicht. Von dieser Schicht
entspringt ausserdem ein langer stielartiger Fortsatz, der sich durch
das Schleimgewebe des Faches nach hinten erstreckt, um in der binde-
gewebigen Wand des Kästchens zu enden (Fig. 251).
Bei ganz jungen Embryonen von R. batis lässt sich von einem
elektrischen, als solchen kenntlichen Organe nichts nachweisen. Erst
Fig. 251. Raja batis. Schnitt durch ein Kästchen mit entwickelter elektri-
scher Platte, n == Nervenschicht; k = kernführende Schicht; m = Maeander-
schicht; a = Alveolarschicht; mf = Rest der Muskelfaser (Stiel der Platte).
(Nach Ewart.)
t
wenn die Länge etwa 7 cm beträgt, bemerkt man an horizontalen
Längsschnitten durch den Schwanz zwischen gewöhnlichen, normalen
Muskelfasern solche, die als im ersten Stadium der Umwandlung zu
elektrischen Platten befindlich angesehen werden müssen (Fig. 252 a).
Dies markirt sich Anfangs nur durch eine keulenförmige Anschwellung
des Vorderendes, an welches ein Nerv unter reichlicher Theilung
herantritt, und eine auffallende Kernwucherung, wodurch schliesslich
eine Art von Endplatte oder Kappe entsteht, die das Keulenende be-
kleidet. Die weiteren Stadien der Umwandlung sind ohne nähere
Beschreibung aus den Figuren (Fig. 252 h, c, d) verständlich, welche
nach Präparaten von einem älteren, 10 cm langen Embryo gezeichnet
sind. Man erkennt schon leicht alle wesentlichen Theile der ent-
wickelten elektrischen Platte, die kernreiche, zu oberst gelegene Nerven-
endplatte, die kernfreie maeandrisch gestreifte Lage, deren Structur
die unzweifelhafte Beziehung zu der ursprünglichen Querstreifung der
Die elektrischen Fische.
771
Muskelfaser erkennen lässt, und schliesslich die Alveolarschicht (r, f),
welche aus einer Wucherung des Sarkoplasmas und der (Muskel-)
Kerne an der Basis der Keule hervorgeht, mit dem schwanzförmigen
Anhang des atrophirenden Stieles der Platte als Rest der ursprüng-
lichen Faser. Derselbe zeigt noch lange Andeutungen von Quer-
i^'h.
Fig. 252. Raja batis. a Theil eines Längsschnittes durch einen Embryo. Keulen-
förmige Muskelfasern, sich zu elektrischen Platten entwickelnd ; b^f weitere Entwick-
Inngsstadien. (Nach Ewart.)
streifung und ist unter geeigneten Umständen selbst noch an völlig
entwickelten Platten zu erkennen.
Länger, aber viel schmaler ist das elektrische Organ von R. cir-
cularis. Dasselbe besteht aus becherförmig eingekrümmten Platten,
deren Bau im Uebrigen mit dem bei R. batis geschilderten wesent-
lich übereinstimmt, wo sich ja auch schon Andeutungen einer becher-
772
Die elektrischen Fische.
artigen Einstülpung des Anfangs keulenförmig angeschwollenen Muskel-
faserendes erkennen lassen.
Die bei R. batis annähernd parallelen Lamellen der maeandrischen
Schicht sind bei R. circularis vielfach gebogen, und auch die Al-
veolarschicht zeigt hier einen verschiedenen Bau, indem sie im basalen
Theil fein radiär gestreift erscheint (Fig. 253). Den ersten Anfang
der Umwandlung von Muskeln in elektrische Gewebe
bezeichnet nach Ewart aber Raja radiata, was sich einerseits
durch den viel späteren Beginn des Processes und anderei'seits auch
durch die Deutlichkeit der Querstreifung der voll entwickelten Platten
verräth.
Die elektrischen Fische.
773
Die wichtige Frage, welche Homologien zwischen den Lamellen
der ausgebildeten Blätterschicht und den Querschichten der Muskel-
fasern bestehen, war bis vor Kurzem noch ungelöst. Durch die höchst
sorgfältigen Untersuchungen von Engelmann ist auch hier in er-
wünschter Weise Licht verbreitet worden. Eine genaue vergleichende
Betrachtung verschiedener Entwicklungsstadien der Organe vonRaja
clavata bei einem und demselben Embryo von 7V2 cm Länge (Fig.
254 a — e) lässt keinen Zweifel darüber bestehen, dass sowohl die
dunklen, schmalen, wie die breiten, hellen Querstreifen der ursprüng-
lichen Muskelfaser den gleichen Querbändern in der Lamellenschicht
Fig. 253. Raja circularis; Theil eines Längsschnittes durch einen elektrischen
Becher."".« = Nerven- und kernführende Schicht; m = Maeanderschicht; a = Alveo-
larschicht. (Nach E w a r t.)
der fertigen Platte entsprechen, indem nicht nur an Präparaten aus
verschiedenen Stadien, sondern auch an einer und derselben! Faser
alle Uebergänge vom „typischen Bild der quergestreiften Muskelsub-
stanz zum typischen Bild der maeandrischen Schicht des entwickelten
elektrischen Organes sich nachweisen lassen'". Noch deutlicher tritt
die Homologie der dünnen, stark lichtbrechenden La-
mellen des elektrischen Organes mit den arimetabolen
(isotropen) und die der dicken, schwach lichtbrechenden
mit den metabolen (anisotropen) Schichten der quer-
gestreiften Muskelfasern bei Anwendung sehr starker Ver-
grösserungen hervor. Bei diesem Umwandlungsprocess nimmt einer-
seits das Flächenwachsthum der Lamellen senkrecht zur Faseraxe
774
Die elektrischen Fische.
ausserordentlich zu, während andererseits auch die Höhe der
Schichten um das Doppelte und Dreifache wächst. Damit gehen
wesentliche Aenderungen im morphologischen und physikalisch-chemi-
schen Verhalten beider Schichten Hand in Hand, die sich bei der
Untersuchung im polarisirten Licht vor Allem durch die bedeutende
Schwächung des Doppelbrechungsvermögens äussern, das
bei R. clavata in den metabolen Schichten „schon fast völlig un-
merklich geworden ist, ehe noch irgend eine andere, auf die Umwand-
e.
[)
Fig. 254. Raja clavata; aufeinander folgende Stadien der Entwicklung einer elek-
trischen Platte aus einer quergestreiften Muskelfaser. (Nach Engel mann.)
lung bezügliche Aenderung zu entdecken ist". Das schon erwähnte
starke Flächenwachsthum der Lamellen beruht, wie E n g e 1 m a n n er-
wies, bis zur Ausbildung der Kästchenform wesentlich nur auf Ver-
mehrung der Zahl der Fibrillen an der Peripherie der Lamellen, nicht
auf Verdickung der bereits bestehenden oder Verbreiterung der inter-
fibrillären Räume. Später, im ausgebildeten Organ, ist übrigens von
einer fibrillären Structur der Lamellen überhaupt nichts mehr zu be-
merken.
Vergleicht man die optischen Aenderungen der Schichtenfolgen
bei der Entwicklung der elektrischen Kästchen mit jenen, welche bei
starker physiologischer Verkürzung auftreten, so ergeben sich, wie
Die elektrischen Fische. 775
Engelmann zeigte, auffallende Uebereinstimmungen, indem einerseits
die arimetabolen (isotrojien) Lamellen „optisch homogener, als Ganzes
stärker lichtbrechend, daher fester (wasserärmer) werden", während
umgekehrt die metabolen Schichten (speciell die der Querscheiben) an
Lichtbrechungsvermögen verlieren, wobei zugleich ihre Doppel-
brechung abnimmt. Der Betrag dieser Schwächung ist allerdings
bei der Contraction „nichtssagend im Vergleich zu dem bei der Um-
wandlung der Muskelfasern in die maeandrische Schicht der elektrischen
Kästchen". Sie macht sich ausserdem schon in einem so frühen Ent-
Avicklungsstadium geltend (v o r der keulenförmigen Anschwellung des
proximalen Muskelfaserendes), dass jedes andere Anzeichen der kom-
menden Umwandlung noch gänzlich fehlt. Auch in diesem Punkte
verrathen die Organe von Raja radiata ihren phylogenetisch
jüngeren Zustand, indem hier das Doppelbrechungsvermögen viel
langsamer und unvollständiger schwindet, als bei anderen Arten der
Gattung (R. batis, clavata, circularis). Für die von Engel-
mann seit lange vertretene Annahme, „dass nur die doppelbrechen-
den, metabolen Glieder der Muskellibrillen Sitz und Quelle der ver-
kürzenden Kräfte des Muskels sind", liegt offenbar in dem geschilderten
Verhalten bei der Umbildung zum elektrischen Organe eine ganz
wesentliche Stütze.
Weit weniger genau als bei Raja sind wir über die Entwicklung
der „pseudoelektrischen" Organe vonMormyrus unterrichtet. Doch
konnte sich Babuchin (1) bei der Untersuchung von sechs Arten
der Gattung auf das Bestimmteste überzeugen, „dass auch hier die
elektrischen Organe aus Muskeln entstehen und nach voller Ausbildung
den Muskelcharakter theilweise beibehalten". Jede „Platte" des Mo r-
myrus besteht aus drei von einander trennbaren Blättern, von denen
die beiden äusseren „structurlos, von der Innenseite mit einer Schicht
körniger Substanz überzogen und mit unzähligen runden Kernen ver-
sehen sind". „Das eine von diesen Blättern ist die unmittelbare Fort-
setzung der Scheide der blassen (zutretenden) Nervenfasern. Das
mittlere Blatt besteht ausschliesslich aus platten, sehr dünnen Muskel-
fasern oder -Bändern, welche dicht neben einander unregelmässig liegen.
Jede einzelne Faser ist scharf quergestreift, alle zusammen genommen
bilden ein muskulöses Blatt, welches gegen den Rand der elektrischen
Platte hin stärker wird als in der Mitte und keine maeandrische Zeich-
nung besitzt." Es würde demnach nach Babuchin die elektrische
Platte vonMormyrus entwicklungsgeschichtlich nicht, wie bei Tor-
pedo oder Raja, einer einzelnen metaraorphosirten Muskelfaser
entsprechen, sondern „einem ganzen Bündel aus kurzen Muskel-
fasern, wie sie die Seitenrumpfmuskeln der Fische bilden".
Auch Fritsch (12) giebt an, dass an feinen Querschnitten der
Mormyr US-Platten ein Gewebe in wechselnder Mächtigkeit hervor-
tritt, „an dem die complicirte Muskelquerstreifung in ausserordentlich
vollkommener Weise erhalten blieb" ; dasselbe bildet die mittlere
Schicht jeder Platte, die vordere lässt unter einem feinen cuticularen
Saum eine zarte Längsstreifung, analog dem Palissadensaum der Tor-
pedoplatte, erkennen.
Wenn es ontogenetisch als völlig sichergestellt betrachtet werden
kann, dass die bisher besprochenen elektrischen Organe sämmtlich als
umgewandelte, speciell differenzirte, quergestreifte Muskeln aufzufassen
sind, so zeigt andererseits eine auch nur oberflächliche, vergleichend
776
Die elektrischen Fische.
anatomische Untersuchung, dass in den einzehien Fällen sehr ver-
schiedene Muskelgruppen den Ausgangspunkt dieses merkwürdigen
Differenzirungsprocesses gebildet hajjen. So fehlt bei Torpedo die
äussere Lage der kleinen Muskeln des Kiemengerüstes und die bei
den verwandten Rochen ausserordentlich mächtigen äusseren Kiefern-
muskeln; beim Gymnotus fehlt die tiefste Partie der ventralen
Rumpfmuskulatur bis auf jenen kleinen Rest, der oben schon als
„Zwischeumuskelschicht" erwähnt wurde, und hat sich zu den grossen
elektrischen Organen umgebildet , während die kleinen aus dem
obersten Theil der inneren Flossenträgermuskeln hervorgegangen sind.
Bei Gymna rebus wieder entspricht das elektrische Organ dem
centralen Theil der Seitenmuskeln, während bei Mormyrus und Raja
die der Seitenlinie benachbarten Theile der Schwanzmuskeln das Ma-
terial zur Bildung der „unvollkommenen" Organe abgegeben haben.
mp
md
JIs
Mi
Fig. 255. a) Querschnitt des Schwanzes von Silurus g-lanis. b) Querschnitt aus
dem vierten Fünftel von Gymnotus. (Nach G. Fritsch.)
Es ist demgemäss das Auftreten der elektrischen Organe im Körper
topographisch nicht an eine bestimmte Region gebunden, sondern jede
Muskelgruppe, deren normale Function für die Exi-
stenz des Individuums entbehrlich erscheint, kann als
gleichwerthige Grundlage der Entwicklung elektrischer
Organe betrachtet werden (G. Fritsch 12).
Vergleicht man einen Querschnitt durch den Rumpf des Welses,
der hinsichtlich seiner Muskulatur dem Gymnotus am nächsten
steht, mit einem solchen des letzteren, so bemerkt man jederseits leicht
die Durchschnitte der vier, für die Knochenfische überhaupt charak-
teristischen Seitenrumpfmuskeln (M. laterales propra inferiores et su-
periores, Fig. 255 a, b. Ms und Mi und M. laterales dorsales et ven-
trales, 7nd und mv der Figuren), welche, wie insbesondere die Seiten-
ansicht lehrt, in der Längsrichtung des Fisches durch die zickzack-
förmig verlaufenden Ligamenta intermuscularia segmental gegliedert
Die elektrischen Fische.
777
erscheinen, indem die einzelnen, je einem Segment entsprechenden
Scheiben sich zu Hohlkegeln umgebildet haben, welche so zu sagen
in einander gesteckt sind. Eine Complication, wodurch sich der Wels
vor anderen Knochenfischen auszeichnet, ist durch das Auftreten einer
Muskelgruppe gegeben, welche, von den platten Bauchmuskeln ab-
zweigend, bereits hinter dem Schultergürtel beginnt und rasch sich
verschmälernd, als ein deutlich getrennter Muskelstreif unter den
eigentlichen Seitenmuskeln bis nach dem Schwanzende hin verläuft
(M. lateralis imus [me] Fritsch), In der Seitenansicht erkennt
man ferner, wie nach hinten zu die Ligamenta intermuscularia
dieses Streifens stark gegen die Horizontale geneigt erscheinen, so
dass sich die kurzen, dazwischen ausgespannten Muskelprimitivbündel
wie eng angeordnete niedrige Fächer präsentiren. Man sieht nun, ins-
besondere am Querschnitt, leicht, dass die Lage der grossen elektri-
KM
Fig. 256. Homologie des elektrischen Organes (0) von Torpedo und der Konmuskeln
des gemeinen Rochen [KU). (Nach G. Fritsch.)
sehen Organe von Gymnotus durchaus der des genannten Muskel-
zuges {m e) beim Welse entspricht, der jenem thatsächlich fehlt und
aus dessen Umbildung eben die Organe hervorgegangen sind. Mit
nicht minderer Sicherheit lässt sich der Nachweis führen, dass die so-
nannten kleinen Gymnotus-Organe durch Umbildung eines Theiles
der unteren Flossenträgermuskeln entstanden sind. Entsprechend der
äusserst dürftigen Entwicklung der Rückenflosse machen sich am
Querschnitt vom Wels sowohl wie von Gymnotinen nur zwei kleine
dreieckige Durchschnitte von Muskulatur unter der Rückenhaut be-
merkbar (Fig. 255 a, h. mp). Dagegen erkennt man an der ventralen
Seite der Querschnitte beiderseits von der Medianebene je zwei Systeme
quer durchschnittener Flossenträgermuskeln (äussere und innere,
Fig. 255 m p), die besonders bei Gymnotus zahlreich und stark
entwickelt sind und nach hinten an Zahl und Ausdehnung zunehmen.
In derselben Richtung nimmt aber auch das kleine Organ an Höhe
zu, während die Zahl der Säulen des grossen umgekehrt nach dem
Schwanzende zu abnimmt, „indem dieselben sich unten einrollen und
Biedermann, Elektropliysiologie. 50
778 I^iö elektrischen Fische.
SO die Seitenfläche des Körpers verlassen". In dem Bereiche
nun, wo die kleinen Organe voll entwickelt sind, fehlen
die oberen Bündel der tiefen Flossenträgermuskeln, so
dass die genetische Beziehung dieser zu jenen nicht zweifelhaft sein
kann. Ebenso wenig ist dies der Fall bei den Torpedineen, wo
die mächtigen, zu einem rundlichen Klumpen geballten Beissmuskeln
der gewöhnlichen Rochen (Fig. 256 h, KM) fast gänzlich fehlen und
nur auf geringfügige Reste reducirt erscheinen. Es handelt sich dabei
hauptsächlich um die äusseren, bezw. ventral entwickelten Muskeln
des Kiemenkorbes, welche das System der Adductores arcuum und des
sogenannten Constrictor communis superficialis darstellen (Fritsch),
die hier ihrer Function nach den Masseteren mit den Pterygoidei und
Temporales entsprechen. Insbesondere scheint der Constrictor das
Material zur Bildung des hinteren Organabschnittes geliefert zu haben,
während der vordere breite Abschnitt wesentlich aus der Umwandlung
des Adductor y (Vetter, Kiemen- und Kiefermuskulatur der Fische,
Jenaische Zeitschr. VIII) hervorgegangen zu sein scheint.
Mit Rücksicht auf die geschilderten Entwicklungsvorgänge der
elektrischen Organe ist es von vornherein nicht eben wahrscheinlich,
dass die Zahl der einmal angelegten Elemente (Platten resp. Säulen)
im Laufe des individuellen Wachsthums weiter zunimmt. Schon 1839
behauptete Delle Chiaie, „dass die Säulen des Zitterrochen durch
Intussusception wachsen, indem sich davon dieselbe Anzahl entwickelt,
welche im Embryo in Miniatur existirt, bloss durch deren allmähliche
Zunahme an Masse und Grösse". Rud. Wagner vertheidigte diesen
Satz dann 1847 gegen Valentin und Babuchin, dehnte ihn
auch auf die Zahl der Platten in den Säulen aus und führte ihn auf
seinen entwicklungsgeschichthchen Grund zurück. Nach diesem „Satze
von derPräformation der elektrischen Elemente würde
die Zahl der Säulen (und Platten) bei verschiedenen Individuen der-
selben Species elektrischer Fische innerhalb enger Grenzen dieselbe
bleiben, mögen die Thiere klein und jung oder ausgewachsen unter-
sucht werden.
In der nachstehenden Tabelle (S. 779 1. Tabelle) hat Du Bois-
Reymond (4 e, p. 403) alle bis dahin bekannten Zählungen der
Säulen in den elektrischen Organen von Torpedineen zusammen-
gestellt.
In derselben scheint insbesondere das Resultat der Zählung an
dem Foetus von Torpedo ocellata sehr entschieden zu Gunsten
des in Rede stehenden Satzes zu sprechen. Doch lassen die freilich
anfechtbaren , abweichenden Befunde von Valentin und G i r a r d i
doch noch eine Unsicherheit zurück, die Anfangs auch Du Bois-
Reymond zu dem Schluss drängte, „dass in verschiedenen Individuen
derselben Species ursprünglich verschieden viel Säulen angelegt werden,
welche sich dann aber nicht mehr vermehren". Grosse, die Breite
der individuellen ScliAvankungen übertreffende Abweichungen der
Säulenzahl, wie etwa in der vorstehenden Tabelle der Fall von H u n -
ter und andererseits von He nie, würden natürlich vom Standpunkte
der Präformationslehre aus auf Speciesverschiedenheit schliessen lassen.
Fritsch unterzog sich der grossen Mühe, mit Rücksicht hierauf das
System der Torpedineen zu revidiren, und die folgende Tabelle
(S. 779 2. Tabelle) giebt einige Beispiele aus seinen zahlreichen Zäh-
lungen (G. Fritsch 12).
Die elektrischen Fische.
779
Tabelle der Säulenzahl in den elektrischen Organen verschiedener
Torpedineen.
Art
Länge
mm
Säulenzahl in dem
linken einen rechten
Organ
Beobachter
ßaja Torpedo . . .
1219
457
520
290
1182
470
420
480
514
265
Hunter
Girardi
T. Galvanii ....
„ „ (Foetiis) .
273
82
410
298
Valentin
T. marmorata . . . j
! 262
393
230
449
420
420
R. Wagner
/Leukart
Foetus von T. ocellata 81 1
mit Dottersack . . ; 400
410
)
R. Wagner
Narcine dipterygia
61
130
Henle
Zahl der Säulen in einem elektrischen Organ von Torpedineen.
Species
Läng
Fisches
mm
3 des
Organes
mm
Säulenzahl am
Rücken Bauch
Unterschied
Torpedo ocellata ....
121
37
487
491
— 4
„ marmorata
216
66
469
536
- 67
„ ocellata .
161
68
406
n ;i
.
335
98
379
404
- 25
„ „
,
373
114
396
426
- 30
„ marmorata
.
357
123
446
484
- 38
„ ocellata .
405
128
404
436
- 32
Man ersieht hieraus zunächst, dass die Zahl der Säulen bei dem-
selben Individuum an Rücken- und Bauchfläche nicht ganz gleich ist,
sondern nicht unerheblich schwankt. Es ist fraglich, ob dies darauf
beruht, dass Säulen innerhalb des Organes frei enden (wie es auch
bei G y m n 0 1 u s vorkommt). Im Sinne d e r P i* ä f o r m a t i o n s 1 e h r e
bleibt dagegen bei Schwankungen der O r g a n 1 ä n g e n von
50*
780 Die elektrischen Fische.
37 — 128 mm die Säulenzahl annähernd gleich. Das Gleiche
ergiebt sich aus späteren vergleichenden Zählungen von Babuchin
an einem 42 cm langen Mutterthier und drei Embryonen mit noch
vom Dotter erfüllten Bauch von 10^/2 cm Länge. An diesen war die
Säulenzahl 478, 467, 443, während sie an dem ersteren 471 betrug.
Sonst wohl charakterisirte Species von Torpedineen (T. mar-
m 0 r a t a , o c e 1 1 a t a , p a n t h e r a ) zeigen nur geringe , unwesentliche
Verschiedenheiten der Säulenzahl, dagegen bestätigte Fritsch die
schon von Henle beobachtete, auffallend geringe Grösse derselben
(146) bei Astrape dipterygia und fand auch bei anderen
N a r c i n e arten sehr geringe Säulenzahlen , so bei N. tasmaniensis
Neuseeland 278, N. lingula China 274, N. timlei 230, N. indica
145, Astrape capensis 147 und Temera Hardwickii 139;
dagegen fanden sich ungewöhnlich zahlreiche Säulen bei einer augen-
fleckigen Abart von Torpedo marmorata (var. annulata). In
Wien hatte Fritsch Gelegenheit, zwei Exemplare der riesigen (bis
152 cm langen) amerikanischen T, (Gymnotorpedo) occidentalis
zu untersuchen und fand über 1000 Säulen (1037), so dass die Ver-
muthung naheliegend erscheint, den schon oben erwähnten Befund
von Hunter auf ein derartiges, durch den Golfstrom an die englische
Küste verschlagenes Exemplar zu beziehen. An diese grösste lebende
Species schliesst sich in Bezug auf die Säulenzahl T. (Gymnotorpedo)
hebetans (Lowe) an, von dem das einzige im British Museum vor-
handene Exemplar, obschon nur von der Grösse einer mittleren
Torpedo marmorata, 1025 Säulen zählt. Gleichfalls durch geringe
Grösse und hohe Säulenzahl (895) ausgezeichnet, ist die seltene
T. (Gymnotorpedo) californica von der Westküste Amerikas.
Viel grössere Schwierigkeiten scheinen der Bestimmung der Säulen-
zahl bei Gymnotus entgegenzustehen, was nach G. Fritsch be-
sonders für den hinteren Körperabschnitt gilt, wo die Unregelmässigkeit
der Anordnung am grössten ist. Die Totalsumme aller Säulen des grossen
Organes scheint nach Fritsch's Untersuchungen sogar innerhalb
ausserordentlich weiter Grenzen zu schwanken, indem sie zuweilen
nach Angabe der Autoren die Zahl von 50 nicht erreicht und ge-
legentlich bis nahe an 100 steigt. Die grösste Säulenzahl fand sich
stets bei den kleineren Individuen von Gymnotus, Ob es sich
hierbei um unausgewachsene Exemplare handelte oder um Geschlechts-,
Rasse- oder Artverschiedenheiten, muss zunächst unentschieden bleiben.
Von grosser theoretischer Bedeutung würde auch die genaue Fest-
stellung der Plattenzahl in den Säulen der Organe sein ; leider
sind die vorhandenen Angaben hierüber wenig befriedigend. „Beim Zitter-
aal kommen durchschnittlich 10 Platten auf das Millimeter, und da die
Organe eines mittelgrossen, 1 m langen Thieres etwa 80 cm lang sind,
so ergiebt dies, abgesehen vom weitfächerigen Sachs'schen Säulen-
bündel, 8000 Platten hinter einander" (Du Bois-Reymond); nach
Valentin nur 5150, nach Pacini gar nur 4000. „In einer 1"
englisch = 25,4 mm hohen Säule eines mittelgrossen Zitterrochen
zählte Hunter 150 Platten, Leukart 180; Pacini, Avelcher als
Säulenhöhe 40 mm maass, zählte 2000 Platten, während Valentin
für mittelhohe Säulen (von 11,3 mm) nur etwa 300 Platten angiebt.
Man sieht, dass gerade hier die Angaben ausserordentlich differiren,
was bei der Schwierigkeit der Zählung selbst mit Zuhülfenahme der
besten Conservirungsmethoden kaum Wunder nehmen kann. Nach
Die elektrischen Fische. 781
G. Fritsch (12 g-. II. p. 1105) beträgt die Zahl der Platten in einer
13,5 mm hohen Säule von Torpedo (Fimbrio torpedo) marmo-
rata (bei 265 mm Körperlänge) durchschnittlich 375; da das Organ
479 Säulen hatte, so betrug demgemäss die Gesammtzahl der Platten
179 625; bei T. ocellata mit einer durchschnittlichen Säulenzahl von
433 (Säulenhöhe im Mittel 6,25 mm) und einer Plattenzahl von 380
stellt sich die Summe der Platten auf 164540. Es stellte sich bei
diesen Messungen ausserdem noch der bemerkenswerthe Umstand
heraus, „dass an den niedrigen Säulen die Platten enger zusammen-
stehen als an den hohen Säulen desselben Organes", so dass das
Wachsthum der letzteren sich auch in dieser Hinsicht „als ein Quel-
lungsvorgang kennzeichnet, der zum Auseinanderweichen der Platten
führt", deren Dicke beim Wachsen zunimmt, wie bereits Boll fand.
Noch auf eine andere Weise lässt sich über die Zahl der Platten
im Torpedoorgan Aufschluss gewinnen. Wenn, wie nicht zu bezweifeln
ist, jede Faser der elektrischen Nerven als Axencylinderfortsatz
einer Ganglienzelle des Lobus electricus aufgefasst werden muss, so
sieht man leicht, dass zwischen der Zahl dieser und der Zahl der
Platten des ganzen Organes bestimmte und gesetzmässige Beziehungen
bestehen müssen. Setzt man die Gesammtzahl der Zellen gleich N,
so werden dieselben durch die ihnen entsprechenden N Axencylinder,
welche in je 18 Theiläste zerfallen und dabei an den Platten je
18
6 Ecken zu versorgen haben , N •;>< — =^ ^ N Platten innerviren.
Von diesem Gesichtspunkte aus bietet daher auch die Zählung der
Ganglienzellen des Lobus erhebliches Interesse. Nachdem bereits
Boll einen Versuch in dieser Richtung unternommen hatte, wobei er
zu der wohl zu niedrigen Zahl von 53 760 Zellen gelangte , betrat
G. Fritsch den bei Weitem sichereren Weg der ZählungderAxen-
cylinder in den elektrischen Nerven, indem er Photogramme
von Durchschnitten der vier Nervenstämme anfertigte und diese aus-
zählte. Es ergab sich eine Gesammtsumme von 5 8 318 Nervenfasern,
woraus sich durch Multiplication mit 3 die Plattenzahl zu 17 4964
berechnet, was, wie man sieht, mit der früher mitgetheilten , durch
directe Bestimmung gewonnenen Zahl 17 962 5 hinlänglich stimmt, um
die obigen Voraussetzungen berechtigt erscheinen zu lassen.
Unter den elektrischen Fischen nimmt der einen grossen Theil
der Flüsse des centralen Theiles von Afrika bevölkernde Zitter-
wels (M a 1 0 p t e r u r u s electricus), der Raäsch der Araber, insofern
eine Ausnahmestellung ein, als seine mächtig wirkenden Batterien
nicht aus der Umwandlung quergestreifter Skeletmuskelfasern hervor-
gegangen, sondern in der Haut localisirt sind, die in Folge dessen
zu einer dicken, durchscheinenden, speckigen Schwarte umge-
bildet ist, welche den grössten Theil des Rumpfes locker umhüllt und
das Thier plump und unförmig erscheinen lässt. Schon äusserlich
verräth sich diese Besonderheit durch parallele Falten, welche die
Haut bei seitlicher Biegung des Rumpfes wirft. Auf dem Querschnitt
erkennt man leicht, dass diese Hautschwarte den eigentlichen Körper
wie ein Sack umhüllt und von der Muskeloberfläche durch ein äusserst
lockeres Gewebe (die sogen. Rudolphische Haut) getrennt wird, so dass
782
Die elektrischen Fische.
sie sich sehr leicht abziehen lässt (Fig. 257). Zwischen der eigentlichen
Epidermis und der die Schwarte innen begrenzenden Sehnenhaut be-
findet sich eine im frischen Zustande durchscheinende, gallertige Masse
von hell graugelblicher Farbe, deren Mächtigkeit nicht überall gleich
ist und die nur an wenigen Stellen ganz fehlt. Durch zwei dorsal
und ventral in der Mittellinie verlaufende Längsscheidewände wird
(bei älteren Exemplaren) die sulzige Zwischenmasse symmetrisch in
zwei den Rumpf von beiden Seiten her umfassende Halbcylinder abge-
theilt, welche das eigentlich einheitliche, wiewohl bilateral symmetrische,
elektrische Organ darstellen, dessen Gewicht nach Fritsch über
^3 des gesammten Körpergewichtes ausmacht. „Nach vorne reicht
es seitlich bis hinter die Brustflosse, oben mit lappenartiger Ver-
Fig. 257.
Fig. 258.
Fig. 257. Querschnitt durch den
Eumpf vonMalopterurus. m=
Muskeln; 0 = Organ. (Nach G.
Fritsch.)
Fig. 258. Ein Hautstückchen von
Malopterurus von oben ge-
sehen , bei Lupenvergrösserung.
(Nach G. Fritsch.)
längerung bis in die Zwischenaugengegend, unten bis zum Vorderrand
des Schultergürtels. Nach hinten: oben bis zum Anfang der Fett-
flosse, unten bis zum Anfang der Afterflosse." Die Dicke ist am
beträchtlichsten in der Mitte des Rumpfes und etwas nach vorne davon
und nimmt gegen das vordere und hintere Ende des Körpers all-
mählich ab.
In anatomischer Hinsicht und im Vergleich zu allen anderen
elektrischen Fischen ist besonders hervorzuheben die völlige Inte-
grität der gesammten Skeletmuskulatur, so dass Fritsch
die Annahme, es habe sich das elektrische Organ auch hier aus
Muskeln differenzirt, abweisen zu sollen glaubt. Da somit nur Ele-
mente der Haut das Material zur Bildung des elektrischen Organes
geliefert hat, so muss der Bau derselben etwas genauer geschildert
werden.
Bei Lupenvergrösserungen fällt nach der von Fritsch (12 f)
gegebenen Schilderung vor Allem der Reichthum an kleinen kegel-
förmigen Zotten auf, zwischen deren Basen rundliche Oeffnungen er-
Die elektrischen Fische.
783
scheinen, Avelche zu schlauchförmigen Vertiefungen im Epithel führen,
gegen welche von unten her mächtig entwickelte, als einzellige Drüsen
fungirende, zweikernige „Kolbenzellen" (Fig. 259), wie sie ähnlich in
der Haut anderer Fische vorkommen, andrängen und ihren Inhalt
schliesslich in die benachbarten epidermoidalen Schläuche entleeren.
Diese Kolbenzellen würden aber hier insofern noch ein ganz beson-
deres Interesse beanspruchen, als G. Fritsch ihnen vermuthungs-
weise „eine Gleichheit der embryonalen Anlage mit den
Elementen des elektrischen Organes" vindicirt. Bei der
völligen Unkenntniss der Ontogenese des letzteren kann dies natürlich
nur als eine Hypothese gelten, und muss die Entscheidung weiteren
Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ueberraschen könnte es füglich
nicht, wenn die nächst den Muskeln am stärksten elektromotorisch
wirksamen Elemente (ein-
zellige Drüsen) auch ihrer-
seits im Stande wären, wahre
elektrische Organe zu bilden.
Im Uebrigen besteht die Epi-
dermis der Haut des Malo-
p t e r u r u s aus gewöhnlichen
Epithelzellen (Stachel- oder
Riffzellen) und spärlichen
Becherzellen, namentlich an
den Seitenflächen der Zotten.
In Bezug auf den feine-
ren Bau des Organes fällt
vor Allem auf, dass eine
regelmässige Aufein-
anderfolge zu „Säulen"
geordneter Platten,
wie bei Gymnotus, Tor-
pedo, durchaus fehlt;
ja nicht einmal mit dem un-
vollkommenen elektrischen
Organ von Raja und seinen
deutlich reihenförmig geoi'd-
neten Kästchen lässt sich die
der Haut von Malopterurus
eingelagerte , sulzige Masse,
deren Consistenz frisch etwa der des Glaskörpers oder der Wharton'-
schen Salze entspricht, vergleichen. Bei genauer Betrachtung erkennt
man an Durchschnitten parallel der Hautoberfläche oder parallel der
Axe des Fisches ein zartes Balkenwerk unter spitzen Winkeln sich
kreuzender Fasern, deren rautenförmige Maschenräume graulich halb-
durchsichtig erscheinen. Nach Behandlung mit härtenden Reagenzien
(Alkohol, Chromsäure) treten diese Structurverhältnisse noch deutlicher
hervor. Es lässt sich zeigen, dass jenes Balkenwerk („Fächernetz",
Bilharz) den Durchschnitten von zahllosen, zarten, bindegewebigen
Membranen entspricht, welche senkrecht zur Axe des Fisches, durch
kleine Zwischenräume von einander getrennt, neben einander lavifen.
Einerseits gehen sie nach aussen in die Masse der Coriumfasern
über, nach innen vereinigen sie sich zur sogenannten Sehnenhaut.
Auf diese Weise ist das Organ von unzähligen, unter sich paral-
Fig. 259. Theil eines Querschnittes durch die
Epidermis von Malopterurus. (Nach G.
Fritsch.)
784
Die elektrischen Fische.
lelen, sämmtlich quer auf die Axe des Fisches gestellten Scheide-
wänden durchzogen und in viele kleine, mit einander nicht communi-
cirende, annähernd gleich grosse Hohlräume abgetheilt (Fig. 260). Die
Axen dieser im Allgemeinen linsen- oder doppelpyramidenförmigen
Fächer liegen alle parallel der Axe des Fisches; ihre Aequatorialebenen
stehen daher senkrecht auf derselben, so dass die eine Wand dem
Fig. 260. Malo-
pterurus electr.
Theil eines Längs-
schnittes durch das
Organ, die durch
bindegewebige Septa
begrenzten Fächer
{F) zeigend, deren
Hinterwand je eine
elektrische Platte an-
liegt (P); ^'F^ =
Platte mit dem Ner-
venstiel.
(Nach G. Fritsch.)
AT F
Kopf, die andere dem Schwanzende zugekehrt ist. Im Innern jedes
Faches befindet sich „eine eigenthümliche, scheibenförmige, hautartige
Ausbreitung", welche Bilharz (21) zuerst als das eigentliche elektro-
motorische Element und als Endausbreitung eines Nervenzweiges er-
kannte, die elektrische Platte, durchaus analog den nach Bau
und Structur vielfach ähnlichen Gebilden der übrigen elektrischen
Organe. Jede derselben liegt der Hinterwand ihres Faches dicht an,
während ihre mit zahlreichen Unebenheiten versehene, freie, dem
Kopfende des Fisches zugewendete Vorderfläche durch einen schmalen,
Die elektrischen Fische. 785
mit Gallertmas.se ausgefüllten Spalt von der vorderen Wand des be-
treffenden Faches getrennt erscheint (Fig. 260). Von vorne gesehen,
erscheint jede Platte als eine ziemlich kreisrunde Scheibe^ deren
Mittelpunkt eine flache Hervorragung markirt, von der mehrere radiär
verlaufende, erhabene Falten entspringen, und welcher auf der Hinter-
fläche eine Einsenkung entspricht, aus deren Grund eine Art von
Stiel entspringt, der mit der zutretenden Nervenfaser in Verbindung
steht (Fig. 260 NP').
Die Substanz der Platten, deren Durchmesser mit der Grösse
der Thiere zunimmt, erscheint im frischen Zustand homogen und
durchsichtig (Fig. 261). In regelmässigen, ziemlich Aveiten Abständen
sind runde Kerne eingelagert, welche Babuchin für sternförmige
Zellen mit zarten, haarähnlichen Au.släufern hielt. Nach Fritsch
Fl
Fig. 261. Malo pterurus. Mittlerer Tlieil einer Platte (Fl) mit Nervenstiel (ne),
stärker vergr. (Nach G. Fritsch.)
würde man dagegen jede elektrische Scheibe als einen vielkernigen
Protoplasmakörper und daher so zu sagen als „elektrische
Riesenzelle" aufzufassen haben.
Die zuerst von Remak an den Torpedoplatten gesehene Rand-
streifung findet sich auch an den Scheiben des Zitterwelses und
entsteht nach G. Fritsch durch eine eigenthümliche Porosität der
äussersten Schicht der Plattensubstanz (Fig. 261). Die zwischen je
zwei Porenkanälen stehenbleibenden „ Stäbchen'" erscheinen bei starker
Vergrösserung wie aus Klümpchen zusammengekittet. Nach aussen
ist jede Scheibe von einer cuticularen Membran umhüllt, welche sich
unter Umständen an der Vorderfläche stellenweise abhebt.
Am klarsten lässt sich nach Fritsch der Aufbau des elektrischen
Organes aus runden, scheibenförmigen Platten, welche, „wie Trauben-
rosinen an ihren Stielen'", vermittels ihrer Stiele an den feinsten
Nervenverzweigungen hängen, bei noch jugendlichen Exemplaren
erkennen, wenn man ein Scheerenschnittchen in einer conservirenden
Zusatzfltissigkeit (1 *^/o Osmium) ausbreitet , da in diesem Falle das
Zwischengewebe noch sehr wenig entwickelt ist. Man wird daraus
786
Die elektrischen Fische.
schliessen dürfen, dass im Embryo „die Elemente, welche zu elektrischen
Scheiben werden, eine dichte Znsammenhäufung von Zellkörpern
darstellen, zwischen denen eine Intercellularsubstanz nur undeutlich
angelegt ist, etwa wie die Lagen einzelliger Drüsen, welche bei
manchen Insekten auch im ausgebildeten Zustand der Leibeswand
anlagernd gefunden werden" (Fritsch). Die für die Function so
wesentliche regelmässige Anordnung wird offenbar erst später und in
den peripheren Theilen des Organes thatsächlich gar nicht erreicht.
Dies geht soweit, dass am hinteren Ende des Organes Platten
gefunden Averden, welche theilweise oder völlig flach zur Körperober-
fläche liegen , also mit den normal geordneten einen rechten Winkel
bilden, oder gar mit ihren Hinterflächen sich be-
rühren. Auf derartigen Unregelmässigkeiten der
Lagerung beruht auch zum Theil die von Du Bois -
Reymond constatirte schwächere Wirksamkeit der
hinteren Organhälfte.
G. Fritsch versuchte auch soweit als möglich
über die Zahlenverhältnisse der elektrischen Platten
im Organ des Zitterwelses Aufschluss zu erlangen,
indem er an Schnitten aus Probestückchen von
bekannter Länge solche Zählungen vornahm und
, durch Multiplication auf die Gesammtausdehnung
fl^^^\ I des Organes übertrug. Es ergab sich zunächst,
ljM/^1 I ^^^^ "^^® Zahl der in einer Längeneinheit des
Organes enthaltenen elektrischen Scheiben, ver-
glichen mit derjenigen eines anderen Zitterwelses,
im umgekehrten Verhältniss der Organlänge beider
steht", und ferner bei demselben Individuum im
Endabschnitt um etwa 20*^/0 geringer ist als im
vorderen Theil. Nach Zählung und Schätzung ver-
anschlagt Fritsch die Gesammtzahl der im Organ
vorhandenen Scheiben auf über 2 000 000. „In
einer Reihe hinter einander vom Kopf- bis zum
Schwanzende lagen etwa 1600, in einem Querschnitt
aus der Organdicke rund 3000. Bei einem mittel-
grossen Zitterwels enthält ein Cubikcentimeter Organ
etwa 14 000."
Wie in vieler Beziehung der feinere Bau des elektrischen Organes
von Malopterurus sich abweichend gestaltet, so gilt dies auch, nur
noch in erhöhtem Maasse, bezüglich der ganz eigenartigen Innervation
desselben. Aus dem Anfangstheil des Rückenmarkes, in der Gegend
der Verbindungsstelle des ersten Wirbels mit dem Os occipitale
basilare entspringt nach unten, scheinbar aus der unteren (vorderen)
Medianspalte, ein anscheinend unpaares Nervenbündel von graulicher
Farbe (Fig. 262 we), welches sich alsbald nach rechts und links theilt
und aus drei, durch Bindegewebe dicht verbundenen Nervenpaaren
besteht, den Wurzeln des zweiten und dritten N. spinalis und dem
elektrischen Nerv, den Biiharz als ein neues, zwischen jenen ein-
geschobenes Element betrachtete, während G. Fritsch neuerdings (21)
seine Zugehörigkeit zum sogenannten Seitennervensystem behauptet,
zu dessen Bildung bei allen Fischen Trigeminus und Vagus die
Elemente liefern. Die physiologische Bedeutung desselben liegt vor
Allem in der Versorgung des bei den Fischen ja zu besonderer
Fig. 262.
Die elektrischen Fische.
787
Entwicklung gelangten Hautorganes mit sekretorischen und sensorischen
Fasern. Der oberflächliche Theil des Seitennervensystems vom Vagus
tritt, wie Fritsch gezeigt hat, beim Malopterurus oberhalb vom
elektrischen Nerv dicht hinter dem Schultergürtel hervor, um auf
der Muskulatur nach hinten zu verlaufen. Bei vergleichender Unter-
suchung des Seitennervensystemes bei dem nahe verwandten, nicht
elektrischen gemeinen Wels (Silurus) zeigt sich, dass der Truncus
lateralis vagi nach Verflechtung mit dem Lateralis trigemini „in zwei
Fig. 263. Hautschvvarte von M a 1 o p t L 1 m u s , von inntn gesehen, mit den beiden elek-
trischen Nerven (ne) und ihren nächsten Verzweigungen. (Nach G Fritsch.)
Fascikeln hinter dem Schultergürtel hervortritt. Gleich nach dem
Durchtritt sendet er einen dünnen Zweig zur Haut für die Schulter-
gegend, dann einen stärkeren, absteigenden Zweig für die Vorder-
extremität und ihre Umgebung und für die Haut der Bauchgegend.
Darauf sondert sich ein oberflächlicher Ast, welcher abwärts vom
Seitenkanale von vorne nach hinten zieht und fünf bis sechs lange,
dicht unter der Haut zur Bauchgegend absteigende Zweige aussendet."
Alle diese Zweige der Truncus lateralis vagi fehlen nun
788
Die elektrischen Fische.
beim Malopter ur US, und ist nach Fr itsch's Ansicht an ihre
Stelle der elektrische Nerv getreten, av elcher demnach
hier eine Nervenverzweigung vertreten würde, die bei
andern Fischen sekretorischen und sensitiven Func-
tionen vorzustehen hat.
In der That entsendet er auch unmittelbar nach seinen Austritt
aus der Wirbelsäule, wie der Lateralis vagi beim Welse, einen feinen
Ast zur Schultergegend und Brustflosse, um weiterhin am Innenrande
des zum Schultergürtel gehenden Kopfes des Seitenmuskels, von der
Arterie des elektrischen Organes begleitet, hervorzukommen. Er geht
dann zwischen jenem und dem geraden Bauchmuskel nach hinten und
verläuft nun in dem lockeren Bindegewebe zwischen Muskulatur und
Fig. 264. Theil eines Querschnittes durch die elektrische Nervenfaser von Malopte-
rurus. (Nach G. F ritsch.)
der Hautschwarte, von der Arterie und Vene begleitet, der Seitenlinie
entlang bis gegen die hintere Grenze des Organes. Beiderseits treten
zahlreiche Aeste ab, die nach kurzem Verlauf und ein- bis zweifacher
Theilung plötzlich die innere Sehnenhaut des Organes durchbohren
(Fig. 263).
Im mittleren Theile seines Verlaufes besitzt der elektrische Nerv
eine ansehnliche Dicke, was um so bemerkenswerther ist, als es sich,
wie zuerst Bilharz fand, um eine einzige kolossale, mark-
halt i g e P r i m i t i V f a s e r handelt , welche, aus dem Rückenmark ein-
heitlich entspringend, sich weiterhin durch fortgesetzte Theilung in so
viele Aeste und Zweige spaltet als Nerven in das elektrische Organ
eindringen, bezw. als Fächer und Platten in demselben enthalten sind.
Die grosse Dicke des ganzen Nerven , der sich im frischen Zustande
durch seine eigenthümlich silberweise Farbe auszeichnet, rührt nun
keineswegs von einer irgend auffälligen Grösse der eigentlichen
Die elektrischen Fische. 789
Primitivfaser her, sondern ist vielmehr durch die mächtige Entwicklung
der bindegewebigen Scheiden bedingt, welche den Nerven bis in die
feinsten Endverzweigungen umhüllen, lieber die Anordnung derselben
erhält man am besten Aufschluss durch die Untersuchung von Quer-
schnitten, wie ein solcher der Stammfaser in Fig. 264 nach Fritsch
abgebildet ist. Man erkennt im Innern den runden Durchschnitt
des 0,008 mm dicken, von einer etwa 0,03 bis 0,012 mm breiten
Markscheide umgebenen Axencylinders. Nach aussen davon folgt
zunächst eine breite Zone reticulären Bindegewebes, welches Fritsch
als ein Analogon der Henle-Schwann'schen Scheide auffasst (B ilharz ' s
„innere Scheide"). Dieselbe erfüllt Vio der ganzen Dicke des Stammes,
und lässt sich mit der Nervenfaser leicht
Fig. 265. Malopterurus. Eine der beiden Eiesenganglienzellen; «e = Axeneylinder-
fortsatz. (Nach G. Fritsch.)
aus den nun folgenden concentrischen Bindegewebsschichten heraus-
schälen, welche reichlich vascularisirt sind. Wie bei jeder Theilung
einer Nervenfaser der Gesammtquerschnitt der Aeste den der Stamm-
faser erheblich übertrifft, so ist dies natürlich auch beim elektrischen
Nerv der Fall, und Fritsch berechnet, dass schon nach der
Abgabe von nur 25 Zweigen der Querschnitt des Nerven über das
Doppelte gestiegen ist. Obschon nun der Querschnitt des Axen-
cylinders in den markhaltigen Endästchen von kaum messbarer Klein-
heit ist, so berechnet sich doch die Summe der Querschnitte sämmt-
licher Nervenansätze an den Platten, die nach Verlust der Markscheide
enorm anschwellen, zu etwa 14,113 Q mm, so dass bei einem Flächen-
inhalt der Stammfaser von nur 40,7151 /t durch die Theilungen und
790 ^i*^ elektrischen Fische.
die Endanschwellung der Gesammtquerschnitt im Verlauf vom Centrum
zum Organ um das 346 760 fache gestiegen Aväre (!). Es dürfte dies
hauptsächlich der Zunahme einer interfribrillären Zwischensubstanz
zuzuschreiben sein, obschon fibrilläre Structur des Axencylinders,
abgesehen vom Stiel der Scheiben, gerade hier nicht nachgewiesen ist.
An Längsschnitten des Rückenmarkes, aus der Gegend des
Ursprunges der beiden elektrischen Nervenfasern, lässt sich, wie
Bilharz zeigte, schon mit mibe waffu etem Auge ein kleiner rundlicher
Fleck erkennen , welcher sich von der umgebenden Rückenmark-
substanz durch dunklere Färbung hervorhebt und bei mikroskopischer
Untersuchung als ein multipolarer Ganglienkörper von riesigen
Dimensionen erweist, dessen Axencylinderfortsatz je einen elektrischen
Nerven bildet. Die beiden Ganglienkörper (Fig. 265) besitzen eine linsen-
förmige Gestalt, ihr äquatorialer Durchmesser beträgt bis 0,21 mm, ihr
axialer etwa die Hälfte. Im Innern liegt ein grosser bläschenförmiger
Kern, wie die Zelle selbst, von ellipsoidischer Form. „Der Zellenleib
rundet sich gegen die Nachbarschaft nirgends mit einem geschlossenen
Umriss ab, sondern verlängert sich allseitig in mächtige Protoplasma-
fortsätze, die sich alsbald in ganz bestimmter Weise krümmen, um
etwa im Abstand des mittleren Durchmessers der Zelle um dieselbe
ein lockeres Geflecht zu bilden," welches sich nach der Abgangsstelle
des Axencylinderfortsatzes liin dichter gestaltet, so dass hier eine
Art von durchlöcherter Platte entsteht (Fussplatte des elektrischen
Nerven), von der der Nerv entspringt, der sich bald jenseits der-
selben mit Mark bekleidet. Es ist dieses Verhalten auch insofern
bemerken swerth, als sich daraus mit Sicherheit ergiebt, dass die
Protoplasmafortsätze ganz ebenso wie der aus ihnen sich entwickelnde
Axencylinder nervöser Natur sind.
II.
Von diesen stehen naturgemäss die physiologischen im Mittel-
punkte des Interesses, soweit es sich wenigstens um die kräftigen
Entladungen der hoch differenzirten elektrischen Organe von Torpedo,
Gymnotus und Malopterurus handelt. Die subjectiven, physio-
logischen Wirkungen des Fischschlages können sich , wie Du B o i s -
Reymond ausführt, unter verschiedenen Umständen geltend machen,
wobei aber, da jede Wirkung eines thierischen oder pflanzlichen
Elektromotors immer nur durch Nebenschliessung gewonnen ist,
wesentlich bleibt, dass Stromcurven in genügender Dichte den
menschlichen Körper entweder direct oder durch Vermittlung eines
Leiters von einem Widerstände gleicher Ordnung mit den organischen
Geweben, wie etwa Wasser, feuchte Nichtleiter u. s. w. treffen. Metall
als Zwischenschicht, dessen. Widerstand gegen den der feuchten Theile
verschwindet, schützt vor Stromschleifen wegen des Kirchhoff''schen
Brechungsgesetzes für den elektrischen Strom, und man kann daher,
wie schon Humboldt und Gay Lussac zeigten, einen elektrischen
Fisch zwischen zwei Metallschüsseln, die sich irgendwo berühren,
unbehindert durch Schläge tragen, eine Thatsache, die schon der
ältere B e q u e r e 1 in Parallele stellte mit dem bekannten Versuch,
die secundäre Zuckung von Muskel zu Nei'V (Matteucci'sche
Zuckung) durch Einschaltung von Blattgold oder Stanniol zwischen
Die elektrischen Fische. 791
dein primär zuckenden Muskel und dem Nerv des seeundären
Präparates zu hemmen (vergl. p. 3ü8).
Wie die Wirkung des Schlages beim Zitterrochen am stärksten
ist, wenn sich der menschliche Körper im Kreise der ganzen^ hier
senkrecht stehenden Säulen befindet, d. h. bei Ableitung von der
Ober- und Unterseite des Fisches, so wirkt auch der Zitteraalschlag,
sowie der des Zitterwelses um so gewaltiger, je weiter auseinander
gelegene Punkte des Fisches bei'ührt werden und je bessere Leitung
dem Schlage geboten wird, also voraussichtlich am stärksten, wenn
man das Thier in der Luft am Kopf und Schwanz hielte. Um eine
Vorstellung von der Kraft der elektrischen Entladungen von Gym-
notus zu geben, sei erwähnt, dass Sachs beim Anfassen eines
kräftigen, 123 cm langen Zitteraales mit Kautschukhandschuhen
dennoch höchst empfindliche Schläge erhielt. Der vollen Wirkung
der Schläge war er einst, wie er selbst erzählt, zufiülig ausgesetzt.
„Er war in's Wasser gefallen und mit völlig durchnässten, anklebenden
Kleidern eben herausgekommen, als er, durch seine Kautschukhand-
schuhe geschützt, sich bemühte, einen frisch gefangenen, über fünf
Fuss langen, sich heftig sträubenden Zitteraal in eine Wanne zu
werfen. Das Thier entschlüpfte, fiel ihm auf beide Füsse, so dass es
mit dem Kopfe das eine, mit dem Schwanz das andere Bein berührte
und verweilte so einige Secunden. In dieser Lage, wo Dr. Sachs'
Beine gerade einen leitenden Bogen zwischen den Polen der Zitter-
aalsäulen bildeten, erhielt er eine dicht gedrängte Reihe von Schlägen,
die durch keine in Betracht kommende Nebenschliessung geschwächt,
bei guter Leitung durch die nassen Kleider, ihn mit unbeschreiblicher
Stärke trafen. Laut aufschreiend vor Schmerz, stand er wie versteinert
durch den Schreck, ohne sich des Thieres entledigen zu können,"
welches schliesslich entkam (Du Bois-Reymond 4e p. 131).
Handelte es sich hier um directe Berührung des Fisclies ausser-
halb des Wassers, so sind die Wirkungen kaum minder stark bei
„Eintauchen in die elektrische Strömung", wobei die das
Wasser erfüllenden Stromcurven den menschlichen Körper treff'en.
Bei dieser Wirkungsart, für welche, wie leicht ersichtlich, die elektri-
schen Organe überhaupt eingerichtet sind, erhält, wie schon F a r a d a y
bemerkt, jeder getroffene Theil (oder thierische Körper) einen seiner
Grösse ungefähr proportionalen Theil der Entladung. Schon in älteren
Berichten ist unter diesen Umständen mehrfach von Hinstürzen die
Rede (DuBois-Reymond 4e p. 132). Auch berichtet Sachs, dass
von Zitteraalen geschlagene Reitthiere jedesmal stürzen, daher man
beim Ueber schreiten der Canos seichte Stellen aufsucht und der
vorderste Reiter vor sich mit einem Stocke ins Wasser stösst. „Wenn
so aufgejagte Zitteraale das Wasser weithin mit ihren Stromcurven
erfüllen, erscheinen sogleich todte Fische und Frösche an der Ober-
fläche."
In Bezug auf die Art der durch einen nicht zu starken Schlag
bewirkten Empfindung bemerkt Sachs, dass dieselbe eine „grosse
Aehnlichkeit mit kurzer Einwirkung des Schlitteninductoriums bei
Anwendung sogenannter Vaguselektroden (hakenförmige Metalldrähte)
besitzen. „Man hat die untrügliche Empfindung der Dauer,
der oscillirenden Natur des Schlages. Auch beim Zitterwels
erscheint nach D u B o i s - R e y m o n d (4 d. IL p. Gl 9) der Schlag „nicht
so trocken, wie der einer Leydener Flasche, sondern hat mehr etwas
792 Die elektrischen Fische.
Schwellendes; öfters unterscheidet man darin mehrere
Maxima."
„Im Vergleich zu ihrer Grösse ist der Schlag der Zitterwelse
überraschend heftig. Berührt man Kopf und Schwanz eines in Wasser
befindlichen kräftigen Fisches mit dem Zeigefinger, so erstreckt sich
der Schlag freilich nicht über das Mittelhandfingergelenk hinauf.
Ergreift man ihn aber mit wohl durchfeuchteten Händen, so erhält
man einen schweren Schlag bis in die Ellbogen." Ein Oeffnungs-
schlag bei ganz aufgeschobener secundärer Rolle mit einer Grove' sehen
Kette im primären Kreise, durch Handhaben unmittelbar genommen,
hatte etwa gleiche Stärke wie ein „tüchtiger" Fischschlag. Von der
einen Hälfte des elektrischen Organes von Malopterurus erhielt
Babuchin bei Reizung der Oblongata zufällig einen so starken
Schlag, „dass er einige Minuten nicht zur Besinnung kommen konnte".
Babuchin macht auf den Unterschied aufmerksam, welcher
zwischen den durch den Schlag von Torpedo und Malopterurus
bewirkten Empfindungen besteht. Die Schläge des ersteren sind so
zu sagen mehr weich, stumpf, die vom Malopterurus schärfer,
mehr stechend, penetrirend ; kurz gesagt, der Unterschied ist derselbe,
wie zwischen den Strömen der primären und der secundären Spirale
— zwischen dem Extracurrent der Haupt- und dem Oeffnungsschlag
der Nebenrolle — des Inductoriums. Es genügt, mit dem Finger die
Spitze eines Bartfadens vom Malopterurus zu berühren, um einen
scharfen Stich im Finger zu empfinden. Bei Torpedo geschieht das
nie. Du Bois-Reymond weist hierbei daraufhin, dass dies wahr-
scheinlich auf dem verschiedenen Modus der Innervation der Organe
in beiden Fällen beruhen dürfte. „An der nur von einer Ganglien-
zelle innervirten Hälfte des Zitterwels-Organes trennt den Schlag der
entferntesten von dem der nächsten Platte nur der sehr kleine Bruch-
theil der Secunde, dessen die Innervationswelle bedarf, um die Länge
des Organes zu durchlaufen. Bei dem Zitterrochen-Organ wird (da-
gegen) die Dauer der Entladung durch die Zeit bestimmt, deren der
elektrische Lappen bedarf, um in seiner ganzen Ausdehnung erregt
zu werden. Und nach dem, was wir von der Fortpflanzung des Reizes
durch Gangliencomplexe, z. B. durch das Rückenmark, wissen, kann
diese Zeit eine verhältnissmässig beträchtliche sein. Dass (aber) der
Schlag um so schärfer, stechender, durchdringender ausfalle, je gleich-
zeitiger alle Platten schlagen, versteht sich wohl von selbst." Im
Uebrigen macht es einen Unterschied, an welcher Stelle der Torpedo-
Schlag einwirkt. Wie mir Schönlein mittheilt, erregt derselbe an
der Dorsalseite der Finger und am Handrücken Schmerz, während er
in der Hohlhand bloss „stösst". Bei künstlicher Reizung mit Induc-
tionsströmen lässt sich das Contractionsgefühl der Handmuskeln immer
deutlich von den Hautempfindungen sondern. Nach S c h ö n 1 e i n
wird es durch den Torpedoschlag niemals hervorgerufen; es würde
daraus zu schliessen sein, dass derselbe nicht ausreicht, um durch die
Haut hindurch die Muskeln zu erregen,
Faraday verglich einen mittelstarken Schlag des 1838 von ihm
untersuchten 101,6 cm langen Zitteraales der Entladung einer auf's
Höchste geladenen Leydener Batterie von 15 Flaschen mit einer
doppelt belegten Glasoberfläche von 2,258 Quadratmeter. Unverhält-
nissmässig schwächer sind die physiologischen Wirkungen des Torpedo-
schlages, wenn man etwa von den grössten Arten (T. occidentalis)
Die elektrischen Fische. 793
absieht, durch deren Schlag Capitän Atwood mehrmals zu Boden
geworfen wurde „wie mit der Axt gefällt".
Um den Schlag behufs genauerer Untersuchung seiner Wirkungen,
seiner Stärke und Richtung auch von dem im Wasser befindlichen
Fisch bequem ableiten zu können, bediente sich schon Farad ay beim
Zitteraal zweier sattelförmig gekrümmter Elektroden (Fig. 266), welche
innen metallisch , aussen mit isolirender Substanz bekleidet, dem auf
einer isolirenden Unterlage (Glasplatte) liegenden Fisch an zwei den
Polen der Organe entsprechenden Stellen aufgelegt werden, so dass
der Kautschukrand der Sättel der Glasplatte sich ziemlich anschloss.
Die betreffenden Segmente des Fisches sind dann fast so gut isolirt
wie in der Luft, Mau lässt am Besten nur so viel Wasser, dass das
auf dem gläsernen Boden einer flachen Wanne liegende Thier nur
eben bedeckt ist. Um bei den kleineren, schwächeren Zitter weisen
auch die zwischen den Sätteln befindliche Körperstrecke möglichst zu
Fig. 26(;. Fig. 267.
isoHren, verwandte Du Bois-Reymond (4 d, IL p. 670) Ableitungs-
deckel von der Form eines Mumiensargdeckels (Fig. 267), welche, an
beiden Enden mit Stanniol gefuttert, aus Guttapercha nach der Form
der Thiere modellirt wurden.
Die Isolation vom umgebenden Wasser war in diesem Falle so
vollkommen, dass selbst bei Anwendung der noch zu besprechenden,
sehr empfindlichen Methoden zum Nachweis von Stromschleifen im
Wasser solche beim Schlage bisweilen nicht zu constatiren waren.
Zur Ableitung des unter Wasser befindlichen Zitterrochen endlich
fand D u B o i s - R e y m o n d (4 g, h) die in Fig. 268 dargestellte Einrich-
tung am zweckmässigsten. Auf dem Boden eines 10 cm tiefen und
30 cm im Durchmesser haltenden Glashafens liegt ein kreisrundes,
mit einer Flanellplatte bedecktes Zinkblech vom ungefähren Durch-
messer der Körperscheibe (v v^), dem ein Streif zur Ableitung nach
aussen angebogen war. Auf dem Flanell liegt der Fisch. Als Ab-
leitungsdeckel vom Rücken (Rückenschild) dient eine nach der Gestalt
des Fisches gebogene Zinkplatte mit umgelegtem Rand, oberhalb
lackirt, in der Mitte mit einem Holzgriff, durch welchen der andere,
ableitende Draht nach aussen führt.
Auf diese Weise gelingt es leicht, den Schlag abzuleiten und
ohne jede Schädigung des Thieres zu untersuchen. Ein sehr worth-
volles und vielfacher Anwendung fähiges Hülfsmittel ist hierbei in
der Anwendung eines Nerv-Muskel-Präparates vom Frosch gegeben,
Biedermann, Elektrophysiologie. 51
794
Die elektrischen Fische.
dessen sich schon 1797 Galvani und später auch Matten cci bei
Versuchen an Zitterrochen bedienten. Du Bois-Reymond con-
struirte dann den sogenannten „F r o s c h w e c k e r" (Fig. 268 F W),
indem er durch zwei in das Wasser des Fischbehälters eingetauchte
Elektroden einen Theil des durch die Wassermasse sich ergiessenden
Schlages ableitete und dem Nerv des stromprüfenden Schenkels
zuführte, dessen Muskel durch seine Zuckung einen Glockenschlag
erzeugte, wodurch jede erfolgte Entladung des Organes mit Sicherheit
angezeigt wird. Es gelingt auf diese Weise, sehr einfach und mit
grösster Sicherheit die
elektrische Thätigkeit
eines im Wasser be-
findlichen Fisches
stundenlang zu über-
wachen.
Neuerdings be-
diente sich Schön-
1 e i n (30) zu gleichem
Zwecke mit bestem
Erfolge des Telephons,
dessen eines Ende mit
einer auf dem Boden
des Fischbassins lie-
genden Bleiplatte lei-
tend verbunden wird,
während der andere
Poldraht in einer zwei-
ten kleinerenBleiplatte
endet, die ins Wasser
taucht. Auch bei
schwachen Thieren
(T o r p e d o) fand
Schönlein die Schlä-
ge hinreichend kräftig,
um das ganze 1 X 0,4
X 0,3 m messende
Bassin mit telephonisch
hörbaren Stromcurven
zu erfüllen. Man er-
fährt so, dass die Thiere
bisweilen auch ohne
nachweisbare directe
Reizung spontan schla-
gen, insbesondere bei Annäherung anderer Thiere, oder der Auffangeplatte.
In der Regel erfolgt aber eine wirksame Entladung nur bei Berührung
oder in anderer Weise vermittelter Erregung. Dabei ist wenigstens
beim Zitteraal und nach Du Bois-Reymond 's Erfahrungen auch
beim Zitterwels der Ort der Reizung für den Erfolg keineswegs gleich-
giltig. Besonders unempfindlich scheinen an dem letzterwähnten Fisch
die Bartfäden zu sein, deren Reizung kaum jemals eine Entladung
bewirkt. Auch in Bezug auf die erforderliche Stärke des einwirkenden
Reizes machen sich grosse Verschiedenheiten bemerkbar. Bisweilen,
schon auf den leisesten Eindruck reagirend, erfolgt bei Gymnotus
Fig. 268. Schematische Darstellung der Ableitims: des
Schlages von Torpedo. FW = Froschwecker. (Nach
Du Bois-Reymond.)
Die elektrischen Fische. 795
anderemal eine Entladung erst auf kräftiges „Picken" mit einem
spitzen Körper. Bei Herstellung von Organpräparaten von Torpedo
beobachtete Schönlein in der Regel eine Entladung beim Haut-
schnitt, sowie beim Abtragen der Schädelkapsel, besonders wenn ein
Bogengang und der Utriculus getroffen wurde. Auch die Durch-
schneidung der Medulla oblongata war von einem Schlage begleitet.
Die verhältnissmässig beträchtliche Dauer aller spontanen oder
reflectorisch ausgelösten Entladungen prägt sich, wie schon erwähnt,
nicht nur für die subjective Empfindung deutlich aus, sondern macht
sich auch objectiv bemerkbar bei Anwendung der eben besprochenen
Untersuchungsmethoden. Bei sehr starker Reizung wird sowohl beim
Zitteraal wie auch beim Zitterwels der Hammer des Froschweckers
gegen die Glocke gepresst gehalten. Beim Malopterurus lässt
sich übrigens so leicht erkennen, dass er gereizt nur selten einmal
schlägt. Meist erfolgen 2—3 Glockenschläge bald dicht gedrängt,
bald durch einen längeren Zwischenraum getrennt. Bei telephonischer
Beobachtung fand Schönlein sowohl die Tonhöhe wie den Charakter
des Klanges der natürlichen Schläge von Torpedo sehr wechselnd.
„Wollte man denselben irgendwie durch Buchstabensymbole ausdrücken,
so müsste man jedenfalls die Vocale ae, e oder i dazu wählen, keines-
falls o oder u." Kurze Schläge lassen sich, wie es scheint, am besten
durch ein auf verschiedene Tonhöhen gesungenes R ausdrücken.
Längere Entladungen scheinen im Allgemeinen höheren Tonlagen an-
zugehören als kürzere.
Im Uebrigen ist die Ausdauer der Fische sehr bedeutend. Du
Bois-Reymond pflegte seinen Zitterwelsen alle zehn Minuten die
Ableitungsdeckel aufzusetzen und dies anderthalb bis zwei Stunden
fortzusetzen. „Mit dem Uebertragen des Fisches aus dem Trog in die
Versuchswanne und zurück wurde er dann 11 — 14mal gereizt; doch
ertheilte er mindestens die zwei- bis dreifache Zahl von Schlägen.
Im Laufe einer solchen Versuchsreihe ermüdete der Fisch sichtlich,
er erbleichte und beantwortete das Aufsetzen des Deckels zuletzt nur
noch mit einem Schlag" (4 d. IL p. 618). Auch vom Zitterrochen ist es
bekannt, „dass er minutenlang eine mehr als secundendicht gedrängte
Reihe von Schlägen ertheilt". Wie mir Schoenlein mittheilt, hat
das lebendige, von Blut durchströmte Organ (Torpedo) kaum mehr
als 1000 Schläge im Vorrath, sei es, dass die Entladungen spontan
bei starker, fortgesetzter Reizung des Thieres erfolgen oder am Organ-
präparat künstlich ausgelöst werden. Ersterenfalls bedarf nachher das
Thier längerer (mindestens ^U Stunde) Erholung, um wieder schlag-
fähig zu werden. Das ausgeschnittene Organ zeigt dagegen (im Gegen-
satz zum Muskel) keine Erholung, wenn es auch nur 10 See. anhaltend
mit tetanisirenden Inductionsströmen gereizt wird. Sachs' Zitteraale
zeigten sich elektrisch unermüdlich. Man konnte ohne sonderliche
Schwächung 200 — 300 Schläge von ihnen nehmen ; ein Thier, welches
im Laufe einer Stunde schätzungsweise 150 mal geschlagen hatte, sandte
noch immer eine kräftige Erschütterung durch eine Kette von acht
Personen, deren Endglieder es an Kopf und Schwanz berührten (Du
Bois-Reymond 4e p. 256).
Wie schon erwähnt, war bereits Cavendish (1776) durch das
Studium von untergetauchten Modellen des Zitterrochens, die mit einer
Leydener Batterie verbunden waren, zu im Wesentlichen richtigen
Anschauungen über die Vertheilung der Spannungen an der
51*
796 i^ie elektrischen Fische.
Oberfläche und im umgebenden Wasser gelangt, von der
die beistehende schematisehe Zeichnung (Fig. 269) eine Vorstellung
giebt. Die vervollkommneten physikalischen Hülfsmittel, insbesondere
die Einführung des Galvanometers in die Untersuchungsmethodik, ge-
statteten später C o 1 1 a d 0 n und vor Allem DuBois-Reymond, die
Resultate von Cavendish in wesentlichen Punkten zu berichtigen
und zu ergänzen (4 g, h p. 193), Co Iladon stellte 1831 in Bezug auf
I ; ■: i : <m^''- ' ' '
^^^--■^y / \ \ — /
Fig. 269. Schema der Stromvertheilung ausserhalb des Körpers von Torpedo. (Nach
Cavendish.)
die Spannungsvertheilung beim Schlag an der Obei-fläche des in der
Luft befindlichen Zitterrochen, sowie die Richtung und Stärke der
daraus resultirenden Ströme folgende drei Sätze auf:
1. „Alle Punkte des Rückens sind positiv gegen einen beliebigen
Punkt des Bauches. Die Stromstärke nimmt ab in dem Maasse,
wie jene Punkte weiter vom Organ liegen; am Schwanz ist sie
fast ganz Null."
2. „Zwei assymmetrische Punkte des Rückens oder zwei solche
Punkte des Bauches geben fast stets einen Strom am Galvano-
meter: der den Organen nähere Punkt ist am Rücken positiv,
am Bauche negativ."
3. Bei Berührung zweier symmetrischer Punkte des Rückens oder
des Bauches erhält man keine Galvanometerablenkung."
Da die Säulen, deren elektromotorische Kraft mit der Plattenzahl
wächst, von dem medialen Rande des Zitterrochenorganes nach dem
seitlichen hin um etwa 0,6 mm an Höhe abnehmen, so erscheint es
ohne Weiteres klar, weshalb man an dem in der Luft befindlichen
schlagenden Fisch im Sinne von C o 1 1 a d o n und Matte ucci einen
Strom zwischen medialen und seitlichen Punkten erhält, am Rücken
von jenen zu diesen, am Bauche umgekehrt. Wären an den beiden
Organen alle Säulen gleich hoch, die Organe ausserdem nach der
Medianebene verschoben und dort mit einander verschmolzen, dann
würde die Mitte der Medianlinie am Rücken am positivsten, am
Bauche am negativsten sein. „Denkt man sich , dass die Organe
wieder auseinanderrücken, so müssen, wie Du Bois-Reymond ge-
zeigt hat, an jedem Organ die positivsten und negativsten Stellen je
nach dem Abstände der Organe eine mittlere Lage zwischen dem
medialen Rande und der Mitte annehmen." Es würden daher auch
Die elektrischen Fische.
797
bei gleicher Höhe aller Säulen Spannungsdifferenzen am Rücken und
Bauche in gleichem Sinne, wenn auch schwächer, vorhanden sein
müssen. Dagegen hat die Abnahme der Säulenhöhe nach dem Rande
hin zur Folge, dass die Stellen grösster Positivität und
Negativität an den medialen Rändern der Organe
liegen. Es giebt daher, wie Du Bois-Reymond zeigte, am
Rücken des Zitterrochen auch Ströme von diesen Rändern
nach der Medianlinie und am Bauche umgekehrt von
dieser zu jenen. Die beistehende Fig. 270 zeigt den Verlauf der
Stromcurven an einem Diagramm des Fisches nach Du Bois-Rey-
mond. Man sieht, dass dieselben „nicht bloss aus den sogenannten
Polflächen ausstrahlen, sondern auch die Seitenflächen der Organe
schneiden. Sie verlaufen dann sowohl nach innen wie nach aussen
durch den Körper des Fisches und füllen weiterhin den Raum aus".
Fig. 270. Schema der Stromvertheilung ausserhalb des Körpers von Torpedo. (Nach
Du Bois-Reymond.)
Mit Rücksicht auf die Frage der Immunität der Zitterfische
gegen ihre eigenen Entladungen ist es bemerkenswerth , dass „die
Ströme, welche am Rücken von den medialen Rändern der Organe
nach der Medianlinie und am Bauche umgekehrt von dieser zu jenen
Rändern fliessen, nothwendig den Weg durch Hirn und Rückenmark
nehmen, und da dies die kürzeste Bahn zwischen den wirksamsten
Theilen beider Organe ist, so giebt es am Zitterrochen keine stärkeren
Ströme" (Du Bois-Reymond).
Alle diese Erscheinungen konnte Du Bois-Reymond auch an
künstlichen Modellen nachahmen, indem er Serien von Zink-Platin-
Elementen nach Art elektrischer Platten gruppirte und dieselben
plötzlich in Wasser versenkte, in dem sich nun die Ströme nach Art
des Schlages ausbreiteten und in entsprechender Weise abgeleitet
wurden.
Auch bei Ableitung von symmetrisch gelegenen Punkten der
Rücken- oder Bauchfläche erhielt Du-Bois-Reymond an seinen
798 Die elektrischen Fische.
Fischen Ablenkungen beim Schlage, was wohl auf ungleich starker
Innervation beider Organe beruhen dürfte.
Beim Zitterwels stellte Du Bois-Reymond fest, „dass bei
der Entladung jeder dem Schwänze nähere Punkt des Organes sich
positiv gegen jeden dem Kopf näheren verhält, gleichviel wo der
Punkt am Umfang eines bestimmten Querschnittes des Fisches liegt,
ob an Rücken, Seite oder Bauch", so dass also die Polflächen des
Organes, wie auch beim Zitteraal, am Kopf und am Schwanz liegen.
Aus dem Vorstehenden ergiebt sich, dass die Richtung des
normalen Schlages der Zitter fische stets senkrecht auf
die Ebene der Platten ist. Beim Zitterrochen, wo bei normaler
Lage des Thieres die letzteren horizontal liegen , erfolgt demgemäss
der Schlag zwischen Rücken und Bauch, beim Zitteraal dagegen, in
dessen Organen die Platten im Allgemeinen senkrecht auf die Längsaxe,
d. h. in der Querebene des Thieres hegen, verläuft der Schlag in der
Längsrichtung zwischen Kopf und Schwanz und ebenso ist es beim
Zitteraal, dessen Platten eine entsprechende Lagerung zeigen.
Eine sehr bemerkenswerthe Regel schien sich anfänglich aus dem
schon von Pacini bemerkten Umstand zu ergeben, dass die Nerven-
verbreitung beim Zitterrochen und Zitteraal immer an jener Fläche der
Platten erfolgt, welche beim Schlagen negativ Avird, d. h. bei Torpedo
an der unteren, beim Gymnotus an der hinteren. Bei dem letzteren
hatte schon Farad ay durch Jodkalium-Elektrolyse den Nachweis
geliefert, „dass jeder Punkt des im Wasser befindlichen Fisches oder
seiner nächsten Umgebung sich negativ ve);hält gegen jeden am Fisch
davor und positiv gegen jeden dahinter gelegenen, ferner dass die
Wirkungen um so stärker sind, je weiter auseinander gelegene Punkte
man berührt, während sie bei Ableitung symmetrisch zur Sagittalebene
verschwinden". Es wird dies verständlich, wenn im Augenblick des
Schlages die vorderen Flächen aller elektrischen Platten positiv, die
hinteren negativ sich verhalten, wie Du Bois-Reymond auch an
einem untergetauchten Säulenmodell aus zusammengelötheten Platin-
Zink- Elementen zeigte (4 d. IL p. 683). Der Strom wird demnach die
Organsäulen selbst im Allgemeinen aufsteigend (in „positiver" Richtung),
d. h. vom Schwänze kopfwärts durchsetzen.
Da sich Bilharz überzeugt zu haben glaubte, dass auch beim
Zitterwels der Nerv an die hintere Fläche jeder einzelnen Platte
tritt, so schloss er ohne Weiteres, dass die Schlagrichtung der des
Zitteraales entsprechen würde, ohne jedoch den Versuch Avirklich
anstellen zu können. Du Bois-Reymond zeigte dann, dass
entgegen der Erwartung der Schlag im Organe des Zitterwelses
unabänderlich vom Kopfe nach dem Schwanz gerichtet ist,
also entgegen der Pacini 'sehen Regel. Dasselbe gilt übrigens auch
für R a j a.
Es wurde schon Eingangs dieses Capitels erwähnt, dass es bereits
Faraday gelungen war, sämmtliche von ihm aufgestellte Wahrzeichen
einer echten elektrischen Entladung mit Ausnahme eines einzigen am
Schlage der Zitteriische (Gymnotus) nachzuweisen. Physiologische
Wirkung, Ablenkung der Magnetnadel, Magnetisirung, Funken- und
Wärmeerzeugung, Elektrolyse, Anziehung und Abstossung waren zu
erreichen; nur die Leitung durch heisse Luft (die Flamme) schien
unmöglich, eine Thatsache, die schon Cavendish aufgefallen war und
die er vergeblich zu erklären versucht hatte. Wie Du Bois-
Die elektrischen Fische. 799
Reymond in der Folge gezeigt hat, handelt es sich hier um eine
Erscheinung, die nur ein besonderer Fall der allgemeinen Thatsache
ist, dass, ungeachtet der unter Umständen enormen Stärke der Ent-
ladungen der Zitterfische, dieselben doch unfähig sind, selbst nur
geringe, der Abgleichung entgegenstehende Hindernisse zu überwinden.
Dies äussert sich unter Anderem auch in dem Umstände, dass es bei
Torpedo und Malopterurus nur selten gelingt, sogenannte Ent-
ladungs- und Schliessungsfunken durch den Schlag zu erhalten,
Avährend es dagegen leicht ist, Trennungsfunken zu erzielen. Ersteren-
falls ist zwischen feststehenden oder einander sich nähernden,
metallischen Spitzen eine Lücke da, welche der Strom bei seiner Ent-
stehung überspringt, im letzteren Falle dagegen wird ein Kreis, in
-welchem der Strom fliesst, unterbrochen. Du Bois-Reymond
bediente sich bei seinen Versuchen am Zitterwels eines Funken-
mikrometers, an welchem zwei Platinspitzen einander bis auf 0,01 mm
genähert werden konnten, oder ritzte in aufgeklebte Stanniolstreifen
Spalte, welche sogar nur 0,0033 bis 0,0050 mm breit waren. Doch
gelang es nie, bei mikroskopischer Beobachtung im Dunkeln einen
Entladungsfunken zu sehen, obschon ein auf der Zunge ganz unmerk-
licher, inducirter Strom eines Schlittenapparates noch bei 90 mm
Rollenabstand jene Spalte unter Funkenbildung übersprang.
Dagegen haben Santi-Linari und Matteucci am Zitterrochen,
Faraday beim Zitteraal und Du Bois-Reymond beim Zitterwels
Trennungsfunken gesehen, wenn bei Reizung des abgeleiteten Fisches
Quecksilber gegen eine Platinspitze geschwenkt, oder eine Feile über
eine andere geschleift, oder endlich ein Zahnrad an einer Feder
vorbeigedreht wurde. Durch geeignete Anwendung des Froschunter-
brechers lässt es sich erzielen, dass der Stromkreis durch die Zuckung
des Froschschenkels jedesmal etwa auf der Höhe des Schlages geöffnet
wird, wobei der Trennungsfunke mit Sicherheit zu beobachten ist.
Entladungsfunken zu sehen ist nur am Zitteraal mehrfach gelungen.
Schon 1773 erhielt Hugh-Williamson in Philadelphia den Schlag
durch eine Lücke im Kreise, deren Weite er gleich der Dicke von
double post paper setzt, doch sah er nicht den Funken. Walsh
dagegen konnte, wie Du Bois-Reymond (4 e p. 158) mittheilt, „dem
1775 aus Guayana nach London gebrachten Zitteraal den Entladungs-
funken in einem Stanniolspalt so sicher entlocken, dass er ihn mehr
als 40 Mitgliedern der Royal Society zehn- bis zwölfmal nach-
einander zeigte". Auffallenderweise ist es dagegen Sachs nicht
geglückt, den Schliessungs-(Entladungs-)Funken in einem Stanniol-
spalt von 0,1 mm zu sehen. Unter diesen Umständen kann es
auch nicht verwundern, dass der Zitteraalschlag auch nicht durch
verdünnte Luft geht und etwa eine Geissler'sche Röhre zum Leuchten
bringt.
Die Erklärung aller dieser, auf den ersten Blick auffallenden
Thatsachen ergiebt sich nun, wie Du Bois-Reymond (1. c. p. 161)
gezeigt hat , einfach daraus , dass , wie schon erwähnt wurde , die
Ströme der Zitterfische, wie überhaupt aller thierischen Elektromotoren,
immer nur durch Nebenschliessung gewonnen sind. „Von zwei
gleich starken Strömen, A und B, welche in zwei gleich widerstehenden
Leitern fliessen, von denen aber Ä einem unverzweigten Kreise
angehört, B durch Nebenschliessung gewonnen ist, wird durch Hinzu-
fügen eines gleichen Widerstandes zum Widerstand der Leiter B
300 I^iß elektrischen Fische.
mehr geschwächt wie Ä, und zwar in um so höherem Grade, je grösser
der Widerstand der übrigen Leitung ist."
„Bietet man also dem Zitterfischschlag eine gute metallische
Leitung, so entwickelt sich darin ein gewaltiger Strom, der, rechtzeitig
unterbrochen im ersten Augenblick eine Lücke trifft, kleiner als man
sie zwischen feststehenden Metallen herstellen kann, und vollends
unterstützt durch Induction, diese Lücke leicht in Funken überspringt.
Ist dagegen schon eine Lücke im Versuchskreise da, wie klein man
sie auch mache, so begiebt sich gar kein Stromzweig in den Kreis,
welcher sie zu überspringen vermöchte. Es ist also täuschender An-
schein, dass der gewaltige Zitterfischschlag unfähig ist, die Lücke zu
überspringen, denn in Wahrheit verhindert vielmehr die Lücke die
Entwicklung des Stromzweiges, der nur bei guter Leitung als ge-
waltiger Schlag erscheint. Der gewaltige Schlag, von dem
man das Ueber springen derLücke erwartet, ist im Falle
der Lücke gar nicht vorhanden" (innerhalb gewisser Grenzen
der Spaltweite),
Aus dem Angeführten ergiebt sich auch die Regel, bei allen
Versuchen an Zitterfischen, wo es auf Stärke der Wirkung ankommt,
den äusseren Widerstand im ableitenden Bogen möglichst zu ver-
kleinern. Interessant ist, worauf Du Bois-Reymond zuerst auf-
merksam machte , die Anpassung der verschiedenen elek-
trischen Organe an das Mittel, in dem sie wirken sollen.
„Die auf Seewasser berechneten Zitterrochenorgane durften keinen
grossen inneren Widerstand haben, konnten aber mit geringerer Kraft
auskommen; sie sind bei grossem Querschnitt kurz. Die
auf Süsswasser berechneten Organe des Zitterwelses und Zitteraales
durften grösseren inneren Widerstand haben , brauchten aber auch
grössere Kraft; sie sind bei kleinem Querschnitt lang."
Es ist von principiellem Interesse , dass es , wie Du Bois-
Reymond zeigte, leicht gelingt, durch den Fischschlag einen Ent-
ladungsfunken zu erzielen, wenn man die Induction zu Hülfe nimmt,
und jenen durch die Hauptrolle eines Rumkorff'schen Inductoriums
leitet. Befindet sich dann im secundären Kreise ein Funkenmikro-
meter, so sieht man regelmässig zwei Funken, einen grösseren und
unmittelbar darauf einen kleineren überspringen. Am Zitterrochen
konnte Armand Moreau (Du Bois-Reymond 4d p. 628) auch die
elektroskopische Anziehung und Abstossung durch den Schlag zeigen,
indem er an Stelle der Platin spitzen des Funkenmikrometei's zwei
gebogene Kupferdrähte setzte, von deren Enden zwei Goldblättchen
herabhingen. „Bei 3 mm Abstand war ihre Bewegung im Augen-
blicke des Schlages zweifelhaft, bei 2 mm Abstand zogen sie einander
deutlich an, bei (noch) kleinerem Abstände flogen sie zusammen, eine
prachtvolle grüne Feuererscheinung leuchtete auf und Hess die
Blättchen zusammengeschmelzt zurück.''
Vielfach bediente man sich auch der Jodkaliumelektrolyse an
Stelle des Multiplicators, um über die Richtung des Fischschlages und
die Vertheilung der Spannungen an der Oberfläche Aufschluss zu
erhalten. Es wird dabei einfach der Schlag durch zwei ausgeglühte
Platinspitzen einem Fliesspapierstreifen zugeführt, welcher mit
gesättigter Jodkaliumlösung getränkt ist. Du Bois-Reymond
(4 e p. 163 und 7) stiess hierbei auf die paradoxe Erscheinung, dass
durch die Entladung des Zitterwelses und, wie er später fand, auch
Die elektrisclieu Fische. 801
des Zitterrochen unter beiden Spitzen ein Jodfleck entstand, aller-
dings ersterenfalls gewöhnlich stärker unter der dem Schwanz
entsprechenden Spitze. Etwas Aehnliches hatten früher weder John
Davy und Matteucci am Zitterrochen, noch Farad ay, Schön-
bein und Andere am Zitteraal bemerkt, an welch' letzterem auch
Sachs die Erscheinung vermisste.
Da hierdurch die Möglichkeit eines Hin - und Hergehens des
Schlages nahegelegt wurde, so schien eine eingehendere Untersuchung
erwünscht. Dabei ergab sich nun sofort, dass der „secundäre" Jodfleck
unter der negativen Spitze auch durch einzelne Inductionsschläge
erzeugt wird, wenn, wie es in der Regel der Fall ist, der Kreis nach
Aufhören des Stromes noch geschlossen bleibt. Er ist hier zweifellos
verursacht durch den „entgegengesetzten Strom der Ladungen, welche
die in Jodkaliumlösung tauchenden Platinspitzen unter dem Einfluss des
Inductionsstromes angenommen haben". „Ganz ähnlich, wie in einem
Inductionskreis, ist der Vorgang bei dem Fisch, Unmittelbar, nachdem
er geschlagen, bleibt der Kreis noch einige Augenblicke geschlossen,
wie schnell man auch die Sättel aus dem Wasser ziehe, was man be-
sonders rasch zu thun übrigens gar keinen Grund hat. Während
dieser Zeit muss ein secundärer Strom in umgekehrter Richtung des
Fischstromes kreisen, welcher nicht allein von den Ladungen der in
Jodkaliumlösung tauchenden Platinspitzen, sondern auch von denen der
Platinsättel herrührt. Dieser secundäre Strom muss unstreitig auch
unter der früheren Kathode, der neuen Anode, einen entsprechenden
Jodfleck erzeugen" (4 d p. 651 f.j. Dass durch den Fischschlag in der
That, wie ja kaum zu bezweifeln, eine nachweisbare Polarisation der
Elektroden erfolgt, hat Du Bois-Reymond durch besondere Ver-
suche nachgewiesen. Es wurde hierbei in geeigneter Weise (durch
den Froschunterbrecher) der Schlagstrom von der Bussole durch eine
Nebenschliessung abgeblendet, welche man, um die Polarisation sichtbar
zu machen, nur so bald als möglich nach dem Schlag wegzuräumen hat.
Unvergleichlich viel geringfügiger, als bei den bisher besprochenen
eigentlichen Zitterflschen, sind die elektrischen Wirkungen bei den
früher als „pseudoelektrisch" bezeichneten Arten (Raja und Mormyrus),
wo, wie bei Muskeln, im Allgemeinen nur das Galvanometer sicheren
Aufschluss giebt. James Stark (vergl. 32) wurde zur Entdeckung
der elektrischen Organe der Rochen durch die Aussage der Fischer
geführt, dass man beim Anfassen des Schwanzes eines lebendigen
Rochen einen elektrischen Schlag erhalte. Mittels des Galvanometers
ist es nun in der That leicht, sich von der ziemlich energischen
Wirkung der Organe zu überzeugen. Spannt man einen lebendigen
Rochen mit der Bauchseite nach unten auf ein entsprechend geformtes
Brett (von der Form eines Schlagnetzes), taucht man dann den Rumpf
in Seewasser, so dass nur der Schwanz dem Griffe des Brettes ent-
sprechend hervorragt, so kann man hier leicht zwei unpolarisirbare
Elektroden, den Enden der Organe entsprechend, anlegen. Während
der Ruhe beobachtet man in der Regel nur eine unerhebliche oder
gar keine Spannungsdiß'erenz. Dagegen erfolgt ganz regelmässig bei
mechanischer Reizung der Rückenhaut eine Entladung von solcher
Stärke, dass selbst nur ein kleiner Bruchtheil (^loo) des Stromes ge-
nügt, um die Scala aus dem Gesichtsfelde zu treiben (Burdo n-San-
derson und Gotch 13 c). In dem angelegten Bogen fliesst derselbe
von dem hinteren zum vorderen Ableitungspunkt, im Organ selbst daher
802 Die elektrischen Fische.
umgekehrt von vorn nach hinten. Bei den Mormy riclen fliesst, wie
Fritsch (12 i) feststellte, der elektrische Strom im Körper des Fisches
vom Schwanz zum Kopf, verhält sich daher ebenso wie bei Torpedo
und Gymnotus. Exemplare von 15 und 20 cm Länge bewirken, wie
Babuchin bemerkt, „kaum merkliche Zuckungen angelegter, strom-
prüfender Froschschenkel, während Fische von 40 und 50 cm maximale,
sprungartige Zuckungen hervorrufen und auch für den Menschen wahr-
nehmbar sind, wenn auch nicht deutlicher, als von einer 10 cm langen
Torpedo". Bei kräftigen, ausgesuchten Thieren konnte Fritsch
mittels des Frosch weckers bereits Entladungen constatiren, wenn die
ins Wasser des Behälters getauchten Elektroden dem Fisch nur bis
auf 20 — 30 cm genähert wurden, ohne ihn selbst zu berühren.
Schon A. V. Humboldt hat auf die Möglichkeit einer nur
partiellen Entladung der elektrischen Organe hingewiesen, indem
er sich auf die Beobachtung berief, dass von zwei dem Gym-
notus in nur 10 — 12 mm Abstand aufgesetzten Metallstäben nur
der eine den Schlag aufnahm, der andere nicht. C. Sachs legte
an vier verschiedenen Stellen eines aus dem Wasser genommenen
Zitteraales vier Krötenschenkel. Bei starken Schlägen zuckten alle
vier. Wurden aber schwache Schläge durch Picken der Haut des
Schwanzes erzeugt, so zuckten nur die hinteren Präparate. Bei Be-
rücksichtigung der Innervationsverhältnisse der Organe des Gym-
notus werden „Streckenentladungen" (Du Bois-Reymond) der-
selben leicht verständlich, während es ebenso klar erscheint, dass das
Zitterwelsorgan immer nur als Ganzes fungiren kann. Einen auffallen-
den Unterschied in Bezug auf die Stärke des Schlages fand C. Sachs
an der vorderen und hinteren Hälfte des Gymnotus, und zwar
im gleichen Sinne wie vorher schon Du Bois-Reymond am Zitter-
wels (4 d p. 630), wo die vordere Hälfte viel stärkere Ab-
lenkungen der Bussole erzeugte als die hintere (etwa
im Verhältniss von 11:6). Da dieser Unterschied, wie Du Bois-
Reymond gezeigt hat, mit wachsendem Widerstand des Versuchs-
kreises verschwindet, so liegt wenigstens beim Zitterwels kein Grund
vor, eine verschiedene elektromotorische Kraft beider Hälften anzu-
nehmen. Der von vorn nach hinten abnehmende Querschnitt des
Fisches (beziehungsweise der Organe) und die dadurch bedingte
Widerstandszunahme in derselben Richtung erklärt das beobachtete
Verhalten zur Genüge. Beim Gymnotus kommt freilich noch der
Umstand in Betracht, dass wahrscheinlich die hinten gelegenen, weit-
fächerigen Säulen des Sachs'schen Bündels anders elektromotorisch
wirken als die engfächerigen.
Unter allen Umständen wächst hier der Schlag mit der
Länge des Fisches, so dass sich die Frage erhebt, ob dies auf
einer Abnahme des Widerstandes oder auf einem Wachsen der Kraft,
oder auf Beidem beruht. Wie sich aus einer Vergleichung der Länge
und des Gewichtes verschiedener Exemplare ergiebt, wachsen die
Zitteraale stärker in die Länge als in die Dicke, so dass ihr Quer-
schnitt vergleichsweise um so kleiner wird, je länger sie werden. Da
man annehmen darf, dass sich die elektrischen Organe dabei ebenso
verhalten worden, so nimmt ihr Widerstand dem entsprechend langsamer
ab, als wenn die Organe bei ihrem Wachsen sich ähnlich blieben, oder
er wird vielleicht sogar grösser werden. Jedenfalls muss die grössere
Stärke des Schlages längerer Fische auf eine Zunahme der Kraft
Die elektrischen Fische. 803
bezogen werden und kann nicht auf Abnahme des Widerstandes be-
ruhen (Du B 0 i s - R e y in 0 n d).
Die anatomischen Verhältnisse der Innervation der elektrischen
Organe bei den verschiedenen Zitterlischen lassen auch in Bezug auf
das Zustandekommen spontaner (willkürlicher) und reflectorischer
Entladungen beträchtliche Unterschiede erwarten. „Vom Zitterrochen
Hess sich vorhersehen, dass er nach Zerstörung des Lobus electricus
oder der zu ihm führenden sensiblen Nervenbahnen nicht anders
mehr schlagen könne, als auf Reizung der elektrischen Nerven oder
des Lobus electricus selber", und ebenso dürfte beim Zitterwels das
Vermögen spontaner und reflectorischer Entladungen an das Erhaltensein
der beiden Riesenganglienzellen geknüpft sein. Dagegen gestalten sich
offenbar die Innervationsverhältnisse der Organe beim Gymnotus mehr
analog der Muskelinnervation der Fische überhaupt. Humboldt hatte
gefunden, dass man vom geköpften Zitteraal keinen Schlag mehr erhält,
so dass, wenn man ein Thier mitten durchhaut, nur noch die vordere
Hälfte schlägt, und auch die Erfahrungen von C. Sachs schienen
diese an sich auffallende Angabe zu bestätigen. Gleichwohl erhielt er
in einzelnen Fällen vom kopflosen Rumpfe „gewaltige Reflexschläge",
die sich sowohl fühlbar machten, wie auch durch starke Bussolausschläge
äusserten. Die Wirkungslosigkeit in der Mehrzahl der Fälle erklärte
er daraus, „dass durch Reflex immer nur kleinere Abschnitte der
Organe gleichzeitig in Thätigkeit gesetzt werden, wie auch beim ge-
wöhnlichen geköpften Aal auf örtliche Hautreizung nur mehr örtliche
Muskelzusammenziehungen erfolgen. Doch erscheint noch eine ge-
nauere Untersuchung dieser Streckenentladungen mittels aufgelegter
Froschschenkel erforderlich.
Sehr charakteristisch und allen Erwartungen entsprechend ge-
staltet sich dagegen das Resultat der Strychninvergiftung, deren
Wirksamkeit schon Matte ucci und BoU am Zitterrochen erprobt
hatten. Auch Marey bediente sich des Strychnins, um leicht und
sicher reflectorische Entladungen am Zitterrochen zu erhalten, und hat
den zeitlichen Verlauf des elektrischen S try chnintetanus
graphisch aufgeschrieben. Um die Thiere zu vergiften, löste er das
Gift im Seewasser ihi'es Behälters auf. Am Zitteraal beobachtete
Sachs nach Injection von Strychnin mächtige Krämpfe, begleitet von
oft wiederholten Einzelentladungen. Die Reflexerregbarkeit war aufs
Höchste gesteigert. „Leisestes Klopfen auf den Rand der dicken Holz-
wanne rief reflectorische Zuckung und Entladung hervor."
III. Der Schlag bei künstlicher Reizung der elektrischen
Nerven und der Centralorgane.
Wie aus der Berücksichtigung des anatomischen Baues unmittelbar
hervorgeht, sind unter den elektrischen Fischen der Zitteraal, sowie
Raja und Mormyrus am wenigsten geeignet für indirecte Reiz-
versuche der Organe, indem die anatomische Anordnung der noch
überdies sehr kurzen elektrischen Nerven der Herstellung von Nerv-
Organ-Präparaten grosse Schwierigkeiten bereitet. „Am Zitterwels legt
ein Schnitt, bei welchem kaum ein Tropfen Blut zu fliessen braucht,
in langer Strecke beide Nerven bloss, welche gleichsam von der Natur
präparirt sind. Aus dem Organ lassen sich mit der Scheere regel-
804 Die elektrischen Fische.
massige Streifen von beliebiger Länge und Breite schneiden, welche,
aussen durch Haut, innen durch Fascie begrenzt, ihre Gestalt vor-
züglich bewahren." Auch am Zitterrochen gelingt es, wiewohl nicht
ohne grösseren Eingriff, die vier vom Gehirn zum Organ ziehenden
Nerven zu präpariren und der Reizung zugänglich zu machen; dagegen
treten beim Zitteraal jederseits vom Kückenmark gegen dritthalb-
hundert Nerven an das Organ, „zu kurz, um ihrer eine grössere An-
zahl zu einem Bündel zusammenzufassen und, jeder einzelne eine zu
kurze Strecke des Organes beherrschend, um sich mit deren einem
begnügen zu können". (Du Bois-Reymond 4e p. 187.)
Um an Torpedo die nöthigen Präparationen unter gleichzeitiger
Controle der Thätigkeit der Organe vorzunehmen, empfiehlt Schönlein
(30) das Thier auf eine flache Schüssel aus Zink zu legen und
die Rückenhaut über dem Organ mit einer zweiten, entsprechend zu-
geschnittenen Zinkplatte zu bedecken ; ein mit beiden Belegungen
verbundenes Telephon giebt Nachricht über etwa erfolgte Entladungen.
Nach Durchschneidung der Medulla oblongata und Ausbohrung des
Rückenmarkes bietet dann die einfache Blosslegung der elektrischen
Nerven keine erheblichen Schwierigkeiten. Etwas umständlicher ist
schon die Darstellung eines nur aus beiden Organen und ihren zuge-
hörigen Nerven bestehenden Präparates.
Vom Charakter, der Tonhöhe und Klangfarbe des natürlichen
Torpedoschlages bei telephonischer Beobachtung war bereits oben
die Rede. Es ist dabei vor Allem beachtenswerth , dass derselbe
nicht nur für den Gefühls sinn, sondern auch für das
Ohr im Wesentlichen denselben Charakter darbietet,
wie eine rasche Folge von Inductionsströmen, so dass
es bei elektrischer Reizung des Thieres bisweilen nicht leicht ist,
im Telephon die auslösenden, stets hörbaren Ströme von dem ausge-
lösten Schlage zu unterscheiden. Dies ist aber in Folge einer ausser-
ordentlich auffallenden Verschiedenheit der Klangstärke stets leicht
möglich, wenn bei gleichem Rollenabstand die Elektroden bald
einem der elektrischen Nerven, bald dem blossgelegten Lobus elec-
tricus angelegt werden. Letzterenfalls schwillt der Ton plötzlich
„zur Stärke des Trompetenschalles an". Bei schwacher Reizung
und Anwendung des akustischen Stromunterbrechers hört man
dann häufig einen Ton von gleicher Höhe aber anderer Klangfarbe.
Bei öfters wiederholter Reizung kann die Tonhöhe wechseln, und
zwar während der Reizung in ganz continuirlichen Uebergängen.
Auch die elektrische Reizung der vor dem Lobus gelegenen Hirntheile
bewirkt gewöhnlich einen Schlag, dessen Klang dem der Spontan-
entladungen entspricht, also mit der Frequenz der Reizungen keine
Uebereinstimmung zeigt. Wie F. Röhmann (29) fand, scheint im
Lobus electricus von Torpedo in gewissem Sinne eine Art von
Localisation , d. h. eine bestimmte Gruppirung und Anordnung der
Ganglienzellen, gegeben zu sein, indem von bestimmten Stellen des
Lobus aus nur begrenzte Theile des Organes erregt werden können.
Als charakteristisch für jede spontane (willkürliche) oder reflectorische
Entladung eines elektrischen Organes darf es gelten, dass sie Avie
die w i 1 1 k ü r l i c h e M u s k e l c 0 n t r a c t i o n d i s c o n t i n u i r 1 i c h ist
und aus einer dicht gedrängten Reihe von kurzen
Stromstössen („Flux electrique", Marey) besteht, deren
jeder einem elementaren E r r e g u n g s i m p u 1 s entspricht.
Die elektrischen Fische. 805
aus welchen sich eine tetanische Muskelcontraction
zusammensetzt. Du Bois-Reymond schlägt daher vor, jede
solche elementare Entladung- als „Theilentladung" zu bezeichnen,
nicht zu verwechseln mit den früher erwähnten partiellen oder
Streckenentladungen des Organes. Die Zahl der Theilent-
ladungen, welche, wie Marey mittels des Marcel-Desprez' sehen
Signalschreibers, wie auch mittels des Capillarelektrometers und des
Telephons zeigte, einen Schlag zusammensetzen, hängt sehr von der
grösseren oder geringeren Energie ab, mit welcher das Thier reagirt,
und sinkt daher mit zunehmender Ermüdung oder Abkühlung. In
der Regel folgen sich etwa 25 Stösse mit einer Geschwindigkeit von
100 bis 200, im Mittel 150 p. See. Hieraus ergiebt sich eine Dauer
24
der Gesammtentladung von ---- -{- 0,07" = 0,23 See, wenn man für
die Dauer einer Theilentladung den von Marey für die Dauer eines
durch einen einmaligen Stromstoss vom Nerv aus erzeugten Organ-
schlages zu ^'l4" = 0,07" annimmt.
Die schwirrende Empfindung, welche, wie oben schon erwähnt
wurde, der Schlag der Zitterfische oft erzeugt, ist Du Bois-Rey-
mond nicht geneigt, auf den tetanischen Charakter der Entladung
zurückzuführen, indem die Theilentladungen sich zu rasch folgen und
eine Gesammtentladung zu kurz dauert; er meint vielmehr, „dass
diese Empfindung von aufeinander folgenden Gesammtentladungen her-
rührt, welche auch halb und halb verschmelzen mögen, so dass
Maxima und Minima der die Maxima der Theilentladungen ver-
bindenden Curve entstehen und so gleichsam eine doppelt tetanisirende
Ktenoi'de herauskommt" (4 e p, 239).
Unter den zur Verfügung stehenden künstlichen Reizmitteln ist
aus denselben Gründen, wie beim Nerv-Muskel-Präparat, auch hier zum
genaueren Studium der indirecten Organerregung eigentlich nur der
elektrische Strom verwendbar. Bei mechanischer Reizung (Kneifen
und Zerschneiden) der elektrischen Nerven von Torpedo hörte
Schönlein (30) „ein schabendes, sehr leises Geräusch" im Telephon,
zu dessen Wahrnehmung schon Ruhe im Experimentirzimmer gehört.
Zerquetschen der Nerven zwischen zwei Glasplatten giebt den gleichen
Erfolg. Dagegen erwies sich B a b u c h i n mechanische Reizung der
elektrischen Nerven von Malopterurus an allen Stellen sehr
wirksam. „Die Durchschneidung der Stammfasser, wie auch ihrer
Aeste mit den schärfsten Scheeren, Druck, Stich mit einem Dorne
oder mit einem spitz ausgezogenen Glasrohr bleibt nie erfolglos."
Chemische Reizung (Eintauchen in gesättigte Lösungen von Natron
oder Kalisalzen) erwies sich so gut wie ganz unwirksam. Bei elek-
trischer Reizung wirken einzelne Inductionsschläge,
wenn überhaupt, erst b e i s e h r h o h e r I n t e n s i t ä t. Sachs
konnte an einem Nerv-Organ-Präparat vom Zitteraal auch durch die
stärksten Einzelschläge des von einer Sternsäule getriebenen Schlitten-
inductoriums „keine irgend nennenswerthe Wirkung erzielen" (4e p. 192)
und fand auch die Schliessung und Oeffnung des Stromes von vier
Grove in beiden Richtungen unwirksam. Sachs scheint dies allein
auf eine besondere Eigenschaft der elektrischen Nerven, und nicht
sowohl der Organe zu beziehen, und schreibt den ersteren eine
„solidere molekulare Constitution" und ein „stabileres Gleichgewicht"
zu, als den Nerven anderer Thiere. Dem gegenüber betont nun Du
806 Die elektrischen Fische.
Bois-Reymoncl mit Recht die Rolle der elektrischen Platten
der Organe, indem er auf die Aehnlichkeit hinweist, welche zwischen
den Bedingungen besteht, unter welchen es gelingt, durch elektrische
Reizung sensibler Nerven Reflexbewegungen auszulösen mit jenen, wo
durch analoge Reizung Entladungen elektrischer Organe bewirkt
werden. „Leises Tetanisiren des sensiblen Nerven löst vom Rücken-
mark starke Reflexzuckungeu bestimmter Muskelgruppen aus; starke
einzelne Schläge bleiben unbeantwortet. Starke einzelne Schläge,
welche die elektrischen Nerven treffen, lösen keinen Schlag des
Organes aus, auf leises Tetanisiren der elektrischen Nerven antwortet
das Organ mit Tetanus. Die elektrischen Platten des Organes
verhalten sich also gegen die beiden Formen der Reizung der elek-
trischen Nerven, wie die Ganglienzellen des Rückenmarkes gegen die
nämlichen Formen der Reizung sensibler Nerven" (4 e p. 272). Eck-
hardt (11) hat übrigens die elektrischen Nerven von Torpedo
wiederholt und erfolgreich mit einzelnen Inductionsschlägen, sowie mit
dem Kettenstrome gereizt. Letzterenfalls beobachtete Schönlein (1. c.)
neuerdings ein eigenthümliches Verhalten von Nerv-Organ-Präparaten
des Zitterrochen. Bei Ableitung von einem Theilstück des Organes,
dessen Nerv der Strom von 16 Dan. und 6 Bunsen zugeleitet
wurde, ergab sich „je nach der Stromesrichtung beim Schliessen oder
Oeffnen des Reizkreises, oder auch bei beiden, eine einmalige
Bewegung der Scala, während des Stromschlusses ausserdem
noch eine dauernde Ablenkung", deren Sinn sich als unab-
hängig von der Stromesrichtung erwies. Der Verdacht auf Strom-
schleifen scheint dadurch ausgeschlossen, dass Zerschneiden mit
Wiederzusammenlegen der Schnittenden, sowie Unterbindung der
Nerven die Ablenkungen vollständig beseitigt. Eine ausreichende
Erklärung dieser an Elektrotonus erinnernden Erscheinung, die auch
Sachs beim Zitteraal beobachtet zu haben scheint (4e p. 189), lässt
sich zunächst nicht geben.
Nach dem bereits Mitgetheilten braucht kaum noch besonders
betont zu werden, dass die viel wirksamere tetanisirende Reizung
vom Nerven aus, gerade wie beim Muskel, eine discontinuirliche
Zustandsänderung des Organes, d. h. im Rhythmus der Reizung
erfolgende, wiederholte Entladungen bedingt, welche sich zu einem
ächten elektrischen Tetanus summiren, wie sich jederzeit leicht durch
den secundären Tetanus eines dem Organ anliegenden oder sonstwie in
den Kreis der Entladungen gebrachten stromprüfenden Froschschenkels
zeigen lässt. Bei Beobachtung mit Galvanometer und Fernrohr
beschreibt C. Sachs die Erscheinung des elektrischen Tetanus (bei
grossem Rollenabstand) am Zitteraalorgan folgendermaassen : „Der
Faden geht in absolut positivem Sinne (d. h. entsprechend der Schlag-
richtung) langsam in die Höhe, verweilt dort mit zuckenden Be-
wegungen nach oben und nach unten und sinkt nach kurzer Zeit
wieder herab, jedoch nicht bis zum Nullpunkt. Es kommt auch vor,
dass der Faden von der Höhe, auf der er zuerst stehen bleibt, plötz-
lich weiter emporsteigt. Beim Aufhören des Tetanus kehrt der Faden
rasch wie losgelassen zurück" (4 e p. 193). Es scheint, dass bei
tetanisirender Reizung des Organes vom Nerven aus die schnelle
Aufeinanderfolge der einzelnen Inductionsströme für den Erfolg sehr
wesentlich ist, indem möglichst rasches, mit der Hand bewirktes
Schliessen und Oeffnen des Kreises von vier Grove wirkungslos blieb.
Die elektrischen Fische. 807
Auch am Z i 1 1 e r w e 1 s erfolgen nach B a b u c h i n bei tetanisirender
Reizung des elektrischen Nerven discontinuirliche Entladungen, welche,
je nach der Lebensfähigkeit des Organ-Präparates, während längerer
oder kürzerer Zeit andauern. „Die Schläge sind für die Finger
empfindbar, und man bekommt den Eindruck, als ob die Finger das
Inductorium selber berührten."
Im Uebrigen fand Babuchin die elektrische Stammfaser von
Malopterurus auch gegen die tetanisirenden Ströme im Ganzen
wenig emphndlich. Doch scheint dies zum Theil mit von dem dicken
Perineurium abzuhängen, da sich zeigte, dass Ströme, welche die
dicke Stammfaser nicht zu erregen vermochten, von den dünneren
Zweigen derselben Wirkungen auslösten. Auch Schönlein (30)
fand bei tetanisirender Reizung der Organnerven von Torpedo
mittels des Rheotoms (zum Zweck der Bestimmung des zeitlichen
Verlaufes des Schlages) die Reizschwelle, im Vergleich zu der bei
Froschpräparaten benöthigten Reizstärke, auffallend hoch und ist
geneigt, dies lediglich auf die beträchtliche Dicke der elektrischen
Nerven zu beziehen. Dieselbe beträgt bei grösseren Exemplaren über
4 mm, und der Querschnitt übertrifft über 50 mal den eines mittleren
Froschischiadicus. Schönlein fand in der That, dass nach Auf-
faserung eines elektrischen Nerven, „bis die Bündel so dünn geworden
sind wie die Froschischiadici , die Rollenabstände, bei welchen man
eben reizen kann, in denselben Gebieten liegen wie beim Frosch",
eine Thatsache, die für die später zu erörternde Immunitätsfrage von
grosser Bedeutung ist.
Bei dem ausserordentlichen Reichthum der elektrischen Organe
an Nerven , zusammen mit der noch zu besprechenden relativen Un-
wirksamkeit des Curare, lässt selbstverständlich die directe, besonders
elektrische Reizung einen sicheren Schluss auf eine selbstständige
Erregbarkeit der Substanz der elektrischen Platten nicht immer zu.
Gleichwohl weisen gewisse Erfahrungen sicher auf ein solches
Verhalten hin. An ausgeschnittenen Säulen vom Zitterrochen hat
schon Matteucci erfolgreiche Versuche mit directer mechanischer
Reizung gemacht (durch Stechen , Schneiden etc.). Er sah dabei
stromprüfende Froschschenkel zucken, deren Nerven dem Präparate
angelegt waren. Du Bois-Reymond macht allerdings darauf auf-
merksam, dass Matteucci dabei, wie es scheint, stets „irgend ein
sichtbares Nervenästchen zu treffen suchte".
Am Zitterwels erhielt Babuchin (1) beim Zerschneiden des
Organes auch an Stellen , wo das unbewaffnete Auge keine Nerven-
fäserchen auf der inneren Fläche unterscheidet, „ziemlich starke
Schläge", und ebenso ist es S a c h s gelungen, durch leichte klatschende
Schläge mit der Fläche eines Lineals auf ein im Bussolkreis zwischen
unpolarisirbaren, ableitenden Elektroden eingeschaltetes (Jrganstück
wiederholt Ablenkungen zu erzielen, deren Grösse unverkennbar von
der Stärke der mechanischen Reizung abhing. Dasselbe war auch
der Fall bei Berührung des Präparates mit einem heissen Löthkolben.
Von besonderem Interesse erscheint jedoch die Wirkungsweise
chemischer Reizmittel, da hier am ehesten erwartet werden durfte,
eine Erregung der Platten unabhängig von den zutretenden, sich in
ihnen verästelnden Nerven zu erzielen. Legte Sachs auf die haut-
entblösste Seitenfläche des Längsschnittes eines 3 — 4 cm langen,
überall künstlich begrenzten Organstückes, das von seinen beiden
808
Die elektrischen Fische.
Querschnitten abgeleitet wurde, ein Stück Fliesspapier, so trat sofort
eine Ablenkung des Bussolmagneten im Sinne des Schlages hervor,
sobald aus einer Pipette Ammoniak auf das Papier gespritzt wurde,
das bekanntlich einen starken Reiz für
den Muskel biklet, Nerven dagegen nicht
merklich erregt. Benetzung eines Quer-
schnittes gab dagegen an demselben
Präparate keine merkliche Wirkung (4 e
p. 178), Avas wohl darauf beruhen dürfte,
dass letzterenfalls das Ammoniak nur
schwer durch die Querscheidewände hin-
durchdringt, während es leicht „in die
durch den Längsschnitt eröffneten oberen
und unteren Spalte aller unter der be-
netzten Stelle des Fliesspapiers gelegenen
Fächer eindringt".
Um die Wirkung directer elektri-
scher Reizung zu prüfen, leitete Sachs
zunächst einzelne Inductionsschläge mit-
tels unpolarisirbarer Elektroden einem
auf den Bäuschen der Du Bois-Reymond'-
schen Zinktröge liegenden prismatischen
Organstücke in der Weise zu, wie dies
die beistehende Figur 271 versinnlicht.
Man sieht, dass hierbei unter allen Um-
ständen Stromschleifen in den Bussolkreis
einbrechen müssen, deren Wirkung an
sich zunächst ermittelt und natürlich bei
Beurtheilung der Versuchsresultate stets
sorgfältig berücksichtigt werden muss.
Es ergab sich hierbei vor Allem die
nicht eben auffallende Thatsache, dass
die Schliessungsschläge das Organpräpa-
rat nicht erregen, Avährend OefFnungs-
inductionsströme wirksame Schläge aus-
zulösen vermögen. Es verhält sich also
das elektrische Organ ähnlich wie die
meisten irritablen Substanzen. Bemer-
kenswerth ist ferner noch, dass, wie es
nach Sachs' Versuchen scheint, dem
Organschlag entgegengesetzt gerichtete
Oeffnungsschläge stärker erregend wir-
ken, als dem Organschlag gleich gerichtete,
was Schönlein bei Versuchen an
Torpedo nicht bestätigt fand. Am
schwächsten scheinen quer durch das
Organ gehende Inductionsschläge zu wir-
ken. Rasch aufeinander folgende Induc-
tions-(Wechsel-)Ströme (Tetanisiren) be-
wirken schon bei einem Rollenabstand
starke Ablenkungen im Sinne des Schlages, wo einzelne Oeffnungs-
schläge unter sonst günstigsten Verhältnissen noch gar nicht oder nur
spurweise wirken. Es kehrt also hier dasselbe Verhalten wieder, wie
Fig. 271.
Die elektrischen Fische. 809
bei Erregung von Ganglien- und Drüsenzellen, sowie allen träger
reagirenden contractilen Substanzen.
Das einfache Mittel der Curarisirung, welches uns bei den
Muskeln der meisten Wirbelthiere so leicht ermöglicht, unter Aus-
schluss der Nerven zu experimentiren, versagt leider fast gänzlich bei
den elektrischen (Jrganen, indem die Zitterüsche mit den Fischen
überhaupt und insbesondere mit den Rochen die Eigenthümlichkeit
theilen, gegen Curare relativ immun zu sein, Ist dies schon bei den
Muskelnerven sehr deutlich, so gilt es in nur noch viel höherem
Grade von den elektrischen Organen und ihren Nerven, die noch
viel später gelähmt werden. Bei Anwendung sehr grosser Gaben
von Curare gelang es jedoch Steiner (o3) und später Ran vi er und
Boll (4e p. 194), wie vordem auch schon Marey, nicht nur die
Muskelnerven, sondern weiterhin auch die elektrischen Nerven des
Zitterrochen zu lähmen. Begreiflicherweise tritt die Wirkung viel
rascher ein, wenn das Gift direct ins Blut gelangt, als wenn es
subcutan oder in die Bauchhöhle eingespritzt wird. So genügt nach
Babuchin ersterenfalls 1 ccm einer 2^/o Lösung, um binnen 15 bis
20 Min. einen erwachsenen Zitterrochen vollständig motorisch zu
lähmen, während die elektrischen Organe immer noch reflectorisch
erregbar blieben ; subcutan war die dreifache Gabe erforderlich.
Aehnlich verhält sich nach demselben Forscher auch der Zitter-
wels. Schoenlein theilt mir mit, dass zur Erzielung eines voll-
ständigen Effectes, in welchem Falle auch die directe Reiz-
barkeit der Organe gänzlich aufgehoben erscheint,
enorme Dosen des Giftes erforderlich sind (15 ccm einer 4 ^!o Lösung
^= Ö Decigramm Curare), auch wenn die Injection direct ins Blut
(die vorderste Kiemenarterie) erfolgt. Sofort nach Injection der ersten
5 ccm erfolgen mit dem Beginn eines Opisthotonus ein oder zwei
sehr heftige Schläge, woran sich ein schnell abnehmender Tetanus der
Organe anschliesst. Es lassen sich aber auch dann noch lange durch
Berührung schwache reflectorische Entladungen erzielen , wenn nicht
eine zweite und meist noch eine dritte Lijection erfolgt, nach welch'
letzterer man immer noch etwa 20 Minuten zu warten hat. Schön-
lein ist geneigt, für diese hohe Immunität gegen Curare die lange
Kreislaufsdauer verantwortlich zu machen. Armand Moreau (23)
konnte eine Wirkung des Curare auf den elektrischen Nerven von
Torpedo nicht constatiren. Es ist leicht, durch subcutane Injection
von etwa V2 ccm einer 1 "/o Lösung kleinere Torpedos völlig zu
lähmen, so dass auf Reizung des Rückenmarkes oder motorischer
Nerven keine Spur von Bewegung erfolgt ; nichtsdestoweniger bewirkte
mechanische Reizung der Haut reflectorische Entladungen von gleicher
Stärke wie vor der Vergiftung.
Am Zitteraal hat Sachs zwei Versuche mit Curare angestellt,
aus denen sich wieder ergiebt, dass durch sehr grosse Dosen völlige
Lähmung der elektrischen Nerven bewirkt werden kann. Tetani-
sirende Reizung derselben gab bei normalem Rollenabstand gar keine
an der Bussole merkliche Wirkung, während directe Reizung
noch sehr starke Ablenkungen hervorrief, was auch bei
Einwirkung von Ammoniak vom Längsschnitt des Organpräparates
aus der Fall war. Nach dem Gesagten dürfen jedoch diese Erfah-
rungen keineswegs als Beweise für die selbstständige Irritabilität
Biedermann, Elektrophysiologie. 52
glO Die elektrischen Fische.
der elektrischen Platten angesehen werden, welche letztere Schön-
lein auf Grund der Curareversuche lediglich als „Nervenendigung"
auffasst.
IV. Die zeitlichen Verhältnisse des Zitterüschschlages.
Bei den nahen Beziehungen der Mehrzahl, vielleicht sogar aller
elektrischen Organe zu quergestreiften Muskeln hat es natürlich beson-
deres Interesse, den zeitlichen Verlauf der Zuckung resp. der dieselbe
begleitenden Actionsströme mit dem des Schlages zu vergleichen. Vor
Allem handelt es sich um die Frage, ob bei einmaliger momentaner
Reizung der dadurch ausgelösten elementaren Entladung des Organes
ein Latenzstadium entspricht oder nicht. Beim Zitterrochen wurde
dieselbe zuerst von Marey bejahend entschieden. Mittels eines Pendel-
myographions konnte der Kreis, in welchem sich nebst dem vom Nerven
aus durch einen einzelnen Inductionsschlag gereizten Organe noch
ein stromprüfender Froschschenkel befand, zu beliebiger Zeit nach
dem Moment der Reizung vorübergehend geschlossen werden, wobei
Fig. 272. e = Muskelzuckuug als Marke des Eeizmomentes. eg = Latenzstadium der
direct durch einen Inductionsschlag- ausgelösten Muskelzuckung, et = Latenzstadium der
durch den Organschlag ausgelösten Zuckung, gt = Latenzzeit des elektrischen Organes.
aus dem Schlag ein ^'200" langes Stück ausgeschnitten wurde. Dieses
Stück, welches sich am Schenkel als Zuckung bemerkbar machte,
konnte also gleichsam längs dem Schlage verschoben werden, so dass
einerseits die Gesammtdauer desselben (Vu"), andererseits aber das
Vorhandensein einer merklichen Latenz festgestellt werden konnte,
indem eine gewisse Verschiebung des auszuschneidenden Stückes vom
Augenblick der Reizung ab nöthig war, damit überhaupt eine Zuckung
erschien. Die Zeit, welche dabei zur Fortleitung der Erregung vom
Nerv bis zum Organ verfliesst, glaubte Marey wegen der Kürze
der Nerven vernachlässigen zu dürfen.
Ein anderes Verfahren von Marey war jenem schon früher er-
wähnten Versuch von Helmholtz nachgebildet, durch welchen der
die secundäre Zuckung auslösende Theil der negativen Schwankung
des Muskelstromes bestimmt werden sollte. Es werden zwei Zuckungen
eines Froschmuskelpräparates graphisch verzeichnet, deren eine direct
durch einen Inductionsschlag ausgelöst wird, während die andere
Die elektrischen Fische. 811
durch den Schlag des Organes bewirkt ist, der seinerseits durch den
Inductionsstrom bei gleicher Stellung der Zeichenplatte erzeugt wird
(Fig. 272). Die Verschiebung der Zuckungscurven entspricht dem
Latenzstadium des Schlages, weniger der bei der Nervenleitung ver-
lorenen Zeit, welche wieder vernachlässigt wurde, obschon Marey
bereits bemerkt zu haben glaubt, dass im elektrischen Nerv die
Erregung sich langsamer als im Froschnerv fortpflanzt, was in
der Folge von J o 1 y e t und G o t c h bestätigt wurde. G o t c h
bestimmte an einem Nerv-Organ-Präparat den ersten Beginn der
Bussolwirkung, wenn einmal an einer möglichst entfernten und dann
an einer nahe dem Organ gelegenen Stelle des Nerven gereizt wurde.
Betrug der Unterschied der Entfernungen 13 mm, so begann die
Bussolwirkung ^/looo" früher bei Reizung an der dem Organ näheren
Stelle; daraus ergiebt sich eine Fortpflanzungsgeschwindigkeit von
6,5 m pro Secunde (bei 12*^ C), die in einem anderen Falle zu 7,3 m
gefunden wurde. Schönlein fand neuerdings beträchtlich grössere
Werthe (12—27 m) und hält sie überhaupt für gleicher Ordnung mit
der des Frosches.
Aus den erwähnten Versuchen von Marey schien sich eine
Latenzdauer des Zitterrochenschlages von 0,01 " zu ergeben, also ein
Werth, der mit dem von Helmholtz ursprünglich für die Zuckung
des Froschmuskels gefundenen übereinstimmt. Wie aber hier, so er-
gaben auch spätere Versuche am elektrischen Organ, dass, wenn ein
Latenzstadium des Schlages in dem Sinne überhaupt existirt, dass die
denselben bedingenden Veränderungen der Plattensubstanz erst nach
Beginn der Reizung sich zu entwickeln anfangen, was an sich nach
Analogie der elektrischen Phänomene am Muskel nicht wahrschein-
lich ist, dasselbe jedenfalls viel kleiner sein müsste, als der zuerst
gefundene Werth.
Sachs, welcher mittels einer Methode, die im Allgemeinen der
zweiten Marey 'sehen entsprach, am Zitteraal experimentirte,
musste wegen der Unmöglichkeit Organpräparate vom Nerv aus
durch einzelne Inductionsschläge zu erregen, zur d i r e c t e n Reizung
durch Oefi'nungsschläge seine Zuflucht nehmen und bediente sich
ausserdem der Po uillet'schen Methode der Zeitmessung. Die Ver-
suchsanordnung ergiebt sich aus dem beistehenden Schema (Fig. 273).
Man sieht das Organstück ( VH) zwischen den Thonschildern der
Zuleitungsgefässe liegen, von welchen Drähte zu der Doppelwippe
(DW) führen. Eben dahin führen auch Drähte von den dem Organ
angelegten unpolarisirbaren Elektroden, die den Oeffnungsschlag der
secundären Rolle (SR) zuführen; dieser wird durch die Helm-
holtz'sche Wippe (TT^TFi) in demselben Moment durch Oeffnung bei
Wi ausgelöst, in welchem durch jene auch der zeitmessende Kreis
bei W geschlossen wird. Bei der Lage der Doppelwippe wie in B
bleibt, wie man sieht, das Organpräparat ungereizt und der Oeffnungs-
schlag erregt d i r e c t den Nerven des Froschmuskels ; der zeitmessende
Strom ist dabei nur während der Zeit geschlossen, die über Fort-
pflanzung und Latenz der Reizung im Nerv und Muskel hingeht,
indem der sich contrahirende Muskel den Stromkreis der Bussole bei
H öffnet. Im Falle Ä wird dagegen das Froschpräparat durch den
Schlag des Organpräparates gereizt und die Schliessungszeit des Bussol-
kreises ist dem entsprechend länger als das Latenzstadium des Schlages,
Dasselbe berechnet sich nach der von Du Bois-Reymond für den
52*
812
Die elektrischen Fische.
aperiodischen Magneten entwickelten Formel T= ^ x, worin
F die Ablenkung durch den stetig fliessenden Strom, (e) die Basis der
natürlichen Logarithmen, (x) den durch den Stromstoss erzeugten Aus-
schlag und (tmax)
die Dauer dieses oder
eines beliebigen an-
dern Ausschlages unter
denselben Umständen
bedeutet.
So fand Sachs
einen Werth von
0,00350", der, wie man
sieht, mit dem von
Gad für das Muskel-
element angenom-
menen Werth des
Latenzstadiums nahe
übereinstimmt. Gotch
bestimmte dasselbe an
Torpedo bei 5° C.
zu 0,012 bis 0,014",
bei 20*^ C. dagegen
zu nur 0,005". Stets
fand er diesen Zeit-
werth bei grossen
Exemplaren kleiner
als bei kleinen, was
nicht allein auf die
grössere Stärke des
Schlages im ersteren
Falle bezogen werden
kann. Schönlein
fand bei indirecter
Reizung von Torpedo-
präparaten mit abstei-
gend gerichteten Ket-
tenströmen mittels des
Bernstein'schen Rheo-
toms gar nur ein
Latenzstadium von
0,0002—0,00025 Se-
cunden. Da, wie schon
erwähnt, nicht anzunehmen ist, dass zwischen dem Moment der Ein-
wirkung eines Reizes und dem- Beginn des der elektromotorischen
Folgewirkung zu Grunde liegenden chemischen Processes in einer Platte
des elektrischen Organes wirklich eine wenn auch noch so kurze Zeit
verfliesst, so muss man wohl die Thatsache einer scheinbaren Latenz-
zeit des Schlages beim elektrischen Organ lediglich auf die UnvoU-
kommenheit unserer Untersuchungsmethoden beziehen.
Wie das Latenzstadium , so scheint auch die Dauer des
Schlages der elektrischen Organe im Allgemeinen eine Grösse
gleicher Ordnung mit der Muskelzuckung zu sein. Schon 1857 zeigte
B
Fig. 273.
Die elektrischen Fische.
813
dies Du B o i s - R e y m o n d mittels des Froschunterbrechers, indem er
dem Nerv des M. gastrocnemius vom Frosch einen vom Schlag des
Zitteraalorganes abgeleiteten Stromzweig zuführte, und durch den
zuckenden Muskel den Bussolkreis öffnen Hess; bei zunehmender
üeberlastuug des Muskels gehen dann immer grössere Anfangsab-
schnitte, und wenn man andernfalls durch die Zuckung eine Neben-
schliessung zur Bussole wegräumen lässt,
immer kleinere Endabschnitte des Schlages
durch's Galvanometer. „Bei hinreichen-
der Ueberlastung ei-reicht man einen
Punkt, wo im ersten Falle die Ablen-
kung des Spiegels durch den Schlag nicht
mehr wächst, im zweiten bei nicht pola-
risirbaren (Ableitungs-) Sätteln nur noch
ein schwacher und unbeständiger Rest
des Schlages erscheint." Später be-
stimmte dann, wie schon erwähnt, avich
Marey mittels des Pendelmyographions
die Schlagdauer beim Zitterrochen zu
etwa ^/i4 ". Nach DuBois-Reymond's
Versuchsplan experimentirte Sachs am
Zitteraal. Seine Anordnung ergiebt sich
aus Fig. 274.
Dem im Wasser befindlichen Fisch
sind Ableitungssättel aufgelegt, von wel-
chen Drähte den Strom durch den Bus-
solkreis führen, in dem sich der Frosch-
unterbrecher (G^ii) befindet. Im Fisch-
troge liegen ausserdem zwei Kupfer-
elektroden (EUi), deren Drähte sich
zum Muskel (6ri) des Froschweckers und
zu dem (6rii) des Froschunterbrechers
gabeln. Jener wird unmittelbar gereizt,
was die grosse Stärke des Zitteraalschlages
erlaubt, dieser (mittels der Reizungsröhre)
vom Nerven aus. „Bei der in der Figur
abgebildeten Lage der Wippe bildet der
Hebel des Unterbrechers einen Theil des
Versuchskreises. Die ausgezogenen Pfeile
zeigen den entsprechenden Lauf des
Stromes. Bei der anderen Lage der
Wippe wird der Hebel zur Nebenleitung ;
dieser Stromvertheilung entsprechen die punktirten Pfeile."
Eines anderen, sehr mannigfacher Anwendung fähigen Verfahrens
bediente sich neuerdings Gotch bei seinen zahlreichen zeitmessenden
Versuchen an Torpedo. Der Apparat ist im Wesentlichen dem
Du B 0 i s - R e y m 0 n d 'sehen Federmyographion nachgebildet. Drei
Contacte (K^ K,, /ig), welche der Reihe nach durch den vorüber-
fliegenden Läufer geöffnet wurden, waren in der Weise verbunden,
wie es die beistehende Fig. 275 zeigt. {K^) öffnet den Kreis der
primären Spirale eines Schlittenapparates, dessen Oeffnungsschlag dem
isTerven eines Organpräitarates zugeführt wird. p]in entsprechender
Theil des ausgelösten Schlages kann erst dann auf die Bussole wirken,
Fig. 274.
814
Die elektrischen Fische.
wenn durch Oeffnung von {K2) eine Nebenschliessung zum Bussolkreis
beseitigt ist. Endlich wird der letztere selbst (durch K^) dauernd
geöffnet; so dass der Organschlag nur so lange auf die Bussole wirkt,
als Zeit verfliesst zwischen der Oeffnung von K^ und /tg. Der Läufer
durchflog seine Bahn so rasch, dass diese Zeit bis auf 0,001 " verkleinert
werden konnte.
Fij^. 275. Schema
der Versuchsanord-
iiung' zur Bestim-
mung- der Schlag-
dauer des Torpedo-
schlages.
(Nach Gotch.)
U
Fio-. 276.
Es ergab sich, dass, wenn Ko 0,01" nach K^ geöffnet wurde,
während j^3 allmählich von K2 entfernt werden konnte, die Wirkung
auf das Galvanometer schon ^^/looo" nach der Reizung des Nerven
merklich wurde und nach -^/looo voll entwickelt ist. Im Uebrigen
hängt, wie zu erwarten war, die Schnelligkeit der Reaction sehr von
der jeweiligen Temperatur ab.
Die elektrischen Fische.
815
Wie aus der beistehenden graphischen Darstelhmg von Grotch (Fig.
276) zu ersehen ist, in welcher die Ordinatenwerthe den Galvanometer-
ablenkungen, die Zahlen (10, 20, 30 etc.) der Abscisse Tausendstel
Secunden und ihr Anfang dem Reizmoment entsprechen, erreicht der
Organschlag nach dem Stadium der latenten Reizung äusserst rasch
seinen maximalen Werth, der umgekehrt wie die Latenzzeit bei grossen
krcäftigen Exemplaren (Curve a) bedeutend grösser ausfallt, als bei
kleineren (Curve h). Viel langsamer klingt die Wirkung wieder ab,
indem sie allmählich in eine Nachwirkung im Sinne des
Schlages übergeht, die selbst nach einmaliger kurz-
dauernder Reizung minutenlang anhält. Rund würde sich
die Dauer des Schlages hiernach für kräftige Thiere auf 0,04 — 0,06"
belaufen, wenn bei Zimmertemperatur mit OefFnungsinductionsschlägen
gereizt wird. Schön lein bestimmte die Schlagdauer zu 0,008" und
darunter, ein Werth, der mit dem von Gotch bei directer Total-
reizung eines Säulenbündels erhaltenen Zahlen gut übereinstimmt.
Schon Jolyet hatte gelegentlich bei seinen zeitmessenden Ver-
suchen ein Auf- und Abschwanken der Entladung des Organes bei
Reizung der Nerven mit einem einzelnen Inductionsschlage beobachtet
und auf zeitliche Verschiedenheiten im Beginne des Schlages ver-
schiedener Organtheile bezogen. Gotch konnte dieselbe Erscheinung
auch subjectiv wahrnehmen, wenn er den Nerven eines zwischen den
Fingern gehaltenen Organpräparates mit je einem raschen Scheeren-
schlag durchschnitt. In völlig überzeugender Weise liess sich dann
die wellenförmige Gestalt der Entladungscurve mit mehrfachen (bis
zu 4) Gipfeln nach jedem Einzelreiz mittels des Federrheotoms
sowohl an grösseren Organstücken, wie selbst noch an Bündeln von
nur wenigen Säulen feststellen. Die folgende Tabelle zeigt den Ver-
lauf einer solchen Versuchsreihe und lässt erkennen, dass etwa ^/loo"
nach dem ersten Maximum der Entladung ein zweites schwächeres
und wieder ^/loo" später noch ein drittes wieder schwächeres Maximum
hervortritt.
Galvano-
meter
Kg -Kg
0,01"
bis
0,0125"
Kg-K3
0,0125"
bis
0,015"
K2-K3
0,015"
bis
0,0175"
Kg — K3
0,0175"
bis
0,02"
Kg— K3
0,02"
bis
0,0225"
Kg— K3
0,0225"
bis
0,025"
Kg-K3
0,025"
bis
0,0275"
1
100
0
+48
+367
+316
+75
+ 120
+225
I. Max.
IL Max.
Galvano-
meter
Kg-Kg
0,0275"
bis
0,03"
K2-K3
0,03"
bis
0,0325"
Kg-K3
0,0325"
bis
0,035"
Kg-K3
0,035"
bis
0,0375"
Kg— K3
0,0375"
bis
0,04"
Kg-K3
0,04"
bis
0,0425"
Kg-K3
0,0425"
bis
0,045"
1
lÖÜ
+212
+89
+64
+98
+130
+30
+24
I
III. Max.
81 ü I^ie elektrischen Fische.
Noch übersichtlicher tritt dies bei graphischer Darstellung hervor
(Fig. 277).
Auch S c h ö n 1 e i n constatirte dieselbe Erscheinung bei Unter-
suchung des durch einen einzelnen Inductionsstrom ausgelösten
Torpedoschlages mittels des Berns te in 'sehen Rheotoms, wobei sich
wieder ein zwei- bis dreimaliges Ansteigen und Sinken der Ausschläge
zeigte. „Zumeist, aber nicht immer, ist der erste Gipfel höher als
der zweite, und wenn letzterer der höhere ist, so sind die Unterschiede
der Gipfelhöhen gewöhnlich kleiner als im andern Falle. Der zwischen
ihnen liegende Einschnitt ist sehr tief und reicht nicht selten bis zur
Abscisse, ohne jedoch dieselbe nach der andern Seite jemals zu über-
schreiten." Die Dauer der einzelnen Theilentladungen ist nur wenig
Fig. 277.
verschieden. Bemerkenswerther Weise erhält man dieselben mehr-
gipflichen Curvenformen auch bei gleichartiger Reizung des Lobus
electricus, so dass es fraglich erscheint, ob letzterenfalls Ganglienzellen
oder auch nur Nervenfasern erregt werden.
Wirklich einfache, eingipfelige Schlagcurven , entsprechend
einer einmaligen, nicht ose illir enden Entladung des Torpedo-
Organs beobachtete S c h ö n 1 e i n nur bei Reizung des Nerven mit
einzelnen absteigend gerichteten Stromstössen, wie sie durch das
Rheotom geliefert werden, wenn in den Reizkreis etwa 30 Daniell
eingeschaltet sind. Bei Reizung mit aufsteigenden Kettenströmen
fällt vor Allem auf, dass die Entladung in der Regel viel später
beginnt und langsamer anwächst, als bei absteigender Stromesrichtung.
Im Uebrigen hängt der Verlauf der Erscheinungen sehr von der
Länge der intrapolaren Strecke ab und kann das Latenzstadium bei
40 — 50 mm Werthe von 0,0055 — 0,004 Secunden erreichen. Bei
kürzerer interpolarer Strecke hebt sich an der Schwankungscurve
häufig ein „Vorgipfel" ab, „dessen Latenz gegen den Schlag bei ab-
Die elektrischen Fische.
817
steigendem Strome gelegentlich Null, oft aber auch eine gut messbare
Grösse ist", und dessen Entstehung Schönlein darauf zurückführt,
dass durch die anelektrotonische Hemmung an der Anode bei jedem
einzelnen Stromstöss (von 0,001 " Dauer) nicht nur die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit, sondern auch die Intensität der Erregung vermindert
Avird. Es war zu erwarten, dass der durch Nervenreizung ausgelöste
Schlag eines Organprcäparates genügen würde, um ein zweites, in dem-
selben Kreise eingeschaltetes Präparat direct zu erregen. Wie die
beistehenden schematischen Zeichnungen (Fig. 278) unmittelbar erkennen
lassen, muss dann entweder eine Summation oder eine Subtraction der
Galvanometerwirkungen erfolgen. Dies ist, wie die von Gotch mit
Hülfe des Federrheotoms ausgeführten Versuche zeigen, in der That
der Fall; regelmässig machte sich die betreffende, durch den Schlag
Fig. 278. Erregung eines Organpräparates durch den Schlag eines anderen, vom
Nerven aus gereizten. (Nach Gotch.)
des Nerv-Orgau-Präparates bewirkte Veränderung (Verstärkung oder
Schwächung) des Galvanometererfolges etwa 0,01 " nach dem Maximum
des ersteren bemerkbar. Unter diesen Umständen musste man daran
denken, ob nicht eine Selbsterregung des Organes durch seinen eigenen,
irgendwie ausgelösten Schlag erfolgen kann und vielleicht immer er-
folgt. Gotch bezieht in der That die oben besprochene Vielgipflich-
keit der Schlagcurven bei Reizung mit einzelnen Oeffnungsinductions-
schlägen im Wesentlichen darauf, dass der Strom eines Theiles der
sich in Folge der Nervenreizung entladenden Säulen andere zu einem
nochmaligen Schlage anregt, so dass die späteren Entladungen
gewissermaassen Analoga der secundären Zuckung Avären. Schön-
lein macht gegen diese Auffassung geltend, dass dann wohl auch
oscillirende Entladungen bei kurzer Schliessung von Kettenströmen zu
erwarten sein würden, was, wie erwähnt, nicht der Fall ist.
813 Dife elektrischen Fische.
V. Die Frage der Immunität der Zitterflsche gegen den
eigenen Schlag.
Mit Rücksicht auf die Stärke der physiologischen Wirkungen des
Schlages der elektrischen Fische muss es gewiss in hohem Maasse
befremdlich erscheinen, dass die mächtigsten Entladungen, welche
Fische oder andere Thiere in der Umgebung sofort zu tödten im
Stande sind, dem Träger der elektrischen Batterien selbst anscheinend
nicht das Geringste anhaben, obschon „der Leib eines Zitterlisches
zur Aufnahme des Schlages seiner eigenen Organe günstiger angelegt
ist, als der irgendwie genäherte Leib eines anderen Thieres". (Du Bois-
Reymond.)
Schon Humboldt stellte Versuche am Zitteraal an, aus denen die
Unemptindlichkeit der Thiere gegen die kräftigsten Schläge ihresgleichen
hervorzugehen schien. Er wählte einen starken und zwei ganz schwache
Zitteraale und lagerte sie so, dass die beiden schwachen Fische seinem
eigenen Körper den Schlag des starken Fisches zuführten. Die beiden
schwachen Fische blieben völlig unbewegt. Er wirft dabei die Frage
auf, ob etwa die Haut ihnen Schutz gewähre gegen die elektrischen
Ströme, eine Meinung, die in der That vor Du Bois-Reymond's
„vorläufigem Abriss" fast allgemein verbreitet war. Dieser zeigte
zuerst am Zitterwels, dass zwei bis auf ihre Spitzen isolirte, durch
Mund und After eingeführte Drähte bei beliebiger Stellung den Schlag
aufnehmen und der Theorie entsprechend nach aussen leiten, zum
Beweise, dass wirklich der Schlag durch den Leib des Fisches geht,
was wunderlicher Weise noch von deSanctis 1872 bestritten wurde.
Ausserdem erwiesen sich die Zitterwelse gegen andere elektrische
Schläge ebenso wenig empfindlich wie gegen die eigenen. „Wechsel-
ströme des Inductoriums, welche hiesige Flussfische rasch tödteten,
spürte der Zitterwels kaum; nur legten sich seine Bartfäden zurück,
und er stellte sich mit seinem Körper senkrecht auf die Stromcurven
kleinster Dichte; auch gab er sein Missfallen dann und wann durch
Entladen seiner eigenen Batterien zu erkennen." Einen sterbenden
Zitterwels , der sich in einem kleinen parallelepipedischen Glastrog
befand, den er fast ausfüllte, reizte Du B o i s - R e y m o n d (4 d, H. p. 640)
mit dem Schlitteninductorium bei übergeschobenen Rollen und zwei
Grove im Hauptkreis, ohne dass die ruhige Athmung aufhörte oder
ein Schlag erfolgt wäre. Ebenso unempfindlich erwies er sich dem
Constanten Strom einer dreissiggliedrigen Grove'schen Säule gegenüber,
was um so beachtenswerther ist, als man vielleicht hätte daran denken
können, die relative Immunität auf den zeitlichen Vei'lauf der Ströme
zu beziehen (etwa wie bei glatten Muskeln). Wie mir übrigens
Schönlein mittheilt, konnte er mit einem Inductionsapparat von
der doppelten der gewöhnlichen Grösse, in dessen primärem Kreise
4 Bunsen'sche Elemente eingeschaltet waren, auch bei Cephalo-
poden, Krebsen und verschiedenen Fischen nicht den ge-
ringsten Keizeffect erzielen, wenn der eine bis auf die Spitze isolirte
Poldraht den Thieren bis auf 1 cm Distanz genähert wurde, während
der andere Pol mit einer kleinen Bodenplatte des Behälters ver-
bunden war.
Gegen den eigenen Schlag fand Sachs auch den Zitteraal völlig
immun. „Zehn Gymnoten," erzählt er, „waren in der Mitte der Canoa
Die elektrischen Fische. 819
(Boot) ruhig ausgestreckt, fast alle dicht neben einander. Ich hatte
meinen Finger in der Entfernung von drei Fuss ins Wasser getaucht
und berührte den Rücken des grössten Thieres unsanft mit einem
Stabe. Mehrere urtheilsfähige Personen waren beauftragt, die Thiere
zu beobachten, jeder ein bestimmtes; ich erhielt trotz der grossen
Entfernung einen empfindlichen Schlag. Keines der Thiere zeigte
auch nur die allergeringste Spur von Bewegung" (4 d p. 267).
Gleichwohl ist, wie sich unmittelbar aus dem Vorhergehenden
ergiebt, diese Immunität keine absolute. B abuchin sah einen kleinen
Zitterwels, der einen grösseren seitlich mit Bissen anfiel, sogleich weit
zurückfahren, während gleichzeitig der eingetauchte Finger einen
Schlag erhielt, und Steiner, dessen Beobachtungen G. Fritsch
bestätigte, sah bisweilen kleine Zitterrochen, in Berührung mit grossen,
bei dem Schlage zucken. Schönlein (1. c) erM^ähnt, dass, wenn
trächtige Torpedoweibchen nach Entnahme der Embryonen noch lebend
übereinander geschichtet werden, niemals Bewegungen eines Einzel-
thieres erfolgen. „Sie liegen vielmehr entweder alle schlaff da oder
werden alle zusammen plötzlich steif, wie ein Frosch, dem man das
Rückenmark ausbohrt. Wenn das geschieht, spürt man auch in der
Hand deutlich einen Regen von elektrischen Schlägen, der sich durch
den ganzen Thierhaufen hindurch ergiesst. Hierbei zucken Alle
ohn e Ausnahm e." Je frischer und gesunder ein Thier (Torpedo)
ist (Kennzeichen: hochgewölbter Rücken, geringes Hervortreten der
Conturen der Organe), desto sicherer ist nach Schön lein dai'auf zu
rechnen, dass es auf jeden Schlag mitzuckt.
Da die elektrischen Nerven, wie durch künstliche Ströme, so auch
durch den Organschlag selbst erregt werden, so könnte es sich bei der
relativen Immunität der Zitterfische höchstens um quantitative
Unterschiede in Bezug auf die Reizschwelle ihrer Nerven
im Vergleich zu den Nerven anderer Thiere handeln, für welche An-
nahme auf den ersten Blick mancherlei Thatsachen zu sprechen
scheinen, B o 1 1 prüfte seiner Zeit vergleichend den Nerven eines Frosch-
schenkels und den ersten Spinalnerven von Torpedo bei tetanisirender
Reizung mit dem Schlittenapparat mittels der von Rosenthal zur
Bestimmung des Unterschiedes der Erregbarkeit von Nerven und
Muskeln angewendeten Methode. Stets erfolgte die Contraction der
Froschmuskeln bei grösserem, meist sogar bei viel grösserem Rollen-
abstand als die der Zitterrochenmuskeln. Hierher gehört wohl auch
eine Beobachtung von Humboldt, dem es zu seinem Erstaunen
nicht gelang, an blossgelegten Muskeln und Muskelnerven des Zitter-
aales mittels einer einfachen Kette (Silberzink) Zuckungen zu erzielen,
obschon dies unter gleichen Umständen an andern Thieren gelang.
Gegen die Versuche von B oll hat neuerdings Schönlein berechtigte
Einwände erhoben und sich auch dagegen verwahrt, dass seine
eigenen, schon oben erwähnten Erfahrungen über anscheinend
sehr schwere Reizbarkeit der elektrischen Nerven zu Gunsten der
Immunitätslehre verwerthet werden. Jedenfalls erscheinen weitere
vergleichende Untersuchungen in dieser Richtung dringend erforder-
lich, ehe daran gedacht werden kann, eine ausreichende Erklärung
der anscheinend weitgehenden Immunität der Zitterfische gegen elek-
trische Entladungen irgendwelcher Art zu geben. Dass eine solche
wirklich vorhanden ist, scheint mir vor Allem aus dem Verhalten
der stärksten elektrischen Fische (Gymnotus und Malopter urus)
320 Diß elektrischen Fische.
hervorzugehen j deren Schläge für andere Thiere tödtlich werden
können. An zum Theil sehr eigenartigen Erklärungsversuchen hat es
nicht gefehlt. So äusserte Pflüg er seiner Zeit den Gedanken, es
möchten vielleicht die Thiere im Augenblicke des Schlages ihre eigenen
Nerven vom Centralorgan aus in einen dem Anelektrotonus ähnlichen
Zustand herabgesetzter Erregbarkeit versetzen und so gleichsam gegen
den Schlag stählen können. Indessen würde, abgesehen von anderen
Gegengründen , nicht einzusehen sein , warum dann auch die Zitter-
fische gegen die Entladungen anderer Individuen, sowie gegen künst-
liche elektrische Ströme „gestählt" sein sollten. Eigens zur Prüfung
des Gedankens angestellte Versuche von Du Bois-Reymond und
Boll haben denn auch durchaus negative Resultate ergeben.
YI. Der aiigel)liche „Ruhestrom" der
Für die theoretische Auffassung der Wirkungsweise der elektrischen
Organe ist natürlich die Frage von grossem Belang, ob dieselben
schon während der Ruhe in gesetzmässiger Weise elektromotorisch
wirken, oder ob dies nur im Zustande der Erregung der Fall ist.
Es kehrt hier, wie man sieht, in veränderter Form dasselbe Problem
wieder, welches in Bezug auf den Muskel den Gegenstand jenes schon
früher erörterten, langen und heftig geführten Streites zwischen
Du Bois-Reymond und Hermann bildete, der wohl endgültig als
zu Gunsten des Letzteren entschieden angesehen werden kann. Wenn,
wie es feststeht, gewisse elektrische Organe als umgewandelte, einer
speciellen Function angepasste Muskeln angesehen werden können, so
erscheint es von vorneherein sehr wahrscheinlich, dass der Schlag des
Organes nichts weiter darstellt, als den „Actionsstrom" des „speciali-
sirten Muskels", welcher letztere im Ruhezustande ebensowenig nach
aussen wirken dürfte, wie es wirkliche Muskeln thun. In der That
lauten alle vorliegenden Angaben dahin, dass der Ruhestrom elektrischer
Organe, wenn überhaupt vorhanden, äusserst schwach gefunden Avird.
Du Bois-Reymond selbst fand bereits das Zitterwelsorgan in der
Ruhe gänzlich unwirksam (4d, II. p. 672, p. 718). Es „zeigte weder
etwas dem Muskelstrom Aehnliches, noch wirkte es säulenartig im
Sinne des Schlages". Nach Eckhardt (1. c.) verhält es sich ganz
ebenso hinsichtlich des Zitterrochenorganes, an dem Zantedeschi
und Matteucci schwache beständige Wirkungen im Sinne des Schlages
beobachtet hatten. Freilich handelt es sich auch hier um relativ sehr
schwache und geringfügige Wirkungen. Der Erstere fand alle Punkte
der Rückenfläche dauernd positiv gegen alle Punkte der Bauchfläche
und alle dem Gehirn näheren Punkte der ersteren positiv, der letzteren
negativ gegen alle davon entfernten. Matteucci setzte einem Stück
Organ im Multiplicatorkreise Froschgastrocnemien entgegen, von denen
sich einer als schwächer, zwei, säulenartig angeordnet, dagegen als
stärker erwiesen als das Organ. Er beobachtete ausserdem, dass
die dauernden Spannungsdifferenzen zwischen Rücken
und Bauch fläche „nach jedem dem Präparat durch elek-
trische oder mechanische Reizung der noch damit ver-
bundenen Nerven entlockten Schlage vorübergehend
sich heben" und bei niederer Temperatur selbst nach
Tagen nachgewiesen werden konnten.
Die elektrischen Fische. 821
C. S a c h s , für den es, wie Du Bois-Reymond sich ausdrückt,
eine der vornehmsten ihm gestellten Aufgaben war, das Verhalten
des ruhenden Organes beim Zitteraal zu prüfen, beobachtete bei Ab-
leitung von beiden Polflächen, d. h. den Querschnitten am Kopf und
Schwanzende der Säulen ausnahmslos einen Strom im Sinne des
Schlages („Organstrom", Du Bois-Reymond), dessen Kraft aber
wieder durch ihre äusserst geringe Grösse auffällt. Sie entsprach ge-
wöhnlich nur der eines mit Längs- und Querschnitt aufliegenden
stärkeren Nerven oder schwächeren Muskels (0,15 — 0,03 Dan.), obschon
es sich um Stücke von etwa 4 cm Länge und 6—7 qcm Querschnitt
handelte. Da auf 4 cm Organlänge etwa 400 Fächer kommen,
so beträgt für jedes Fach die Organstromkraft nur — ^ — - ~ ' —
= 0,0000375 — 0,000075 Dan. Auch zwischen zwei Punkten des
natürlichen Längsschnittes (d. h. dem natürlichen seitlichen Umfang
des Organes) zeigte sich ein schwacher Strom im Sinne des Schlages.
Du Bois-Reymond leitete nach Ausstanzen des elektrischen Lappens
beim Zitterrochen entweder von der Haut der Rücken- und Bauch-
fiäche des vertikal frei aufgehängten Fisches ab oder präparirte mit
Scheere und Messer vierseitig-prismatische Organstücke heraus, die
aus einer massigen Zahl von Säulen bestanden und an der Rücken-
und Bauchfläche durch ein quadratisches Stück Haut von 5 — 6 mm
Seite begrenzt waren. Ersterenfalls zeigte sich stets ein Strom im
Sinne des Schlages. „Er war am stärksten, wenn die höchsten Säulen
am medialen Rande des Organs zwischen den (Ableitungs-)Bäuschen
sich befanden, und ward schwächer in dem Maasse, wie die Bäusche
dem dünnei-en, seitlichen Rande des Organs sich näherten" (4g). An
den ausgeschnittenen Stücken Hessen sich ausserdem auch Spannungs-
differenzen im gleichen Sinne bei Ableitung von zwei Punkten der
Seitenfläche des Prismas nachweisen, deren Grösse mit dem Abstand
der Ableitungsstellen zunahm. Die Ablenkungen waren aber
im einen wie im andern Falle sehr gering (zwischen 3 und
23 Scalentheilen) ; auch die elektromotorische Kraft war meist erheblich
kleiner als die Nervenstromkraft bei Fischen (0,005 — 0,013 Raoult).
Für die einzelne Platte berechnet hiermit Du Bois-Reymond einen
mittleren Kraftwerth von 0,0000117 Dan., also dreimal kleiner als der
für die einzelne Zitteraalplatte bestimmte.
Wie vordem schon Eckhardt (11), so glaubte neuerdings auch
Gotch (13) diesen schwachen Wirkungen während der „Ruhe" keine
irgend wesentliche Bedeutung beimessen zu sollen, zumal er dieselben
in Fällen ganz vermisste, wo es sich um frisch gefangene, gänzlich
unversehrte Thiere handelte. An zehn Fischen erhielt er bei Ab-
leitung von zwei der Mitte eines Organes entsprechenden, einander
gegenüber liegenden Punkten der Haut am Rücken und Bauch sehr
schwache und noch überdies wechselnde Wirkungen, welche sechsmal
im Sinne des Schlages, viermal verkehrt ausfielen, und seiner Ansicht
nach nur durch Hautungleichartigkeiten bedingt gewesen sein dürften.
So wenig die Mögliclikeit, ja Wahrscheinlichkeit einer Einmischung
von Hautströmen, deren Vorhandensein überdies Du Bois-Reymond
selbst bei Torpedo nachwies, geleugnet werden kann, so muss doch
andererseits auch zugegeben werden, dass unter Umständen (freilich
nicht im wirklichen physiologischen Ruhezustand der Organe) gesetz-
mässige Spannungsdifferenzen auch am sonst ganz unversehrten Thier
822 Die elektrischen Fische.
vorkommen können und, wie gezeigt wurde, thatsächlich vorkommen,
welche, wie Du Bois-Reymond bemerkt, „von derselben, nur viel
schwächeren wirksamen Anordnung elektromotorische Kräfte ausgehen,
welche unter dem Einlluss der Nerven oder bei unmittelbarer Reizung
den Schlag erzeugt". Unter diesen Umständen ist die Vermuthung
naheliegend, dass der „Organstrom" „eine Nachwirkung des Schlages
sei, der ja unmerklich in ihn übergeht". Und an einer anderen
Stelle bemerkt Du Bois-Reymond hiermit in Uebereinstimmung,
dass die Organstromkraft aller Wahrscheinlichkeit nach „als hinter-
bleibender Theil des Schlages" anzusehen sei, während „das
Sinken, in Avelchem man sie stets begriffen trifft, die langsame Fort-
setzung der ungleich schnelleren, aber doch nicht ganz plötzlichen
Abnahme des Schlages" darstellt. Endlich erklärt Du Bois-Rey-
mond die negativen Erfahrungen von Gotch betreffs des Organ-
stromes unversehrter, ruhender Zitterrochen damit, dass die betreffenden
Thiere „offenbar seit längerer Zeit nicht geschlagen hatten, die Nach-
wirkung der letzten Schläge war unmerklich geworden, und deshalb
gaben sie keinen Organstrom".
Man sieht leicht, dass hiermit die Präexistenz elektromotorischer
Kräfte im Ruhezustand der Organe thatsächlich geleugnet und die
etwa vorhandenen Wirkungen ganz im Sinne von Eckhardt und
Gotch gedeutet werden.
Da die Herstellung eines Organpräparates naturgemäss nicht ohne
Reizung desselben erfolgen kann, so ist leicht begreiflich, dass die
Kraft derartiger Präparate bisweilen recht erheblich sein kann.
Schon ein Schnitt durch das Organ in der Nähe der von Bauch- und
Rückenfläche ableitenden Elektroden kann, wie Gotch fand, einen
im verkehrten Sinne zufällig vorhandenen, sehr schwachen Strom in
einen etwas stärkeren, im Sinne des Schlages gerichteten verwandeln,
„Durch weitere Schnitte, welche das abgeleitete Stück so umgrenzten,
dass es nur noch medianwärts in seinem natürlichen Zusammenhang
blieb, wurde die Kraft im richtigen Sinne noch vermehrt, zuletzt bis
zu 0,0015 Raoult. Wurde durch folgeweise geführte transversale
Schnitte eine dadurch gewonnene keilförmige Scheibe des Organs
mehr und mehr verschmälert und schliesslich durch sagittale Schnitte
auf ein Bündel von nur wenigen Säulen reducirt, so fand sich nach
jedem Schnitte die Organstromkraft etwas erhöht, sank aber im
Laufe weniger Minuten wieder tief herab." Die stärksten
Wirkungen erzielte Gotch dadurch , dass er herausgeschnittene
Säulenbündel für ganz kurze Zeit in heisses Wasser tauchte und zwei
Minuten später von Bauch- und Rückenfläche ableitete. Es erreichte
dabei die Kraft (im Sinne des Schlages) Werthe bis zu 0,0226, ja
0,0336 Raoult, sankaberwieder binnen einer Viertelstunde
auf ganz gewöhnliche Grössen herab. Dass es sich dabei
nicht etwa um hydrothermische Wirkungen handelte, geht aus dem
Umstände hervor, dass auch oberflächliches Verbrühen der dorsalen
und ventralen Hälfte der Säulen die Ki'aft im Sinne des Schlages
steigerte.
Auch am Rochenschwanz beobachteten B u r d o n - S a n d e r s o n
und Gotch (13 c) bisweilen einen im Sinne des Schlages gerichteten
„Ruhestrom" bei Ableitung vom Vordei-- und Hinterende. Bei
Organpräparaten ist ein solcher meist viel kräftiger entwickelt,
besonders nach momentaner Einwirkung hoher Temperatur (Eintauchen
Die elektrischen Fische. 823
in heisses Wasser). Jede künstliche oder natürliche Reizung des
Organes bedingt eine mehr oder weniger ausgesprochene „Nach-
wirkung" („after-effect") im Sinne der Schlagrichtung, welche nur
ganz allmählich abklingt.
Man kann nach diesen Versuchen nicht in Zweifel sein, dass es
sich hier in der That um Folgewirkungen einer durch den (mecha-
nischen resp. thermischen) Reiz bedingten, langsam abklingenden
Erregung der Säulen des elektrischen Organes handelt, wobei der
Vorgang in jeder Platte etwa der nur ganz allmählich schwindenden
Negativität einer durch Veratrin veränderten und durch einen kurz
dauernden Reiz erregten Muskelstrecke vergleichbar sein würde. Es
scheint mir dies in gewissem Sinne ein mehr anschauliches Beispiel,
als das von Gotch gewählte des gewöhnlichen Demarcationsstromes
des Muskels, obschon ja im Grunde beide Phänomene auf dieselbe
Ursache, das Ueberwiegen der Dissimilationsprocesse über die gleich-
zeitige Assimilation, zurückzuführen sind. Wie sich beim Muskel die
Dauererregung durch Negativität der betreffenden Strecken verräth,
so äussert sie sich beim elektrischen Organ dadurch, dass es schwach
elektromotorisch thätig wird in demselben Sinne, in welchem es bei
Ausübung seiner Function stark elektromotorisch wirkt. Wenn Du
Bois-Reymond diese Gegenüberstellung von Gotch für „logisch
verfehlt" erklärt, so würde es nicht schwer sein, die vorgebrachten
Gegengründe zu widerlegen; indessen scheint dies kaum nöthig, da
es sich ja doch im Grunde nur um die Frage handelt, ob unter den
erwähnten Umständen eine dauernde Erregung des elektrischen
Organes im Sinne des Schlages angenommen werden kann oder nicht,
und Du Bois-Reymond selbst das erstere zugiebt. Denn wie
anders liesse sich sonst der Satz verstehen, dass der Organstrom nur
„eine Nachwirkung des Schlages ist, der unmerklich in ihn übergeht",
und dass er „von derselben nur viel schwächer wirksamen Anordnung
elektromotorischer Kräfte ausgeht, welche unter dem Einfluss der
Nerven oder bei unmittelbarer Reizung den Schlag erzeugt". Es
bleibt dann aber, wie schon Hermann (14) hervorhob, vom Stand-
punkte der Theorie des Letzteren, soferne man sie auf die elektrischen
Organe überträgt, ebensowenig eine nennenswerthe Schwierigkeit
zurück, wie vom Standpunkte der Du Bois-Reymond 'sehen
Molekularhypothese. Im Uebrigen will es mir scheinen, als ob die
von Du Bois-Reymond so sehr betonte Differenz zwischen
seiner und Gotch's Auffassung des Organstromes gar nicht bestünde,
indem die „Dauererregung" doch wohl auch nur als Folge der
Nachwirkung einer vorhergehenden wirksamen Reizung zu deuten ist.
VII. Die secimdar-elektromotorischen Erscheinungen
Ganz besonderes Gewicht legte Du Bois-Reymond auf das
Studium jener Gruppe von elektromotorischen Wirkungen, welche,
auch an Muskeln und Nerven als Nachwirkungen künstlicher Durch-
strömung auftretend, von ihm zuerst näher untersucht Avurden. Kann
die grosse Bedeutung derselben für die Theorie der Stromeswirkungen
nicht bezweifelt werden, soweit es sich um Muskeln und Nerven handelt,
so scheint dagegen der viel complicirtere Bau der elektrischen Organe
824 Die elektrischen Fische.
zunächst weniger geeignet, imi aus derartigen Versuchen weitergehende
Schlüsse zu ziehen, wenn man wie beim Muskel und Nerv annehmen
darf, dass jene Nachwirkungen theils als Erregungs-, theils auch wohl
als physikalische Polarisationserscheinungen aufzufassen sind. Wirkt
der eine Strecke des Organes durchsetzende Strom, wie kaum zu
bezweifeln ist, polar erregend, und zwar an jeder einzelnen Platte für
sich, und sind etwa die bindegewebigen Scheidewände der Sitz ächter
(negativer) Polarisation, so sieht man leicht, dass bei der säulenartigen
Anordnung jener Elemente daraus innerhalb jeder beliebigen Theil-
strecke complicirte positive wie negative Wirkungen resultiren können,
ja müssen, die zu entwirren im einzelnen Falle nur schwer gelingen
wird.
Als besonders bemerkenswerth hatte es Du Bois-Reymond
seiner Zeit bezeichnet, dass das elektrische Organ (des Zitterwelses)
neben negativen, durch ächte, innere Polarisation bewirkten Nach-
strömen auch „positive Polarisation" zeigt, welche Erscheinung
beim Muskel später als Folgewirkung der (Oeffnungs-)Erregung gedeutet
wurde. Es liegt nahe, eine analoge Beziehung zum physiologischen
Erregungsvorgang auch beim elektrischen Organ zu vermuthen. Ehe
aber auf diesen Punkt näher eingegangen werden kann, erübrigt es
zunächst, die wesentlichsten Thatsachen betreffs der Polarisations-
erscheinungen selbst zu schildern.
Legt man an ein überlebendes Stück Zitterwelsorgan, welches,
wie erwähnt, für gewöhnlich stromlos erscheint, unpolarisirbare
Elektroden an , welche zugleich als ableitende und stromzuführende
dienen, indem mittels einer geeigneten Vorrichtung zunächst ein
Kettenstrom von bestimmter Stärke und Dauer zugeführt und gleich
darauf (nach Oeffnung des polarisirenden Kreises) der Bussolkreis
geschlossen wird, wie dies bereits früher beim Muskel geschildert
wurde, so findet man das Organpräparat in der Regel vorübergehend
elektromotorisch wirksam geworden (polarisirt), und zwar bei geringer
Stromdichte ausnahmslos zunächst im Sinne eines dem Reizstrom
entgegengesetzten, negativen Nachstromes. Diese negative Polarisation
findet beim Zitterwelsorgan nach beiden Richtungen (dem
Schlage gleichgerichtet und ihm entgegen) mit gleicher Stärke
statt und wächst mit dem Producte aus Dichte und Dauer bis zu
noch unerforschter Grenze. Die positive Polarisation tritt,
wie beim Muskel und Nerv, immer erst bei höherer
Stromdichte hervor und las st sich, wie Du Bois-Rey-
mond zeigte, rein am sichersten durch kurzdauernde
Ströme zum Vorschein bringen, da ihre Stärke mit der
Dauer des Reizstromes minder schnell als die negative Polarisation
wächst. Sehr bemerkenswerth ist die ebenfalls schon von Du Bois-
Reymond festgestellte grössere Stärke der positiven
Polarisation im Sinne des Organschlages. „Unter denselben
Umständen, unter denen der Strom vom Schwanz zum Kopfe negative
Polarisation erzeugt, erzeugt der Strom vom Kopf zum Schwänze
starke positive Polarisation" (4 d p. 206). Wie leicht ersichtlich, ist in
jedem Falle, wo beide Polarisationen gleichzeitig auftreten, der
jeweilig erscheinende wirkliche Nachstrom, die algebraische Summe der
beiden entgegengesetzten Wirkungen, und es wird leicht verständlich,
dass unter Umständen auch doppelsinnige (erst negative, dann positive)
Ausschläge oder Oscillationen des Magneten erfolgen können.
Die elektrischen Fische. 825
Ganz analoge Ergebnisse erhielt aucli Sachs an Organstreifen
des Zitteraales, mit dem unwesentlichen Unterschied, dass hier die
Polarisation stets negativ begann , während Du B o i s - R e y m o n d
am Zitterwelsorgan unter gewissen Umständen rein positive Ausschläge
erhielt, was aber wohl nur auf zu geringer Dichte der Sachs zur
Verfügung stehenden Ströme beruhen dürfte. (DuBois-Reymond
sandte durch Streifen Zitterwelsorgan von kaum ^/2qcm Querschnitt
den Strom von 20 bis 30 Grove.)
In der Folge fand Du Bois- Rey m ond in Berlin Gelegenheit,
derartige Polarisationsversuche auch am Zitterrochen anstellen zu
können, ohne mit dem Material besonders sparen zu müssen (4g — i).
Zum Verständniss des Folgenden sei bemerkt, dass ein Strom im
Sinne des Schlages als homodrom, im entgegengesetzten Falle als
heterodrom, ein dem polarisirenden Strom entgegengesetzt ge-
richteter Nachstrom als relativ negativ, andernfalls als relativ
positiv, ein Nachstrom im Sinne des Schlages (also homodrom)
als absolut positiv, andernfalls als absolut negativ bezeichnet
wird.
Du Bois-Reymond benützte prismatische Stücke des Organes,
welchen der polarisirende Strom durch die mit Haut bedeckten End-
flächen zugeführt wurde, während zur Aufnahme des Polarisations-
stromes ein zweites Paar unpolarisirbarer Elektroden dienten, deren
Thonspitzen dem Präparate zwischen den den polarisirenden Strom
zuführenden Thonschildern anliegen. Auch hier trat wieder unter ge-
wissen Umständen , namentlich bei kurzer Schliessung
stärkerer Ströme, eine positive Polarisation hervor, oder es erfolgten
doppelsinnige Wirkungen : erst negative, dann positive Ausschläge.
Stets zeigt sich die positive Polarisation, wie auch beim Muskel, ab-
hängiger vom Ueberleben, dem normalen physiologischen Zustand des
Präparates. „Bei gesunkener Leistungsfähigkeit bleibt zuletzt nur
noch negative Polarisation übrig, doch dauert es lange, bis die positive
ganz vermisst wird. Ausserordentlich auffällig machen sich immer
Beziehungen der Polarisation zur Richtung des polari-
sirenden Stromes bemerkbar." Sachs hatte beim Zitteraal ge-
funden, dass „der negative Polarisationsstrom stets stärker im Sinne
des Schlages erfolgt", und auch Du Bois-Reymond konnte beim
Zitterrochen feststellen, dass zwar soAvohl homodrome (dem Schlag
gleichgerichtete) wie h e t e r o d r o m e Ströme (nach längerer
Schliessungszeit oder an minder leistungsfähigen Präparaten) relativ
(d. h. in Bezug auf die Richtung des polarisirenden Stromes) negative
Polarisation geben, aber immer merklich stärker bei Anwendung eines
homodromen Stromes. Der scheinbare Widerspruch dieser Befunde
und der ursprünglichen Beobachtung von Du Bois-Reymond, nach
welcher beim Zitterwelsorgan die negative Polarisation sich als unab-
hängig von der Stromesrichtung erweist, findet seine Erklärung in
dem Umstände, dass weder beim Zitterwels noch beim
Zitterrochen der heterodrome Strom jemals an der
Bussole nachweisbare relativ positive Polarisation er-
zeugt. Auch doppelsinnige, zuerst relativ negative, dann positive
Polarisation kommt nur bei homodromem Sti'ome vor. Nimmt man
nun an, „dass beide Ströme in gleichem Maasse relativ negativ polari-
siren, dass aber der homodrome Strom sehr viel stärker als
der heterodrome oder allein relativ positiv polarisirt,
Biedermann, Elektrophysiologie, 53
826
Die elektrischen Fische.
SO dass die heterodrome relativ positive Polarisation
(wenn überhaupt vorhanden) stets durch die relativ
negative verdeckt wird", so wird das Verhalten aller drei
elektrischen Fische ein ganz übereinstimmendes, und es erscheint so-
wohl das von Sachs und Du Bois-Reymond beobachtete Ver-
halten der stärkeren relativ negativen Polarisation bei homodromem
Strom, wie auch das Du Bo is-Reymond' sehe Ergebniss am Zitter-
aal verständlich, indem der auf die Bussole wirkende resultirende
Polarisationsstrom in verschiedenen Stadien eines Versuches sehr ver-
schiedene Werthe annehmen kann. Die beistehenden Curven sollen
dazu dienen, diese verwickelten Interferenzwirkungen beider gleich-
zeitig vorhandenen Polarisationen, die sich aus naheliegenden Gründen
Fig. 279.
nicht wie beim Muskel trennen lassen, zu versinnlichen (Du Bois-
Reymond 4g p. 36). Die Fig. 279 stellt (nach D u B o i s - R e y m o n d)
abgekürzt den Vorgang bei einer Versuchsreihe dar, in der die beiden
Ströme abwechselnd durch ein Stück Organ gesandt werden. Die
Abscissenaxen sind die Zeit. Die Ordinatenaxen in den einzelnen
Abschnitten (I, II, III, IV, welche verschiedenen Stadien des Ver-
suches entsprechen) entsprechen dem Augenblick der Schliessung der
Bussole nach Oeffnung der Säulenkreises,
Absolut positive (in der Richtung des Schlages, d. i. vom Bauch
zum Rücken erfolgende) Polarisation ist oberhalb, absolut negative
unterhalb der Abscissenaxe aufgetragen. Bei homodromem Strom
(obere Reihe nach aufsteigendem Pfeil) entspricht Verlauf der Curve
oberhalb der Abscissenaxe absolut und relativ positiver, Verlauf
unterhalb absolut und relativ negativer Polarisation. Bei hetero-
Die elektrisclieu Fische. 827
dromem Strom (untere Reihe nach absteigendem Pfeil) entspricht
Verlauf der Curve oberhalb absolut positiver (relativ negativer),
Verlauf unterhalb absolut negativer, relativ positiver Polarisation.
Der auf die Bussole wirkende resultirende Polarisationsstrom ist in
jedem Abschnitt durch den schraffirten Flächenraum dargestellt,
welchen die aus der algebraischen Summation der beiden Polari-
sationen resultirende Curve mit den Coordinatenaxen einschliesst".
Man sieht, die relativ negative Polarisation ist bei beiden Strömen
gleich gross, während dagegen die relativ positive Polarisation ausser-
ordentlich verschieden erscheint (vielleicht bei heterodromem Strom
ganz fehlt). Als Resultirende erscheint am frischen, leistungsfähigen
Präparat (I) im Beginn des Versuches in beiden Fällen absolut posi-
tive Polarisation (die bei heterodromem Strom zugleich relativ
negativ ist) von ungleicher Grösse. In einem folgenden Stadium
kann sich dies Verhältniss der Grösse umkehren (II); endlich wird
die homodrome resultirende Polarisation absolut (und relativ) negativ,
aber immer noch kleiner als die relativ negative heterodrome Polari-
sation (III), bis schliesslich bei beiden Stromesrichtungen gleiche
relativ negative Polarisation resultirt (IV). Sachs sah also offenbar
das Stadium III , Du Bois-Reymond am Zitterwels das
Stadium IV.
Das Resultat dieser, sowie späterer Versuche von Gotch (1. c.)
lässt sich kurz dahin zusammenfassen, dass Kettenströme jeder Stärke
und beliebiger Richtung, längere Zeit durch ein Organpräparat ge-
leitet, stets relativ negative Nachströme geben, deren Stärke bei homo-
dromer Richtung des polarisirenden Stromes stets erheblich grösser
ist, als bei heterod romer Richtung. Stärkere homodrome Ströme von
einer gewissen Schwelle an und nur kurzdauernd geben starke,
sehr allmählich sinkende, absolut und relativ positive Nachströme
(positive innere Polarisation, Du Bois-Reymond). Heterodrome
Ströme von gleicher Stärke und Dauer geben im Allgemeinen
schwächere relativ negative, absolut positive Nachströme (innere
Polarisation, Du Bois-R eymond).
Da die Stärke der relativ negativen Nachströme (der negativen
Polarisation), deren Ursache vielleicht zum Theil auf physikalischer
innerer Polarisation beruhen dürfte, vor Allem von der Schliessungs-
dauer des Stromes abhängt, so lässt sich erwarten, dass die so äusserst
kurzdaueimden , inducirten Ströme besonders geeignet sein werden,
um bei homodromer Richtung eine gleichsinnige Nachwirkung
hervorzurufen.
Welche Rolle die Schliessungsdauer auch bei Anwendung von
Kettenströmen besitzt, zeigt die folgende Tabelle nach Gotch:
Momentschluss (7 Grove) homodrom; Galvanometerausschlag -j-50 (homodrom)
\" Schliessung „ „ „ — 52 (heterodrom)
Momentschluss „ „ „ -|-80 (homodrom)
1" Schliessung- „ „ „ — 40 (heterodrom).
Mittels eines noch zu beschreibenden Apparates schickte Gotch
einen Oeffnungsinductionsschlag bald in der einen, bald in der anderen
Richtung durch ein Organpräparat, welches sich nebst der secundären
Spirale und einem Widerstand von 10 000 Ohm im Bussolkreis be-
fand; 0,003" nach (Jeffnung des primären Kreises wirkte der volle,
durch die Abgleichung des Inductionsstromes erzeugte Nachstrom des
53*
828 Die elektrischen Fische.
Präparates auf die Bussole. In einem Versuche an einem Organstreifen
von 16 mm Lcänge 7 mm Breite und 2 mm Dicke ergaben sich (mit
drei Grove im primären Kreise und 5 cm Rollenabstand) folgende
Werthe der Ablenkung:
Oeffnungsschlag heterodrom . 150 (homodrom)
„ homodrom . . 650 „
„ heterodrom .180 „
„ homodrom . , 780 „
Wie man sieht, ist der Reizerfolg des horaodromen Stromes sehr
viel stärker als der des heterodromen. Doch ist dies, wie Gotch
zeigte, nicht ausnahmslos der Fall. Bisweilen lässt sich ein Unter-
schied der (erregenden) Wirkung beider Ströme nicht erkennen, oder
es wirkt sogar der heterodrome Strom stärker als der homodrome.
Gotch ist geneigt, dies mit der von Eckhardt beobachteten That-
sache in Zusammenhang zu bringen, dass vom Nerven aus absteigend
gerichtete Inductionsströme stärker erregend wirken, indem der
homodrome Strom die Mehrzahl der feineren Nerven zweige in ab-
steigender Richtung durchfliesst. Die Ausnahmen lassen sich dann
vielleicht darauf zurückführen, dass gelegentlich grössere Nerven-
stämmchen im Organpräparat so verlaufen, dass sie vom heterodromen
Strom absteigend durchflössen werden und eine wirksame Erregung
bewirken.
Mit der Stärke des Reizstromes wächst im Allgemeinen der
galvanische Reizerfolg des homodromen Stromes und lässt sich noch
viele Stunden nach dem Ausschneiden des Präparates nachweisen,
verschwindet dagegen völlig nach Abbrühen desselben. Stets macht
sich auch hier wie bei indirecter Reizung ein sehr langsames, minuten-
lang währendes Abklingen der elektromotorischen Wii'kung bemerk-
bar, wie denn überhaupt die Entwicklung und der zeitliche Verlauf
derselben durchaus mit dem durch indirecte Reizung ausgelösten
Schlage übereinstimmt.
Wichtig ist die von Gotch beobachtete Thatsache, dass par-
tielle Längsdurchströmung eines Organpräparates einen Reizerfolg
(Nachstrom) nur allein innerhalb der durchflossenen Strecke auslöst,
nicht aber auch extrapolar. Es geht daraus überzeugend hervor, dass
die Erregung sich in der Längsrichtung der Säulen
nicht von einer Platte auf die andern überträgt. Es
scheint, dass jede Platte physiologisch völlig von allen anderen isolirt
ist und eine Gesammtentladung einer ganzen Säule nur
erfolgen kann, wenn entweder alle, dieselbe versorgen-
den Nerven gereizt w e i- d e n , oder wenn ein elektrischer
Strom alle Fächer der Reihe nach durchsetzt.
Hinsichtlich der Deutung des absolut und relativ positiven Nach-
stromes bei Anwendung homodromer Reizströme erinnert Du B o i s -
Reymond an zwei Möglichkeiten:
1. Hesse er sich, wie auch der Ruhe-(Organ-)Strom, als Nach-
wirkung eines durch elektrische Reizung ausgelösten Schlages
auffassen ;
2. liesse er sich im Sinne der Molekulartheorie deuten „als Folge
einer durch den homodromen Strom unmittelbar bewirkten,
säulenartigen Anordnung der elektromotorischen Molekeln".
In Bezug auf die letzterwähnte Auffassung sei hier erwähnt, dass
Du B 0 i s - R ey m 0 n d zur Erklärung des Plattenschlages, d. h. der
Die elektrischen Fische. 829
elektromotorischen Wirkung jeder einzelnen Platte des Organs, eine
Zusammensetzung derselben aus dipolaren Molekeln ganz ähnlicher
Art ausnahm wie die, welche den elektrischen Erscheinungen an
Muskeln und Nerven zu Grunde liegen sollten. Im Zustand der Ruhe
kehren dieselben ihre Pole entweder nach allen möglichen oder zu
zweien nach entgegengesetzten Richtungen, so dass ihre Wirkung
nach aussen verschwindet. Beim Schlage dagegen würden sie
„sämmtlich ihre positiven Pole schnell der Fläche des Organes zu-
kehren, von welcher der positive Strom ausgeht". Die Molekeln
denkt sich Du Bois-Reymond „als verschiebbare und um ihren
Schwerpunkt drehbare Herde einer im Sinne ihrer Axe stattfindenden,
chemischen Thätigkeit, derselben etwa, welche die Athmung der
Organe ausmacht". „Es können mehrere Molekeln hinter einander in
der Dicke der Platte liegen, so dass die Organe Säulen von noch
ungleich grösserer Gliederzahl wären, als sie schon vermöge der An-
zahl der Platten vorstellen."
Nimmt man beim Organschlag einen plötzlichen Uebergang der
dipolaren Molekeln aus der „peripolaren" in die „säulenartige" An-
ordnung an, so stimmt, wie man leicht sieht, der sich hier abspielende
Vorgang vollkommen mit dem überein, welchen D u Bois-Reymond
seiner Zeit zur Erklärung des (galvanischen) Elektro tonus markhaltiger
Nerven angenommen hatte.
Wenn schon bei Muskeln und Nerven von (Drüsen- und Pflanzen-
strömen gar nicht zu reden) die Molekularhypothese sich als unfähig
erweist, ohne Hei-anziehung der gewagtesten Hülfshypothesen die Ge-
sammtheit der Erscheinungen zu erklären, so wird man in Hinblick
auf die elektrischen Organe als aus jenen hervorgegangenen Gebilden
nur um so mehr Grund haben, dieselbe zurückzuweisen, zumal sich,
wie mir scheint, vom Standpunkte der „ Alterations theorie" aus alle
bisher bekannten Wirkungen der Organe ohne irgend erhebliche
Schwierigkeiten deuten lassen, wenn man nur von der Grundvor-
stellung ausgeht, dass unter dem Einfluss der Nervenerregung
chemische Differenzen innerhalb jeder Platte auftreten, welche zu
einer Spannungsdifferenz der beiden Grenzflächen in dem gegebenen
Sinne führen.
Es bleibt daher für uns auch nur die, wie Du Bois-Reymond
selbst zugiebt (4 g, p. 46), durch die stärksten Gründe gestützte An-
nahme übrig, dass die absolut und relativ positive Polari-
sation der elektrischen Organe durch den homodromen
Strom nichts weiter ist, als die Nachwirkung des durch
denselben ausgelösten Schlages.
Es hat sogar grosse Schwierigkeit, den homodromen positiven
Nachstrom nicht als ein Abklingen einer vorhergehenden Erregung
anzusehen, selbst wenn man sich auf den Standpunkt der Molekular-
hypothese stellen wollte. Da dieser zu Folge der Schlag an sich
„durch säulenartige Anordnung elektromotorischer Molekeln" erklärt
wird, so muss man, wie Du Bois-Reymond selbst hervorhebt,
fragen, „worin denn diese Anordnung und die durch den homo-
dromen Strom unmittelbar erzeugte, der absolut positiven Polarisation
entsprechende sich von einander unterscheiden sollen, weshalb nicht
letztere stets zu einem Schlag ausarte". Wenn Du Bois-Reymond
in der That an die Möglichkeit denkt, „dass es zwei Zustände geben
könne, welche, obschon beide mit säulenartiger Anordnung der Molekeln
830 Die elektrischen Fische.
verknüpft und in ihrer äusseren Wirkung einerlei, im Innern der
elektrischen Platten verschieden sind", deren einer dem Schlag,
der andere der absolut positiven, horaodromen Polarisation entspreche,
so scheint mir hier eine unvergleichlich viel grössere Schwierigkeit
vorzuliegen, als sich vorzustellen, dass, wie nach Ablauf einer Muskel-
zuckung am Orte der directen Reizauslösung, noch lange galvanische
Veränderungen (Negativität) als Nach- oder richtiger Fortwirkung
der Erregung erkennbar bleiben, so auch am elektrischen Organ die
wirkliche Entladung (der Schlag) in einem gleichsinnigen Strome
abklingt.
Man wird Du Bois-Reymond ohne Weiteres zugeben können,
dass „nicht jede absolut positive Wirkung Schlag ist", sowie ja
auch nicht jede Muskelerregung, wenn sie auch galvanometrisch nach-
weisbar ist, zu einer sichtbaren Contraction (Zuckung) führt; an
frischeren Präparaten sah Du Bois-Reymond bei seinen Polari-
sationsversuchen oft zuerst eine ungemein starke Wirkung erfolgen,
welche die Scala aus dem Gesichtsfelde schleudert, und in der man
zweifellos die Nachwirkung eines Schlages, wenn nicht
dessen letzte Theile selber erkennt. „Dies Phänomen," so fährt
DuBois-Reymond fort, „sieht aber ganz anders aus als die ge-
wöhnliche absolut positive Polarisation, die man bei öfterer Wieder-
holung des Versuches am nämlichen Präparat unter denselben Um-
ständen erhält, indem es keine der ursprünglichen Stärke proportionale
Nachhaltigkeit zeigt." Dies gilt aber ebensowenig hinsichtlich der
mechanischen und galvanischen Folgewirkungen der Muskelerregung.
Ist der absolut positive (homodrome) Nachstrom in den bisher er-
wähnten Versuchen als Nachwirkung der Erregung des Organpräpa-
rates durch den homodromen Strom aufzufassen, so war zu erwarten,
dass er auch nach kurzdauerndem Tetanisiren mit Wechselströmen in
grosser Stärke auftreten müsste. Um die durch die Ungleichheit des
zeitlichen Verlaufes des Schliessungs- und Oeffnungsschlages der ge-
wöhnlichen Schlittenapparate bedingten Störungen zu vermeiden, be-
diente sich Du Bois-Reymond einer Saxton' sehen Maschine,
welche Reihen völlig congruenter Wechselströme lieferte. „Der Erfolg
war sehr einförmig: Gleichviel, wie die Enden der rotirenden Rollen
mit Rücken- und Bauchfläche der Präparate (vom Zitterrochen) ver-
bunden wurden und gleichviel, wie lange der Tetanus dauerte", es
zeigte sich stets nur ein absolut positiver Nachstrom,
„an frischen Präparaten von solcher Stärke, dass unter den gegejbenen
Versuchsbedingungen die Scala aus dem Gesichtsfelde verschwand,
dann schwächer und schwächer".
Mit der positiven homodromen Polarisation hängt, wie es scheint,
aufs Innigste der sehr auffallende Unterschied der relativen
Stärke des homodromen und heterodromen Reiz Stromes
im elektrischen Organ zusammen, welcher Du Bois-Reymond
schon bei seinen ersten Polarisationsversuchen am Zitterwelsorgan auf-
fiel. „An frischen Streifen war stets der absteigende (beim Zitterwels
homodrome) Strom bedeutend stärker, als der aufsteigende (heterodrome),
im Verhältniss von 100 : 112, 116, ja sogar 125. An gekochten und
an absterbenden Streifen verschwand der Unterschied." Noch auf-
fälliger machte sich dieselbe Thatsache später an Präparaten vom
Zitterrochen bemerkbar, wo der homodrome Strom (von 30 Grove)
mehrmals über doppelt so stark erschien als der heterodrome.
Die elektrischen Fische. 831
Dasselbe tritt bei Reizung mit inducirten Strömen noch sehr viel
deutlicher hervor, wobei sich zugleich sehr klar die Abhängigkeit
der scheinbaren Irreciprocität der Leitung im elek-
trischen Organ von der Strom dichte geltend macht. D u
Bois-Reymond „sandte die Oeffnungsschläge des Schlitteninduc-
toriums, dessen primäre Rolle mit Stäben gefüllt war, von Hautfläche
zu Hautfläche durch ein (Zitterrochen-)Präparat , welches zwischen
den Thonschilden der Zuleitungsgefässe ruhte. In demselben Kreis
befand sich die Bussole". Je ein Schlag, durch Oeffnen des Queck-
silberschlüssels erzeugt, traf das Präparat abwechselnd in homodromer
und heterodromer Richtung, In der folgenden Tabelle bedeutet RA
den Rollenabstand, die Zahlen entsprechen den auf 5000 Win-
dungen in 20 mm Abstand vom Spiegel der Bussole reducirten Aus-
schlägen.
RA = 0 t 501 t 215 I 501 J 215 ; 453 t 215 I 477 \ 191
RA = 10 cm t 25 J 28 J 27 J 28 J 27 I 27
RA = 15 cm J 7 t 7 J 7 J 7
RA = 0 I 453 I 227
Man sieht, wie über eine gewisse Grenze der Strom-
dichte hinaus der homodrome (J) Strom viel stärker erscheint als
der heterodrome (J).
Es darf nicht unbemerkt bleiben, dass, wie schon erwähnt, auch die
„positive Polarisation" gleiche Abhängigkeit von der Dichte des polari-
sirenden (homodromen) Stromes zeigt. Wie jene ferner um so stärker
erscheint, je länger die zwischen den ableitenden Thonspitzen be-
findliche Säulenstrecke und demgemäss die Zahl der polarisirten
Platten ist, so tritt auch der Unterschied in der Stärke des homodromen
und heterodromen Stromes um so deutlicher hervor, je grösser die
Spannweite der den Strom zuführenden Elektroden an der Seitenfläche
eines Organpräparates ist, so dass man sagen kann, die scheinbare
Irreciprocität der Leitung wächst, wie die positive Polarisation, mit der
Länge der durchströmten Säulenstrecke. Auch in dem Punkte besteht
Uebereinstimmung, dass die Ueberlegenheit des homodromen Stromes
bei Anwendung von Inductionsschlägen oder kurzdauernden Ketten-
strömen sehr viel deutlicher hervortritt, als bei längerer Schliessungs-
dauer. Beide Erscheinungen sind ferner an das Leben geknüpft, und
am gesottenen oder spontan abgestorbenen Präparat, sowie bei querer
Durchströmung nicht mehr nachweisbar. Dem ungeachtet soll nach
Du Bois-Reymond der Unterschied der Stromstärken bei homo-
und heterodromer Richtung nicht auf ungleicher elektromotorischer
Kraft im einen und im andern Falle beruhen, indem sich der relativ
und absolut positive Nachstrom zum homodromen polarisirenden Strom
hinzufügt, sondern thatsächlich auf wirklicher Irreciprocität, d. h.
auf ungleichem Widerstand in beiden Richtungen, indem
das Organ im Sinne des Schlages besser als im andern
leitet. Es lässt sich nun nicht verkennen , dass man sich zu der
Annahme einer solchen Art der Leitung, „zu welcher bisher nirgends
ein Seitenstück bekannt ist", ohne die allerzwingendsten Gründe kaum
wird verstehen wollen. Nachdem alle Versuche, eine Entscheidung
herbeizuführen, nur gezeigt hatten, dass es „trotz allem Anschein nicht
nöthig ist, zur Erklärung des Thatbestandes irreciproken Widerstand
anzunehmen", glaubt Du Bois-Reymond schliesslich zwingende
832
Die elektrischen Fische.
Gründe hierfür in von ihm ausgeführten Maassbestimmung-en des
Leitungswiderstandes des elektrischen Organes (von Zitterrochen) ge-
funden zu haben. Es sollte vergleichsweise der Widerstand gleich
langer und gleich dicker prismatischer Stücke des elektrischen Organes,
ferner des Froschmuskels (parallel der Faserung) und von Salzlösung
(Seewasser) verglichen werden. Zu dem Zwecke wurden die betreffenden
Körper in Glasröhren von gleichen Dimensionen eingeschlossen und
der Länge nach durchströmt. Der Widerstand des Kreises, in welchem
sich nebst dem gefüllten Rohre eine Bussole befand, wurde gemessen
durch die reciproke Grösse des Ausschlages des Bussolspiegels, den
der Oeffnungsstrom eines Schlitteninductoriums erzeugte. Es ergab
sich, dass ein durch die Glasröhre gezogenes Organpräparat selbst bei
homodromer Durchströmung in der Längsrichtung der Säulen er-
< ^
Äo So Si
Fig. 280.
heblich schlechter leitet, als Froschmuskel parallel der Faserung oder
als Seewasser unter denselben Bedingungen.
Würde nun, so folgert Du Bois-Reymond, die Ueberlegenheit
homodromer Ströme auf positiver Polarisation beruhen — auf einer addi-
tioneilen elektromotorischen Kraft, die unter Umständen bis zu 40 Grove
betragen kann — , so müssten die Organpräparate im Vergleich zum
Muskel oder zu physiologischer Kochsalzlösung anscheinend unver-
gleichlich besser leiten, und ihr Widerstand müsste dem entsprechend
„scheinbar gewaltig zunehmen", wenn sie mit ihren Lebenseigenschaften
die positive Polarisirbarkeit einbüssen. Beides ist aber nach Du Bois-
Reymond's Versuchen nicht der Fall, vielmehr zeigte sich stets das
Gegentheil. Ohne diesen Umstand zu berücksichtigen, hinsichtlich
dessen es schwer ist, sich ohne eigene Untersuchungen zu äussern,
versuchte G o t c h , dem sich neuerdings auch S c h ö n 1 e i n völlig
anschloss , die Annahme irreciproker Leitung direct experimentell
zu widerlegen. Er bediente sich eines dem „Federmyographion" nach-
gebildeten Apparates, in welchem der vorbeifliegende Läufer suc-
Die elektrischen Fische. 833
cessive drei Contacte löste, von denen der erste (Fig. 280 Si) den Kreis
der primären Spirale eines Schlittenapparates üöiiet, der zweite, S2, eine
Nebenschliessung zur Bussole beseitigt, auf welche nun erst der etwaige
Strom des Organpräparates wirken konnte, und endlich der dritte, S3,
den Bussolkreis endgültig wieder öffnet, so dass die Wirkung auf das
Galvanometer nur so lange dauern konnte, als zwischen der Lösung
der Contacte S2 und ^§3 Zeit verfliesst. Diese betrug in den ersten
Versuchen von Gotch 0,02 See. Wurde nun der Contact S2 ganz
nahe an Si gerückt, so dass die Nebenschliessung zur Bussole fast im
selben Augenblick geöffnet wird, wie der inducirende Kreis, so zeigte
dieser sowohl bei homod romer wie bei heterodromer
Richtung gleiche Stärke. Dies Resultat lässt sich offenbar nur
auf den Umstand beziehen, dass bei Gotch's Versuchen der Galvano-
meterkreis nach dem Augenblick der Reizung nur ganz kurze Zeit
geschlossen blieb, während sich bei Du Bois-Reymond's Verfahren,
ausser dem Reizstrom selbst, stets auch der ganze Nachstrom des
Präparates durch die Bussole ergoss. Ersterenfalls konnte sich daher
dem homodromen Inductionsschlag der durch ihn bewirkte, gleich-
sinnige Nachstrom (die positive Polarisation im Sinne Du Bois-
Reymond's nicht hinzuaddiren , da dieser sich nach Gotch erst
nach 0,05" entwickelt.
Gotch hat diese Untersuchungen später noch weiter ausgedehnt
(1. c), indem er mittels desselben Apparates die Schliessungszeit des
Bussolkreises vom Augenblick der Reizung ab noch feiner abstufte.
Es stellte sich in Uebereinstimmung mit den schon erwähnten ersten
Befunden heraus, dass, wenn die Schliessungszeit des Galvanometer-
kreises soweit verkürzt wurde, dass nur der Inductionsstrom allein
die Bussole beeinflussen konnte (S^ — ^3 = 0" — 0,0025"), kein
Unterschied der durch den homo- und heterodromen Strom be-
wirkten Ablenkungen hervortrat, einen Augenblick später (S2 — ^^3
= 0,0025 — 0,005") beginnt die durch den Schlag ausgelöste elektro-
motorische Wirkung des Organpräparates sich geltend zu machen (als
homodromerNachstrom), die nun mit weiterem Wachsen der Schliessungs-
zeit ihrerseits rasch zunimmt. Der Anschein irreciproker
Leitung würde demnach nur dann entstehen, wenn die
Wirkung des erregenden In du ctions Schlages auf die
Bussole sich mit der der ausgelösten Erregung des
Organpräparates (der positiven Polarisation Du Bois-
Reymond's) combinirt.
Zu Gunsten dieser Anschauung sprechen auch in sehr über-
zeugender Weise die Resultate von Versuchen über den Einfluss
wechselnder Temperatur auf die Folgewirkungen der
directen Erregung von Organpräparaten. Mittels seines
Federrheotoms konnte Gotch leicht zeigen, dass die Stärke und
insbesondere der zeitliche Verlauf des Reizerfolges bei Anwendung
einzelner homo- und heterodromer Inductionsströme ganz wesentlich
von der Temperatur beeinflusst wird, und zwar in dem Sinne, wie es
von vorneherein zu erwarten war, wenn es sich um die Auslösung
einer Erregung handelt. Wie aus einer Vergleichung der bei-
stehenden Curven (Fig. 281) hervorgeht, welche eine graphische Dar-
stellung der betreffenden Versuchsresultate geben, indem die Ordinaten
den Galvanometerablenkungen, die Abscissenwerthe der Zeit nach dem
Momente der Reizung (bei 0) entsprechen, wird der an sich geringere
834
Die elektrischen Fische.
150 c.
30 C.
V
•
36»
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1
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1' -0
^
T ir 0
0
'
n
Fig. 281. Graphische Darstellung des Schlagverlaufes bei directer Reizung eines
Organapparates (Torpedo) mit je einem homodromen ( + ) und einem heterodromen ( — )
Inductionsschlag bei 15 " und 3 ° C. Der schattirte Cnrvenabschnitt entspricht dem
reizenden Inductionsstrom. (Nach Gotch.j
Die elektrischen Fische.
835
Rei'zerfolg am abgekühlten Präparat ausserordentlich verzögert und
beginnt erst lange nach der Abgleichung des Inductionsstromes an der
Bussole merklich zu werden, so dass ein langes „Latenz Stadium"
entsteht, während dessen Dauer die Schliessung des Bussolkreises
erfolglos bleibt. Man sieht leicht, dass es in Folge dessen am abge-
kühlten Präparate verhältnissmässig viel leichter gelingen muss, die
Wirkung des Inductionsstromes auf das Galvanometer von der des
Reizeffectes (der angeblichen positiven Polarisation) zu trennen und
auf diese Weise festzustellen, ob wirklich Irreciprocität der Leitung
besteht oder nicht. In der That vermochte Gotch nachzuweisen, dass
bei derselben Schliessungszeit des Bussolkreises bei höherer Temperatur
(22*^ C.) scheinbare Irreciprocität hervortritt, während dasselbe abge-
kühlte Präparat unter sonst gleichen Umständen den Inductionsstrom
in beiden Richtungen ganz gleich gut leitet, wie folgende Tabelle zeigt :
Temperatur
Stromesrichtung
Schliessungszeit
^2 ^3 1 S2 — S3
0"- 0,005" 0"-0,01"
22« C.
J homodrom
1 heterodrom
+338
—290
+475
- 12
8« C.
1 homodrom
\ heterodrom
+270
—270
+380 ■
—174
Ebensowenig Grund zur Annahme irreciproker Leitung liegt bei
dem minder differenzirten elektrischen Organ von R a j a vor. Bei
directer Reizung eines herauspräparirten Organstreifens, mit einem
einzelnen Inductionsschlage, erfolgt nach einem Intervall von etwa
0,005 See. eine einmalige Entladung, wobei die Richtung des Reiz-
stromes ganz gleichgültig ist. Nur wenn die Schliessung des Bussol-
kreises zu einer Zeit erfolgt, wo bereits der Organschlag erfolgt ist, tritt
auch hier wieder in Folge der algebraischen Summation desselben zum
Reizstrom der Anschein der Irreciprocität hervor. Wenn die Richtung
des Inductionsstromes mit der des Schlages übereinstimmt, wächst die
Ablenkung mit der Schliessungsdauer, während sie im andern Falle
abnimmt und eventuell umgekehrt erscheint (Gotch 13c). Unter
diesen Umständen auf die Betrachtungen näher einzugehen, welche
Du Bois-Reymond bezüglich der teleologischen Bedeutung der von
ihm statuirten „irreciproken Leitung" der elektrischen Organe anstellte,
dürfte kaum am Platze sein.
VIII. Zur Theorie des Zitterfischschlages.
Ohne hier nochmals auf jene älteren, zum Theil sehr naiven An-
schauungen zurückzukommen, welche bereits in der Einleitung zu
diesem Capitel in Kürze besprochen wurden und vom Standpunkte
unserer gegenwärtigen Kenntnisse einer ernsten Widerlegung nicht
836 Die elektrischen Fische.
bedürfen , soll nur noch einiger neueren Theorien des Schlages der
elektrischen Fische gedacht werden, die zwar auch als widerlegt
gelten dürfen, aber unser Interesse doch noch in Anspruch nehmen,
weil sie zeigen, wie man die im Gebiete der Muskel- und Nerven-
physiologie herrschenden Lehren jeweils auch den elektrischen Organen
anzupassen bestrebt war.
Im Jahre 1873 erörterte Boll die Möglichkeit, „den Schlag des
elektrischen Organes allein durch die die Innervation begleitende
negative Schwankung des Nei'venstromes zu erklären. Wenigstens
müsste bei dieser Anordnung im Momente der Innervation die Rücken-
fläche der elektrischen Platte (beim Zitterrochen) positiv, die Bauch-
fläche negativ elektrisch werden, was in der That der Fall ist". Die
freie Endigung der Nervenfasern innerhalb der Platten lege die Frage
nahe, „was unter diesen Umständen dann schliesslich aus der negativen
Schwankung des Nervenstromes werden muss, die den Erregungs-
vorgang innerhalb der Nervenfaser jedenfalls doch v/ohl bis an das
äusserste peripherische Ende begleitet, und ob die in den elektrischen
Platten von Torpedo (nicht von Malopterurus) durch die anato-
mischen Verhältnisse der Nervenverästelung bedingte, mehr als millionen-
fache Multiplication dieser Stromschwankung nicht vielleicht aus-
reichend befunden wird, den Schlag des Zitterrochen zu erklären'".
Wie Du Bois-Reymond ausführt (4 e p, 276), setzt aber diese
Hypothese vor Allem die Existenz eines Ruhestromes voraus, welcher
durch die nach Art künstlicher Querschnitte wirkenden „natürlichen"
Querschnitte der Nerven in den Platten verursacht sein würde und dessen
Richtung demgemäss der des Schlages entgegengesetzt sein müsste.
Statt eines solchen dauernd vorhandenen Stromes, dessen Kraft der
des Schlages entsprechen müsste, wenn bei der negativen Schwankung
der Nervenstrom gerade verschwände, finden sich nur unwesentliche
Spannungsdiff"erenzen während der Ruhe, und der daraus resultirende
„Organstrom" hat immer die Richtung des Schlages, als dessen Nach-
wirkung wir ihn oben kennen lernten. Du Bois-Reymond be-
zeichnet es als „keine schlimme" Hypothese, wenn man, um dies zu
erklären, annehmen wollte, „dass die Nervenquerschnitte mit einer
parelektronomischen Schicht überzogen seien, deren elektromotorische
Thätigkeit die ihrige nicht bloss aufhebt, sondern sogar etwas über-
wiegt, und welche an der negativen Schwankung nicht Theil nimmt.
Im Augenblick des Schlages verschwände durch die negative Schwankung
die Nervenstromkraft , und der Schlag käme zu Stande durch das
Freiwerden der Kraft der parelektronomischen Schicht".
Indessen würde sich selbst vom Standpunkte der Molekulartheorie
aus eine solche Annahme wegen der zweifellos sehr bedeutenden
elektromotorischen Kraft des Zitterfischschlages verbieten , ganz abge-
sehen davon, dass die Boll'sche Hypothese auf den Zitterwels über-
haupt nicht passt. Wie die folgenden Erörterungen zeigen werden,
handelt es sich selbst beim Zitterrochen, geschweige denn bei den
anderen kräftigeren Zitterfischen um sehr bedeutende Kraftgrössen,
welche , wie Du Bois-Reymond selbst ausführt , schon wegen der
unter allen Umständen sehr bedeutenden Nebenschliessung zwischen
den einzelnen Nervenenden durch die Boll'sche Annahme nicht erklärt
werden können. Beim Zitterwels aber, wo jeder Platte nur ein
Axencylinder entspricht, läge, wie Du Bois-Reymond bemerkt,
selbst unter der günstigsten Voraussetzung, „dass die Verbindungsstelle
Die elektrischen Fische. 837
einen Nervenquerschnitt mit parelektronomischer Schicht enthalte und
dass, was kaum möglich scheint, dieser Nervenquerschnitt ein auf die
Wirkungsrichtung des Organes senkrechtes Flächenelement sei", dieses
vereinzelt eingebettet zwischen der Masse der Platten, „woraus solche
Schwächung ihrer Wirkungen nach aussen folgen würde, dass von einer
Erklärung des Zitterwelsschlages durch Schwankung der elektrischen
Nervenendigungen schon deshalb die Rede nicht sein kann". Weiter
macht Du Bois-Reymond darauf aufmerksam, dass vom Stand-
punkte der Boir sehen Theorie das Vorhandensein der oft so complicirt
gebauten elektrischen Platten in den Organen keinen Sinn hätte und
ihr Dasein unverständlich wäre.
Wie schon früher bemerkt wurde , war es zuerst Du Bois-
Reymond, Avelcher schon 1843 die bestimmte Ueberzeugung aus-
sprach, dass es gerade die letzteren (die damals sogenannten „Gallert-
scheibchen") sind, welche „im Augenblick der Entladung unter dem
Einfluss des irgendwie in Thätigkeit versetzten Nervenagens in
bestimmter Richtung elektromotorisch werden" und ihre Wirkungen
nach Art der Säule vervielfältigen. Nicht die negative Schwankung
des Nervenstromes wäre es also , welche den Schlag verursacht,
sondern ein Vorgang in den aus umgewandelten Muskeln hervorge-
gangenen elektrischen Platten, vergleichbar der negativen
Schwankung des Muskelstromes, wie er vom Standpunkte
der Präexistenzlehre aus sich darstellt. Nach Du Bois-Reymond
hätte man sich daher, wie schon oben erwähnt wurde, vorzustellen,
dass jede Platte zahllose dipolar-elektromotorische Molekeln enthält,
„welche während der Ruhe ihre Pole entweder nach allen möglichen,
oder zu zweien nach entgegengesetzten Richtungen kehren , so dass
ihre äusseren Wirkungen sich aufheben, welche aber beim Schlage
sämmtlich ihre positiven Pole schnell der Fläche des Organes zukehren,
von wo der positive Strom ausgeht". Als eine der wesentlichsten
Stützen dieser Theorie glaubt Du Bois-Reymond den aus Delle
C h i a j e ' s und B a b u c h i n ' s Lehre von der Präformation der
elektrischen Elemente gefolgerten Satz bezeichnen zu müssen, dass
der Seh lag Strom der Dicke der Platten proportional
zunimmt. Da die elektromotorische Kraft mit der Grösse des
Fisches wächst (ob proportional, bleibt allerdings, wie Her-
mann 14 p. 486 bemerkt, fraglich), während die Zahl der Säulen
(resp. Platten) unverändert bleibt, so ist eine directe Beziehung
zwischen der Plattendicke (d. h. der Zahl der Molekülschichten im
Sinne Du Bois-Reymond ' s) und der Kraft wohl als sicher anzu-
nehmen, obschon Schönlein dies auf Grund seiner Erfahrungen
noch bezweifelt (30 p. 503). Hiermit steht auch die geringe Dicke
der Platten der Torpedo -Organe 9,6 j-i im Vergleich zu jenen von
Gymnotus 8,2 f.i und Malopterurus 4,8 /.< in Uebereinstimmung.
Es wurde schon früher erwähnt, dass die auf Seewasser berechneten
Torpedo- Organe mit geringer Kraft auskommen können , während
die der beiden genannten Süsswasserlische bei grösserem inneren
Widerstand (grössere Länge, kleiner Querschnitt) auch einer wesent-
lich grösseren Kraft bedürfen. Mit Zugrundelegung der obigen
Maasse und unter der Voraussetzung, dass die Kraft die Platten
ihrer Dicke proportional ist, findet Du Bois-Reymo nd (4 e p. 286)
das Verhältniss der Kraft des ganzen Zitteraal- zu der des Zitter-
rochenorganes wie 128 : 1.
838 Die elektrischen Fische.
Dass die Molekularhypothese in derselben Form, in welcher sie
für Muskeln und Nerven aufgestellt wurde, auch genügen würde, um
die Kraft der elektrischen Organe befriedigend zu erklären , zeigen
folgende Erwägungen Du Bois-Reymond' s (1. c. p. 288 f.): „Die
Kraft einer dipolaren Molekel aus einem regelmässigen Forschmuskel,
wie sie durch Nebenleitung geschwächt zur Erscheinung kommt, ist
der doppelte Potentialunterschied zwischen Aequator und Polen des
Muskels, etwa 0,15 D. Setzen wir sie, um sicher zu gehen,
= 0,10 D. Die Dicke der Zitteraalplatte mit Inbegriff der Papillen,
welche wir auch als elektromotorisch ansehen, ist zur Dicke der
Zitterrochen-Platte = 8,2 : 9,(3 = 8,5 : 1 ; in jener liegen 8,5 mal mehr
Molekeln hinter einander als in dieser. Nur zwei Molekeln hinter
einander in der Zitterrochenplatte liefern schon eine Gesammtkraft
von 400 X 2 X 0,10 D = 80 D, was völlig reichen dürfte. Beim
Zitteraal aber erhalten wir dann den formidablen Werth von
6000 X 17 X 0,10 D = 10200 D."
Nach Bestimmungen von S c h ö n 1 e i n (1. c.) beträgt bei Torpedo
die höchste, bisher überhaupt beobachtete elektromotorische Kraft des
Schlages zwischen 30 und 31 D. Es lassen sich derartige Messungen
entweder in der Weise ausführen, „dass man die durch den Organ-
schlag erzeugten Ablenkungen mit denen einer Anzahl Daniell's
vergleicht, welche, unter Hinzufügung eines dem Organwiderstaude
annähernd gleichen Widerstandes, an Stelle des Organs in den Kreis
des Instrumentes aufgenommen werden, oder man muss compensiren"
(S c h ö n 1 e i n ).
Pechnet man nun mit G. Fritsch die Plattenzahl bei Torpedo
0 cell ata zu 370, bei T. marmorata zu 380 pro Säule, so ergiebt
sich für jede einzelne Platte eine Kraft von -^^ ^^-- D ^=
o70 — ooO
0,081—0,084 D.
Werthe, welche unzweifelhaft ganz anderer Ordnung sind, als die
für die elektromotorische Kraft von Kaltblüternerven gefundenen,
welche stets unter 0,025 D bleiben. Dagegen ist es sehr bemerkens-
werth und kaum zufällig, dass „die Zahlen für die elektromo-
torische Kraft des Plattenschlages und die maximale
negative Schwankung des Muskels nicht bloss von
derselben Ordnung, sondern identisch sind", woraus
Schönlein (1. c. p. 501) den Schluss zieht, dass „das Substrat,
an welchem sich der Schlag des elektrischen Organes
von Torpedo vollzieht, ausschliesslich mit dem Substrat
zu identificiren ist, an welchem sich im Muskel die
negative S c h w a n k u n g v o 11 z i e h t" *). Die Vorstellung aber, dass
es sich beim Schlag um Lageänderungen präformirter , elektromoto-
rischer Molekeln handelt, erscheint unter allen Umständen ausge-
schlossen, wenn man berücksichtigt, dass die meisten elektrischen
Organe nichts weiter sind als umgewandelte Muskeln, und in Bezug
auf letztere die Molekulartheorie widerlegt hält.
Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein, an dieser Stelle, wo
es sich lediglich um eine möglichst übersichtliche Zusammenstellung der
*) Neuerdings hält dagegen Schönlein die elektrische Platte nur für „Nerven-
endigung" (analog der motorischen Endplatte). Die elektromotorische Substanz des
Muskels sei ganz verschwunden (was übrigens bei Raja sicher nicht der Fall ist).
Die elektrischen Fische. 839
bisher bekannt gewordenen Thatsachen der Physiologie der elektrischen
Fische handelt, über die Intentionen des Begründers der Alterations-
theorie hinauszugehen und etwa den Versuch zu wagen, von diesem
Standpunkte aus die Erscheinungen zu erklären. Indessen möchte ich
doch der Ueberzeugung Ausdruck geben, dass die Hermann' sehe
Theorie sich nach meinem Ermessen dem neuen Gebiete, das ja so zu
sagen nur Altes in neuem Gewände enthält, ganz ebenso gewachsen
zeigen wird, wie dies bezüglich der Drüsen- und Pflanzenströme der
Fall gewesen ist.
Da von diesem Standpunkte aus den chemischen Processen
innerhalb der eigentlich activen Substanz der elektrischen Organe
ein hervorragendes Interesse zukommt, so mögen noch einige kurze
Bemerkungen hierüber Platz flnden, zumal der Vergleich mit dem
entsprechenden Verhalten quergestreifter Muskeln naheliegt, die ja
so zu sagen das Material zur Entstehung der elektrischen Organe ge-
liefert haben.
Dass die Thätigkeit des ersteren mit chemischen Processen Hand
in Hand geht, ergiebt sich, abgesehen von anderen Erfahrungen,
.schon aus der bekannten, zuerst von D u B o i s - R e y m o nd beobachteten
Thatsache der Verschiedenheit der Reaction des ruhenden und des
irgendwie gereizten, sowie des todtenstarren Muskels. Die Säuerung
ist letzteren Falls so auffallend, dass sie selbst bei Anwendung minder
empflndlicher Methoden stets leicht und sicher nachweisbar ist. Dass
dies beim elektrischen Organ (von Torpedo) sich wesentlich anders
verhält, ergiebt sich aus den mehrfach widersprechenden Angaben der
Autoren, welche diesem Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zuwandten.
Boll (5a), welcher, wie seiner Zeit Du Bois-Reymond, die
Reaction mit Lakmuspapier prüfte, fand dieselbe beim nicht ge-
reizten Organ (Torpedo) stets deutlich alkalisch , und alle späteren
Untersucher stimmten ihm hierin bei (vergl. Th. Weyl 36 b. W.
Marcuse 20). Nicht dieselbe Uebereinstimmung besteht dagegen
bezüglich der Angaben über eine postmortale Säuerung. Während
Boll und Weyl sich von dem Eintreten einer solchen überzeugt zu
haben glauben, leugnet dies Marcuse auf das Bestimmteste.
M. Schnitze wiederfand schon die elektrischen Organe frisch ge-
tödteter Zitterrochen constant stark sauer, was sowohl Funke wie
auch Du Bois-Reymond nach Analogie des Muskels auf eine dem
Tode vorhergehende erschöpfende Anstrengung der Organe durch oft
wiederholte Entladungen zu beziehen geneigt waren. Hiermit steht
nun wieder das Resultat von Versuchen in directem Widerspruch, bei
welchen durch Strychninvergiftung , oder durch directe Reizung des
Lobus electricus, ohne oder mit Ausschluss der Blutcirculation ein
möglichst hochgradiger Ermüdungszustand herbeigeführt werden sollte,
Boll fand gar keinen, Marcuse, welcher durch Titrirung die
Reaction des Alkoholextractes unter Benutzung von Lakmuspapier
bestimmte, nur einen sehr geringen Unterschied zwischen dem gereizten
und nicht gereizten, durch Nervendurchschneidung ausgeschalteten
Organ im Sinne einer etwas grösseren Acididät des letzteren.
R ö h m a n n (29) , welcher ganz neuerdings diese Untersuchungen
in der zoologischen Station in Neapel wieder aufnahm, bediente sich
einer zuerst von D res er (Cbl. f. Physiol. I. 1887 p. 195) für den
Muskel angegebenen Methode, welche auf der Eigenschaft des Säure-
fuchsins beruht, mit dem Alkali der Gewebsflüssigkeit eine farblose
840 Die elektrischen Fische.
Verbindung zu bilden, die schon durch ganz schwache Säuren (selbst
Kohlensäure) wieder unter Rothfärbung zerfällt. „Reizt man (beim
Frosche) nach Aufhebung der Circulation den N. ischiadicus einer Seite
intermittirend tetanisch (nachdem vorher Säurefuchsin injicirt wurde),
so erfolgt (nach 10 bis 15 Min.) eine lebhafte Röthung des gereizten
Schenkels, welche auf Grund der chemischen Eigenschaften des
Säurefuchsins ein Beweis für die Säurebildung im thätigen Muskel
ist" (D res er). Röhmann konnte nun ein ähnliches Verhalten auch
am elektrischen Organ constatiren, indem bei einer mit Fuchsin
injicirten, mit Strychnin vergifteten oder vom Lobus aus anhaltend
gereizten Torpedo nach Entfernung der Haut das durch Nerven-
durchschneidung ausgeschaltete, ruhende Organ, farblos oder nur ganz
blassrosa war, während das gereizte Organ stets blassrosabis pfirsichblüth-
roth erschien. Es darf hiernach als erwiesen gelten, „dass bei der
Erzeugung der Elektricität innerhalb der elektrischen
Platten Stoffveränderungen eintreten, welche zur
Bildung einer geringen Menge von sauren Substanzen
führen". Dagegen fand Röhmann ebensowenig wie Marcus e
die stickstoffhaltigen Extractivstoffe , oder die im Aetherextract
enthaltenen Substanzen vermehrt. Eine Betheiligung der Kohlehydrate
(Glycogen) an der Elektricitätserzeugung scheint dadurch ausge-
schlossen, dass nach Maren se das elektrische Organ weder
Glycogen noch ein ähnliches Kohlehydrat enthält.
„Es scheint vielmehr, als ob eine den Eiweisskörpern nahe-
stehende Substanz die Kraftquelle für die Elektricität ist und dieselbe
unter Bildung von in Aether löslichen Säuren liefert" (Röhmann).
Bemerkenswerth ist es vor Allem, dass nach den vorliegenden Versuchen
„die Erzeugung des elektrischen Schlages von Torpedo
unter Verbrauch einer nur äusserstgeringen Menge von
potentieller Energie zu erfolgen scheint", was ja übrigens
für die Muskelarbeit ebenfalls, wiewohl nicht im gleichen Maasse, gilt.
LITERATUR.
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L Elektrische Vorgänge im Auge.
Wenngleich in der Sinnesphysiologie der subjectiven Beobachtung
und Analyse der Empfindungen unter allen Umständen die erste
Stelle unter den Hülfsmitteln der Forschung wird eingeräumt werden
müssen, so verdienen doch gewiss auch die, wiewohl spärlichen
0 b j e c t i V e n Merkmale der Sinnesthätigkeit alle Beachtung. Freilich
haben sich die grossen Erwartungen, welche man seiner Zeit an die
Entdeckung des Sehpurpurs und seiner durch Licht bewirkten
Bleichung knüpfte, bisher nicht erfüllt, und auch die neueren Versuche
von König und v. Kries, diesem „Sehstoff" eine ausschlaggebende
Rolle zuzuweisen, dürften wohl als gescheitert zu betrachten sein.
Neben der „Photochemie" der Netzhaut nehmen dann die elektro-
motorischen Wirkungen und deren durch Lichtreizung hervorzurufenden
Veränderungen das Interesse in hervorragendem Maasse in Anspruch.
Schon 1849 wurde Du Bois-Reymond dazu geführt, das
elektrische Verhalten der peripheren Ausbreitung des Sehnerven im
Auge zu untersuchen, als es sich darum handelte, die beim Muskel
angenommene Identität des künstlichen und „natürlichen" Querschnittes
auch für den Nerven zu erweisen. Bei Ableitung vom künstlichen
Querschnitt oder einem in der Nähe desselben gelegenen Punkt des
natürlichen Längsschnittes des Opticus und der Aussenfläche (insbe-
sondere der Hornhaut) eines von Muskeln möglichst gereinigten
Fischbulbus erwies sich der Nerv stets negativ gegen den Augapfel.
Es schienen sich somit die natürlichen Nervenenden ebensowenig
negativ zu verhalten, wie die Sehnenenden der Muskelfasern.
16 Jahre später hat dann Frithiof Holmgren (1) diese Ver-
suche wieder aufgenommen und sich dabei hauptsächlich des
Froschauges bedient. Er bestätigte hinsichtlich des „Ruhestromes"
durchaus Du Boi s-Reymond ' s Angaben, fand aber ausserdem bei
Ableitung vom hinteren Theile des Bulbus und vom Sehnerv den
ersteren schwach negativ gegen den letzteren. „Wenn also die eine
Elektrode in fester Berührung mit dem Sehnerv bleibt, die andere
aber bewegt wird und einmal die hinteren Theile des Bulbus, ein
anderes Mal die Hornhaut berührt, so hat man im ersteren Falle das,
was Holmgren die schwache Anordnung nannte, wobei der Sehnerv
positiv ist gegen den Augapfel, und im letzteren Falle die „starke
Anordnung", wobei der Opticus gegen die Cornea sich negativ
54*
g44 Elektrische Vorgänge im Auge.
verhält." Mit Recht betont Holmgren, class man die Retina eben-
sowenig wie etwa den Muskel kurzweg als den „natürlichen Quer-
schnitt" der zugehörigen Nerven betrachten darf, indem dieselbe ein
in anatomischer wie physiologischer Hinsicht vom Nerv ganz ver-
schiedenes Endorgan darstellt, welches möglicherweise für sich allein
elektromotorisch zu wirken vermöchte, wie es unter gewissen Um-
ständen der Muskel, oder wie es auch Drüsen thun. Will man dann
in Anlehnung an Du Bois-Reymond's Auffassung noch von
natürlichem Quer- und Längsschnitt sprechen, so würde als der erstere
die ganze äussere mosaikartige Retinafläche zu bezeichnen sein, welche
an die Chorioidea grenzt, während die nach dem Glaskörper ge-
wendete innere Begrenzungsfläche (Opticusfaserschicht) als natürlicher
Längsschnitt gelten müsste. Holmgren stellte sehr genau die Ver-
theilung der Spannungen an der Oberfläche des Bulbus fest, bemüht,
„die Natur der Retinaströme in Uebereinstimmung mit dem Du Bois-
Reymond ' sehen Gesetze des Muskelstromes zu bringen". Ohne
ihm hierbei in Einzelheiten zu folgen, sei nur erM'ähnt, dass, wie schon
aus dem elektromotorischen Verhalten des ganzen Auges zu schliessen
war, auch an der isolirten Retina Spannungsdifi'erenzen im Sinne
eines „einsteigenden" (d, h. von aussen nach innen gerichteten)
Stromes hervortreten, was im Sinne Du Bois-Reymond's so ge-
deutet wird, dass der natürliche Querschnitt (die Stäbchen und
Zapfenenden) sich negativ zum natürlichen Längsschnitt (der inneren
Netzhautfläche) verhält.
Die Unzulässigkeit einer derartigen Auffassung leuchtet aber sofort
ein, wenn man den Bau der Retina berücksichtigt, der, wie Kühne
und Steiner mit Recht bemerken, „überall, in der äussersten Schicht
ausschliesslich, ganz andere Dinge zeigt, als freie Nervenenden und in
keinem anderen Niveau etwas, das solchen Enden nur ähnlich sähe."
Kühne und Steiner (3) verwendeten bei ihren ergebniss-
reichen Untersuchungen ganz vorwiegend die isolirte Froschnetzhaut,
welche sich mit völliger Erhaltung ihrer Lebenseigenschaften, mit
oder ohne Pigmentepithel, aus dem Augengrunde wie aus einer Schaale
herausheben lässt und, auf einen halbkugelig abgeschmolzenen Glas-
stab gestülpt, der Berührung mit ableitenden Elektroden leicht zugäng-
lich gemacht werden kann. Liegt die Stäbchenseite nach aussen und
werden verschiedene Punkte derselben abgetastet, so findet man stets
einen starken Strom zwischen Opticuseintritt und Peripherie, indem
sich der erstere positiv gegen jeden andern Punkt dieser Retinafläche
verhält. Umgekehrt verhält sich bei Ableitung von der Faserseite
(Innenfläche) der Opticuseintritt stark negativ zu jedem Punkt der
Peripherie. In Uebereinstimmung mit Holmgren beobachteten ferner
auch Kühne und Steiner bei gleichzeitiger Ableitung von der
Aussen- und Innenseite der frischen Retina einen „einsteigenden"
Strom, indem sich die erstere negativ zur letzteren verhält. Die
Retina wurde hierbei in der Weise zwischen die Elektroden gebracht,
„dass die untere Elektrode mit einem nach aufwärts gekrümmten,
kugelig gekneteten Knopfe der Membran zur Stütze diente, während
die andere die entgegengesetzte Retinafläche mit einer stumpfen Spitze
berührte". Die Stärke dieses Stromes, die Anfangs sehr beträchtlich
war, nahm rasch ab und verging zuweilen schnell und gänzlich,
während sie sich in der Mehrzahl der Fälle längere Zeit auf mittlerer
Höhe erhielt.
Elektrische Vorgänge im Auge. 845
In viel höherem Maasse als der Retinastrom an sich nehmen
dessen Schwankungen bei Einwirkung von Licht das Interesse in
Anspruch. Auch hier verdanken wir Holmgren die ersten grund-
legenden Beobachtungen, indem er nachwies, dass derRetinastrom
stets eine positive Schwankung zeigt, wenn Licht in
das vorher dunkel gehaltene Auge fällt, oder wenn das-
selbe wieder entfernt wird. Dies war beim Frosche
ausnahmslos der Fall, dagegen würde nach Holmgren bei Reptilien
(Schlangen), Vögeln und Säugethieren dem Lichteinfall eine negative,
der darauffolgenden Verdunkelung eine positive Schwankung ent-
sprechen. Auch blosse Intensitätsänderungen der Beleuchtung bilden
einen wirksamen Reiz.
Unabhängig von Holmgren hatten auch zAvei englische Forscher,
D e w a r und M ' K e n d r i c k , gefunden , dass bei Belichtung der
Augen von Wirbelthieren (aus allen Classen), sowie von Crustaceen
eine positive Schwankung erfolgt, welche einer Zunahme der elektro-
motorischen Kraft des Ruhestromes im Betrag von 3 — IQ^l'o entspricht.
In einem Theil der Versuche erfolgte die Ableitung (beim Frosch)
nicht allein vom Bulbus, sondern von diesem und einem Theil des
Gehirns, das durch den Sehnerven mit jenem noch in Zusammenhang
stand. Auch dann erfolgte bei Lichteinfall eine starke positive
Schwankung, Ebenso bei der Taube, wenn vom Lobus opticus und
der Cornea des gekreuzten Auges abgeleitet wurde. Die Schwankung
wird in diesem Falle fast doppelt so gross, wenn beide Netzhäute
gleichzeitig belichtet werden und fehlt auch nicht ganz bei Ableitung
vom Lobus und der Hornhaut des gleichseitigen Auges, Bei
Anwendung farbigen Lichtes erwies sich Gelb am meisten wirksam,
dann folgten der Reihe nach Grün, Roth und Blau. Dewar und
M'Kendrick glaubten sich endlich auch davon überzeugt zu haben,
dass zwischen Reizstärke und Reizerfolg Beziehungen bestehen, welche
dem Fechner'schen Gesetze folgen.
Kühne und Steiner (1. c.) bedienten sich Anfangs bei ihren
Versuchen eines in drei Abtheilungen getheilten Dunkelzimmers, in
dessen beiden vorderen Dritteln sich das Galvanometer mit Fernrohr
befand, während in dem noch freien Raum das Augenpräparat nebst
den Beleuchtungslampen aufgestellt waren. Bei späteren Versuchen
wurde das Galvanometer mit Zubehör in einem hellen Zimmer aufge-
stellt, während die Elektroden und Beleuchtungsvorrichtungen in einem
benachbarten, absolut dunkelen Zimmer sich befanden. Zur Belichtung
diente ein Gas-Argand-Brenner , der in 50 — 75 cm Entfernung von
dem Präparate aufgestellt war. Ein Gehülfe bewirkte auf Commando
durch Auf- oder Zudrehen der Lampe die plötzliche Belichtung oder
Verdunkelung der Retina, Die Ableitung von der inneren und
äusseren Fläche der Netzhaut erfolgte nunmehr mittels entsprechend
geformten Thonelektroden, die nach einem Vorschlag Engelmann ' s
mit Froschlunge überzogen waren. Jede hinreichend intensive
undplötzlicheBeleuchtung mitblauem, grünem, gelbem,
rothem oder weissem Lichte erzeugt dann eine namhafte,
mehrsinnige (complicirte) Schwankung des Retina-
stromes, sowohl an der pur pur haltigen, wie an der
purpurlosen Netzhaut. Der Verlauf der Erscheinung gestaltet
sich an einer purpurhaltigen Dunkelretina in typischen Fällen (Fig. 282)
derart, dass im Momente der Belichtung eine positive Schwankung be-
846
Elektrische Vorgänge im Auge,
ginnt (h c), schnell ihr Maximum erreicht und hierauf rasch in die negative
Schwankung übergeht, welche letztere ihr Maximum während der
Dauer der Belichtung erreicht {(Je), einige Zeit auf diesem Punkte verharrt,
um dann äusserst langsam dem Nullpunkte zuzustreben, auch wenn
die Beleuchtung ganz constant bleibt. Im Momente der Verdunkelung
erfolgt dann neuerlich eine plötzliche positive Schwankung (ef), die als
die Folgewirkung eines zweiten, durch das Verschwinden des Lichtes
bedingten Reizes aufzufassen ist. Wir hätten es demnach hier mit
einem dem elektrischen in gewissem Sinne vergleichbaren Modus der
Reizung zu thun. Wie dort das Entstehen und die Dauer des
Stromes einerseits, dessen Verschwinden andererseits erregend wirkt,
so gilt auch das Gleiche hinsichtlich der Lichtreizung der Netzhaut,
deren Erfolg sich am Galvanometer
^^^^ durch eine erste doppelsinnige (positiv
f I^^^H dann negativ) und eine zweite einfache
m^^l (positive) Schwankung des Ruhestromes
In^^l verräth. Von wesentlichem Einfluss auf
H^^B tlie Intensität der retinalen „Actions-
IBi^l ströme" scheint nach den Erfahrungen
ll^^^l von Kühne und Steiner das Vorhan-
I^^^H densein oder Fehlen des Sehpurpurs zu
^ i^^^H sein, indem sich in beiden Fällen
^^^^B ^^^ Schwankungen nicht nur
i^^^H_0 ihrer Grösse nach verschieden
verhalten und bei ungebleichten
Netzhäuten für gleiche Reize
Fig. 282.
o
^^1^
1
ll
1
Fig. 283.
Fig. 284.
bedeutender sind, als bei gebleichten, sondern auch
ihrer Natur nach (qualitativ) verschieden erscheinen.
Bei „Hellfröschen", d. h. solchen, welche stundenlang im Freien der
Wirkung des vollen Tageslichtes ausgesetzt waren, fehlt nämlich der
positive Vorschlag der den Lichteinfall begleitenden negativen
Schwankung vollständig, oder erscheint nur eben angedeutet. Das-
selbe Verhalten zeigen nach Kühne und Steiner auch die Netz-
häute von Winterfröschen trotz tagelangem Dunkelaufenthalt in
geheizten Räumen.
Ist im Falle einer nicht gebleichten Dunkelretina der Ruhestrom
gering und die negative Schwankung bei Belichtung nur massig
Elektrische Vorgänge im Auge.
847
Bulbus
entwickelt, so erfolgt in der Regel mit dem Kommen des Lichtes
sogleich nach dem positiven Vorschlag Umkehr des Stromes, die
während der Dauer der Belichtung anhält (Fig. 283). Anderenfalls
(bei starkem Ruhestrom) handelt es sich oft nicht um eine wirk-
liche negative Schwankung, sondern nur um ein mehr oder weniger
beträchtliches Decrement des vorhergehenden positiven Vorschlages
(Fig. 284).
Sehr oft ist der Ruhestrom vom Momente des Auflegens an in
raschem Sinken begriffen. Es kann dann geschehen, dass derselbe
nicht nur bis auf Null sinkt, sondern sich sogar umkehrt. Die
photoelektrischen Schwankungen werden hierdurch nur insofern beein-
flusst, als die einzelnen Phasen dann sä mmtlich entgegen-
gesetzte Vorzeichen erhalten, während Eintritt, Folge, Verlauf
und Grösse derselben keinerlei Ver-
änderungen erleiden. Die drei
Schwankungen erhalten demgemäss
der Reihe nach die Zeichen 1 ,
statt wie normal -j- — +.
Der Umstand, dass die drei
Phasen des durch vorübergehende
Belichtung bewirkten retinalen
Actionsstromes an empfindlichen
Präparaten auch hervortreten, wenn,
wie bei Anwendung von elektrischen
Funken, die Dauer des Lichtein-
druckes nur eine momentane ist,
beweist, dass die mittlere negative
Phase nicht etwa nur als Folge
dauernder Beilchtung angesehen
werden kann, indem gerade sie es
ist, welche an minder erregbaren
Präparaten bei instantanen Licht-
reizen allein hervortritt.
Bemerkenswerth ist noch, dass,
wie in der Folge S. Fuchs (4) fand,
„der durch den elektrischen Funken
hervorgerufene erste (positive) An-
theil der Stromesschwankung un-
vergleichlich rascher verläuft, als
bei Belichtungen von nicht instan-
taner Dauer". Es darf hierin ein wesentliches Argument dafür erblickt
werden, „dass wir die (photoelektrischen) ScliAvankungen als Ausdruck
des Erregungsvorganges in der Sinnessubstanz auffassen dürfen" (S.
Fuchs).
Jede irgend erhebliche Intensitätsschwankung der Beleuchtung
bewirkt gleichgültig, ob sie im positiven oder negativen Sinne erfolgt,
eine positive Schwankung des Ruhestromes, was sich bei Ableitung
von der isolirten Retina durch zuckende Bewegungen verräth, wenn
durch ruckweises Auf- oder Zudrehen des Gashahnes die Flamme
heller oder dunkler gemacht wird, „und wie unser Auge über eine
gewisse Intensitätsgrenze hinaus solche Steigerungen nicht mehr
wahrnimmt, so versagen kurz vor Erreichung der grössten Helligkeit
auch die Bewegungen am Galvanometer" (Kühne und Steiner).
Netzhaut
848 Elektrische Vorgänge im Auge.
Erstaunlich ist die Empfindlichkeit der Retina selbst für die ge-
ringsten Lichtspuren (Glimmen einer Cigarette, Bescheinen mit
phosphorescirenden Pulvern) , so dass man auf Grund der Versuche
von Kühne und Steiner wohl sagen kann , das Galvanometer
reagire auf dieselben Lichtintensitäten, „welche auch in unserem
Auge deutliche Empfindung erzeugen". Wird die Belichtung auf
eine kleine, möglichst begrenzte Stelle der Netzhaut beschränkt, so
erfolgt nichtsdestoweniger an jeder davon entfernt gelegenen anderen
Stelle die photoelektrische Schwankung, sei es, dass Stromzweige von
dem direct belichteten Gebiete ausgehen, oder dass es sich um die
Folge einer Diffusion des Lichtes in der Netzhaut handelt.
Von dem geschilderten Verlauf der photoelektrischen Schwankung
an der isolirten Netzhaut unterscheidet sich die Erscheinung am un-
versehrten ganzen Bulbus vor Allem dadurch , dass bei mög-
lichster Leistungsfähigkeit des Präparates die zweite negative
Phase der Schwankung beim Kommen desLichtes fehlt,
so dass zwischen der ersten positiven Anfangs- und der zweiten
ebenfalls positiven Endschwankung der Strom selbst bei minutenlanger
Belichtung des Auges einen völlig gleichbleibenden Zuwachs erfährt.
Dem Verhalten isolirter Netzhäute entsprechend, gestaltet sich die
Schwankung nur bei Verwendung verletzter, ermüdeter oder ab-
sterbender Bulbi, worauf wohl auch gewisse Befunde von DcAvar und
M'Kendrick zu beziehen sein dürfen.
Ferner sind in Folge der ungünstigeren Ableitungsbedingungen die
Schwankungen des Bulbusstromes viel kleiner und können nach vor-
ausgegangener starker Belichtung sogar schon gänzlich fehlen, wenn
die dann isolirte Netzhaut noch mächtige Actionsströme liefert.
Es hat sich herausgestellt, dass die erwähnten Differenzen der
photoelektrischen Schwankungen des Bulbus und der isolirten Retina
lediglich auf eine bei der Präparation nicht zu vermeidende Alteration
der letzteren zu beziehen sind, indem möglichst vorsichtige Halbirung
des Auges in eine vordere und hintere Hälfte an dieser letzteren,
selbst nach Entfernung der Linse, das Auftreten der mittleren
negativen Phase noch nicht veranlasst, die aber nach dem Abfliessen
des Glaskörpers oder Zerrung der Netzhaut sofort zum Vorschein
kommt. Dies ist auch am ganzen unversehrten Bulbus der Fall,
wenn die Erregbarkeit bei längerem Liegen (in Folge von Kohlen-
säureanhäufung) allmählich abnimmt. Der positive Vorschlag der
Dojjpelschwankung wird dann immer kleiner und fällt schliesslich
ganz weg.
Sehr auffällig sind, wie schon H o 1 m g r e n fand, die D i f f e r e n z e n
der photoelektrischen Schwankungen an den Netzhäuten
verschiedener Thiere. Sowohl bei Reptilien (V i p e r a Berns),
wie bei Vögeln (Huhn) und Säugethieren (Kaninchen, Hund) zeigten
die uneröffneten Bulbi an Stelle der zweiphasischen , beide Mal
positiven Schwankung des Froschauges bei Beginn und Ende der
Belichtung, ersterenfalls stets eine negative, letzterenfalls eine positive
Schwankung des Dunkelstromes. Da, wie erwähnt, ein gleichartiges
Verhalten sich auch an absterbenden oder ermüdeten Froschaugen
herausstellt, so konnte man daran denken, die geringere Resistenz-
fähigkeit der Warmblüteraugen zur Erklärung heranzuziehen, von der
Voraussetzung ausgehend, dass in möglichst normalem Zustande unter-
sucht, auch diese einen gleichen Charakter der photoelektrischen
Elektrische Vorgänge im Auge. 849
Schwankungen darbieten wie der Frosch. Dem scheint aber einerseits
die Erfahrung- zn widersprechen, dass sich in einzelnen Fällen, wie
z. B. bei der Taube, deren lange Stäbchen und Zapfen wie bekannt
sehr haltbar sind, die Netzhaut selbst isolirt noch sehr gut zum Ver-
suche verwenden und wenigstens die negative Anfangsschwankung
sehr deutlich erkennen lässt, besonders wenn die Temperatur der
Umgebung künstlich erhöht wird (Kühne und Steiner), Anderer-
seits kann als Einwand auch das Verhalten der Reptilien und vor
Allem der Fischaugen gelten.
Am Auge der Fische hatte Ho Imgren gar keine. De war und
M'Kendrick nur sehr unbefriedigende Resultate durch Lichtreizung
erzielen können. Dagegen gelang es K ü h n e und Steiner sowohl
am unversehrten BuIIjus, wie insbesondere an der isolirten Retina
mehrerer Fischarten (Perca fluv. , Esox lue ins, Leuciscus
und Cyprinus barbus) erfolgreiche Versuche anzustellen.
Während sich der Ruhe-(Dunkel-)Strom im Wesentlichen ganz
ebenso verhält, wie beim Frosch, am unversehrten Bulbus am grössten,
an der isolirten Netzhaut am kleinsten und oft auch verkehrt gefunden
wird, gestalten sich die photoelektrischen Schwankungen nach Art
und Verlauf wesentlich verschieden (Fig. 285). Am Bulbus entspricht dem
Beginn der Lichtreizung eine positive, sehr langsam wachsende
und erst gegen das Ende rasch zum Maximum ansteigende Schwankung,
welche zu einer während der Dauer der Lichtwirkung anhaltenden
Zunahme des Ruhestromes führt, worauf bei Entziehung des Lichtes
wieder eine nur viel schwächere positive Schwankung folgt. Dagegen
liefert sowohl eine hintere Augenhälfte, wie auch die isolirte Netzhaut
eine primäre negative Schwankung, an die sich unmittelbar eine
positive schliesst, welche den Ruhestrom über seinen ursprünglichen
Werth mehr oder weniger erheblich steigert. Dem Aufhören des
Lichtreizes entspricht , wie beim Frosch eine neuerliche positive
Schwankung von erheblicher Grösse. Ist die Netzhaut irgendwie
alterirt, so erreicht der Ruhestrom, während der Dauer der Belichtung,
nach Ablauf der negativen Anfangsschwankung nicht seine anfängliche
Höhe, und schliesslich bleibt an ermüdeten oder absterbenden Präpa-
raten jedes Decrement der negativen Schwankung ganz weg, so dass
diese letztere den einzigen ReizefFect darstellt.
Van G e n d e r e n - S 1 0 r t (5) hatte seiner Zeit gefunden , dass
die von ihm entdeckten Bewegungen (Lageänderungen) der Netzhaut-
zapfen, sowie auch Pigmentverschiebungen im Netzhautepithel nicht nur
bei directer Lichtwirkung auf das betreffende Auge, sondern auch
bei Belichtung des andern, ja beim Frosch sogar nach Reizung der
Haut entfernter Körperstellen durch Licht hervorzurufen sind, woraus
zu folgern sein würde, dass im Opticus nicht nur sensible, sondern
auch centrifugalleitende (retinomotorische) Nervenfasern enthalten sind.
Wie Engelmann (5) zeigte, lassen sich auf dieselbe Weise reflec-
torisch auch Veränderungen des elektromotorischen Verhaltens des
Bulbus erzielen. Bei Ableitung von der Mitte der Cornea und einem
hinter oder doch nahe dem Aequator gelegenen Punkte der oberen
Bulbushälfte eines Dunkelfrosches traten jedesmal sehr deutliche
Stromesschwankimgen auf, wenn das andere Auge, bei völligem Licht-
abschluss vom beobachteten, belichtet wurde. Dies war auch noch nach
Entfernung der Haut, sowie der Gaumenschleimhaut, wiewohl in
geringerem Grade der Fall. Als Unterschied gegenüber den photo-
850 Elektrische Vorgänge im Auge.
elektrischen Schwankungen bei directer Belichtung ergab sich nur
Fehlen der zweiten positiven Phase bei plötzlicher Verdunkelung,
Nach Opticusdurchschneidung fehlte jeder galvanische Effect der
anderseitigen Beleuchtung. Auch durch chemische Reizung (Auflegen
eines Kochsalzkrystalles auf die Netzhaut des einen geöffneten Bulbus)
Hessen sich am andern Auge Schwankungen des Ruhestromes von
erheblicher Grösse, zunächst im positiven, dann im negativen Sinne
erzielen.
Ausgehend von den Erfahrungen, welche K ü h n e und Steiner
bei ins tan tan er Belichtung der Netzhaut machten, versuchte es
neuerdings Sigm. Fuchs (4), den zeitlichen Verlauf der
photoelektrischen Schwankungen am Fr ose hange ge-
nauer festzustellen und dadurch zugleich zu ermitteln , ob , wie zu
vermuthen war, die Erregung des Sehnervenapparates und somit auch
die durch sie bedingte Lichtempfindung spcäter auftritt als der sie
auslösende Reiz. Mittels des Bernstein ' sehen Rheotomes wurde
einerseits eine Folge von Oeffnungsfunken als adäquate Reize der
Netzhaut erzeugt, während andererseits in einem variablen Momente
nach jedesmaliger Lichtreizung der Bussolkreis geschlossen werden
konnte. Es konnte auf diese Weise, wie man leicht sieht, Gestalt
und zeitlicher Vei-lauf der Schwankungscurve ganz ebenso ermittelt
werden, wie bei Untersuchung der negativen Schwankung des Muskel-
oder Nervenstromes. Die Versuche erfolgten natürlich bei compen-
sirtem Dunkelstrom. In Betreff der Grösse der elektromotorischen
Kraft dieses letzteren hatten schon Kühne und Steiner einige
Angaben gemacht, und zahlreiche derartige, nach dem Poggendorff-
Du Bois-Reymond'schen Compensationsverfahren ausgeführte Bestim-
mungen verdanken wir S. Fuchs, welcher annähernd gleiche Werthe
fand wie vordem schon Kühne und Steiner.
Die Constanz derselben während eines einzelnen Versuches war
hinlänglich gross, um sicher zu sein, dass während desselben die Be-
dingungen sich nicht wesentlich änderten. Jeder der Rheotomver-
suche wurde nun damit begonnen, „dass der Funke in dem Momente
übersprang, in welchem die Oeffnung des Retinakreises im Rheotom
geschah. Die so charakterisirte Schieberstellung ist gewissermaassen
als der Nullpunkt anzusehen, von welchem jederzeit das Experiment
entweder ausgeht, oder zu welchem es zurückkehrt". Es war dann
niemals eine Einwirkung auf das Galvanometer zu constatiren, indem
die photoelektrische Schwankung während der Zeit eines ganzen
Umlaufes (0,2564 See.) abgelaufen war. Es zeigte sich weiterhin
durchwegs, „dass zwischen dem Reizmoment und dem merkbaren
Beginn des positiven Theiles der Schwankung eine messbare Zeit
(0,0005 — 0,0060 See.) vergeht, worauf der positive Vorschlag rasch
sein Maximum erreicht, dann schnell wieder absinkt, um in den
negativen Theil der photoelektrischen Schwankung überzugehen.
Tritt dieser letztere allein auf, ohne positiven Vorschlag, so lässt
sich auch dann ein deutliches Stadium der latenten Reizung (von
0,0004 — 0,0064 See.) erkennen, welchem zunächst ein schwächerer
Antheil (negativer Vorschlag) folgt, an den sich die eigentliche negative
Hauptschwankung schliesst. Das Maximum der Dauer des positiven
Vorschlages beträgt nach Fuchs 0,0181 See, das Minimum
0,0070 See. Die Dauer des negativen Vorschlages liegt (bei alleinigem
Auftreten der negativen Schwankung) zwischen 0,0029 und 0,0105 See. ;
Elektrisclie Vorgänge im Auge. 85 1
die Zeit bis zum Maximum der negativen Schwankung beträgt 0,0089
bis 0,0352 See.
Man kann die Frage aufwerfen, welche Theile (Schichten) der
Netzhaut an dem Zustandekommen der elektrischen Spannungs-
differenzen vorwiegend oder ausschliesslich betheiligt sind. Das aus-
schliessliche Vorkommen negativer Schwankung am Stamme des
Sehnerven bei Lichtreizung des Auges, lässt mit ziemlicher Sicher-
heit schliessen, dass auch die vordere Faserschichte sich gleichartig
verhalten wird, und dass demnach die den compHcirten photoelek-
trischen Schwankungen der Retina zu Grunde liegenden Processe
ihren Sitz in Schichten haben, die nicht weiter als bis zur Ganglien-
lage nach vorne reichen. Dass auch diese letztere selbst nicht
wesentlich betheiligt sein kann, scheint sich aus dem Umstände zu
ergeben, dass Netzhautpräparate von Warmblütern im Allgemeinen
ausserordentlich vergänglich sind und ihre photoelektrische Reaction
selbst dann rasch einbüssen, wenn der ganze Augengrund untersucht
wird. Man darf dies wohl auf die bekannte Empfindlichkeit gang-
liöser Elemente für alle Störungen ihres normalen Stoffwechsels
beziehen. Um so bemerkenswerther ist die grosse Wid ers tands-
fähig keit der Vogel reti na. Hier gelang es Kühne und
Steiner, selbst an der isolirten Netzhaut (der Taube) gute Erfolge
zu erzielen, was wohl nur der bekannten Haltbarkeit der langen
Stäbchen und Zapfen der Taubenretina zuzuschreiben sein dürfte, da
kaum anzunehmen ist, dass 45 — 50 Min. nach der Isolirung noch
Ganglienzellen oder Nervenfasern in der Netzhaut erregbar wären.
Man kommt daher noth wendig zu der Annahme, dass auch hier
epitheliale Elemente (die eigentlichen Sinneszellen)
Träger der elektromotorischen Wirkungen sind, was um
so weniger Bedenken erregen kann, als in ihnen nachweislich die
durch Licht bewirkten Veränderungen entstehen. Nach Kühne und
Steiner würde es sich aber nicht sowohl um die in den Aussen-
gliedern der Sehzellen ablaufenden primären photochemischen Processe,
die Veränderung der hypothetischen Sehstoffe durch Licht handeln,
sondern vielmehr um die Folgen der Erregung des „in den Lmen-
gliedern der Sehzellen enthaltenen Protoplasmas durch photochemische
Zersetzungsproducte".
LITERATUR.
1. F. Holmgren, Untersuchungen aus dem physiol. Institut der Universität Heidel-
berg. Bd. III. p. 278.
2. Dewar und M.'Kendrick, Transact. of the R. Sog. of Edinburgh. Vol. 27. p. 141.
3. Kühne und Steiner, Untersuchungen aus dem physiol. Institut der Universität
Heidelberg. Bd. III und IV.
4. Sigm. Fuchs, Pflügers Arch. 56. 1894. p. 408.
5. Th. W. Engelmann, Beiträge zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane.
H. V. Helmholtz zum 70. Geburtstag gewidmet. 1891.
Sachregister.
Absterben des Muskels 77 ; Einfluss auf
die Erregungsleitung 129 ; auf die Erreg-
barkeit 156, 186; Beziehung zum Mus-
kelstrom 288, 293, 300; zum Actions-
strom 326, 331; der Nerven, sichtbare
Erscheinungen 517 ; Reaction 535; elek-
trische Erregbarkeit 516; Beziehung zum
Nervenstrom 640.
Abtödtung, Einfluss localer A. auf die
polare Erregung durch den Strom 186,
576.
Abwechslungen (Alternativen), Volta'-
sche, am Muskel 249; am Nerven 571.
Abgleiehung, innere, des Muskelstromes
283 ; des Nervenstromes 707.
Actinosphaerium , elektrische Reizung
256.
Actionsströme der Muskeln 307 ff. ; am
lebenden Menschen 333, 335; am Herzen
337; Untersuchungsmethoden 313, 318,
341, 348, 350 ; phasische und decremen-
tielle 325 f. ; bei indirecter Reizung 327 ;
Theorie 320 ; wahrscheinliche Bedeutung
der Nerven 650; physische 667; bei
reizbaren Pflanzen 455.
Addition latente 100.
Aesthesodische Substanz 495.
Aether, Wirkung auf den Muskelstrom
306; auf die Actionsströme 383; auf
Drüsenströme 403; auf Nerven 493.
Alkalien, Wirkung auf Muskeln 90, 189.
Alternativen, s. Abwechslungen.
Alterationstheorie, Hermann's 300. 723.
Ammoniak, Wirkung auf die secundäre
Erregung von Muskel zu Nerv 351; auf
die polare Erregung an Nerven 577.
Amoeben, elektrische Reizung 260.
Anabolische (katabolische) Nerven
368.
Anästhetica, Einfluss auf die elektro-
motorischen Wirkungen der Muskeln
306, 383; auf Centralorgane 505.
Anelektrotonus, s. Elektrotonus.
Anfangszuckung, 113, 269; am Herzen
115.
Anfrischen des Querschnittes, Wirkung
auf den Muskelstrom 293.
Anode, Begrift' der physiologischen A. 180 ;
Bezieliung zur Oeffnungserregung 184,
541, 559; Hemmungswirkungen 202,
220, 226, 561; scheinbare Schliessungs-
erregung an der A. 202, 228, 574; ano-
dische Schliessungserregung bei Protisten
258; Erregbarkeit 246, 564; anodische
(positive) Polarisation an Muskeln und
Nerven 379, 708.
Anodonta, Schliessmuskel; Tonus 86;
elektrische Reizung 161, 200.
Anschwellen, lawinenai-tiges , der Er-
regung 520.
Athmung, Einfluss auf die elektromoto-
rischen Wirkungen von Blättern 444.
Auge, Reizung durch den Kettenstrom
615 ff.
Augenströme 843 ft'.
Axencylinder, Structur 479; Bedeutung
469, 490 ; Beziehung zum polarisirbaren
Kern der Nervenfaser 706.
Axialstrom, bei Nerven 639.
B.
Becherzellen , elektromotorische Wir-
kungen 403.
Beuge (und Streck-)muskeln, specifische
Erregbarkeit 523, 531, 556.
Blätter, elektromotorisches Verhalten 442.
Blutegel, elektrische Reizung des Haut-
niuskelschlauches 210; elektromotorische
Wirkungen der Haut 406.
Büschel, Wagner'sche, bei Torpedo 753.
c.
Capillarelektrometer 341.
Catelektrotonus, s. Elektrotonus.
•Sachregister.
853
Cathode, Leitungshemmung 252, 568;
Erregbarkeit 238, 245, 563.
Cephalopoden, Muskelzellen 12.
Cnidarier, Epithelmuskeln 8.
Compensator, runder 286.
Contraetion, Veränderung der optischen
Eigenschaften des Muskels 42; rhythmi-
sche bei Reizungmitdem Kettenstrom 168;
rhythmische bei chemischer Reizung 91.
Contractionsw^elle , verschiedene Ge-
schwindigkeit 130; Länge 143.
Contractur 76.
D.
Darm, elektrische Reizung 212 fif.
Darstell uns, photographische der Actions-
ströme 342, 349.
Dauer des Stromes, Einfluss auf die er-
regende Wirkung 152, 545.
Deerement der Contractionswelle im
Muskel 127 ; Fehlen am lebenden Men-
schen 336.
Degeneration markhaltiger Nerven 517;
Beziehung zum Nervenstrom 640.
Demarcationsfläche 288, 300.
Demarcationsstrom 274, 637.
Dionaea muscipula 446; Reizbewegun-
gen 448; Schwankung des Blattstromes
455.
Dissimilirung (und Assimilirung) der
lebenden Substanzen 71.
Doppelbrechung des Muskels 39.
Doppelmyograph 150.
Drüsen, elektromotorische Wirkungen 392.
E.
Echinus, elektrische Erregung der Mus-
keln 204.
Einschleichen in die Kette 165, 549.
Einschnürungen, Lantermann'sche 477.
Elektricität, Wirkung auf Muskeln 149 ff. ;
auf Nerven 540 ft'. ; auf Protisten 255 ff. ;
Widerstand der Muskeln 172; der Ner-
ven 704; allgemeines Gesetz der Er-
regung 164, 540; Erregung durch con-
stanten Strom, bei centripetalen Nerven
544; bei centrifugalen Nerven 542; Ein-
fluss der Stromesrichtung 171, 554, 556;
der Dichte 180, 185; der Länge der
Reizstrecke 566.
Elektroden, unpolarisirbare Muskel-E.
150; zur Ableitung des Schlages elek-
trischer Fische 793.
Elektromotorische Kraft, Messung 285 ;
der elektrischen Organe 838.
Elektrotonus, polare Erregbarkeitsände-
rungen am Muskel 240, 561, 572, 707;
galvanische Erscheinungen 670; secun-
därer E. 673; erregende Wirkungen an
Nerven 674; Etablirung und zeitlicher
Verlauf 675, 681; Nachwirkungen 245,
249, 564, 708; Verschiedenheit des An-
und Catelektrotonus 672, 682; an mark-
losen Nerven 683; physiologischer E. an
markhaltigen Nerven 688 ; Bedeutung der
Markscheide 673; physikalischer und
physiologischer E. 694; Einfluss der
Anaesthetica 694; Theorie 698; wellen-
förmiger Ablauf 701; Verhalten bei der
Erregung 712; Einfluss der Strecken-
länge 672.
Endigung der Nerven in Muskeln 732;
bei Wirljellosen 735; Typen der Endi-
gung 742.
Endplatten an Muskeln 733.
Entartungsreaction 156, 233.
Entladungshypothese 739: modificirte
741.
Epithelmuskeln 8.
Ermüdung des Muskels 71; locale durch
den elektrischen Strom 191; der Nerven
534; elektrischer Organe 795.
Erregbarkeit, directe des Muskels 59;
verschiedener Muskeln 49; specifische der
Beuger und Strecker 531; Verhalten beim
Absterben 71; Einfluss der Circulation
81; der Temperatur 83; der Ermüdung
71: des galvanischen Stromes 236 ff. ;
des Querschnittes 194; der Vertrocknung
365; des Glycerins367; chemischer Sub-
stanzen 89; specifische der Muskeln und
Nerven 519; locale Unterschiede an
Nerven 519; Verhalten beim Absterben
517; am Querschnitt 520; Einfluss des
galvanischen Stromes s. Elektrotonus;
Einfluss der Kälte 541; des Wasserver-
lustes 582: directe des Rückenmarkes
508; der Scheerennerven des Krebses 524;
der elektrischen Nerven von Torpedo 807 ;
der Nerven glatter Muskeln 532; gang-
liöser Elemente 533.
Erregung des Muskels durch den eignen
Strom 278 ; des Nerven durch den eignen
Strom 641; secundäre von Muskel zu
Nerv 308, 351 ff.; secundäre von Muskel
zu Muskel 363 ; dauernde E. centripetal-
leitender Nerven 544.
Erregungsleitung in glattmuskeligen
Organen 141; im Herzen 138; im Nerven
485; Beziehung zur Erregbarkeit 494;
in gangliösen Elementen 497, 499;
Theorie 731.
Erregungszeit der Nervenendorgane im
Muskel 743.
Erscheinungen, secundär-elektromotori-
sche an Muskeln 376 ff. ; an Nerven 707;
an elektrischen Organen 823.
F.
Fallrheotom 302.
Federrheotom 813.
Felder, Cohnheim'sche der Muskeln 24.
Fische, elektrische 748 tt'.
Flagellaten, elektrische Reizung.
Fledermaus, Muskelfasern 27; Zuckungs-
verlauf 53.
854
Sachreo:ister.
Form der Stromschwankung, Einfluss auf
die Nervenerregung 551.
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
Reiz- und Contractionswelle im Muskel
125 ff., 319; der Erregung im Nerven
491, 496; im Dionaenblatt 463.
Frosohliaut, elektromotor. Verhalten 392.
Froschunterbrecher 812.
Frosch Wecker 794.
Galvanotropismus bei Protisten 262, 264.
Ganglienzellen, Erregungsleitung in den-
selben 497; Einfluss des Strychnins 501 ;
der Temperatur 505; der Blutbeschatfen-
heit 506 ; kurzdauernde Reize 533 ; elek-
trische G. von Gymnotus 763; von Ma-
lopterurus 789.
Gastrocnemius, elektromotorische Wir-
kungen 276.
Gefassnerven, Erregbarkeit 532.
Gefrieren von Muskeln 88.
Geschmack, elektrischer 611.
Gesetz, allgemeines der Erregung 164;
der vitalen Eigenströme der Nerven und
Muskeln 301; des Muskelstromes 274;
von Ritter- Valli 517; der Präformation
elektrischer Elemente 778.
Gipfelzeit und Gipfelhöhe 98.
Glycerin, Wirkung auf Muskeln 367.
H.
Hautströme beim Frosch 393; Verhalten
bei Nervenreizung 419 ; bei Warmblütern
437; beim Menschen 333.
Haemoglobin in Muskeln 28.
Hemmungserscheinungen , anodische
bei Muskeln 202; am Darm 212; am
Herzen 220; am quergestreifte Muskel
227; bei Reizung der Scheerennerven
des Krebses 526, 602.
Hemmungsnerven, elektrische Reizung
545.
Herz, Contractionswelle 1-38; Reizwelle
338; Stromlosigkeit im unversehrten
Zustande 292; positive Schwankung des
Demarcationsstromes bei Vagusreizung
369 ; Verhalten des Demarcationsstromes
293; secundäre Zuckung vom H. aus
337, 357, 363; Actionsströme 338; Bau
der Muskelfasern 20 ; Zuckungscurve 49 ;
Einfluss der Reizstärke 60; Einfluss der
Spannung 67; elektrische Reizung 167,
220; verschiedene Erregbarkeit derHem-
mungs- und Beschleunigungsnerven 529.
Hippocampus, Flossenmuskeln, Bau 25.
Holothurien, Muskeln, elektrische Rei-
zung 201.
Hydra, Neuromuskelzellen 7.
I.
Idiomuskuläre Contraction 129, 177,
147, 193, 332.
Immunität der Zittei-fische gegen den
eigenen Schlag 818.
Increment, Satz vom polarisatorischen I.
713.
Indifferenzpunkt 563, 576.
Inductionsströme , Wirkung auf Mus-
keln 101, 154, 156, 184; auf Nerven
546; auf Protisten 255, 260; auf Gang-
lienzellen 533.
Influenz, Einfluss auf die unipolare Er-
regung 631.
Innervation, willkürliche 118.
Inseriptiones tendineae 195.
Insecten, ^Muskeln, Bau 30; Contractions-
ersclieinungen 42; Zuckungsverlauf 54;
Tetanus 107, 113; Ermüdung 77; Nerven
471; Fortpflanzung der Contraction 133,
140.
Interferenz von Erregung im Nerven
627; zwischen Mu.skel- und Reizstrom
280; zwischen Nerven- und Reizstrom
645.
Irradiation der Erregung in Central-
organen 500.
K.
Käfer, Muskelbau 29; Zuckungsverlauf 54.
Kälte, Wirkung auf Muskeln 82; Einfluss
auf den Muskelstrom 289; die Nerven-
leitung 493; die Erregbarkeit der Nerven
541 ; die Reflexerregbarkeit 505.
Kalisalze, Einfluss auf Muskeln 94 ; auf
die polare Erregung 189; auf die elektro-
motorischen Wirkungen 302.
Kathode, Begriff der physiologischen 181.
Keimpflanzen , elektromotorische Wir-
kungen 444.
Kernleiter, Bedeutung für den galvani-
schen Elektrotonus 699, 705.
Kettenströme, Wirkung auf Nerven 539 ;
auf Protisten 257 ; auf Muskeln 149.
Kinesodie, kinesodische Substanz 509.
Kochsalz, Wirkung auf Muskeln 89 : auf
Nerven 585.
Kohlensäure, Wirkung auf Nerven 494.
Körner, interstitielle des Muskels 28.
Krebs, Muskelnerven 471, 735.
Krebsnerven, Reizung mit den Ketten-
strom 600; En-egbarkeit 524; Hemmimg
des Muskeltonus durch Erregung der K.
526.
L.
Länge der durchflossenen Nervenstrecke,
Einfluss auf die Erregung 566.
Latenzstadium 48 ; der negativen Schwan-
kung 320; des Muskelelementes 63; Ab-
hängigkeit von der Reizstärke 62; der
Oeff"nungserregung des Muskels 164;
Abhängigkeit von der Stromdichte 186;
bei indirecter Reizung von Krebsmus-
keln 606.
Sachregister.
855
Lawinenartiges Anschwellen der Er-
regung im Nerven 520.
Leitung der Erregung im Muskel 123;
der Reizwelle 319; im Herzen 338; der
Erregung im Nerven 484; Grundgesetze
der Nervenleitung 485, 488 ; Wesen der-
selben 731; Doppelsinnigkeit 488; Ge-
schwindigkeit 491; in den Centralorga-
nen 497; irreciproke im elektrischen
Organ 830.
Leitungswiderstand, galvanischer der
Muskeln und Nerven 172, 555, 704. ^ ^
Leitungsvermögen der Muskeln 123;
elektrntonisclie Veränderungen desselben
im Jkluskel 251 ; doppelsinniges 488, 503:
des Nerven im Elektrotonus 567.
Lichtreizung, negative Schwankung am
Opticus durch L. 661.
Lobus, electricus von Torpedo 752.
Lücke, Phänomen der L. 624; der Oeff-
nunffszuckungen 648.
M.
Magenschleimhaut, elektromotor. Wir-
kungen 425.
Malopterurus, elektrisches Organ 788;
elektrische Nerven 786, 788 f.; doppel-
sinniges Leitungsvermögen 489.
Markscheide 476; Bedeutung für den
Elektrotonus 673.
Mensch, phasische Actionsströme 335;
Hautstrom 333, 437; Actionsströme des
Herzens 345.
Methode, stroboskopische, Benützung zur
Analyse des Tetanus 348.
Microphon 114.
Mimose, Reizbewegungen 451; Schwan-
kungen des Blattstromes 464.
Molekeln, peripolare 297.
Moleculartheorie, elektrische des Mus-
kels 297; des Nervenprincipes 714; des
Elektrotonus 698; des elektrischen
Schlages der Zitterfische 836.
Monopolare Reizmethode 198.
Mormyrus, elektrisches Organ 766 ; Ent-
wicklung 775.
Muscheln, Schliessmuskel 58, 86, 152,
163, 199.
Muskeln, glatte 18, 79; quergestreifte 2;
flinke und träge 50, 57; rothe und
weisse 52; Contraction 41, 46; micro-
scopisches Verhalten 41 ; zeitlicher Ver-
lauf 47 ; natürliche M.-Contraction 119;
Fortpflanzung der Contractionswelle 124;
pulvmere Muskeln 195.
Muskelsäulchen 17, 21, 26.
Muskelstrom, ruhender274,302 ; schwache
Längsschnittsströme 275; elektromotori-
sche Kraft 285; Erlöschen 293 ; Verhalten
des unversehrten Muskels 294 ; negative
Schwankung 310; positive Schwankung
368; Erregung durch den M. 278, 308,
363; Neigungsströme 278.
Muskelton 116, 118.
Muskeltonus 86. 201, 227, 526, 602.
Myographien 47.
Myogramm 48.
Myoneme der Infusorien 3.
Nach Schwankung, positive bei Nerven-
reizung 652, 655.
Nachw^irkungen des galvanisch. Stromes
an Muskeln 377; erregende, s. Oefftiungs-
erregung; hemmende 220, 245; erreg-
barkeitsändernde 245, 249.
Natronsalze, Wirkung auf Muskeln 90,
91, 189.
Negative Schwankung des Muskel-
stromes 310, 315, 331, 337; des Nerven-
stromes 650 ft'.
Neigungsströme 277.
Nerven, Bau 469; marklose 472; Thei-
lungen 485, 490, 753, 787; elektrische
von Torpedo 7.57; künstliche Reizung
803, 805; Reizschwelle 805, 807, 819.
Nervenstrom 637; markloser Nerven
638; Einfluss des Absterbens 640; der
Auffrischung 641 ; Selbsterregung durch
den N. 642 ; negative Schwankung 650 ff. ;
positive Schwankung 652, 6-55; bei
Reizung mit dem Kettenstrom 651.
Netzhautströme 843.
Neurokeratin 478.
0.
Oeffnungsdauercontraction 160, 180,
200.
Oefifnungserregung der Nerven, ab-
hängig vom Querschnitt 581.
Oefinungs - (Schliessungs -) Induetions-
schläge, Verschiedenheit der physio-
logischen Wirkung 546, 550.
OeflFnungshemmung , anodische und
kathodische am Herzen 225.
Oeffnungstetanus 542, 560, 585, 597.
Oeffnungszuekung. verspätete 584; Ein-
fluss der Alkoholljehandlung der Nerven
5S6 ; der Kalibehandlung 592 ; der Polari-
sation 595; Verschiedenheit der Oeff-
nungszuckungen 598 ; scheinbare bei
Nerveureizung 647, 709; bei Muskel-
reizung 281.
Organe, elektrische, Beziehung zu Mus-
keln 767, 776; directe Reizbarkeit 807;
chemische Reizung 807; Curarewirkung
809; Reaction 840; Ruhestrom 820;
secundär-elektromotorische Erscheinun-
gen 823.
Orthorheonom von Fleischl 551.
Palaemon squilla, Nervenfasern 479.
Paramaecium. , galvanotropische Er-
scheinungen 262.
856
Sachregister.
Parelectronomie 289, 290, 292.
Pelomyxa, elektrische Reizung- 259.
Petromyzon, Nervenfasern 481.
Periode, refractäre am Herzen 111.
Pflanzenströme 441, 465.
Platten, elektrische, der Organe der Zitter-
fische 752, 760; Nervenendigungen 754,
762; Zahlenverhältniss 780.
Polare Wirkungen des elektrischen Stro-
mes an Muskeln 174, 183 ; an Nerven 559 ;
am Herzen 196, 220; an Protisten 258;
an Eizellen 264; kurzdauernder Ströme
620.
Polarisation, galvanische, des Muskels
238; der Nerven 708; Einfluss auf die
Oeffnungserregung 709 ; morphologische
von Eiern 265; innere 376: von Kern-
leitern 699; positive der Muskeln 377;
der elektrischen Organe 824.
Pole, Begriti' der physiologischen P. 181.
Polystomella, elektrische Reizung 258.
Porret'sches Phänomen am Muskel 233.
Pouillet'sehe Methode der Zeitmessung
491.
Präformation der elektr. Elemente 778.
Präexistenzfrage, mit Bezug auf den
Muskelstrom 288.
Pressen der Muskeln, Einfluss auf die
secundäre Erregung von Muskel zu
Muskel 363.
Protisten, elektrische Reizung 255.
Pseudoelektrische Organe 764.
Pseudopodien, "Verhalten bei elektrischer
Reizung 256.
Querdurehströmung von Muskeln 171;
von Nerven 554.
Querschnitt, künstlicher, Beziehung zum
Muskelstrom 274; Einfluss auf die polare
Erregung durch den Strom 186, 576;
auf die Oeffnungserregung 283, 580; auf
die Erregbarkeit 520, 575.
Querstreifung der Muskeln 34; imcontra-
hirten Zustand 41 ; physiologische Be-
deutung 33.
Quer widerstand der Muskeln 172; der
Nerven 704.
R.
Baja, elektrisches Organ 764; Entwick-
lung 769; Organschlag 801; Ruhestrom
822.
Reaction des thätigen Muskels 839 ; des
elektrischen Organes 839.
Reflexe, durch elektrische Reizung aus-
gelöst 531, 533.
Reflexzeit 498, 502.
Reize, mehrfache, Wirkung auf Nerven
627.
Reiz welle im Muskel 319; Verhältniss
zur Contractionswelle 321.
Rheonom von Fleischl 551.
Rheotaehygraphie 318, 329.
Rheotom, Bernstein's Differential-R. 313.
Rhizopoden, elektrische Reizung 256,
Rochen, s. Raja.
Rückenmark, anatomisches 5 15; Reaction
535; directe Erregbarkeit 508; Einfluss
von Giften 501; elektromotor. Verhalten
638, 661; von Gymnotus 763.
s.
Salpen, Muskeln 16.
Sarkoplasma 25, 58, 77, 109.
Säulen der elektrischen Organe 752, 759,
764; Zahlenverhältniss 779.
Säurung des Muskels bei der Thätigkeit
839; des elektrischen Organes 839.
Schildkröte, Muskeln 53.
Schlag der Zitterfische, physiologische
Wirkungen 790; Ableitungsmethoden
793; Yertheilung der Spannungen 796;
Richtung 798; Funkenbildung 799;
elektrolytische Wirkungen 800 ; Strecken-
entladungen 802; reflectorische Ent-
ladungen 803; Strychninwirkung 803;
Charakter der spontanen Entladungen 804 ;
Theilentladungen 805; zeitliche Verhält-
nisse 810; Nachwirkungen 815; oscilla-
tori.scher Charakter 815; electromotori-
sche Kraft 838.
Schleimhautströme 394, 425.
Schliessmuskel von Muscheln 58; Tonus
86; Contraction 152, 160, 163; polare
Erregung 190; elektromotor. Wirkungen
294 ; secundär elektromotorische Erschei-
nungen 387; indirecte Erregung 528.
Sehliessungsdauercontraction 157,
176.
Sehliessungstetanus 541 ; secundäre
Unwirksamkeit 359.
Schrägstreifung an Muskeln 13.
Schwankung, negative, des Muskel-
stromes 310, 315; am Herzen 337;
Theorie 331; des Nervenstromes 650;
Bedeutung 657; bei nicht elektrischer
Reizung 658; bei centraler Reizung 660;
bei Reizung von Sinnesnerven 661; zeit-
liche Verhältnisse 664; an marklosen
Nerven 666; des Hautstromes bei Rei-
zung secretorischer Nerven 412; des
Blattstromes von Dionaea 455.
Secretionsnerven, Erregung durch S.-
Kettenstrom 609.
Secretionsströme 392, 413, 437; beim
Menschen 333.
Secundäre Elektrodenstellen, Einfluss
auf die polare Erregung 217.
Secundäre Erregung von Muskel zu
Nei-v 308, 337, 352; von Muskel zu
Muskel 363; von Nerv zu Nerv 668.
Spannung, Einfluss auf die Muskel-
zuckung 65.
Speicheldrüsen, elektromotorische Wir-
kungen 434.
Sachregister.
857
Spinalganglien, Leitungszeit497 ;Trophi-
sclie Function 518.
Steilheit der Stromesscbwaukung; Ein-
fliiss auf die Nerven crregung 546, 549.
Stromlosigkeit unversehrter Muskeln 291.
Stromesscli wankungen, erregende Wir-
kung auf Muskeln 151, 244; erregende
Wirkung auf Nerven 540, 623.
Stromverzvreigung in körperlichen Lei-
tern 295.
Strömungseurven 295; beim Schlag der
Zitterlische 796.
Stromstärke, Einfluss auf die Zuckungs-
höhe 59.
Strychnin, Wirkung auf die centrale
Erregungsleitung 501 ; Empfindlichkeit
verschiedener Thiere 504.
Superposition von Zuckungen 98.
T.
Telephon als Kheoscop 350, 360, 794.
Temperatur, Einfluss auf Muskeln 82,
86, 129 ; auf den Muskelstrom 289 ; auf
Nerven 541; auf Drüsenströme 398 ; auf
die Nervenleitung 492; auf die Actions-
ströme der Nerven 667.
Tetanus, Begriff und Entstehung 97;
rhythmischer 112; natürlicher 118;
Strychnintetanus 121; functionell ver-
schiedener Muskeln 107; des Herzeus
110; galvanische Erscheinungen 310;
secundärer vom Muskel aus 310; vom
Nerven aus 668; paradoxer 674; elek-
trischer 804, 806.
Tonus glatter Muskeln 86; des Herz-
muskels 88.
Torpedo, elektrisches Organ 751; Ent-
wicklung desselben 767.
Treppe 60.
Unipolare Wirkungen 630.
Unterstützung, Einfluss auf die Muskel-
zuckung 104.
Ureter, elektrische Reizung 215.
V.
Vagus, Erregung durch den Kettenstrom
544; Wirkung auf das Herz 369.
Veratrin, Einfluss auf quergestreifte
Muskeln 92, 227.
Vorticellen, Stielmuskel 5.
TJ.
U eberleben glatter Muskeln 79; der
Nerven 576; der Netzhaut 851.
w.
Wasserentziehung, Wirkung auf die
Erregbarkeit von Muskeln 363 f. ; von
Nerven 542; auf die Haut 401, 408.
Wassersturre 304.
Würmer, Muskeln 10; elektr. Reizung
des llautumskelschlauches 206 ff.
Zell ströme, Theorie 432.
Zellenleitung bei glatten Muskeln 144.
Zitteraal (Gymnotus) 758; elektrisches
Organ 759; Rückenmark 763.
Zuckung , secundäre vom Muskel . aus,
Einfluss der Spannung des primären
Muskels 352; bei directer Reizung
des primären Muskels 854; Einfluss der
Lage der secundären Nerven 355; Ein-
fluss der Reizsummation 358; ausgelöst
durch Schliessungs- und OefJriungs-
tetanus 359 und vitale Tetani 359;
Paradoxe 674; isotonische und isometri-
sche 70.
Zuekungsgesetz bei indirecter Reizimg
glatter Muskeln 609 ; bei Reizung secre-
torischer Nerven 609 ; centripetalleitender
Nerven 610; höherer Sinnesnerven 611.
Zweizipfel versuch, Kühne's 365, 489.
•mann, Elektrophysiologio.
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Pierer'sclie Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburff.